Gesundheitsmanagement in der Praxis Dr. habil. DDr. Thomas Benesch M²CRC MasterMind Consulting Risk & Crisis GmbH 124 Die Auswertung von Beinahe-Unfällen als Präventivindikator Unfallpyramide und Eisbergmodell als Ausgangspunkt Zusammenfassung Ernste Unfälle stellen lediglich die Spitze des Eisberges der Unfallpyramide dar, die meisten Vorfälle sind Beinahe-Unfälle. Diese sind von Unfällen dahingehend abzugrenzen, indem sie ohne unerwünschte Folgen für den/die Betroffenen bleiben. In Bezug auf das Risikomanagement werden Beinahe-Unfälle immer als kritisch angesehen, weil sie zur Gefährdung der Sicherheit einer oder mehrerer Personen hätten führen können. Das Eisbergmodell dient zur Beschreibung der quantitativen Relation von unterschiedlichen kritischen Abweichungen zum Normalfall. Durch die Erfassung und Auswertung von Beinahe-Unfällen können Ursachen aufgedeckt werden und zur Verhütung ähnlicher Ereignisse herangezogen werden. 1. Bedeutung von Beinahe-Unfällen Die Praxis zeigt, dass ernste Unfälle lediglich die Spitze des Eisberges der Unfallpyramide darstellen. Die Basis bilden Beinahe-Unfälle ohne Verletzungen, unsichere Zustände, Fehlverhalten, schlechte Arbeitsbedingungen oder technische Mängel. Als Beinahe-Unfall (Near Miss) wird ein Ereignis bezeichnet, das sich zu einem unerwünschten Ereignis oder Schaden hätte entwickeln können und sich von solchen nur durch die ausbleibenden Folgen unterscheidet (Kahla-Witzsch / Platzer, 2007: 47). Als Beinahe-Unfall gilt jedes Vorkommnis, das unerwünschte Folgen hätte haben können, jedoch im konkreten Fall nicht hatte und abgesehen vom Ergebnis (Outcome) von einem richtigen unerwünschten Ereignis nicht zu unterscheiden war (vgl. Hensen / Roeder 2009: 277). Jede_r klinisch tätige Arzt/Ärztin ist im Rahmen der Arbeit mit kritischen Situationen konfrontiert. Jedoch ist die persönliche Erfahrung mit Beinahe-Unfällen und Unfällen gering. Unfällen und Beinahe-Unfällen geht in der Regel eine deutlich größere Anzahl von Regelverletzungen, Störungen und kritischen Ereignissen voraus. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein sehr seltener eingetretener Zwischenfall wiederholt, ist extrem gering. Dem nächsten Schadensfall werden im Allgemeinen andere Ursachen zugrunde liegen. Daher ist es notwendig, sich der größeren Zahl von Abweichungen vom Normalfall zuzuwenden. Die quantitative Relation dieser unterschiedlichen kritischen Abweichungen vom Normalfall beschreibt das Eisbergmodell (Abb. 1). Unfälle Beinaheunfälle Ereignisse Reduzieren die Sicherheit Fehler, Störungen Reduzieren nicht die Sicherheit Normalbetrieb Abbildung 1: Eisbergmodell (in Anlehnung an die Quelle Bauer 2006: 46) Über die Steilheit des Eisbergs, das heißt über die Relation von Regelverletzung und Störung zu einem kritischen Ereignis, zu einem Beinahe-Unfall bis hin zum Unfall kann aufgrund einer völlig unzureichenden Datenlage nur spekuliert werden (Welk / Bauer 2006: 46). Kapitel II | Gesundheitsmanagement in der Praxis | M²CRC MasterMind Consulting Risk & Crisis GmbH 125 Gesundheitsmanagement in der Praxis Zur weiteren Verdeutlichung der Begrifflichkeiten und ihrer Zusammenhänge dient die Abbildung 2: Unerwünschtes Ereignis (Adverse Event) 126 Fehler (Error) Kausalität Nicht fehlerbedingtes unerwünschtes Ereignis Beinahe-Schaden (Near Miss) Schaden (Preventable Adverse Event) Abbildung 2: Begrifflichkeiten im Überblick (Quelle: in Anlehnung an Kahla-Witzsch / Platzer 2007: 47) Die Firma DuPont beschäftigt sich Ende des 19. Jahrhunderts mit der Unfallpyramide und erkannte, dass ein tödlicher Unfall im Durchschnitt mit 30 schweren, mit 300 leichten Unfällen, mit 3.000 Beinahe-Unfällen und mit 30.000 unsicheren Handlungen korreliert (Müller 2012: 66). In theoretischen Modellanalysen aus der Luftfahrt wird von Stufe zu Stufe von Faktor 10 ausgegangen, das heißt, einem Unfall gehen zehn Beinahe-Unfälle, 100 kritische Ereignisse sowie 1000 Regelverletzungen und Störungen voraus. Es ist davon auszugehen, dass sich die Ursachen, die zu einem kritischen Ereignis oder zu einem Unfall / Beinahe-Unfall führen, nur unwesentlich voneinander unterscheiden (Welk / Bauer 2006: 46f). Aus der Erkenntnis ergibt sich, dass Beinahe-Unfälle kritische Signale für mögliche schwere Unfälle darstellen (Müller 2012: 67). Bildlich gesprochen ist in einem Fuhrpark mit vielen verbeulten Stoßstanden mit (überdurchschnittlich) vielen Unfällen mit Personenschaden zu rechnen. 2. Risikoanalysen zu Beinahe-Unfällen Die Verwendung der Zahl von Beinahe-Unfällen ist ein sinnvoller Präventivindikator der Arbeitssicherheit und ist daher als weiterführender Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu betrachten. 49,2 Prozent von Krankenhäusern in Deutschland haben sich noch nicht mit standardisierten Verfahren zur Risikoanalyse befasst. Insbesondere kleinere Krankenhäuser mit weniger als 299 Betten haben sich größtenteils (57,2 Prozent) noch nicht mit standardisierten Verfahren befasst (Dombrowski / Ebentreich 2014:62). Nach der DIN 15224 werden in Gesundheitseinrichtungen drei Ereignisse im Risikomanagement unterschieden: »» Fehler in der Gesundheitsversorgung, die durch nicht Einhaltung oder Beachtung von Standards und Vorschriften ausgelöst wurden, »» Beinahe-Unfälle, die zu unerwünschten Zwischenfällen führen, wobei rechtzeitig reagiert wurde, »» und unerwünschte Zwischenfälle, bei denen PatientInnen tatsächlich Schaden erleiden. Nach der Ärzte-Zeitung (2008) beeinflusst die Arbeitszeit in Kliniken das Risiko für Verkehrsunfälle nach einer Schicht von über 24 Stunden 2,3-fach höher als bei kürzerer Schichtzeit; das Risiko für Beinahe-Unfälle steigt sogar um das sechsfache. Durch die Erfassung und Auswertung von Beinahe-Unfällen wird es ermöglicht, dass die Ursachen und Umstände, die zu diesem Ereignis geführt haben, aufgedeckt werden. Ziel ist die Aufklärung der verschiedenen Ursachen zur Verhütung ähnlicher Unfälle, sowie das Gewinnen und Sammeln von Daten für eine Erfassung des Unfallgeschehens. Organisationen und insbesondere das Management benötigen Informationen über Beinahe-Unfälle, dies erfordert einerseits ein funktionierendes Berichtswesen und andererseits ein gemeinsames Verständnis über den Sinn solcher Informationen, welches als kommunikative Führungsaufgabe zu etablieren ist. Dies ist notwendig, obwohl nach dem Arbeitsnehmer_innenschutzgesetz jeder Arbeitsunfall und jedes Ereignis, das beinahe zu einem Unfall geführt hätte, unverzüglich den zuständigen Personen zu melden ist. Literaturverzeichnis Ärzte Zeitung (Hrsg.) (2008): Hängt Zahl der Unfälle von der Arbeitszeit ab?, Ärzte Zeitung Nr. 210 vom 24.11.2008, S. 13 Blume, Hannes-Christian / Karsten, Hartmut (2012): Arbeitsschutzmanagement, Loseblatt mit Ordner, WEKA Media Krauss, Mario / Krell, Wolfgang (2013): DIN EN 15224:2012. Anforderungen an das Qualitätsmanagement in Gesundheitseinrichtungen. Hamburg: Behr’s Verlag Dombrowski, Uwe / Ebentreich, David (2014): Risiken erkennen und vermeiden: Potenziale von ganzheitlichen Produktionssystemen im Krankenhaus, Industrie Management, Jahrgang 30, Nummer 5, S. 62-66 Hensen, Peter / Roeder, Norbert (Hrsg.) (2009): Gesundheitsökonomie, Gesundheitssystem und öffentliche Gesundheitspflege: ein praxisorientiertes Kurzlehrbuch, Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 127 Kapitel II | Gesundheitsmanagement in der Praxis | M²CRC MasterMind Consulting Risk & Crisis GmbH Ein Beispiel für einen Beinahe-Unfall könnte ein Patient sein, dem ein falsches Arzneimittel gegeben, dies jedoch bemerkt und vor dem Verabreichen gestoppt wurde. Gesundheitsmanagement in der Praxis Kahla-Witzsch, Heike Anette / Platzer, Olga (2007): Risikomanagement für die Pflege: Ein praktischer Leitfaden, Stuttgart: Kohlhammer Kalwait, Rainer / Meyer, Ralf / Romeike, Frank / Schellenberger, Oliver / Erben, Roland (Hrsg.) (2008): Risikomanagement in der Unternehmensführung: Wertgenerierung durch chancen- und kompetenzorientiertes Management, Weinheim: Wiley Verlag 128 Müller, E.-Werner (2012): Unfallrisiko Nr. 1: Verhalten - So vermeiden Sie verhaltensbedingte Unfälle!, Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg: ecomed SICHERHEIT Welk, Ina / Bauer, Martin (2006): OP-Management: praktisch und effizient, Heidelberg: Springer Medizin Verlag
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