Den Missbrauch erlebte Christiane in Flashbacks und Träumen immer wieder. Erst die Konfrontation mit dem Trauma in der Therapie half ihr 2 B R I G I T TE .DE 10 /2 0 1 5 FOTO G AL L ERY STOC K BALANCE Sie müssen sich nicht lieben, aber aufhören, sich zu hassen S Christiane Gersting* verliebte sich mit 15 in einen Sadisten und wurde sechs Monate lang gequält. Seitdem war sie traumatisiert und sämtliche Psychotherapien versagten. Erst nach 12 Jahren fand sie durch eine neue Behandlungsmethode zurück ins Leben onntage sind meine Feinde. Ferien ebenfalls. Denn wenn mein Gehirn Zeit hat, im Leerlauf ist, holt es die Erinnerungen hervor. Wie um mich zu warnen: „Entspann Dich bitte nicht zu sehr. Da war doch diese schlimme Sache, gib acht, dass das nicht wieder passiert.“ Was mir passiert ist, liegt fast 20 Jahre zurück: Als ich 15 war, habe ich auf einer Schülerparty einen 25-Jährigen kennengelernt und mit ihm eine Beziehung begonnen. Er war ein Sadist. Er wurde nicht nur gewalttätig, sondern hat mich auch an andere Männer vermietet: Ich wurde vergewaltigt, geschlagen, gequält. Wahrscheinlich war ich das perfekte Opfer. Ich komme aus einer sehr traditionsbewussten, sehr leistungsorientierten Familie, Emotionen hatten da keinen Platz. Als dieser Mann sagte, dass er mich liebt, hatte ich das Gefühl, von ihm all das zu bekommen, was ich bis dahin nicht hatte. Jedes Wochenende verbrachte ich bei ihm. Es nicht zu tun, war einfach keine Option. Einerseits hatte ich Angst – er hatte eine Schusswaffe und gedroht, meinen Eltern etwas anzutun –, andererseits auch irgendwie Hoffnung. Ich dachte, wenigstens liebt er mich. Dass ich all das Schreckliche tun müsse, weil ich eben nur zu so etwas gut sei – wie er sagte –, PROTOKOLL ANTJE KUNSTMANN leuchtete mir tatsächlich ein. Meiner Familie war ich ja auch nie gut genug. Meine Mutter – meine Eltern hatten sich kurz vorher getrennt – bekam von meinem Doppelleben nichts mit, besser gesagt, sie wollte nichts mitbekommen. Manchmal kam ich zusammengeschlagen, halb verblutet nach Hause, und sie hat einfach weggeguckt. Zum Glück sprach mich nach einem halben Jahr ein Bekannter an, weil er mir ansah, dass etwas nicht stimmte. Ich kam in die Klinik, so schwer waren meine Verletzungen, der Mann und einige Mittäter wurden angeklagt und verurteilt – und meine Eltern machten mir Vorwürfe. Meine Mutter kam nicht mal zur Gerichtsverhandlung, auch da war ich allein. Dieses halbe Jahr hat mich zerstört. Ich habe direkt eine Therapie gemacht, eine Psychoanalyse. Danach ging es mir noch schlechter. Ich wurde bulimisch, quasi als Mechanismus, um den Dreck und die Wut loszuwerden – und habe mich selbst verletzt. Zeitweise war ich in der Psychiatrie, nahm starke Medikamente. In der Oberstufe habe ich die Schule abgebrochen, weil es einfach nicht mehr ging. Es ist ja nicht vorbei, was geschehen ist. In Flashbacks erlebt man es wieder und wieder. Mitten am Tag, mitten aus dem Nichts kann es einen anfallen. Alles ist wieder da, die Gefühle, die Geschmäcker, der Geruch, die Stimme des Täters in meinem Kopf. Nichts davon kann man kontrollieren, es reißt einen einfach mit. Dazu kommen Alpträume, Missbrauchssituationen, immer wieder, jede Nacht. Zwölf Jahre habe ich so gelebt. In manchen Phasen, zum Beispiel in der Zeit, bis ich mit 20 bei meiner Mutter ausgezogen bin, war Leben dafür eigentlich ein zu großes Wort: Ich habe vegetiert. E in richtiges, ein gutes Leben habe ich erst seit 2007. Dabei war es eher Zufall, dass ich diese Therapie gemacht habe nach einer Odyssee von so vielen Behandlungen, die mir alle nicht geholfen haben. Nachdem ich Jahre vorher schon einmal mit schlechten Erfahrungen dagewesen war, habe ich mich wieder an das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim gewandt – und inzwischen gab es dort die von Professor Bohus geleitete Traumstation, in die ich für drei Monate aufgenommen wurde. Die Therapie, die ich während dieser Zeit machte, ist hart, sie konfrontiert dich mit dem Trauma, du musst dich damit auseinandersetzen – das ist sehr unangenehm. Die schlimmsten B RI G I T T E . D E 10/ 2015 3 BALANCE Trotzdem hat meine Vergangenheit natürlich unsere Beziehung beeinflusst. Es gab deswegen für meinen Mann viele schwierige Situationen. Wir haben zwar miteinander geschlafen – und das war mir auch nicht unangenehm –, doch anschließend hatte ich zu Anfang regelmäßig Flashbacks. Aber heute kann ich sagen: Ich habe ein Sexualleben! Ein schönes. Ein selbstbestimmtes. So viele Dinge sind Wirklichkeit geworden, die vor ein paar Jahren noch unvorstellbar Ich lebe unauffällig – der Schatten aber bleibt Trauma-Erlebnisse aus diesem Jahr habe ich auf Kassette gesprochen und dann über Tage und Wochen immer wieder angehört. Davor hatte ich wahnsinnige Angst, und die Psychologin musste viel Überzeugungsarbeit leisten. A uch in anderen Therapien hatte ich manchmal schon über die Ereignisse reden müssen – einige Therapeuten entwickelten fast eine Art Wollust, so schien es mir, und waren ganz scharf auf das Wiedererleben. Aber nun ging es das erste Mal darum, dass ich das, was mich am Leben hindert, loswerde. Meine Psychologin hat mich in der Konfrontation begleitet, wieder und wieder hat sie gefragt, wie es mir geht, was mit mir passiert, wenn ich es höre. Und nach und nach wurde der Schrecken weniger. Die Flashbacks hörten auf. Seitdem begleitet mich dieser Satz: Die Bedeutung des Grauens ist nur zu schmälern, wenn ich es akzeptiere. Es wird mir nicht helfen, wenn ich essgestört bleibe, ich kann damit niemanden bestrafen für das, was war. Diese Dinge sind passiert, 4 B R I G I T TE .DE 10 /2 0 1 5 sie gehören zu meiner Biografie, aber sie werden nicht wieder passieren. In der Therapie wurde mir auch klar, dass ich nicht unbedingt eine Beziehung brauche. Ich hatte bis dahin nur destruktive Partnerschaften, wurde geschlagen, schlecht behandelt und habe es in Kauf genommen, weil ich nicht allein sein wollte. Warum Frauen, denen so etwas passiert ist wie mir, immer kaputte Typen anziehen, die sie auch wieder schlecht behandeln? Weil man ausstrahlt, dass man das mit sich machen lässt. Selbstbewusstsein schreckt solche Männer ab. Frauen dagegen, die ein eigenes Leben haben, ziehen gute Männer an. So einen habe ich gefunden. Auf einer Party, eine Woche, nachdem ich aus der Therapie entlassen wurde. Selbstbewusst und fröhlich – so beschreibt mein Mann den ersten Eindruck, den er von mir hatte. Bis heute weiß er nicht alles von dem, was mir damals passiert ist. Nur so können wir eine gleichwertige Beziehung führen. Klar sage ich, wenn es mir schlecht geht, aber es gibt keine Themenabende zu meinen Problemen. waren: Ich habe einen tollen Mann, und sogar eine kleine Tochter. Ich studiere, jobbe nebenher, mache bald meinen Abschluss. Ich lebe quasi „unauffällig“. Der Schatten aber bleibt – mal weiter entfernt, mal näher. Immer wieder erfordert es meine ganze Kraft, normal zu leben. Eine posttraumatische Belastungsstörung geht nie weg (siehe Kasten, Seite xx). Wenn ich mit meiner Familie am Strand sitze oder Sonntagnachmittag auf dem Sofa, kommen plötzlich die Erinnerungen zurück. Wenn ich viel Stress habe, die Albträume. Aber ich habe gelernt, was ich dann tun muss: dem Traum ein positives Ende schreiben etwa und es immer wieder durchlesen, bis ich tatsächlich träume, dass ich gerettet werde. Und wenn mich plötzlich die Angst packt, der Mann würde vor meiner Wohnung stehen und mich holen, zwinge ich mich ins Hier und Jetzt, indem ich mir immer wieder sage: „Es ist 2015. Ich bin sicher und in der Lage, mich selbst zu schützen.“ Diese Strategien sind mühsam, manchmal unangenehm, weil ich mich wieder mit den Ereignissen von damals auseinandersetzen muss, aber sie helfen. Genauso wie Sport. Ich bin einfach ein wütender Mensch – das Verhalten meiner Mutter damals etwa scheint mir gerade jetzt, wo ich selbst ein Kind habe, oft so unerträglich. Früher habe ich diese Wut und Anspannung gegen mich selbst B RI G I T T E . D E 10/ 2015 5 BALANCE gerichtet, heute renne ich sie aus mir heraus. Auch meine Therapeutin sehe ich ab und zu – wahrscheinlich wird das so bleiben, bis ich 80 bin. Sie kennt mich wie kein anderer. Sie ist zwar nicht mit durch die Hölle gegangen, aber in der Therapie hat sie quasi vom Rand zugeguckt. Ich brauche sie auch als Validierungshilfe, weil ich bis heute nicht unterscheiden kann, was ein normales Problem ist und was von der Posttraumatischen Belastungsstörung herrührt. Oft bin ich deswegen unsicher im Umgang mit anderen. Beim Erntedank-Fest letztes Jahr etwa hatten alle Muttis im Kindergarten meiner Tochter einen selbst gebackenen Kuchen dabei; ich war die einzige mit einem gekauften. Ich fühlte mich, als könne man mir meine Geschichte ansehen. Als würden die Leute denken, die Gersting hat doch einen Schuss, die darf gar nicht Mutter sein. Wenn Menschen so mit dir umgehen, dich so quälen, wie ich es erlebt habe, dann bist du irgendwann selbst davon überzeugt, der letzte Dreck zu sein. Und dieses Gefühl ist schwer aus mir rauszubekommen. D ie letzte Monsterkrise bescherte mir die Geburt meiner Tochter: Das tat weh, da war so viel Blut – eine Retraumatisierung. Drei Monate lang habe ich nur geweint, hörte wieder die Stimme des Täters, hatte erneut Flashbacks. Erst mit Hilfe der Therapeutin ging es mir besser. Und nach einem Jahr konnte ich zu meiner Tochter von Herzen sagen, ich habe dich lieb. Sie ist mein größtes Geschenk. Eigentlich hatte ich mir einen Sohn gewünscht, denn einem Mädchen könnte man womöglich das gleiche antun wie mir. Aber meine Tochter ist anders: In Sachen Selbstbewusstsein lerne ich viel von ihr. Mit ihren drei Jahren kennt und verteidigt sie sehr genau ihre Grenzen. Das konnte ich nie. „Sie müssen sich nicht lieben, aber Sie müssen aufhören, sich zu hassen“, hat die Psychologin am Anfang der Therapie zu mir gesagt. Mittlerweile bin ich auf einem guten Weg, mich sogar ein bisschen in mich zu verlieben. Ich habe Glücksmomente und es gibt Monate, da bin ich gar nicht der Mensch, dem schlimme Sachen passiert sind, sondern einfach eine Frau mit Mann und Kind, die versucht, ihr Leben unter einen Hut zu bringen. 6 B R I G I T TE .DE 10 /2 0 1 5 Wie bei Traumatisierungen geholfen werden kann Manche Erlebnisse sind buchstäblich unfassbar, die Fülle und die Stärke von Eindrücken und Gefühlen überfordern das Gehirn. Um Gefahren in Zukunft rechtzeitig zu identifizieren, speichert es die einzelnen Wahrnehmungen, also etwa Gerüche, Geräusche und Stimmen, getrennt voneinander ab: wie ein zersprungener Spiegel verteilen sie sich über das Gehirn. Das ist kurzfristig eine sinnvolle Reaktion, erschwert aber langfristig die Verarbeitung. Das Ereignis wird dann nicht wie andere Erlebnisse erinnert, sondern in so genannten Intrusionen – Bildern, Geräuschen oder Körperempfindungen, die mit dem Trauma verbunden sind (z.B. Flashbacks oder Alpträume) – regelrecht wiedererlebt. In den ersten Wochen nach der Traumatisierung gilt dies als normal und sogar als ein Zeichen dafür, dass sich der Körper mit den Ereignissen auseinandersetzt. Warum ist eine Traumatisierung von Jugendlichen und Kindern so schwer zu behandeln? Von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) spricht man, wenn Intrusionen und andere Beschwerden, wie etwa Schlafstörungen, länger als vier Wochen anhalten. Gerade bei Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, wird diese häufig begleitet von starken Problemen in der Gefühlsregulation, von Selbstverletzungen, Suchtproblemen oder Aggressionen. Die Betroffenen haben außerdem ein negatives Körpergefühl und hassen sich selbst. Viele fühlen sich schuldig oder empfinden heftige Scham. Anders als nach Traumatisierungen im Erwachsenenalter sind Suizidversuche oder Persönlichkeitsstörungen häufig. Wie kann geholfen werden? Das Team von Professor Martin Bohus hat am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim ein Behandlungsmodell speziell für die Opfer von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend und ihre komplexen Probleme entwickelt. „Unsere Patienten lernen, dass ihre Erfahrungen der Vergangenheit angehören und dass Schuldgefühle, Scham oder Selbsthass ein oft hilfloser Versuch waren, sich selbst die traumatischen Ereignisse zu erklären, diese zu überleben und trotzdem die Beziehung zu ihrer Familie zu halten“, erklärt Bohus. Um das Geschehene in einem neuen Kontext abzuspeichern und endgültig der Vergangenheit zuzuordnen, muss es allerdings reaktiviert werden. Natürlich unter sicheren, vertrauensvollen Bedingungen. Außerdem erlernen die Betroffenen in der dreimonatigen, stationären Therapie neue, effektive Bewältigungsstrategien, es gibt Übungen, um Körperwahrnehmung und –akzeptanz zu verbessern. Achtsamkeitstrainings helfen, die eigene Angst wahr- und anzunehmen. Die Konfrontation mit dem Trauma ist unter Therapeuten immer noch umstritten – auch viele Betroffene schrecken davor zurück. Dabei ist sie sehr erfolgreich: Etwa 500 Menschen haben bisher an dem Mannheimer Programm teilgenommen, davon zeigten 80 Prozent eine erhebliche Besserung der posttraumatischen Beschwerden, bei jedem zweiten verschwanden diese sogar ganz. An wen können betroffene Frauen sich wenden? Seit letztem Herbst läuft ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt, um das Therapiemodell weiter im ambulanten Bereich wissenschaftlich zu untersuchen. Frauen zwischen 18 und 65 Jahren, die vor dem 18. Lebensjahr sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren haben und noch heute darunter leiden, können teilnehmen; die Therapien finden ambulant an einem der drei Standorte Berlin, Mannheim oder Frankfurt statt. Infos und Kontakt: www.traumatherapie-verbund.de. Darüber hinaus interessiert die Forscher, welche Faktoren vor einer Posttraumatischen Belastungsstörung schützen können, denn nicht alle Missbrauchsopfer entwickeln diese. Dazu werden Frauen zwischen 18 und 65 Jahren gesucht, die vor dem 18. Lebensjahr sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren haben, aber keine PTBS oder andere psychische Störung entwickelt und auch bisher keine Psychotherapie gemacht haben (Kontakt: [email protected]). B RI G I T T E . D E 10/ 2015 7
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