Domvikar Michael Bredeck Paderborn Kirche in WDR 3-5 01.06. – 06.06.2015 Montag, 01. Juni „Mit dem Jesus von Nazareth“ Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, vor einigen Wochen war ich auf einer Tagung in Berlin. Die Zeit reichte leider nicht dazu, etwas mehr von der Hauptstadt zu sehen. Aber einen Ort habe ich doch besucht, der mich nachhaltig beeindruckt hat. Ganz nahe bei der Katholischen Akademie liegt der Dorotheenstädter Friedhof. Neben vielen anderen Prominenten ist dort auch Johannes Rau begraben. Mir geht es jetzt nicht um seine politische oder staatsmännische Bedeutung als NRW-Ministerpräsident oder als Bundespräsident. Und auch seiner Familie ging es wohl nicht darum, als sie eine Grabinschrift für ihn ausgesucht hatte. Nachhaltig beeindruckt hat mich nämlich, was auf seinem Grab steht. Unten am Grabstein findet sich ein Satz, den ich bis dahin noch nirgendwo auf einem Friedhof gelesen hatte. „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth". Man muss vor Ort vielleicht zweimal hinschauen und im Radio zweimal hinhören, um es zu verstehen: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“. Das soll wohl heißen: Der Mensch, der hier begraben liegt, war einer, dem Jesus von Nazareth etwas in seinem Leben bedeutet hat. In der Sprache des christlichen Glaubens ausgedrückt: Dieser Mensch war ein Jünger von Jesus. Ich habe seitdem häufig von diesem Spruch am Grab von Johannes Rau erzählt. Denn ich finde, er ist ein wirklich großartiger Impuls für Sie und mich, für das eigene Leben. Der Spruch hat es in sich, wenn ich ihn nicht nur als Aussage über diesen einen Menschen Johannes Rau verstehe, sondern als eine mögliche Aussage über mich. Oder noch mehr als eine Frage an mich: Bin ich auch mit dem Jesus von Nazareth? Und so würde ich jetzt Sie am liebsten persönlich fragen, liebe Hörerinnen und Hörer: Sind Sie mit dem Jesus von Nazarethh? Eine weitere Frage könnte sein: Was bräuchte es an Entscheidungen, um mit dem Jesus von Nazareth zu sein? Bin ich auch mit dem Jesus von Nazareth? Jetzt muss noch etwas weiter nachgedacht werden. Woran kann man merken, dass ein Mensch mit dem Jesus von Nazareth ist? Ich meine, das hängt wohl in erster Linie an einer persönlichen 1 Entscheidung, dass Jesus in meinem Leben eine Bedeutung haben soll. Ein Mensch, der mit Jesus von Nazareth ist, braucht irgendeinen Punkt, der ihn an Jesus anspricht und anrührt. So wie es damals war bei den ersten Menschen, die Jesus folgten: die Fischer am See Genesareth, Petrus, sein Bruder Andreas und weitere Bekannte aus Kafarnaum, sie waren ja die ersten, die mit Jesus von Nazareth waren. Gerade von Petrus wissen wir durch die Evangelien, wie sehr dieser Weg an der Seite Jesu Höhen und Tiefen kannte und Leidenschaft und Versagen. Mit Jesus zu sein, ist also mehr als eine anfängliche Begeisterung. Ein Strohfeuer reicht dafür nicht aus. Es muss ein Punkt sein, auf den ich letztlich mein Leben bauen kann. Diesen Punkt gibt es bei Jesus. Im Neuen Testament gibt es dafür ganz verschiedene Ausdrücke. Einer, der mich besonders anspricht, ist das Wort, das Petrus einmal zu Jesus sagte: „Herr, du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68) Das heißt: Jesus, was du mir geben kannst, geht weit über das hinaus, was mir sonst irgendjemand oder irgendetwas in dieser Welt geben kann. Was das genau ist, das wird bei uns allen sehr verschieden sein. Ich zum Beispiel glaube, dass Jesus mir einen Lebenssinn anbietet, der in Höhen und Tiefen trägt. Für mich ist dieser Punkt Ausgang für ein Lebensprojekt, für mein Lebensprojekt: Jünger Jesu sein. „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“. Als ich am Grab von Johannes Rau stand und diese Worte las, dachte ich spontan: Ich wäre sehr zufrieden, wenn man das später auch einmal über mich sagen könnte. Eine Kurzformel für mein Leben. Vielleicht können Sie mit diesem Gedanken ja auch etwas anfangen, liebe Hörerinnen und Hörer. Überlegen Sie doch mal, ob Sie auch ein Mensch mit dem Jesus von Nazareth sind oder sein wollen. Aus Paderborn grüßt Sie Domvikar Michael Bredeck. 2 Dienstag, 02. Juni Ausnahme Ehe Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, am kommenden Samstag werde ich wieder einem Paar „bei der kirchlichen Trauung assistieren“, wie es offiziell in der Kirchensprache heißt. Meist sagt man: ich werde dieses Paar trauen. Auch nach fast zwanzig Jahren als Priester kann ich sagen: Für mich gehört das immer noch zu den schönsten und ehrenvollsten Aufgaben. Und ich bin froh, dass ich jedes Jahr einige Paare auf ihrem Weg zur kirchlichen Trauung begleiten darf und dann die Hochzeit in der Kirche mit ihnen feiern kann. Die Feier in der Kirche bringt etwas Wichtiges zum Ausdruck: Wenn zwei Menschen ihre Liebe in der Form der Ehe leben, dann ist das nach christlichem Verständnis nämlich nicht nur eine Sache zwischen den Beiden. Vielmehr spiegelt sie etwas wieder von der Liebesbeziehung, die Gott zu den Menschen sucht. Sie ist ein Zeichen, ein Sakrament. Und dieses Bewusstsein soll in den vielen großen und kleinen Herausforderungen einer Ehe tragen. Ich habe großen Respekt vor dem Schritt, heute eine kirchliche Trauung zu feiern. Denn anders als vor vierzig oder fünfzig Jahren ist das heute keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eher eine Ausnahme. Und so freue ich mich immer, wenn mich eine Email erreicht, in der ein Paar mich bittet, gemeinsam mit ihm die kirchliche Trauung zu feiern und natürlich auch vorzubereiten. Das sieht dann konkret so aus, dass ein erstes Treffen vereinbart wird, um sich kennenzulernen oder, wenn man sich schon persönlich kennt, um sich genauer kennenzulernen. Und dann geht es in der Vorbereitung um einen Blick auf all das, was diese zwei konkreten Menschen füreinander empfinden und miteinander zu gestalten bereit sind. Mir geht es dabei immer so, dass ich nicht nur etwas über zwei Menschen erfahre und ihre Geschichte – auch wenn diese Geschichte immer etwas ganz Eigenes und damit für mich auch etwas Heiliges ist. Ich erfahre auch etwas von dem, über das ich und sicher nicht nur ich so oft in Predigten spreche: wie das große und schöne Geheimnis der Liebe konkret wird in zwei Menschen und in ihrem gemeinsamen Weg miteinander und mit Gott. In der gemeinsamen Vorbereitung, die aus wenigstens zwei längeren Treffen besteht, geht es dann darum, diesen Weg miteinander und den gemeinsamen Weg als Paar mit Gott zu deuten und zu 3 erkennen. An irgendeinem Punkt kommen wir natürlich auch auf den Glauben an Gott zu sprechen. Ich habe in all den Jahren nur ganz selten gehört, dass Menschen auf dem Weg zur kirchlichen Trauung sagen, dass sie nicht an Gott glauben können. Über solche persönlichen Themen geht es in der Ehevorbereitung vor der kirchlichen Trauung. Natürlich ist das nicht ganz einfach, denn wann spricht ein Paar mit Außenstehenden schon mal über so persönliche Dinge? Und dann noch mit einem Priester, der ja selbst nicht in der Ehe lebt? Aber wenn das Eis gebrochen ist, entwickelt sich in aller Regel ein intensives Gespräch über Gott und die Welt oder hier dann eben über Gott und die Liebe. Und in der Regel werden diese Gespräche eher zu einem Gespräch des Paares miteinander, als dass sie auf meine Fragen antworten würden. Liebe Hörerinnen und Hörer. Ich meine aufgrund solcher Gespräche: Es ist doch im Grunde ganz einfach, irgendwann im Leben, etwa vor der kirchlichen Trauung, neu damit zu beginnen, das eigene Leben mit den Augen des Glaubens anzuschauen. Dazu gehören Fragen wie: welche Punkte haben mich nah zu Gott und welche weiter von ihm weg geführt? Welche Personen waren oder sind für meinen Glauben von Bedeutung? Und an wem konnte oder kann ich gut erkennen, was das eigentlich bedeutet, an Gott zu glauben. Solche Fragen sind für alle Menschen von Bedeutung, nicht nur für Menschen wie Kathi und Dominik – so heißen die beiden, die ich am Samstag in der Kirche trauen werde. Vielleicht finden Sie heute Zeit, irgendwann im Lauf des Tages einmal Kontakt mit Gott aufzunehmen und ihm zu danken für seine Nähe. Das wünscht Ihnen Ihr Domvikar Michael Bredeck aus Paderborn 4 Mittwoch, 03. Juni Gedanke Gottes Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, bei Taufen wird manchmal ein Lied gesungen, das ich auch persönlich ganz gerne mag. Der Text beginnt so: Vergiss es nie, dass du lebst war keine eigene Idee – und dass du atmest, kein Entschluss von dir. Stimmt ja auch. Keiner, weder Sie noch ich, haben beschlossen, zu leben. Wir selber konnten uns nicht den Lebensatem schenken, der in uns schlägt. Das Lied geht dann so weiter: Vergiss es nie, dass du lebst, war eines anderen Idee, und dass du atmest, sein Geschenk an dich. Stimmt, jedenfalls, wenn man religiös empfindet. Denn dass es Sie und mich gibt, ist für einen religiösen Menschen die Idee eines Anderen gewesen, die Idee Gottes. Und so heißt es dann am Ende des besagten Liedes auch: Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder dur, du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu – du bist du – das ist der Clou – ja, der Clou, der Clou bist du. Für mich als Priester, aber vor allem als Christ ist es ganz wichtig, jeden Menschen, dem ich begegne, so anzuschauen: Du bist ein Gedanke Gottes. Natürlich fällt es manchmal schwerer und manchmal leichter wie im Lied hinzuzufügen: ein genialer Gedanke. Aber erst einmal ist jeder Mensch ein Gedanke Gottes. In der Theologensprache heißt das dann: Gottebenbildlichkeit. Und übersetzt in politische Kategorien: Menschenwürde. Bei den vielen Auseinandersetzungen, die es in unserer Gesellschaft um fast alle Themen des menschlichen Lebens heute gibt, ist diese Überzeugung hoffentlich mehr als der kleinste gemeinsame Nenner: dass jeder Mensch eine unbedingte Würde hat – und für religiös eingestellte Menschen kommt diese Würde eben daher, dass jeder Mensch ein Gedanke Gottes ist – egal, ob das Lebenslied gerade in Moll oder in Dur gesungen wird. Sie und ich sind ein Gedanke Gottes – und das gilt in guten und in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit. Es scheint so, dass immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft dieses Vertrauen nicht mehr haben oder nie gefunden haben. Es wäre für die Christen und die Kirchen eine ganz wichtige Aufgabe, Menschen in diesem Vertrauen zu stärken, dass ihr Leben ein Entschluss Gottes ist. Denn wenn ich so auf mein Leben schaue, dann verändert sich die gesamte Perspektive. Dann werde ich dankbarer dafür, dass es mich gibt – und die vielen Menschen um mich herum. Dann werde ich offener für die 5 Idee, dass ich einmalig bin in dieser Welt und gerade deshalb unersetzlich. Dann beginnt eine Ahnung in mir, dass Gott durch mich mit meinen oft so begrenzten Mitteln dieser Welt ein einzigartiges Geschenk machen wollte. Und dann finde ich auch leichter die Aufgabe, die nur mir zufällt in dieser Welt und in diesem Leben. Als vor etwas mehr als zehn Jahren Papst Benedikt XVI. in sein Amt eingeführt wurde, hat er diese Überzeugung ins Zentrum seiner ersten öffentlichen Predigt als Papst gestellt. Für mich sind seine Worte ein Ansporn auf allen Feldern, auf denen ich als Priester tätig bin, zu handeln. Papst Benedikt sagte damals: „Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht.“ Ich will nicht verschweigen, dass es vielen Menschen schwerfällt, das so zu sehen. Und es gibt in jedem Leben ja tatsächlich genug gute Gründe dafür, in Moll zu empfinden, streckenweise oder manchmal auch als Grundstimmung. Aber es wäre schon viel damit getan, wenn jeder sich bemüht, den Menschen, die einem den Tag über so über den Weg laufen, so gegenüberzutreten, in der Haltung, dass jeder ein Gedanke Gottes ist. Vielleicht können Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, das ja heute einmal versuchen. Einen gesegneten Tag wünscht Ihnen aus Paderborn Ihr Domvikar Michael Bredeck. 6 Donnerstag, 04. Juni Exoten Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, vor einigen Jahren sah ich einen Cartoon mit dem Titel „Exoten“. Da war eine Gruppe Menschen bei einem Sektempfang gezeichnet. Einer trug ein schwarzes Sakko, alle anderen waren hell gemalt. Und bei einem war eine Sprechblase, darin stand: „Christ? Ach, interessant, und was macht man da so?“ Als ich den Cartoon mal in einer Gruppe von engagierten Gemeindemitgliedern herumgereicht habe, habe ich schnell erfahren, dass der ein oder andere diese Situation nur zu gut kannte. Christ – Ach interessant. Und was macht man da so? Könnten Sie, falls Sie Christ sind, eine Antwort auf diese Frage geben? So ganz einfach ist das wohl gar nicht. Heute ist Fronleichnam – ein Fest an dem sich traditionell die katholischen Christen auf die Straßen trauen und zeigen: hier sind wir. Die Tage las ich, dass es in den großen deutschen Städten wie Berlin, Hamburg und München schon heute weniger als jeder zweite Bewohner überhaupt Christ oder Christin ist. Auch wenn in unserem Land überall die Zeichen der christlichen Kultur zu finden sind, werden Christen tatsächlich zu Exoten, wie der Cartoon sagt. Und selbst in einer traditionell katholischen Stadt wie Paderborn, in der ich lebe, ist das schon an manchen Orten spürbar. Die Frage wird häufiger kommen – Christ, ach interessant. Und was macht man da so? Und es wird gut sein, wenn Christen darauf antworten könnten. In der Regel haben die Meisten sich genau so wenig bewusst entschieden wie ich, ein Christ zu sein. Die allermeisten wurden und werden noch immer als kleine Kinder getauft. Die Eltern wollten es so Das Christentum wurde quasi vererbt. Und was das Christentum ausmachte, war ebenso fast selbstverständlich wie unreflektiert. Je weniger dieses „vererbte Christentum“ in unserem Land verbreitet ist, desto mehr kommt der einzelne Christ unter Druck. Angesichts vieler Freunde, Bekannter oder Arbeitskollegen, die keine oder eine andere Religion haben, wächst vielleicht die eigene Unsicherheit, überhaupt genauer sagen zu können, was man denn als Christ so macht. 7 Ich möchte Ihnen heute zwei Antworten anbieten. Die erste ist: ein Christ, eine Christin betet. Und die zweite: ein Christ, eine Christin versucht, an Jesus Christus Maß zu nehmen. Das erste: Als Christ bete ich. Dafür gibt es äußere Zeichen: Das Kreuzzeichen, die gefalteten Hände, Kreuze und Bilder, die ich betrachte; es gibt feste Gebete, die ich auswändig kenne wie das Vater Unser. Beten ist aber nicht an bestimmte Formen oder Worte gebunden. Ich meine, es beginnt schon da, wo ich bewusst Kontakt suche mit Gott, wo ich meine eigenen Gedanken oder Taten kürzer oder länger unterbreche und eine Brücke betrete, die von Gottes Seite her immer besteht. Wenn ich bete, wende ich mich an Gott, weil ich weiß, aus mir heraus weiß ich nicht alles, verstehe ich nicht alles, erkenne ich nicht alles und kann auch nicht alles. Beten ist auch etwas anderes als Gespräch. Beten geht weiter, setzt tiefer an. Und das zweite: ein Christ, eine Christin, versucht, an Jesus Christus Maß zu nehmen. Ich versuche, mit Worten von Jesus zu leben oder durch den Tag zu gehen. Ich versuche, wie er zu handeln. Ich versuche, zu fragen: was würde Jesus in dieser Situation tun? Alles natürlich immer unvollkommen – aber doch sehr ernsthaft. Christ? Ach, interessant – und was macht man da so? – Vielleicht haben Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, ja Interesse, dieser Frage mal weiter nach zu gehen, mit Ihren eigenen Erfahrungen. Einen guten Fronleichnamstag wünscht Ihnen Domvikar Michael Bredeck aus Paderborn. 8 Freitag, 05. Juni Kopf hoch? Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, es gibt so manche Sprüche, die mir gar nicht gut gefallen, auch wenn sie vielleicht ganz gut gemeint sind. Ich kann mich erinnern, als ich vor einigen Jahren in einer längeren Phase persönlicher Sorgen war, dass mich zwei Sprüche ziemlich aufregten, obwohl sie mich eigentlich ermutigen sollten. Der eine Spruch hieß: „Zeit heilt alle Wunden“, der andere: „Kopf hoch, das wird schon wieder“. Natürlich meinen Menschen es gut, wenn sie in schwierigen Situationen versuchen, andere mit solchen oder ähnlichen Worten zu trösten. Und trotzdem werden solche Worte einem konkreten Menschen in seiner Situation meist nicht gerecht. Können sie ja auch gar nicht. Denn was da mit der Zeit geheilt werden könnte, tut im Moment sehr weh. Und was da irgendwann vielleicht wieder werden könnte, hat im Moment eine ungeheure Schwere. Im Umgang mit Menschen, denen es derzeit schlecht geht, braucht man eine Menge Fingerspitzengefühl und Empathie. Ändern lässt sich ja meistens nichts, weil die Situation ist, wie sie ist. Im Neuen Testament gibt es einen Vers, der in diesem Zusammenhang vielleicht in eine andere Richtung weist. Der Apostel Paulus sagt: „Einer trage des Anderen Last. So erfüllt ihr Christi Gesetz“ (Galaterbrief 6,2). Ich habe mich schon oft gefragt, wie Paulus das denn wohl gemeint hat. Natürlich können wir einander helfen, etwas zu tragen. Bestimmt können wir dabei einander unterstützen, mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Aber des Anderen Last zu tragen, wie soll das gehen? Wir haben doch oft schon genug mit uns selbst und unseren Lasten zu tragen. Es heißt im Galaterbrief dann auch noch: So erfüllt ihr Christi Gesetz. Es hat also etwas mit dem christlichen Glauben zu tun, einander Lasten zu tragen. Auf dem letzten Weg Jesu zur Kreuzigung wird das ja auch berichtet: da wird ein Mann, Simon von Zyrene mit Namen, von den Römern gezwungen, das Kreuz Jesu zu tragen. Jesus allein drohte unter der Last des Kreuzes zusammen zu brechen. Wir brauchen uns gar nicht so viele Gedanken machen, was denn ein christliches Leben eigentlich ausmacht, wenn wir von diesem Beispiel lernen. Das gehört zu einem christlichen Lebenskonzept dazu: die Bereitschaft, sich den Problemen, den Nöten eines anderen Menschen wirklich auszusetzen und ihn dann zu stützen und zu unterstützen. Natürlich soll sich keiner überfordern. Menschen mit einem weiten und 9 selbstlosen Herzen werden oft ausgenutzt oder bringen sich selbst an Grenzen ihrer Kraft. Und wir können letztlich nie die Probleme anderer Menschen lösen, indem wir sie auf unsere Schultern laden. Aber die Probleme mittragen – das ist eine Solidarität, die bei den Christen von Anfang an verbreitet ist. Der Auftrag, auf einander zu achten, kommt von Jesus selbst. Wenn ich christlich leben will, dann komme ich nicht darum herum, Augen und Ohren, Hände und manchmal auch das Portmonnaie zu öffnen, um Not zu lindern oder einem anderen Menschen beizustehen. Dann habe ich einen besonderen Blick auf die Welt. Ein Blick, der sich berühren lässt, vom Anderen – auch in seinen Leiden. Das genau ist wahrscheinlich auch das Problem mit Sprüchen wie „Kopf hoch, das wird schon wieder“. Wer das sagt, dem kann die innere Berührung mit dem Leid des Anderen fehlen. Das muss nicht zwangsläufig so sein, aber gut ist es schon, zumindest sensibel für diese Gefahr zu sein. Wir Menschen haben eine ganz große Gemeinsamkeit, jedenfalls aus der Sicht eines religiösen Menschen: wir sind Kinder des einen Vaters im Himmel. Vielleicht begegnet Ihnen heute oder in den nächsten Tagen ein Mensch mit einer konkreten Situation, in der Sie auf einfache Weise wirksam werden können. Aus Paderborn grüßt Sie Domvikar Michael Bredeck. 10 Samstag, 06. Juni Start up Kirche Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, in diesen Tagen zieht mein jüngerer Bruder nach Hamburg. Er hat dort zum 1. Juni dieses Jahres eine neue Arbeit gefunden – in einem „Start Up“-Unternehmen. Das sind hochdynamische Firmen voller kreativer, junger Leute, die bereit sind, sich stark zu engagieren und viel zu leisten. Mein Bruder, er ist noch keine dreißig Jahre, freut sich sehr über diese riesige Chance, die ihm da geboten wird. Natürlich spreche ich mit meinem Bruder auch schon mal über die Kirche. Die ist freilich eine ganz andere Welt als so ein junges Unternehmen. Wenn mein Bruder mir zu verstehen gibt, dass er die Kirche – vorsichtig gesagt – nicht für einen attraktiven Arbeitgeber oder ein attraktives Umfeld hält, macht mich das nachdenklich. Er meint, dass dort Kreativität und Engagement nicht so gefragt sind. Und dass da auch nicht so richtig viel passiert. Und, wie Sie wahrscheinlich wissen, steht er mit diesem Eindruck nicht alleine. Offen gestanden ertappe ich mich selbst ja auch dabei, dass ich denke, na ja, etwas mehr Engagement und Einsatz, etwas mehr Mut und Power täte in der Kirche schon gut. So einiges liegt in der Kirche im Argen, weil es da oft ganz schön viel Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit gibt und vor allem Angst vor Veränderungen und Entwicklungen, die in unbekanntes Terrain führen. Vielleicht liegt es auch daran, dass nur selten wirklich junge Menschen in leitender Verantwortung stehen in Gremien oder Gruppen der Kirche. Ich frage mich, gerade als Priester, wie ein Ausweg aus diesem Dilemma aussehen könnte. Wie könnte es gehen, dass junge Menschen wie mein Bruder und so viele andere der Kirche wieder etwas mehr Kraft und Power zutrauen? Und noch mehr: Wie könnte es gehen, dass junge Menschen die Kirche als attraktiven Lebensort wahrnehmen? Wie könnten junge Menschen sich daran freuen, sich als Christ, als Christin in dieser heutigen Welt zu engagieren? Ein Paar, das ich vor einigen Wochen getraut habe, erzählte mir, dass sie sich gerne konkret für kirchliche Flüchtlingshilfe einsetzen würden. Aber wo und wie können sie sich schnell und zuverlässig über entsprechende Möglichkeiten informieren? 11 Mir fiel zunächst nicht ganz schnell etwas ein, was ich ihr antworten konnte. Vermutlich war das auch ganz gut, denn es geht ja gerade nicht mehr darum, andere für vorgefertigte Aufgaben zu rekrutieren, sondern von den Talenten und Fähigkeiten her Felder für Engagement zu finden. Und das kann man nicht planen, aber man kann dafür die Wege bereiten. An ein gelungenes Beispiel erinnere ich mich in diesem Zusammenhang sehr gerne: An meiner zweiten Stelle engagierte sich plötzlich ein Unternehmensberater in der Kirchengemeinde. Bei einem Besuch zuhause erzählte er mir, wie das kam: er hatte den Pfarrer einfach gefragt, ob er etwas für die Gemeinde vor Ort tun könnte. Der Pfarrer war ein mutiger Mann und sagte: Sie sind doch Unternehmensberater. Beraten Sie doch mal unsere Gemeinden dabei, Veränderungen nicht bloß zu erleiden sondern auch zu gestalten und damit Entwicklungen anzustoßen. Herausgekommen waren verschiedenste Zukunftswerkstätten mit den Gremien und viele andere konkrete Neuerungen und Ideen für das Gemeindeleben. Und das, obwohl die Kirche bislang kein besonders wichtiger Ort im Leben dieses Unternehmensberaters war. Ein schönes und gelungenes Beispiel, von dem ich hoffe, dass es häufiger Wirklichkeit werden kann. Dafür allerdings müsste sich etwas bewegen in den Kirchen: ein weites, offenes und dynamisches Verständnis von Engagement. Und ein flexibler Umgang mit Menschen, die sich und ihr Engagement anbieten. Da könnte die Kirche schon eine Menge von jungen Menschen und jungen Unternehmen heute lernen. Wer weiß, vielleicht hat ja auch mein Bruder irgendwann einmal Lust, sich mit seinen Talenten und Erfahrungen auch über den Beruf hinaus zu engagieren. Unsere Gesellschaft und natürlich auch die Kirchen leben davon. Vielleicht habe ich Sie neugierig gemacht, liebe Hörerinnen und Hörer, mal auf Entdeckungsreise zu gehen bei sich selbst. Was können Sie denn besonders gut – was interessiert Sie und wofür würden Sie sich gerne einsetzen – als Christ, als Christin, als engagierter und einsatzbereiter Mensch? Aus Paderborn grüßt Sie herzlich Domvikar Michael Bredeck. 12
© Copyright 2024 ExpyDoc