RETTUNGSDIENST TRAUMATHERAPIE „Schweigen ist Gold – Reden ist Blech?“ Traumatherapie in der Diskussion Autoren: Thomas Stepan Psychologischer Berater, RettAss und Fachdozent im RD. Priv. Anschrift: Seidenstr. 65, D-70174 Stuttgart Sybille Jatzko Gesprächstherapeutin, Traumaund EMDR-Therapie, Götzbornstr. 3, D-67706 Krickenbach E-mail: SJHJ 105991@ aol.com In der März-Ausgabe 2000 der Fachzeitschrift RETTUNGSDIENST wurde im Magazinteil auf der Seite 101 eine britische Studie vorgestellt, die der Nachsorge durch gezielte Gespräche nach traumatischen Ereignissen kritisch gegenüber steht. Die Aussagen dieser Studie sind jedoch unserer Meinung nach zu generalisiert dargestellt, so dass die dort gemachten Feststellungen eher zur allgemeinen Verwirrung führen und die Bedeutung der Nachsorge in Frage stellen. Ein grundlegender Teil der Traumatherapie muss daher eine systematische Stärkung der vorhandenen Ressourcen des Betroffenen beinhalten. Hierzu sollten bisherige Kraftquellen des Patienten erfragt, bezüglich ihrer aktuellen Verfügbarkeit eruiert und sensibel aktiviert werden. Trauma und therapeutische Beziehung Von essenzieller Bedeutung ist die Gestaltung der therapeutischen Beziehung bei Patienten mit traumatischer Vor- Die Matratze der seelischen Belastbarkeit geschichte. Dass hier die Gefahr gegeben ist, im thera- Die Federn dieser Matratze sind die persönlichen, indivipeutischen Procedere Schaden anzurichten, ist unbestreit- duellen Merkmale einer Persönlichkeit (Abb. 1). Jeder bar. Deshalb sollten derartige Bearbeitungen nach einem Mensch ist anders und unterschiedlich belastbar. Alle beTrauma nur von qualifiziertem und erfahrenem Perso- deutenden Ereignisse des Lebens drücken die Schutzhülle nal durchgeführt werden. Im Falle eines Beinbruchs werden Sie den Schaden auch Belastung Trauer Krise traumatische Ereignisse nicht von einem Klempner richten Muskelspannung lassen, sondern von (Bewegung) dem hierfür zustänErregbarkeit digen Fachpersonal. (Reize) So ähnlich wie die „erste Hilfe“ über das Zusammenwachsen eines Beines wesentlich entscheidet, so entscheidet sie auch über die Heilung der Seele. Die Grenzerfahrung, die existenzielle Bedrohung, das Erleben der Hilflosigkeit und das Gefühl, in größter Not keine Hilfe zu erfahren, führen zu einer zwischenmenschlichen I 26 I Entfremdung und einem tiefgreifenden Vertrauensverlust.Viele Betroffene fallen auf und haben Angst vor zwischenmenschlicher Nähe. Die ersten Debriefing-Gespräche können eine Entlastung geben, Vertrauen aufbauen und Nähe wieder herstellen. Es ist wie eine „erste Hilfe für die Seele“. Geruch Geräusch Geschmack Bilder Gefühl Gehör Selbstberuhigung (Entspannung) Gefühle Angst Stress beeinträchtigende Gefühle Denken Fühlen Haut Gleichmut Herausforderung Liebe Freude Körperreaktion Verhalten Puls Atmung Muskeltonus Hormone Blutdruck etc. Flucht Hören Vorstellung Sehen Relevanz Coping Tunnelblick Kampf Totstellen seelische Erkrankung Was kann ich tun? körperliche Erkrankung Abb. 1 1: Die „Matratze der seelischen Belastbarkeit“ (nach S. Jatzko) 6 · 2000 I 23. Jahrgang I Rettungsdienst I 546 TRAUMATHERAPIE RETTUNGSDIENST der Matratze ein. Natürlicherweise kommt es im Laufe der Zeit zu einer Ermüdung bei Material und Menschen. Wir müssen nun diese Belastungen erkennen (indentifizieren) und sie wieder von der Matratze herunternehmen. Dieses tun wir mit verschiedenen Hilfsmitteln, die uns zur Verfügung stehen. Je nachdem wie schnell es uns gelingt, eine Last zu vermindern, kann sich unser Selbst (Federn) wieder erholen und weitgehend zur Ausgangsposition zurückkehren. Bei guter Pflege und Fürsorge können diese Federn lange belastbar bleiben und die verschiedenen Eindrücke abfedern. Unsere seelische Matratze (Belastbarkeit) bleibt lange in Takt. Wenn ein außergewöhnliches (traumatisches) Ereignis einen Menschen trifft, wird die Schutzhülle verletzt und eine Feder ganz nach unten gedrückt bzw. zerstört. Diese Feder bleibt nun unten. Bei Belastungen an dieser Stelle reagiert unser Hirn mit einfallenden Bildern oder anderen Sinnesspeicherungen mit für den Betroffenen nicht erklärlichen Ängsten, belastenden Gefühlen, Alpträumen und Flashbacks. Die verschiedenen überwältigenden Sinneserfahrungen (Bild, Geruch, Geräusch, Gehör, Schmerz, Strahlung, Temperatur, Wind u.a.) sind nun tief „eingraviert“ – wie im Computer auf der Festplatte abgespeichert. Alles, was nun diesen verletzten Federn ähnelt, stößt das Ereignis wieder an. Es erscheint genau so, wie es abgelegt wurde, also nicht durch das Bewusstsein zunehmend verändert, wie es bei einer nicht traumatischen Belastung geschieht. Diese Feder kann nun vom Untergrund her ständig Energie ins Bewusstsein senden. Der betroffene Mensch fühlt sich diesen Erscheinungen hilflos und unkorrigierbar ausgeliefert. Er reagiert prompt, bevor er nachdenken kann (Reflex). Das Gefühl, das durch die Reizüberflutung abgeschaltet war („es war wie im Film“), muss nun nachträglich in dieses Vorkommnis integriert werden. Abb. 2 2: Belastende Eindrücke bleiben oft unreflektiert im betroffenen Menschen zurück Die sich wieder aufdrängenden Bilder (Intrusionen) erleben viele Helfer als nicht normal, und Schamgefühle kommen auf, mit denen die Betroffenen häufig allein gelassen werden. Als Copingstrategie dient der Versuch, sich zur Normalität zu zwingen, der Versuch, wieder voll „funktionsfähig“ zu erscheinen, sich abzulenken. Wenn dieses nicht gelingt, werden häufig Alkohol oder Medikamente zu Hilfe genommen. Abb. 3 3: Oftmals fehlt das ernst gemeinte Gesprächsangebot Schweigen und die Folgen In der Regel versuchen die Menschen unwillkürlich, die emotionalen Überforderungen aus dem Bewusstsein zu verbannen. Nach dem Trauma drängen allerdings die zurückgehaltenen Gefühle nach Äußerung, nach Befreiung. Besonders schwer ist dieses Wiedererleben für Menschen, die es gewohnt sind, bestehende Gefühle zurückzuhalten, diese nicht zu zeigen. Rettungsdienstmitarbeiter haben häufig ähnlich gelagerte Einstellungen. 6 · 2000 I 23. Jahrgang I Rettungsdienst I 547 I 27 I RETTUNGSDIENST TRAUMATHERAPIE Kurzfristig kann dieser „Selbstheilungsversuch“ eine Entlastung bringen, längerfristig jedoch zur Abhängigkeit führen. Ebenfalls werden längerfristig schwere psychosomatische Erkrankungen registriert: Depressionen, Ängste, Destruktivität, Selbsttötungsphantasien und immunologische Veränderungen. Die Einsatznachbesprechung (Debriefing), die den Helfern die Möglichkeiten gibt, ihre eigenen Erlebnisse und angesprochenen Gefühle zu äußern, kann nach außergewöhnlichen Einsätzen die ersten Verarbeitungsschritte in die Wege leiten (Abb. 2). Wenn das Erleben bei bestimmten Einsätzen nicht besprochen wird, dann bleiben die Eindrücke unreflektiert im betroffenen Menschen zurück. Die Belastungen, die sich langsam immer stärker anhäufen, können dann in einem besonderen Einsatz zu einem Trauma, ausgelöst durch die allgemein geringere Belastung, führen. Abb. 4 4: Trauma „Brand „Brand-katas trophe“ katastrophe“ trophe“: Auch ein brennendes Treppenhaus kann zur Falle werden (Foto: Bildstelle BF Stuttgart) Man geht davon aus, dass in einer Art „Circulus vitiosus“ die quälenden, sich aufdrängenden Erinnerungen das Vermeidungsverhalten stabilisieren und forcieren, wodurch eine integrative Verarbeitung des Traumas verhindert wird. Im Sinne eines Rebound-Effektes werden dann die Intrusionen weiter aufrechterhalten und stabilisiert. Die Last der Vergangenheit In der eingangs genannten britischen Studie wird behauptet, dass es Menschen nach einer Nachbesprechung häufig schlechter geht. Geschlossen wird hieraus, dass ein Debriefing eher schädlich für den Klienten sein kann. Dies ist so nicht richtig. Richtig ist, dass es Menschen nach einem Debriefing schlechter gehen kann als zuvor. Doch dies hat andere Gründe. Wenn es dem Klienten hinterher schlechter geht, dann war der Einsatz mit erlebten, noch nicht bewusst gewordenen Gefühlsregungen versehen, die ihrerseits noch kein Trauma sein müssen. Wir können klar sagen, dass seelische Schäden, verbunden mit korrelierenden somatischen Beschwerden, die nach 10 Jahren auftauchen, auf die vorher erlebten traumatischen Situationen zurückzuführen sind und sie vom Betroffenen deshalb nicht erkannt werden konnten, weil es kein Gesprächsangebot gab. Die Patienten fühlten sich nicht gehört und nicht ernst genommen (Abb. 3). I 28 I Außerdem kann eindeutig gesagt werden, dass die Nachgespräche kein Trauma auslösen können, da zum Trauma immer ein Erleben gehört (Abb. 4). Da das Bewusstsein im traumatischen Erleben blockiert ist, kommt in den Nachgesprächen das eigene Erleben zum Bewusstsein. Im Zusammenhang mit Trauma wird auch immer die Konfrontationstherapie genannt, die zur Verstärkung des Traumas führen kann. Das ist richtig, wenn das Tempo der Konfrontation nicht vom Betroffenen selbst bestimmt wird. Es geht immer um eine vorsichtige und sensible Konfrontation (innere Bilder, Vorstellungen), die auf dem Boden einer verlässlichen Beziehung hilfreich sein kann. Äußere Reizauslöser müssen zunächst unterlassen werden. Erst nach Reduktion der beängstigenden inneren Bilder können äußere Reize (Ort aufsuchen etc.) hinzugenommen werden. Diese Konfrontationstechniken sind in der Traumatherapie am wirksamsten, wenn sie mit kognitiven Verfahren kombiniert werden. Der Zwang zum Gespräch ist schädlich Hier können wir der oben angeführten Studie uneingeschränkt zustimmen, deshalb führen wir dies nochmals explizit auf: Eine zwingende Gesprächsform ist schädlich, wenn die Selbstbestimmung, Toleranz, Empathie und Nicht-Bewertung der Teilnehmer nicht eingehalten wird! Die Gespräche dürfen nur auf freiwilliger Basis stattfinden und nicht aufgedrängt werden. Wichtig für den Betroffenen ist, dass ihm bewusst ist, dass ein Gesprächsangebot vorhanden ist, denn wenn man einen Menschen zu irgendetwas zwingt, so ist hier generell immer ein Schaden zu erwarten. In diesem Zusammenhang sind wir davon überzeugt, dass die Person, die das Debriefing führt, einen zentralen Einfluss auf die Folgen hat. Deshalb sollten derartige Nachbesprechungen unbedingt von qualifizierten und erfahrenen Helfern durchgeführt werden, um einen Erfolg zu gewähr■■ leisten. Literatur: 1. Foa B et al. (1991) Treatment of posttraumatic stress disorder in rape victims. Journal of Consulting and Clinical Psychology 59: 715-723 2. Stepan T (1998) Zwischen Blaulicht, Leib und Seele. Stumpf & Kossendey, Edewecht 3. Jatzko S et al. (1999) Therapeutische Begleitung von Großkatastrophenopfern und deren Angehörigen. Münchwieser Hefte: 103-112 4. Jatzko S (1999) Verlauf der Posttraumatischen Belastungsreaktion. Leben retten 3: 86-89 5. Vogelsang M (1998) Verhaltenstherapie bei PTSD. Psychotherapeut 41: 254-263 6. Jatzko S, H Jatzko, Seidlitz H (1996) Das durchstoßene Herz. Stumpf & Kossendey, Edewecht 6 · 2000 I 23. Jahrgang I Rettungsdienst I 548
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