Zellkulturtechnik: Mit Nervenfasern von Fröschen fing alles an

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Zellkulturtechnik: Mit Nervenfasern von Fröschen fing
alles an
Die Geschichte der Zellkulturtechnik ist eng verknüpft mit der Zellbiologie und ihren
Entdeckungen. Seit es naturwissenschaftliche Forschung gibt, versuchen Forscher Zellen und
Gewebe auch außerhalb eines Organismus am Leben zu erhalten, um sie untersuchen zu
können.
Die Vorgeschichte der Zellkultur beginnt mit embryonalen Nervenfasern von Fröschen. Dem
Yale-Zoologen Ross Granville Harrison gelingt es 1907 erstmals, tierisches Gewebe außerhalb
des Körpers wachsen zu lassen. Zuvor war Wilhelm Roux 1885 mit embryonalen Hühnerzellen
in einer Salzlösung der Funktionsnachweis gelungen.
Penicillin macht Weg frei
Als Vater der Gewebekultur gilt der Chirurg und Nobelpreisträger (1912) Alexis Carrel. Ihm
verdankt die Zellbiologie das Dogma, dass Zellen in Kultur unbegrenzt teilungsfähig sind. Die
Ewigkeitstheorie hält 40 Jahre, ehe sie Leonard Hayflick und Paul Moorhead 1961 widerlegen.
Mit der Entdeckung des Pilzes „Penicillium notatum“ (1928) legt Alexander Fleming die
Grundlagen für den späteren Siegeszug der Zellkultur, die sich zuvor mit bakteriellen
Kontaminationen herumschlägt. Ende der 40er-Jahre setzt durch Wilton Earle und Kollegen
eine Entwicklung zu proteinfreien und chemisch definierten Zellkulturmedien ein, die aus der
Kunst eine Wissenschaft macht und heute noch Standard für die Kultivierung von
Primärkulturen und etablierter Zelllinien ist.
Saubohnen und unsterbliche HeLa
1951 entdecken Alma Howard und Stephen Pelc an Saubohnen das Phänomen des Zellzyklus,
den sich wiederholenden Ablauf von Ereignissen zwischen zwei Zellteilungen. 1952 wird aus
Biopsiematerial des Gebärmutterhalskrebses die erste Zelllinie aus menschlichem Gewebe
isoliert. Sie wird als HeLa berühmt und ist die erste "unsterbliche" Zelllinie, die bis heute in vitro
aufrechterhalten wird. Sie gilt als eine der häufigsten untersuchten Zelllinien, legendär sind
auch ihre Kreuzkontaminationen. 1962 entwickelt Hayflick den ersten diploiden Zellstamm WI38 aus dem Lungengewebe eines drei Monate alten weiblichen Embryos. Diese Zellen werden
Natur erschafft die schönsten Formen: Dendritische Zellen aus der Schatzkammer der Ulmer Zytogenetikerin Silke
Brüderlein © S. Brüderlein
heute noch in der Impfstoffherstellung verwendet.
Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte werden zelltypspezifische Medien entdeckt und entwickelt.
Mit dem HAT-Medium (Hypoxanthin-Aminopterin-Thymidin) gelingt John W. Littlefield 1964 die
Anzucht somatischer Zellhybride, 1965 führt Richard Ham ein serumfreies Anzuchtmedium ein.
1974 prägt MacFarlane Burnet den Begriff des Hayflick-Limits für die begrenzte
Teilungsfähigkeit normaler Zellen und grenzt ihn ab gegen gewöhnlich unsterbliche
Krebszellen. Ein Jahr später beschreiben George F. Köhler und César Milstein erstmals die
Dauerkultur fusionierter Zellhybride (Lymphozyten mit Krebszellen), die als erste HybridomaZelllinie für die Herstellung von Antikörpern eingesetzt wird. Im gleichen Jahr wird die
biologische Uhr der Zellen, der Replikometer, im Zellkern lokalisiert. Elizabeth Blackburn
entdeckt in Wimpertierchen, dass die Telomere aus hintereinandergeschalteten Repeats
bestehen. Carol Greider und Elizabeth Blackburn entdecken ein Jahrzehnt später das
Unsterblichkeitsenzym Telomerase.
1981 wandelt Hayflick mit einem chemischen Karzinogen und Strahlung eine normale humane
Zellpopulation zu einer unsterblichen Zelllinie um. 1998 weisen Woodring Wright und die USFirma Geron nach, dass die Chromosomen-Kappen, die Telomere, der von Hayflick postulierte
Replikometer sind. Jerry Shay und Wright zeigen 2000 am Tiermodell der Scid-Maus (Scid =
severe combined immunodeficiency), wie hTERT-immortalisierte Zellen (hTERT: humane
telomerase reverse transkriptase) bei der Entwicklung von Techniken zur Gewebeanzucht
eingesetzt werden können.
Ersatzmodell, Forscherwerkzeug, Fabrik und Prüfmedium
Heute hat sich die Zellkulturtechnik zu einer der am weitesten verbreiteten Ersatztechniken für
Tierversuche entwickelt. In der zell- und biotechnologischen Forschung ist sie zu einem
unverzichtbaren Werkzeug geworden. In der biomedizinischen Forschung ist die Erzeugung von
zurückprogrammierten Stammzellen (induzierte pluripotente Stammzellen) nach einem Hype
mit embryonalen Stammzellen zu einem der am schnellsten wachsenden Gebiete geworden.
2010 wandelt ein österreichischer Stammzellforscher im Labor Hautzellen einer Maus in
Nervenzellen um, später gelingt dies in Zellkultur mit menschlichen Zellen.
Zellzyklus, das A und O der Zellkulturtechnik
Immunhistochemische Aufnahme von Keratin und Desmosomen in humaner Tumorzelllinie ACH1P © DSMZ
Ohne genaue Kenntnis des Zellzyklus lässt sich mit Zellkultur weder vernünftig forschen noch
verlässlich produzieren oder testen. So stellen bestimmte Zelltypen wie Nerven- und
Leberzellen oder Lymphozyten ihr Wachstum ein, wenn sie ausgereift sind. Diese Ruhephase
kann Wochen bis Monate dauern, Lymphozyten beispielsweise können diese durch Zugabe
pflanzlichen Lektins aber verlassen.
Reguliert wird der Zellzyklus durch viele innere wie äußere (vor allem physiologische)
Parameter. Zellen stoppen ihr Wachstum, wenn ihnen Nachbarzellen zu nahe kommen
(Kontakthemmung) oder beschädigtes Erbgut entsprechende Signale aus oder in die Zelle
sendet. Wesentlich ist ein ausreichendes Angebot an Nährstoffen; hungern Zellen, hören sie
auf zu wachsen, streiken und betreiben Zellzyklusarrest. Auch interne Faktoren regulieren den
Zyklus; so teilen sich Zellen erst ab einer bestimmten Größe oder wenn die Verdopplung des
Erbguts vollständig ist. Diese Faktoren markieren so etwas wie Kontrollpunkte; es gibt solche
für DNA-Schäden und für die Spindelbildung (in der Metaphase während der M-Phase).
Die molekularen Kontrollmechanismen des Zellzyklus muss man sich als komplexes
Zusammenspiel spezieller Zyklus-Proteine wie Cycline, Cyclin-abhängige Kinasen , andere
Kinasen und Phosphatasen vorstellen. Desgleichen regulieren auf negativem Wege zwei
Klassen von Inhibitoren (CIP = CDK inhibitory proteins; INK4 = Inhibitor of kinase 4) den
Zellzyklus. In das feine Räderwerk des zellulären Lebensablaufes greifen auch
Tumorsuppressorgene und Protoonkogene ein.
Der programmierte, genetisch kontrollierte Selbstmord (Apoptose) und die meist von äußeren
Einflüssen (wie verletztes Gewebe) herbeigeführte Nekrose sind die von der Wissenschaft
benannten Formen des Zelltodes, der aus Sicht der Zellbiologen physiologisch ebenso wichtig
ist wie die Vermehrung.
Da Forscher vielfach mit Krebszellkulturen arbeiten, sollten sie deren Unterschiede zu
gesunden, normalen Zellen kennen. Entartete Zellen weisen eine gesteigerte Proliferation auf,
verfügen über eine eingeschränkte Apoptose, haben keine oder inaktivierte regulatorische
Proteine , sind genomisch instabil, unsterblich, haben keine Kontakthemmung mehr und
sprechen nicht auf Wachstumsfaktoren an.
Anders als bei Tumor- oder transformierten Zellen müssen primäre Zellen erst experimentell
zu unsterblichen gemacht werden, was oft durch Zugabe mutagener Agenzien, Strahlung und
eingeschleustes fremdes Erbgut geschieht. Fremde DNA kann in Wirtzellen entweder durch
Transfektion (Calciumphosphat-Präzipitation, Elektroporation oder auch lipidvermittelte
Transfektion) oder Transformation (oft virale Infektion) eingebracht werden.
Zellkulturen, Zelllinien und ungebetene Gäste
Schrecken vieler Zellkulturen. Diese elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt eine HeLa-Zelllinie, die mit
spaghettiförmigen Mycoplasmen infiziert ist. © DSMZ
Für nahezu jede Frage halten Zellkulturbanken wie ATTC (American Type Culture Collection),
ECACC (European Collection of Cell Cultures), DSMZ (Deutsche Sammlung von
Mikroorganismen und Zellkulturen) oder JCRB (Japanese Collection of Research Bioresources)
eine passende Zelllinie oder einen geeigneten Zellklon aus einer Vielzahl von Spezies parat.
Zwar setzt in der Wissenschaftswelt allmählich ein Umdenken ein, doch immer noch weisen
zahlreiche Zelllinien Kontaminationen (im zweistelligen Prozentbereich) auf oder stammen aus
anderem Gewebe oder sogar einer anderen Spezies. Dies bestätigt Hans Drexler, Bereichsleiter
menschliche und tierische Zellen am DSMZ. Sein Kollege Willi Dirks identifiziert die
eingehenden Zelllinien mit DNA-Fingerprinting und hat mit JCRB und ATTC einen OnlineIdentitätscheck humaner Zelllinien erarbeitet, die mit einer riesigen Datenbank abgeglichen
werden.
Es lassen sich sterbliche (finite) von unsterblichen (permanente/kontinuierliche) Zellkulturen
unterscheiden. Humane finite Zellkulturen entstammen gewöhnlich von aus
Körperflüssigkeiten (Pleurasekret, Fruchtwasser) isolierten Zellen. Nur zeitlich begrenzt
vermehrbare Zellen können auch Geweben und Organen von Mensch, Tier und Pflanze
entnommen worden sein.
Im Labor lässt sich Unsterblichkeit herstellen
Permanente Kulturen sind entweder aus Tumorzellen, transformierten bzw. stabil
transfizierten (also gentechnisch manipulierten) Zellen hervorgegangen oder sind mit
Telomerase immortalisierte Zellen, die im Prinzip in entsprechenden Medien unsterblich sind.
Viele auf Tumorzellen basierende Dauerkulturen haben nur mehr sehr wenige ihrer
ursprünglichen Eigenschaften behalten; sie wachsen auf Weichagar oder verfügen über
deutlich mehr Chromosomen.
Wer mit einer normalen, aber permanenten Zelllinie arbeiten will, kann auf solche
zurückgreifen, die durch Transfektion mit Telomerase unsterblich gemacht wurden. Diese hTERT-Zelllinien (human Telomerase Reverse Transcriptase) ermöglichen langfristige
biochemische und physiologische Untersuchungen des Zellwachstums.
Dauerkulturen weisen einen „transformierten Phänotyp“ auf. Diese Zellen haben eine andere
Morphologie; normalerweise anhaftende Zellen können diese Fähigkeit wie auch die
Kontakthemmung verlieren oder ohne Substratkontakt wachsen. Zellen in Dauerkulturen sind
unabhängiger von Wachstumsfaktoren, ihre Ansprüche an das Serum sinken, gewöhnlich
weisen sie Chromosomenaberrationen, Aneuploidien oder beides auf. Weiterhin altern diese
Zellen nicht, können sich unbegrenzt teilen und haben oft die Fähigkeit zur Apoptose verloren.
Transformierte Zellen müssen nicht bösartig sein. Ihr Vorteil liegt wie bei Tumorzellen darin,
dass sie ständig verfügbar sind; nachteilig allerdings ist, dass sie sich vom In-vivo-Ursprung
entfernt haben.
Da Primärzellen diejenigen Zellkulturen sind, welche am wenigsten verändert sind und den
Bedingungen im Organismus am nächsten kommen, eignen sie sich für Fragen zu
Zellstoffwechsel oder Zellmorphologie, desgleichen auch für Probanden- oder
Patientenstudien. Differenzierungsvorgänge von Immunzellen lassen sich beispielsweise nur an
Primärkulturen untersuchen. Auch für Genuntersuchungen auf Expressionsebene bevorzugt
man Primärzellen, die sich wegen ihrer physiologischen In-vivo-Nähe für zellbasierte
Screeningverfahren besser eignen. Primärzellen stehen aus diesen Gründen zwischen den
künstlichen Zellkultursystemen und den In-vivo-Tierversuchen.
Einsatzmöglichkeiten der Zellkulturen
Bei Boehringer Ingelheim in Biberach werden biotechnische Medikamente auf der Basis von Zellkulturen hergestellt.
Im Bild das Animpfen der Zellkulturen im Labor als erste Stufe der späteren Zellvermehrung im großtechnischen
Maßstab. © Boehringer Ingelheim
Mit Hilfe von Zellkulturen lassen sich viele grundlegende Prozesse untersuchen, ohne dass
Tiere dafür ihr Leben lassen müssen. Für manche Zusatzstoffe wie Seren allerdings oder für die
Organentnahme müssen auch Tiere sterben. Als Alternative zum Tierversuch stellen
Zellkultursysteme häufig einen sinnvollen Ersatz dar. Entscheidender Vorteil der Zellkultur ist,
dass sie sich genau kontrollieren und standardisieren lässt, durch Temperatur oder
Nährstoffmedien.
Zellkulturtechnik ist aber nicht nur ein Forschungsinstrument: In Bioreaktoren dienen
gentechnisch umprogrammierte Zellen als pharmazeutische Fabriken, in denen
Biopharmazeutika zur Behandlung zahlreicher Krankheiten produziert werden. Deren
Herstellung ist seit nahezu 20 Jahren etabliert. Sehr häufig zum Einsatz kommen zum Beispiel
CHO-Zellen (Chinese Hamster ovary), oder Insektenzellen mit Baculovirus-Expressionssystem.
Die zunehmende Verschmelzung von Zellbiologie, Molekularbiologie, Bioverfahrenstechnik und
funktioneller Genomanalyse und Bioinformatik könnte der Zellkulturtechnik den Weg in
modellhaft-theoretische Dimensionen (Systembiologie) weisen.
Naturgemäß spielen Säugetierzellen die größte Rolle in der pharmazeutischen Forschung. Für
die pharmazeutischen Produktion in Bioreaktoren sind aber auch Pflanzenzellen, Bakterien
und Pilze relevant.
Mit Hilfe von Zellkulturen lassen sich viele Fragen beantworten oder zumindest erklären und
untersuchen: Das können intrazelluläre Parameter wie die DNA-Synthese im Kern oder die
Proteinregulation sein oder die Transport- oder Signalwege in der Zelle. Auf zellulärer Ebene
lassen sich auch viral bedingte Infektionsmechanismen aufklären und
Differenzierungsprozesse induzieren. Mit Hilfe von Zellkulturen werden Implantate,
pharmazeutische Wirkstoffkandidaten, umweltgefährdende oder andere chemische Stoffe auf
ihre Toxizität untersucht (vgl. hierzu beispielsweise das EU-Projekt DETECTIVE: Detection of
endpoints and biomarkers of repeated dose toxicity using in vitro systems).
Quellen (Auszug):
Sabine Schmitz, Zellkultur (Reihe Experimentator), Heidelberg 2009.
Olaf Fritsche, Biologie für Einsteiger, Heidelberg 2010.
Reinhard Renneberg, Biotechnologie für Einsteiger, Heidelberg 2006
DSMZ - Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen, Braunschweig (www.dsmz.de)
Dossier
25.07.2011
Walter Pytlik
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
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