balance - Traumatherapie für Betroffene von Missbrauch und Gewalt

Den Missbrauch erlebte Christiane in
Flashbacks und Träumen immer wieder. Erst die Konfrontation mit dem
Trauma in der Therapie half ihr
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FOTO G AL L ERY STOC K
BALANCE
Sie müssen
sich nicht lieben,
aber aufhören,
sich zu hassen
S
Christiane Gersting* verliebte sich mit 15
in einen Sadisten und wurde sechs Monate lang gequält.
Seitdem war sie traumatisiert und sämtliche Psychotherapien
versagten. Erst nach 12 Jahren fand sie durch eine neue
Behandlungsmethode zurück ins Leben
onntage sind meine Feinde. Ferien ebenfalls. Denn wenn mein Gehirn Zeit hat,
im Leerlauf ist, holt es die Erinnerungen
hervor. Wie um mich zu warnen: „Entspann Dich bitte nicht zu sehr. Da war
doch diese schlimme Sache, gib acht, dass
das nicht wieder passiert.“
Was mir passiert ist, liegt fast 20 Jahre
zurück: Als ich 15 war, habe ich auf einer
Schülerparty einen 25-Jährigen kennengelernt und mit ihm eine Beziehung
begonnen. Er war ein Sadist. Er wurde
nicht nur gewalttätig, sondern hat mich
auch an andere Männer vermietet: Ich
wurde vergewaltigt, geschlagen, gequält.
Wahrscheinlich war ich das perfekte
Opfer. Ich komme aus einer sehr traditionsbewussten, sehr leistungsorientierten
Familie, Emotionen hatten da keinen
Platz. Als dieser Mann sagte, dass er mich
liebt, hatte ich das Gefühl, von ihm all das
zu bekommen, was ich bis dahin nicht
hatte. Jedes Wochenende verbrachte ich
bei ihm. Es nicht zu tun, war einfach keine
Option. Einerseits hatte ich Angst – er
hatte eine Schusswaffe und gedroht, meinen Eltern etwas anzutun –, andererseits
auch irgendwie Hoffnung. Ich dachte,
wenigstens liebt er mich. Dass ich all das
Schreckliche tun müsse, weil ich eben nur
zu so etwas gut sei – wie er sagte –,
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leuchtete mir tatsächlich ein. Meiner
Familie war ich ja auch nie gut genug.
Meine Mutter – meine Eltern hatten
sich kurz vorher getrennt – bekam von
meinem Doppelleben nichts mit, besser
gesagt, sie wollte nichts mitbekommen.
Manchmal kam ich zusammengeschlagen, halb verblutet nach Hause, und sie
hat einfach weggeguckt. Zum Glück
sprach mich nach einem halben Jahr ein
Bekannter an, weil er mir ansah, dass
etwas nicht stimmte. Ich kam in die Klinik, so schwer waren meine Verletzungen,
der Mann und einige Mittäter wurden
angeklagt und verurteilt – und meine
Eltern machten mir Vorwürfe. Meine
Mutter kam nicht mal zur Gerichtsverhandlung, auch da war ich allein.
Dieses halbe Jahr hat mich zerstört. Ich
habe direkt eine Therapie gemacht, eine
Psychoanalyse. Danach ging es mir noch
schlechter. Ich wurde bulimisch, quasi als
Mechanismus, um den Dreck und die
Wut loszuwerden – und habe mich selbst
verletzt. Zeitweise war ich in der Psychiatrie, nahm starke Medikamente. In der
Oberstufe habe ich die Schule abgebrochen, weil es einfach nicht mehr ging.
Es ist ja nicht vorbei, was geschehen
ist. In Flashbacks erlebt man es wieder
und wieder. Mitten am Tag, mitten aus
dem Nichts kann es einen anfallen. Alles
ist wieder da, die Gefühle, die Geschmäcker, der Geruch, die Stimme des Täters
in meinem Kopf. Nichts davon kann man
kontrollieren, es reißt einen einfach mit.
Dazu kommen Alpträume, Missbrauchssituationen, immer wieder, jede Nacht.
Zwölf Jahre habe ich so gelebt. In manchen Phasen, zum Beispiel in der Zeit, bis
ich mit 20 bei meiner Mutter ausgezogen
bin, war Leben dafür eigentlich ein zu
großes Wort: Ich habe vegetiert.
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in richtiges, ein gutes Leben habe
ich erst seit 2007. Dabei war es
eher Zufall, dass ich diese Therapie gemacht habe nach einer Odyssee von
so vielen Behandlungen, die mir alle nicht
geholfen haben. Nachdem ich Jahre vorher schon einmal mit schlechten Erfahrungen dagewesen war, habe ich mich
wieder an das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim gewandt
– und inzwischen gab es dort die von
Professor Bohus geleitete Traumstation,
in die ich für drei Monate aufgenommen
wurde. Die Therapie, die ich während dieser Zeit machte, ist hart, sie konfrontiert
dich mit dem Trauma, du musst dich
damit auseinandersetzen – das ist sehr
unangenehm.
Die
schlimmsten
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Trotzdem hat meine Vergangenheit
natürlich unsere Beziehung beeinflusst.
Es gab deswegen für meinen Mann viele
schwierige Situationen. Wir haben zwar
miteinander geschlafen – und das war
mir auch nicht unangenehm –, doch
anschließend hatte ich zu Anfang regelmäßig Flashbacks. Aber heute kann ich
sagen: Ich habe ein Sexualleben! Ein
schönes. Ein selbstbestimmtes. So viele
Dinge sind Wirklichkeit geworden, die
vor ein paar Jahren noch unvorstellbar
Ich lebe
unauffällig –
der Schatten
aber bleibt
Trauma-Erlebnisse aus diesem Jahr habe
ich auf Kassette gesprochen und dann
über Tage und Wochen immer wieder
angehört. Davor hatte ich wahnsinnige
Angst, und die Psychologin musste viel
Überzeugungsarbeit leisten.
A
uch in anderen Therapien hatte
ich manchmal schon über die
Ereignisse reden müssen –
einige Therapeuten entwickelten fast eine
Art Wollust, so schien es mir, und waren
ganz scharf auf das Wiedererleben. Aber
nun ging es das erste Mal darum, dass ich
das, was mich am Leben hindert, loswerde. Meine Psychologin hat mich in der
Konfrontation begleitet, wieder und wieder hat sie gefragt, wie es mir geht, was
mit mir passiert, wenn ich es höre. Und
nach und nach wurde der Schrecken
weniger. Die Flashbacks hörten auf. Seitdem begleitet mich dieser Satz: Die
Bedeutung des Grauens ist nur zu schmälern, wenn ich es akzeptiere. Es wird mir
nicht helfen, wenn ich essgestört bleibe,
ich kann damit niemanden bestrafen für
das, was war. Diese Dinge sind passiert,
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sie gehören zu meiner Biografie, aber sie
werden nicht wieder passieren.
In der Therapie wurde mir auch klar,
dass ich nicht unbedingt eine Beziehung
brauche. Ich hatte bis dahin nur de­struktive Partnerschaften, wurde geschlagen,
schlecht behandelt und habe es in Kauf
genommen, weil ich nicht allein sein
wollte. Warum Frauen, denen so etwas
passiert ist wie mir, immer kaputte Typen
anziehen, die sie auch wieder schlecht
behandeln? Weil man ausstrahlt, dass
man das mit sich machen lässt. Selbstbewusstsein schreckt solche Männer ab.
Frauen dagegen, die ein eigenes Leben
haben, ziehen gute Männer an. So einen
habe ich gefunden. Auf einer Party, eine
Woche, nachdem ich aus der Therapie
entlassen wurde. Selbstbewusst und
fröhlich – so beschreibt mein Mann den
ersten Eindruck, den er von mir hatte.
Bis heute weiß er nicht alles von dem,
was mir damals passiert ist. Nur so können wir eine gleichwertige Beziehung
führen. Klar sage ich, wenn es mir
schlecht geht, aber es gibt keine Themenabende zu meinen Problemen.
waren: Ich habe einen tollen Mann, und
sogar eine kleine Tochter. Ich studiere,
jobbe nebenher, mache bald meinen
Abschluss. Ich lebe quasi „unauffällig“.
Der Schatten aber bleibt – mal weiter
entfernt, mal näher. Immer wieder erfordert es meine ganze Kraft, normal zu
leben. Eine posttraumatische Belastungsstörung geht nie weg (siehe Kasten, Seite
xx). Wenn ich mit meiner Familie am
Strand sitze oder Sonntagnachmittag auf
dem Sofa, kommen plötzlich die Erinnerungen zurück. Wenn ich viel Stress habe,
die Albträume. Aber ich habe gelernt, was
ich dann tun muss: dem Traum ein positives Ende schreiben etwa und es immer
wieder durchlesen, bis ich tatsächlich
träume, dass ich gerettet werde. Und
wenn mich plötzlich die Angst packt, der
Mann würde vor meiner Wohnung stehen und mich holen, zwinge ich mich ins
Hier und Jetzt, indem ich mir immer wieder sage: „Es ist 2015. Ich bin sicher und
in der Lage, mich selbst zu schützen.“
Diese Strategien sind mühsam,
manchmal unangenehm, weil ich mich
wieder mit den Ereignissen von damals
auseinandersetzen muss, aber sie helfen.
Genauso wie Sport. Ich bin einfach ein
wütender Mensch – das Verhalten meiner Mutter damals etwa scheint mir
gerade jetzt, wo ich selbst ein Kind habe,
oft so unerträglich. Früher habe ich diese
Wut und Anspannung gegen mich selbst
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gerichtet, heute renne ich sie aus mir heraus. Auch meine Therapeutin sehe ich ab
und zu – wahrscheinlich wird das so bleiben, bis ich 80 bin. Sie kennt mich wie
kein anderer. Sie ist zwar nicht mit durch
die Hölle gegangen, aber in der Therapie
hat sie quasi vom Rand zugeguckt.
Ich brauche sie auch als Validierungshilfe, weil ich bis heute nicht unterscheiden kann, was ein normales Problem ist
und was von der Posttraumatischen
Belastungsstörung herrührt. Oft bin ich
deswegen unsicher im Umgang mit anderen. Beim Erntedank-Fest letztes Jahr
etwa hatten alle Muttis im Kindergarten
meiner Tochter einen selbst gebackenen
Kuchen dabei; ich war die einzige mit
einem gekauften. Ich fühlte mich, als
könne man mir meine Geschichte ansehen. Als würden die Leute denken, die
Gersting hat doch einen Schuss, die darf
gar nicht Mutter sein. Wenn Menschen
so mit dir umgehen, dich so quälen, wie
ich es erlebt habe, dann bist du irgendwann selbst davon überzeugt, der letzte
Dreck zu sein. Und dieses Gefühl ist
schwer aus mir rauszubekommen.
D
ie letzte Monsterkrise bescherte
mir die Geburt meiner Tochter:
Das tat weh, da war so viel Blut
– eine Retraumatisierung. Drei Monate
lang habe ich nur geweint, hörte wieder
die Stimme des Täters, hatte erneut Flashbacks. Erst mit Hilfe der Therapeutin
ging es mir besser. Und nach einem Jahr
konnte ich zu meiner Tochter von Herzen
sagen, ich habe dich lieb. Sie ist mein
größtes Geschenk. Eigentlich hatte ich
mir einen Sohn gewünscht, denn einem
Mädchen könnte man womöglich das
gleiche antun wie mir. Aber meine Tochter ist anders: In Sachen Selbstbewusstsein lerne ich viel von ihr. Mit ihren drei
Jahren kennt und verteidigt sie sehr
genau ihre Grenzen. Das konnte ich nie.
„Sie müssen sich nicht lieben, aber Sie
müssen aufhören, sich zu hassen“, hat die
Psychologin am Anfang der Therapie zu
mir gesagt. Mittlerweile bin ich auf einem
guten Weg, mich sogar ein bisschen in
mich zu verlieben. Ich habe Glücksmomente und es gibt Monate, da bin ich gar
nicht der Mensch, dem schlimme Sachen
passiert sind, sondern einfach eine Frau
mit Mann und Kind, die versucht, ihr
Leben unter einen Hut zu bringen.
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Wie bei Traumatisierungen
geholfen werden kann
Manche Erlebnisse sind buchstäblich
unfassbar, die Fülle und die Stärke
von Eindrücken und Gefühlen überfordern das Gehirn. Um Gefahren in
Zukunft rechtzeitig zu identifizieren,
speichert es die einzelnen Wahrnehmungen, also etwa Gerüche, Geräusche und Stimmen, getrennt voneinander ab: wie ein zersprungener
Spiegel verteilen sie sich über das
Gehirn. Das ist kurzfristig eine sinnvolle Reaktion, erschwert aber langfristig die Verarbeitung. Das Ereignis
wird dann nicht wie andere Erlebnisse
erinnert, sondern in so genannten Intrusionen – Bildern, Geräuschen oder
Körperempfindungen, die mit dem
Trauma verbunden sind (z.B. Flashbacks oder Alpträume) – regelrecht
wiedererlebt. In den ersten Wochen
nach der Traumatisierung gilt dies als
normal und sogar als ein Zeichen
dafür, dass sich der Körper mit den
Ereignissen auseinandersetzt.
Warum ist eine Traumatisierung
von Jugendlichen und Kindern
so schwer zu behandeln?
Von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) spricht man,
wenn Intrusionen und andere
Beschwerden, wie etwa Schlafstörungen, länger als vier Wochen anhalten.
Gerade bei Menschen, die in ihrer
Kindheit oder Jugend Opfer von
sexueller Gewalt geworden sind, wird
diese häufig begleitet von starken
Problemen in der Gefühlsregulation,
von Selbstverletzungen, Suchtproblemen oder Aggressionen. Die Betroffenen haben außerdem ein negatives
Körpergefühl und hassen sich selbst.
Viele fühlen sich schuldig oder empfinden heftige Scham. Anders als nach
Traumatisierungen im Erwachsenenalter sind Suizidversuche oder Persönlichkeitsstörungen häufig.
Wie kann geholfen werden?
Das Team von Professor Martin Bohus
hat am Zentralinstitut für Seelische
Gesundheit in Mannheim ein Behandlungsmodell speziell für die Opfer von
sexueller Gewalt in Kindheit und
Jugend und ihre komplexen Probleme entwickelt. „Unsere Patienten
lernen, dass ihre Erfahrungen der Vergangenheit angehören und dass
Schuldgefühle, Scham oder
Selbsthass ein oft hilfloser Versuch
waren, sich selbst die traumatischen
Ereignisse zu erklären, diese zu überleben und trotzdem die Beziehung zu
ihrer Familie zu halten“, erklärt Bohus.
Um das Geschehene in einem neuen
Kontext abzuspeichern und endgültig
der Vergangenheit zuzuordnen, muss
es allerdings reaktiviert werden.
Natürlich unter sicheren, vertrauensvollen Bedingungen. Außerdem erlernen die Betroffenen in der dreimonatigen, stationären Therapie neue,
effektive Bewältigungsstrategien, es
gibt Übungen, um Körperwahrnehmung und –akzeptanz zu verbessern.
Achtsamkeitstrainings helfen, die
eigene Angst wahr- und anzunehmen.
Die Konfrontation mit dem Trauma ist
unter Therapeuten immer noch
umstritten – auch viele Betroffene
schrecken davor zurück. Dabei ist sie
sehr erfolgreich: Etwa 500 Menschen
haben bisher an dem Mannheimer
Programm teilgenommen, davon
zeigten 80 Prozent eine erhebliche
Besserung der posttraumatischen
Beschwerden, bei jedem zweiten verschwanden diese sogar ganz.
An wen können betroffene
Frauen sich wenden?
Seit letztem Herbst läuft ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt, um das
Therapiemodell weiter im ambulanten
Bereich wissenschaftlich zu untersuchen. Frauen zwischen 18 und 65 Jahren, die vor dem 18. Lebensjahr sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren
haben und noch heute darunter leiden, können teilnehmen; die Therapien finden ambulant an einem der
drei Standorte Berlin, Mannheim oder
Frankfurt statt. Infos und Kontakt:
www.traumatherapie-verbund.de.
Darüber hinaus interessiert die Forscher, welche Faktoren vor einer Posttraumatischen Belastungsstörung
schützen können, denn nicht alle
Missbrauchsopfer entwickeln diese.
Dazu werden Frauen zwischen 18 und
65 Jahren gesucht, die vor dem 18.
Lebensjahr sexuelle oder körperliche
Gewalt erfahren haben, aber keine
PTBS oder andere psychische Störung
entwickelt und auch bisher keine Psychotherapie gemacht haben (Kontakt:
[email protected]).
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