Hier gibts die Broschüre auch als PDF.

- Editorial -
Zu dieser Broschüre...
Diese Broschüre wurde mit dem Ziel zusammengestellt, über die Blockade von Abschiebungen zu informieren und somit zur Verbreitung dieser menschenfreundlichen
Aktionsform beizutragen. Sie beginnt mit einem von mehreren Göttinger Gruppen gemeinsam getragenen Aufruf, in dem diese darlegen, warum sie den Widerstand gegen
Abschiebungen für ebenso legitim wie notwendig erachten. Zusätzlich enthält dieses
Heft verschiedene von der Basisdemokratischen Linken verfasste Beiträge. Im ersten Teil
bemühen wir uns, häufig gestellte Fragen zu Abschiebeblockaden zu beantworten und
rechtliche Rahmenbedingungen zu erläutern. In weiteren Artikeln gehen wir dann allgemeiner auf politische Hintergründe, das europäische Grenzregime, die Lebenssituation
von Geflüchteten sowie die in den letzten Jahren gewachsene Protestbewegung ein. Die
in dieser Broschüre vereinigten Beiträge sind jeweils in sich abgeschlossen und daher
auch einzeln lesbar. Sie sind ihn ihrer ursprünglichen Form bereits vor der spektakulären
Migrationsbewegung des Sommers 2015 und den kurz danach eingeleiteten Gesetzesverschärfungen entstanden. Wir haben uns bemüht, die Artikel soweit wie möglich zu
aktualisieren und an die veränderten Bedingungen anzupassen. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass die Entwicklungen in diesem Bereich momentan so dynamisch
sind, dass gedruckte Publikationen damit nur schwer Schritt halten können. Wir freuen
uns, wenn Andere diese Broschüre als Ganze oder auch einzelne Texte daraus weiterverbreiten und damit zur Stärkung antirassistischer Politik beitragen. Wir hoffen, dass
dieser Reader Interessierten vielfältige Anregungen bietet und dass wir uns demnächst
auf der Straße wiedersehen.
Basisdemokratische Linke Göttingen, Oktober 2015
2
Inhalt
Abschiebungen stoppen 4
Rechtliche Rahmenbedingungen des Asylverfahrens
6
Wer nicht ertrinkt wird abgeschoben? 8
Häufig gestellte Fragen zu Abschiebeblockaden
12
Über vermeintliche Sachzwänge, Humanität und die
Verteilung gesellschaftlichen Reichtums 16
„Skrupellose Menschenhändler“ oder „Transportdienstleister“? 18
Abschottungspolitik und Verlagerung von Fluchtrouten
20
Desaströse Lebensbedingungen für Flüchtlinge in
den Erstaufnahmeländern
22
Lebensbedingungen von Geflüchteten in der Bundesrepublik
24
Flüchtlingsproteste und Kämpfe für gleiche Rechte
28
Wer ist die Basisdemokratische Linke?
31
3
Abschiebungen stoppen
– Gemeinsam für ein besseres Leben
Aktuell gibt es pro Jahr mehr als 10.000 Abschiebungen aus Deutschland. Jede dieser „Rückführungen“ bedeutet für die Betroffenen eine brutale
Zerstörung von Lebensentwürfen, in vielen Fällen sogar eine existenzielle Bedrohung von Gesundheit und Leben. Doch Abschiebungen sind
kein unabänderliches Schicksal: In verschiedenen
Städten ist es engagierten Menschen gelungen,
eine beachtliche Zahl von Abschiebungen zu verhindern. Seien auch wir Sand im Getriebe der Abschiebemaschinerie!
Abschiebungen Als zuspitzung deR Alltäglichen entRechtung
Abschiebungen sind die Zuspitzung der alltäglichen Entrechtung von Geflüchteten, die sich u.a.
äußert in der Unterbringung in isolierten Lagern
und maroden Wohnungen, der Verweigerung einer angemessenen Gesundheitsversorgung, der
Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die
4
sogenannte Residenzpflicht und weitgehenden
Eingriffen in die eigene Lebensführung. Sie sind
der Versuch der Behörden, sich ihnen unerwünschter Menschen dauerhaft und endgültig zu entledigen. Sie sind die offenste Form der Verweigerung
eines menschenwürdigen und selbstbestimmten
Lebens. Deshalb stellen wir sie ins Zentrum unseres Widerstands.
unseRe solidARität ist unteilbAR
In Zeiten, in denen sich das Kategorisieren von
Menschen – die Unterscheidung von In- und „Ausländern“, aber auch die Gegenüberstellung von
„echten“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ – höchster
Beliebtheit erfreut, erklären wir, dass unsere Solidarität unteilbar ist.
„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein
Messer in den Bauch stechen, einer das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen,
eine in eine schlechte Wohnung stecken, einen
durch Arbeit zu Tode schinden, eine zum Suizid
treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“
Noch weniger wird rechtlich als Fluchtgrund anerkannt. Unser Kampf richtet sich gegen jede Form
des Elends und dessen Ursachen. Wenn Menschen
sich auf den Weg machen, weil sie sich ein besseres
Leben, eine Existenz ohne Ausbeutung und Unterdrückung wünschen, dann haben sie unsere Unterstützung - denn diese Hoffnung ist auch die unsere.
Wir wollen ein gutes Leben nicht nur für eine kleine privilegierte Minderheit. Wir wollen es für uns
ebenso wie für unsere Freund_innen, Nachbar_innen, Bekannten, Kolleg_innen, Mitschüler_innen,
Kommiliton_innen … - ob sie einen deutschen Pass
besitzen oder nicht. Jeder Mensch hat das Recht,
selbst zu entscheiden, wo und wie er oder sie leben will. Der Regulierung von Migration und der
systematischen Verweigerung von Rechten setzen
wir die Forderung nach Gleichheit in allen sozialen
und politischen Belangen entgegen, nach der Respektierung der Menschenrechte jeder Person unabhängig von Herkunft und Papieren. Wir setzen ihr
auch unsere praktischen Aktionen entgegen.
Unsere Stadt als abschiebefreie Zone
Wir erklären hiermit, dass wir Abschiebungen nicht
länger ohne Widerstand hinnehmen, dass wir uns
ihnen widersetzen werden, wann immer wir von
ihnen erfahren. Wenn Flüchtlinge abgeholt werden
sollen, werden wir uns in den Weg stellen, werden
wir den Zugang zu Wohnungen und Häusern blockieren.Wir rufen andere auf, sich uns anzuschließen. Überwinden wir gemeinsam unsere Passivität,
damit die Betroffenen ohne Angst vor Abschiebungen leben können. Dies ist ein Schritt, um der
zunehmenden Aufteilung der Welt in Zonen des
Reichtums und des Elends unsere eigene Raumordnung entgegenzusetzen:
Machen wir unsere Stadt zur abschiebefreien
Zone!
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Rechtliche Rahmenbedingungen des
Asylverfahrens
Abschiebungen werden zu einem großen Teil bei
Personen durchgeführt, die unter die sogenannten Dublin III-Verordnungen fallen. Diese Verordnungen regeln, dass geflüchtete Menschen nicht
selbst bestimmen können, in welchem EU-Land
sie ihren Asylantrag stellen, sondern dass dies in
dem Land geschehen muss, das zuerst betreten
wurde. Aus geographischen Gründen sind dies
zumeist die Länder an den EU-Außengrenzen,
wie zum Beispiel Italien, Griechenland oder auch
Bulgarien. Aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen für Flüchtlinge in diesen Ländern ist
es für viele jedoch unvermeidlich, die Flucht von
dort aus fortzusetzen – ganz abgesehen davon,
dass viele bereits von Anfang an ein ganz anderes
Reiseziel haben, beispielsweise aufgrund von dort
lebenden Verwandten.
Wenn eine geflüchtete Person nach Deutschland
einreist, muss sie sich innerhalb von sieben Tagen
bei einer offiziellen Stelle (z.B. der Polizei oder direkt in einem Erstaufnahmelager) melden. In Niedersachsen befinden sich solche Erstaufnahmelager in Friedland, Braunschweig und Bramsche,
wobei jedes Lager für Menschen aus bestimmten
6
Herkunftsländern zuständig ist. Der durchschnittliche Aufenthalt in der Erstaufnahmestelle betrug
in der Vergangenheit zwei bis drei Wochen, hat
sich allerdings inzwischen verlängert und soll nach
dem Willen der Bundesregierung zukünftig mehrere Monate dauern. Erst danach findet eine Umverteilung in Unterkünfte in Städten und Kommunen statt. In den Erstaufnahmelagern findet eine
erste Befragung über Herkunft und Fluchtgründe
statt, es wird zudem eine vorübergehende Aufenthaltsbescheinigung ausgestellt. Beim Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge wird ein Asylantrag
gestellt. Nach ca. drei Monaten findet ein ausführliches Interview statt, in dem Fluchtgeschichte und
-gründe nochmals detailliert dargelegt werden
müssen. Diese Befragung stellt die Grundlage für
die Entscheidung über den Asylantrag dar. Für die
Dauer des Verfahrens wird den antragsstellenden
Personen eine Aufenthaltsgestattung ausgestellt.
Stellt sich beim Abgleich der Fingerabdrücke der
Person mit einer europäischen Datenbank allerdings heraus, dass er oder sie bereits im Einreiseland registriert wurde, so wird dieses Land für
zuständig erklärt. Das Asylverfahren in Deutsch-
land wird nicht fortgesetzt und der Staat bemüht
sich, die Geflüchteten in das Erstaufnahmeland
abzuschieben, ungeachtet der dort herrschenden
Lebensumstände oder der individuellen Fluchtgeschichte, die in vielen Fällen Traumatisierung durch
Erlebnisse in eben diesen Erstaufnahmeländern beinhaltet.
Ähnliches gilt, wenn Personen aus sogenannten
„sicheren Herkunfststaaten“ einreisen, die politisch
festgesetzt und in Wahrheit oft alles andere als sicher sind. Seit April 2014 zählen auch Mazedonien,
Bosnien-Herzegowina und Serbien offiziell zu den
sogenannten sicheren Herkunftsländern – Länder,
in denen die Auswirkungen der Jugoslawienkriege
immer noch zu spüren sind und in denen ethnische
Minderheiten nach wie vor politischer Verfolgung
ausgesetzt sind. Im Frühherbst 2015 hat die Bundesregierung eine weitere Gesetzesverschärfung
auf den Weg gebracht, in der zusätzlich Kosovo, Albanien und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten definiert werden.
Sobald die Bearbeitung eines Asylantrags aufgrund
der Dublin-Verordnungen abgelehnt wurde, hat
das Bundesamt sechs Monate Zeit, um die Abschiebung in die Wege zu leiten. Häufig wird diese Frist
z. B. aufgrund von bürokratischem Aufwand ausgereizt. Der genaue Ablauf einer Abschiebung ist dabei in jedem Bundesland anders geregelt und wird
durch die lokalen Ausländerbehörden koordiniert.
Die meisten Abschiebungen aus Deutschland erfolgen über den Luftweg von den Hauptabflughäfen
Frankfurt am Main, Düsseldorf und Berlin-Tegel in
andere Staaten Europas.
Sind die sechs Monate abgelaufen, kann die Abschiebung nicht mehr vollzogen werden und
Deutschland ist verpflichtet, das Asylverfahren zu
bearbeiten. Auch wenn dies in der Praxis weitere
Probleme aufwirft (das Asylverfahren wird de facto oft nicht fortgesetzt und es gibt keine Möglichkeit, die Wiederaufnahme einzuklagen), gibt der
Fristablauf so doch eine minimale Existenzsicherheit. In Fällen, in denen die Sechsmonatsfrist zum
Zeitpunkt der angekündigten Abschiebung fast
abgelaufen ist, ist die Verhinderung der Abschiebung durch Blockaden ein wirksames Mittel. So
wird den Betroffenen eine Chance gegeben, der
erzwungenen Ausreise in die überforderten und für
Flüchtlinge oft lebensgefährlichen Länder an den
EU-Außengrenzen zu entgehen. Bei einer Blockade
werden Haustür und Klingel der betroffenen Person unzugänglich gemacht, sodass die Polizei keine
Möglichkeit hat, deren An- oder Abwesenheit festzustellen. Demzufolge gilt die Person nach einer
verhinderten Abschiebung nicht als abgetaucht. Im
Falle eines Untertauchens könnte die Dublin-Frist
auf insgesamt 18 Monate erhöht werden.
Zynischerweise wurden die Dublin III-Verordnungen
unter anderem mit der Begründung beschlossen,
dass man durch die Festschreibung, in welchem
Land eine geflüchtete Person einen Asylantrag
stellen kann, verhindern wolle, dass Personen zwischen EU-Ländern hin- und herreisen und sich
kein Staat für sie zuständig fühlt. Darüber hinaus
fußen die Verordnungen auf der Annahme, in allen
EU-Staaten sei ein faires Asylverfahren gleichermaßen möglich. Die Realität sieht grundlegend anders aus. Die Dublin-Verordnungen führten dazu,
dass Flüchtlinge ohne Ansehen ihrer Geschichte,
Wünsche und Vorstellungen zwischen EU-Ländern
hin- und hergeschoben werden. Jedes Land entzieht sich dabei mit allen zur Verfügung stehenden
rechtlichen Mitteln seiner Verantwortung und wälzt
diese nach Möglichkeit auf einen anderen Staat ab.
Die Aussichten auf ein faires Asylverfahren und ein
menschenwürdiges Leben sind dabei in den verschiedenen EU-Ländern natürlich nicht auch nur
annähernd vergleichbar. Am Beispiel von tschetschenischen Flüchtlingen, die in Österreich oder
der Slowakei Asyl suchen, werden die unterschiedlichen Schutzniveaus der EU-Staaten besonders
deutlich: Ein Asylantrag in Bratislava hatte im Jahr
2005 eine Erfolgsaussicht von weniger als einem
Prozent (Anerkennungsrate). In Wien hingegen, 75
km entfernt, lag diese laut eines Berichts von Pro
Asyl bei über 90 Prozent. Ebenso gravierend unterscheiden sich die Lebensbedingungen für Flüchtlinge zwischen den verschiedenen EU-Staaten.
Doch auch wenn durchgesetzt wurde, dass das
Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wird,
ist dies ist erst ein Teilsieg, ein nicht unbedeutender Teil der Asylanträge wird zunächst abgelehnt,
sodass ein Kampf um den dauerhaften Aufenthalt
erneut beginnt. Häufig kann auch bei abgelehnten
Asylanträgen die Abschiebung nicht durchgeführt
werden, da Dokumente fehlen, die Person nicht
reisefähig ist oder das Herkunftsland in einem
Kriegsgebiet liegt und nicht angeflogen wird. Eine
vorübergehende Unmöglichkeit der Abschiebung
und die Verlängerung der Duldung sind kurzfristig zwar ein Erfolg, stellen langfristig jedoch keine sichere Lösung dar. Duldungen werden, wenn
Hinderungsgründe für die Abschiebung bestehen
bleiben, immer wieder für kurze Zeiträume von
wenigen Monaten ausgestellt und müssen ständig
verlängert werden. Viele leben so über viele Jahre
in Deutschland, doch die Verlängerung wird immer
wieder neu entschieden. Eine Abschiebung ist auch
für solche Menschen nicht dauerhaft ausgeschlossen. Ein langfristiges Aufenthaltsrecht ist für sie nur
politisch durchsetzbar.
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Wer nicht ertrinkt wird abgeschoben?
Zur Verschärfung des Asylrechts 2015
Anfang Juli 2015 stimmte der Bundestag einer
„Neuregelung des Bleiberechtes und der Aufenthaltsbeendigung“ und somit dem größten Einschnitt in die Flüchtlingsrechte seit dem „Asylkompromiss“ 1993 zu. Trotz bundesweiter Proteste wie
Parteibürobesetzungen und Demonstrationen erlangte die Gesetzesveränderung bis kurz vor der
Entscheidung nur wenig Aufmerksamkeit in den
Medien und konnte letztendlich nicht verhindert
werden. Von Seiten der Regierungsparteien werden marginale Verbesserung des Aufenthaltsrechtes für einzelne Gruppen von Geflüchteten in den
Vordergrund gestellt. Für die Masse der Geflüchteten stellt die Neuregelung jedoch eine Verschlechterung ihrer rechtlichen Situation dar. Nur wenige
Monate später hat die Bundesregierung mit dem
„Asylbeschleunigungsgesetz“ weitere Änderungen auf den Weg gebracht, die erneut eine drastische Fortsetzung dieser Entrechtung bedeuten.
Rückblick
Schon seit den 70er Jahren gibt es Bestrebungen,
das Asylrecht, das 1949 vor dem Hintergrund der
Erfahrungen im Nationalsozialismus und dem
Zweiten Weltkrieg im Grundgesetz (Artikel 16a)
festgeschrieben wurde, zu beschränken. Vorerst
betrafen die Restriktionen das Asylverfahren an
sich. „Ziel war es, die immer größer werdende
Zahl von Geflüchteten von der Einreise in die BRD
abzuschrecken. – und zwar durch eine Beschleunigung der Verfahren, eine Erschwerung des Grenzübertrittes, die Verschärfung der Kriterien für das
Recht auf Asyl und die Verschlechterung der Lebensumstände von Betroffenen.
Bis in die 90er Jahre erfuhr das Asylgesetz weitere Beschneidungen. So wurden beispielsweise
eine Regelunterbringung in „Gemeinschaftsunterkünften“, die Einführung der „Residenzpflicht“,
Einschränkung der medizinischen Versorgung, Arbeitsverbote sowie Visasperren beschlossen.
Zeitgleich mit den rassistischen Pogromen in Lichtenhagen, Solingen, Mölln und andernorts wurde
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dann im Mai 1993 eine Grundsatzänderung und
somit der „Asylkompromiss“ verabschiedet. Mit
der Gesetzesänderung wurde das Recht auf Asyl
nach dem Artikel 16a des Grundgesetzes praktisch
abgeschafft, da sämtliche über „sichere Drittstaaten“ eingereiste Personen davon ausgenommen
wurden. Mit einer Regelung über vermeintliche
„sichere Herkunftsstaaten“ wurde den Behörden
die Möglichkeit gegeben Asylgesuche von Menschen aus bestimmten Ländern kategorisch abzulehnen (siehe Artikel S.6.).
Diese Entwicklung findet jedoch nicht allein in
Deutschland statt. Sie ist verbunden mit einer
durch die BRD seit den 90er Jahren stetig forcierten Vereinheitlichung der Migrationspolitik der
EU-Staaten, die darauf abzielt die Fluchtwege für
Menschen außerhalb des Schengengebietes zu
verriegeln. Die schon weitgehende Entrechtung
von Geflüchteten soll nun mit den Veränderungen
weiter vorangetrieben werden. Die Kritik an den
Neuregelungen wird anhand mehrerer inhaltlicher
Punkte deutlich.
Ausweitung der Abschiebehaft
Als eine zentrale Konsequenz des im Juli 2015 beschlossenen Gesetzes wird die Ausweitung der
Abschiebehaft befürchtet, welche Betroffenen
droht, sobald nach Einschätzung der Ämter und
Gerichte ein Verdacht auf Fluchtgefahr besteht.
Die Verdachtsmomente sind dabei so formuliert,
dass ein Großteil der Geflüchteten in der Praxis
eines oder mehrere dieser im Gesetz genannten
Kriterien erfüllt. Zu nennen wären hier beispielsweise die Umgehung von Grenzkontrollen bei der
Einreise und die Vernichtung von Identitätsdokumenten. Abschiebehaft droht weiterhin, wenn
Flüchtlinge ihre eigene Abschiebung nicht tatenlos hinnehmen wollen oder in der Vergangenheit
für ihre Einreise „erhebliche Geldbeträge“ aufgewendet haben, also die Dienste von sogenannten
„Schleppern“ für ihre Flucht in Anspruch nahmen.
Mit diesen Paragraphen werden Maßnahmen kri-
minalisiert, die Flüchtlinge ergreifen müssen, um
die militärisch befestigten Außengrenzen Europas
überhaupt überwinden zu können.
Explizit genannt werden Geflüchtete, die sich im
Dublin-Verfahren befinden, d.h. die in einem anderen europäischen Land registriert worden sind, bevor sie nach Deutschland kamen (siehe Artikel S.6.).
Sie stehen als Gruppe unter Generalverdacht, da sie
sich bereits einem Asylverfahren in dem jeweiligen
Durchreiseland entzogen hätten. Das Gesetz bietet
so die Grundlage, um gegen sie massenweise Abschiebehaft anzuordnen.
Einreise- und Aufenthaltsverbote
Durch das Gesetz wird die Verhängung von Einreise- und Aufenthaltsverboten von bis zu fünf Jahren gegen Geflüchtete möglich, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen oder deren Antrag auf
Asyl als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt
wurde. Dies bedeutet, dass die Betroffenen zur
Fahndung ausgeschrieben werden und sich bereits
durch den bloßen Aufenthalt strafbar machen und
zu Gefängnisstrafen verurteilt werden können. Eine
solche Sperre gilt zudem nicht allein für das deutsche Bundesgebiet, sondern für den gesamten
Schengenraum.
Dieses Instrument ermöglicht es den Behörden das
Recht der Flüchtlinge, nach einer Ablehnung des
Asyls einen Nachfolgeantrag zu stellen, auszuhebeln und ungewollte Flüchtlinge für ihre Anwesenheit willkürlich zu kriminalisieren. Politisch wird diese Schikane mit dem Vorwurf des Missbrauchs von
Sozialleistungen begründet. Dieser wird Flüchtlingen – insbesondere denjenigen aus den „sicheren
Herkunftsstaaten“ – unterstellt, deren Fluchtgründe nicht anerkannt werden.
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AusWeisungsinteResse
Dem vermeintlich privaten Interesse der Geflüchteten
auf ein Bleiberecht wird zudem ein öffentliches Abschiebeinteresse des Staates entgegengestellt. Dieses
sogenannte Ausweisungsinteresse besteht der Gesetzesänderung nach nicht nur bei Straftaten der Geflüchteten, sondern auch bei politischer Betätigung,
die die „freiheitliche demokratische Grundordnung
der Bundesrepublik“ oder die „öffentliche Sicherheit
und Ordnung“ gefährden. Die entsprechenden Paragraphen könnten in ihrer Konsequenz ein politisches
Betätigungsverbot bedeuten. Schon die Selbstorganisation von Flüchtlingen, die für ihr Bleiberecht streiten
und Flüchtlingscamps oder Hungerstreiks organisieren, kann zukünftig ein erhebliches Ausweisungsinteresse und die baldige Abschiebung begründen.
lAgeRunteRbRingung, „physisches existenzminimum“, „sicheRe heRkunfststAAten“ und unAngekÜndigte Abschiebungen
Während die bislang beschriebenen Änderungen bereits im Juli 2015 verabschiedet wurden, hat die Bundesregierung die mediale Inszenierung der „Flüchtlingskrise“ genutzt, um nur wenige Monate später
Gesetzesverschärfungen vorzulegen, die fast alle früheren Angriffe auf das Asylrecht in den Schatten stellen. Die geplanten Maßnahmen zielen sehr offen darauf ab, Flüchtlinge abzuschrecken, sie durch soziale
Entrechtung zur „freiwilligen Ausreise“ zu nötigen und
Abschiebungen zu erleichtern. Unter anderem sollen
Geflüchtete nun gezwungen werden, bis zu sechs Monate in den Erstaufnahmelagern zu bleiben. Damit
werden sie nicht nur besonders schlechten Lebensbedingungen ausgesetzt, sondern auch von der restlichen
Bevölkerung und potentiellen Unterstützer_innen isoliert. Für viele Flüchtlinge sieht das Gesetz zudem die
Absenkung der Sozialleistungen auf das „physische
Existenzminimum“ vor. Die Regierung setzt damit auf
eine völlig unverdeckte Verelendungsstrategie, mit
der unerwünschten Menschen der weitere Aufenthalt
in der BRD unerträglich gemacht werden soll. In Bezug
auf Abschiebungen beinhaltet das Gesetz das Verbot,
den Abschiebetermin den Betroffenen bekannt zu geben. Abschiebungen sollen also völlig unangekündigt
und jederzeit erfolgen können. Schließlich wird auch
noch die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ um das
Kosovo, Albanien und Montenegro erweitert, so dass
die Asylanträge von Flüchtlingen aus diesen Ländern
als „offensichtlich unbegründet“ ohne weitere Prüfung abgelehnt werden können.
10
WAs nun?
Mit den Neuregelungen werden Gesetzesverschärfungen geschaffen, die Flüchtlinge weiter kriminalisieren, systematisch
entrechten und ihre politische Betätigung zu unterbinden versuchen. Angesichts dieser massiven Angriffe auf die Rechte der
Geflüchteten ist es umso wichtiger, konsequente Gegenwehr zu
organisieren und die Umsetzung dieser Maßnahmen zu verhindern. Blockaden bleiben in jedem Fall ein sinnvolles Mittel um
Abschiebungen zu verhindern und Widerstand gegen das rassistische Migrationsregime der BRD zu leisten.
WeiteRe infoRmAtionen:
http://stopasyllaw.blogsport.eu/
www.nds-fluerat.de
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Häufig gestellte Fragen zu
Abschiebeblockaden
Wie läuft eine Abschiebung Ab?
Die Verantwortung für die Durchführung von Abschiebungen liegt bei der lokalen Ausländerbehörde, beteiligt ist aber oft auch die Polizei. Zumeist
erscheinen die Beamt_innen in den frühen Morgenstunden an der Unterkunft der betroffenen
Person und überprüfen ihre Anwesenheit durch
Klingeln oder Klopfen an der Tür. Wird ihnen geöffnet, vollziehen die Beamten den „Abtransport“.
Sind Personen nicht auffindbar, besteht u.U. die
Gefahr, dass ihre Nichtanwesenheit als Untertauchen gewertet wird. In Dublin-Fällen können sich
dadurch wichtige Fristen verlängern (siehe Artikel
S.6). Es besteht zudem die Gefahr, dass die Person
zur Fahndung ausgeschrieben wird.
Da der konkrete Zeitpunkt den Betroffenen zukünftig nicht mehr im Vorfeld mitgeteilt werden
soll, kann es auch unter anderen Umständen zu
überraschenden Abschiebeversuchen kommen.
Ein Risiko besteht für gefährdete Personen z.B.
dann, wenn diese Termine bei der Ausländerbehörde wahrnehmen müssen. Grundsätzlich ist
nicht auszuschließen, dass die Behörden solche
Gelegenheiten nutzen, um die Abschiebung unmittelbar einzuleiten. Es ist daher wichtig, dass
Flüchtlinge mit einem hohen Abschieberisiko bei
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solchen Behördenbesuchen von anderen Personen
begleitet werden, die im Notfall direkt intervenieren oder andere Unterstützer_innen alarmieren
können.
WAs kAnn gegen die
dRohende Abschiebung
unteRnommen WeRden?
Die ersten Schritte gegen eine angesetzte Abschiebung erfolgen in der Regel auf dem juristischen Weg. Eine rechtliche Beratung sollte eingeholt werden, um zu prüfen, ob die Abschiebung
juristisch überhaupt durchgeführt werden kann.
So muss bei einer attestierten gesundheitlichen
Reiseunfähigkeit die Abschiebung verschoben
werden und bei langfristiger Unfähigkeit ist das
Beantragen einer Aufenthaltserlaubnis ein möglicher Schritt.
Wichtig ist, dass dieser Prozess durch politischen
Druck begleitet wird. Dieser kann sich erheblich
auf die juristischen Entscheidungen und das Vorgehen der Behörden auswirken. Auch können sich
dadurch ganz andere Optionen öffnen, wie bspw.
die Anordnung eines Abschiebestopps für bestimmte Flüchtlingsgruppen.
In einigen Fällen kann auch ein Kirchenasyl in Be-
tracht kommen. Doch der auf diesem Weg von religiösen Gemeinschaften gewährte Schutz gilt nur
für die kirchlichen Räumlichkeiten. Dies ist weder
für die von Abschiebung bedrohte Person noch für
die Kirche eine langfristige Lösung, schafft aber
Zeit.
Die letzte Möglichkeit, eine Abschiebung zu verhindern, ist eine Blockade vor Ort. Dadurch werden
die Beamt_innen davon abgehalten die betroffene
Person abzuschieben bzw. überhaupt erst zu deren Wohnung zu gelangen. Um einen weiteren Abschiebeversuch durchzuführen, bedarf es einiger
Organisation.
Blockaden können Zeit schaffen, um eine Ausschöpfung juristischer Mittel zu ermöglichen, eine
politische Lösung durchzusetzen oder Dublin-Fristen zu überbrücken. So können Flüchtlinge, die
unter das Dublin-Verfahren fallen, nur innerhalb
der ersten sechs Monate in ein anderes EU-Erstaufnahme-Land abgeschoben werden. Danach wird
ihr Asylantrag in Deutschland geprüft (siehe Artikel
S.6).
WAs ist bei blockAden zu
beAchten?
Wichtig ist, dass der betroffenen Person nicht vorgeworfen werden kann, dass sie sich selbst ihrer
Abschiebung entzogen oder sonstwie an der Vereitelung der Abschiebung beteiligt hätte. Deswegen
ist es bei Blockaden eigentlich immer entscheidend, dass die Polizei nicht bis zur Klingel durchkommt, da sie so nicht nachweisen kann, dass die
Person Aufforderungen der Behörden nicht nachgekommen ist.
Gut ist also, wenn die Blockade draußen vor dem
Hauseingang/der Klingel stattfindet. Allerdings
sollte auch geklärt werden, ob es evtl. mehrere
Zugangswege zur Wohnung der Betroffenen gibt,
um diese u. U. auch im Blick zu behalten bzw. zu
blockieren (insbes. Hinter- und Kellereingänge).
Außerdem ist es wichtig, sich nicht einschüchtern
zu lassen und stehen zu bleiben. Da Abschiebeversuche nicht mehr angekündigt werden, kann es
sein, dass wir in Zukunft manchmal erst dann von
einer Abschiebung erfahren, wenn diese bereits
eingeleitet ist. Das heißt, dass wir erst nach Polizei
und Ausländerbehörde vor Ort eintreffen und nicht
mehr verhindern können, dass diese bis zu den betroffenen Personen gelangen. Auch in solchen Fällen können wir aber versuchen, durch Blockaden
den Abtransport von Geflüchteten zu verhindern
und die Beamt_innen durch unsere Anwesenheit
zum Abbruch der Abschiebung zu bewegen. Auf
ähnliche Weise können wir handeln, wenn Behördenbesuche für überraschende Abschiebeversuche
genutzt werden.
13
WAs pAssieRt nAch eineR
veRhindeRten Abschiebung?
Im Nachhinein ist es wichtig, dass Geflüchtete
Kontakt mit ihren Rechtsbeiständen aufnehmen,
um eine Einschätzung bzgl. der Gefährdungslage
und dem weiteren Vorgehen zu bekommen. Gerade auch die Verlängerung der Duldung sollte innerhalb der nächsten Tage geschehen, da ansonsten
wieder ein Untertauchen unterstellt werden kann.
Gegebenenfalls kann versucht werden, Sozialleistungen und Duldungsverlängerungen über bevollmächtigte Vertrauenspersonen abholen zu lassen.
Leider halten sich die Behörden nicht immer an
die offiziellen Regeln und registrieren die Person
dennoch als untergetaucht. Generell ist es daher
wichtig, auch den Prozess nach einer verhinderten
Abschiebung politisch zu begleiten.
Gibt es ein Risiko für Aktivist_innen?
Ziviler Ungehorsam wirkt besonders in der Masse. So kann eine Menge vor einem Haus die Beamt_innen dazu bewegen, gar nicht erst aus ihrem
Dienstwagen auszusteigen. Sind jedoch nur wenige Aktivist_innen vor Ort, steigt das Risiko. Wenn
die Polizei die Abschiebung trotz einer Blockade
durchsetzen will, kann die Situation eskalieren. Es
ist daher wichtig, sich im Vorhinein klarzumachen,
wo die eigenen Grenzen liegen und wie lange man
da bleiben möchte.
Wie kRieg ich die info, dAss
eine blockAde stAttfindet?
Um die Information zu erhalten, dass eine Abschiebung angesetzt ist bzw. stattfindet, brauchst
du dich nur auf unsere Telefonliste setzen lassen.
Da auch immer alternative Möglichkeiten zur Verhinderung ausgeschöpft werden und Abschiebungen seitens der Behörden nicht mehr angekündigt werden, ist meist erst kurzfristig klar, ob eine
Blockade tatsächlich erforderlich ist. Aufgrund
der kurzen Vorwarnzeiten muss die Information
schnell übermittelt werden, daher eignet sich eine
SMS statt einer E-Mail. Weitere Hintergrundinformationen lassen sich allerdings über diesen Weg in
der Regel nicht mitteilen.
Zur Eintragung in die Alarmliste für Göttingen und
Umland schreib eine Mail mit Deiner Handynummer (und möglichen Fragen) an die folgende Adresse: [email protected]
Außerdem gibt es einen Emailverteiler, über den
ausführlichere Informationen zur Verfügung gestellt werden. Auch hier kannst du dich unkompliziert selbst eintragen: <www.autistici.org/mailman/listinfo/abschiebungenstoppen>
Wie kAnn ich dARÜbeR
hinAus AntiRAssistische
ARbeit unteRstÜtzen?
Auch nach einer verhinderten Abschiebung geht
der Kampf der Geflüchteten für ihr Bleiberecht
weiter. Sie sind zumeist zahlreichen Schikanen
vonseiten der Behörden ausgesetzt. Erfolgreiche
Abschiebeverhinderungen und zunehmend viele
Dublin III Verfahren stellen eine große finanzielle
Herausforderung dar. Um diese Kosten gemeinsam zu schultern rufen wir dazu auf: Spendet an
den Arbeitskreis Asyl Göttingen e.V. oder werdet
gleich Mitglied. Dies ist wichtig, um ein unabhängiges und funktionstüchtiges Netzwerk für Flüchtlinge, MigrantInnen und Illegalisierte in der Region
Göttingen auszubauen und aufrechtzuerhalten.
14
spenden können Auf dAs
folgende konto ÜbeRWiesen
WeRden:
Arbeitskreis Asyl
Goettingen e.V. Sparkasse Goettingen
IBAN: DE03 2605 0001 0001 0775 02
Mitgliedsanträge gibt es auf der Internetpräsenz:
http://papiere-fuer-alle.org/mitgliedschaft.html
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Über vermeintliche Sachzwänge,
Humanität und die Verteilung
gesellschaftlichen Reichtums
Die Abschaffung aller Abschiebungen, ein Bleiberecht für alle und die Öffnung der europäischen
Grenzen – was wir fordern, mag vielen zunächst
absurd, zumindest aber völlig unrealistisch erscheinen. Tatsächlich stehen unsere Forderungen
im Widerspruch zu vielen populären Argumenten,
die in der öffentlichen Debatte um Flüchtlinge immer wieder vorgebracht werden. Diesen Widerspruch wollen wir nicht negieren, vielmehr geht
es uns darum zu zeigen, dass die vermeintlichen
Sachzwänge, die für eine restriktive Migrationspolitik angeführt werden, so nicht existieren und dass
die entscheidenden Fragen nicht gestellt werden.
Wenn es um Flüchtlinge geht, wird gerne das Bild
eines kaum zu bewältigenden Ansturms gezeichnet: Wohnraum wird knapp, es fehlt an Geld und
die Sozialsysteme werden überfordert – „Europa
kann nicht die Probleme der Welt lösen“, heißt es
immer wieder. Solche Positionen wurden seitens
der etablierten Politik und Medien schon in den
letzten Jahren vehement vertreten, als die Zahlen
der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge
noch deutlich unter denen der 1990er Jahre lagen.
Wenn es momentan in einigen Orten tatsächlich
zu temporären Engpässen bei der Unterbringung
kommt, so ist dies keineswegs das Ergebnis einer
naturwüchsigen Entwicklung, sondern die Folge
der verfehlten Politik der letzten Jahre: In Zeiten sinkender Flüchtlingszahlen wurden Unterkunftskapazitäten abgebaut und gleichzeitig der
Bestand des sozialen Wohnungsbaus insgesamt
drastisch reduziert. Beides ist die Konsequenz politischer Entscheidungen und als solche auch politisch umkehrbar.
Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass es darüber
hinaus auch kurzfristige Lösungsmöglichkeiten
gäbe, die bewusst nicht genutzt werden. Statt
konsequent gegen Wohnungsleerstand anzu16
gehen und weitere Unterbringungsoptionen zu
prüfen, setzt die offizielle Politik auf die zynische
Inszenierung überfüllter Unterkünfte. Dass es angesichts 20000 leerstehender Wohnungen in Dresden notwendig sein soll, dort eine Zeltstadt aufzubauen, oder dass es in München, das jährlich über
13 Millionen Übernachtungen von Tourist_innen
verzeichnet, keine andere Möglichkeit gibt, als
Geflüchtete auf dem Bahnhofsboden schlafen zu
lassen, mag glauben, wer will. Anzumerken bleibt
auch, dass andere Länder deutlich mehr Flüchtlinge als Deutschland aufnehmen – sowohl absolut
als auch im Verhältnis zur Einwohner_innenzahl.
Besonders ressentimentgeladen wird die Diskussion oft, wenn über Geld und staatliche Transferleistungen für Flüchtlinge gesprochen wird. Einerseits
werden hier generell immense Kosten suggeriert.
Andererseits halten sich hartnäckig Vorurteile und
Neiddebatten, die eine sozialrechtliche Besserstellung von Geflüchteten und eine damit verbundene
Benachteiligung deutscher Leistungsbezieher_innen behaupten. Gerade letzteres ist schlichtweg
absurd: Der eigentliche Skandal besteht darin,
dass Flüchtlinge sogar weniger erhalten als das
für Deutsche gesetzlich festgelegte Existenzminimum. Antirassistische Organisationen fordern daher seit Jahren die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), das diese rassistische
Sonderregelung beinhaltet. Auch insgesamt kann
von hohen oder sogar nicht zu bewältigenden Kosten keine Rede sein: Lediglich 1,5 Mrd. Euro gab
der deutsche Staat laut Statistischem Bundesamt
im Jahr 2013 für Leistungen nach AsylbLG aus.
Selbst wenn diese Ausgaben mit höheren Flüchtlingszahlen deutlich ansteigen, sind sie im Vergleich zu anderen Posten immer noch sehr gering:
Für Rüstung und Militär wendet die BRD jährlich 33
Mrd. Euro auf, allein bis 2019 ist in diesem Bereich
eine weitere Erhöhung um 8 Mrd. Euro geplant. Ob
Mittel für Panzer und Drohnen oder für Flüchtlinge
genutzt werden, ist kein Sachzwang, sondern eine
rein politische Entscheidung. In jedem Fall besteht
kein logischer Zusammenhang zwischen der Höhe
der Zahlungen für deutsche Empfänger_innen von
Sozialleistungen und dem Geld, das für Geflüchtete zur Verfügung steht. Erschreckend ist, dass es in
der Debatte um vermeintliche Kosten in der Regel
völlig ausgeblendet wird, dass es hier um das Leben
und Überleben von Menschen geht.
Dass solche Kosten-„Argumente“ überhaupt auf
größere Resonanz stoßen können, hängt auch
damit zusammen, dass die soziale Frage und die
Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums insgesamt – auch von der politischen Linken – zu wenig
thematisiert werden. Das gilt sowohl in Bezug auf
die Bundesrepublik als auch mit Blick auf die weltweiten Verhältnisse. In Deutschland verfügen die
reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über etwa
zwei Drittel des Gesamtvermögens. Global gesehen sieht es noch dramatischer aus: Das oberste
Prozent besitzt in etwa gleich viel wie der Rest der
Weltbevölkerung zusammen. Wir widersprechen
denjenigen Stimmen, die z. B. ALG-II-Empfänger_
innen und Flüchtlinge gegeneinander ausspielen
wollen – also Verteilungskämpfe zwischen denen,
die fast nichts und denjenigen, die noch weniger haben, propagieren. Wir bestehen auf der Möglichkeit
emanzipatorischer Umverteilung und der Schaffung einer gesellschaftlichen Ordnung, die allen ein
menschenwürdiges Leben bietet. Die notwendige
gesellschaftliche Umgestaltung kann, wenn sie der
Humanität verpflichtet ist, in keiner Form an nationale Grenzen gebunden sein. Zum einen, weil
es kein vernünftiges Argument gibt, mit dem sich
die Benachteiligung eines Menschen rechtfertigen
ließe, nur weil diese oder dieser nicht über ein bestimmtes Papier, einen bestimmten Pass verfügt.
Zum anderen sind Ausbeutung und Unterdrückung
im 21. Jahrhundert global organisiert, d. h. dass
vor allem westliche Firmen von den Ausbeutungsbedingungen in den Herkunftsländern profitieren.
Deshalb lässt sich also gar kein Trennstrich zwischen den Problemen der „Welt“ und der Situation
hierzulande ziehen. Das europäische Grenzregime
stabilisiert diese Verhältnisse, indem es den Menschen die Möglichkeit nimmt, sich diesen Bedingungen in den Herkunftsländern zu entziehen und
dazu beiträgt, dass Migration extrem kostspielig
und lebensgefährlich wird. Zugleich zwingt die Entrechtung der Flüchtlinge in Europa diese dazu, in
den Zielländern besonders schlecht bezahlte bzw.
vielfach auch nicht legale (sogenannte ‚Schwarzarbeit‘) und rechtlich nicht abgesicherte Arbeitsverhältnisse einzugehen.
All dem wollen wir uns gemeinsam entgegenstellen. Die Blockade von Abschiebungen ist dazu ein
erster kleiner Schritt. Was wir fordern, mag momentan unrealistisch erscheinen. Aber es ist das,
was Vernunft und Menschlichkeit gebieten. Und
wenn es unrealistisch ist, dann nicht aufgrund unabänderlicher Gegebenheiten, sondern weil der
politische Druck fehlt. Damit dieser Druck entsteht,
damit unsere Forderungen realistisch werden, müssen wir uns gemeinsam mit vielen anderen Menschen in Bewegung setzen.
17
„Skrupellose Menschenhändler“ oder
„Transportdienstleister“?
Der „Kampf gegen Schlepperbanden“ und das
europäische Grenzregime
Tagtäglich sterben Menschen beim Versuch die
europäischen Außengrenzen zu überwinden – die
meisten weitgehend unbeachtet und anonym,
fernab medialer Aufmerksamkeit. Nur, wenn katastrophale Einzelereignisse derartige Ausmaße
annehmen, dass sie sich auch medial nicht ignorieren lassen, dringt die Situation an der Grenze in das
Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit.
Die offizielle Politik äußert zu solchen Anlässen
gerne große Betroffenheit, ohne dass jedoch auch
nur ein Wort zur Rolle des europäischen Grenzregimes fällt. Stattdessen sind die Schuldigen schnell
ausgemacht: „Kriminelle Schlepperbanden“, gegen die man im Zweifel sogar militärisch vorgehen
sollte. Dieses Stichwort wird gerne aufgegriffen,
während die entscheidenden Frage nicht gestellt
werden: Warum wählen Flüchtlinge überhaupt so
riskante Reisewege und begeben sich in die Hände
der vehement angeprangerten „skrupellosen Menschenhändler“?
Die Antwort auf diese Frage ist das Grenzregime
selbst: In den letzten Jahrzehnten hat die EU faktisch alle Möglichkeiten einer legalen Einreise für
Flüchtlinge abgeschafft und gleichzeitig Milliar18
den für die militärische Abschottung ihrer Außengrenzen ausgegeben. Aber an der Notwendigkeit
zu flüchten ändern diese Maßnahmen selbstverständlich nichts. Die Fluchtgründe der Menschen,
die in die europäischen Staaten gelangen wollen,
bleiben bestehen. Da die verhältnismäßig sicheren
Möglichkeiten des Grenzübertritts systematisch
verbaut werden, müssen Flüchtlinge immer längere und gefährlichere Wege nutzen. Viele sind dadurch über mehrere Jahre auf der Flucht und müssen sich immer wieder in Lebensgefahr begeben.
Durch ihre Abschottungspolitik hat die EU die
wesentlichen Grundlagen für das Geschäftsfeld
„Schleppen“ selbst geschaffen. Es ist faktisch unmöglich, in die „Festung Europa“ einzudringen,
ohne die Dienste von Schlepper_innen in Anspruch
zu nehmen. Das „Schleppen“ als solches ist daher
zunächst auch alles andere als moralisch verwerflich, sondern eine dringend benötigte Dienstleistung, auf die Flüchtlinge unter den gegebenen Bedingungen zwingend angewiesen sind.
Auch die „Schlepper“ sind keineswegs durchgängig finstere Gestalten, sondern eine durchaus
heterogene Gruppe: Oft sind es z. B. ehemalige
afrikanische Fischer_innen, denen ihre bisherige
Existenzgrundlage genommen wurde, weil europäische Schiffe ihre Fanggebiete leergefischt haben,
oder Flüchtlinge, die an einem bestimmten Ort
hängengeblieben sind und sich auf diese Weise ihre
Weiterreise finanzieren.
In vielen Fällen haben die „Schlepper“ auch selbst
ein großes Interesse daran, dass ihre Kund_innen
so sicher wie möglich an den Zielort gelangen, da
Informationen über die Qualität der Fluchthilfe unter Flüchtlingen zirkulieren und ein guter Ruf für
das Geschäftsmodell wesentlich ist. Da sich mit
dem „Schleppen“ insgesamt viel Geld machen lässt
und die Überwindung der abgeschotteten Grenzen
eine immer komplexere Organisation erfordert,
kann man allerdings davon ausgehen, dass mafiöse Strukturen und Akteur_innen, die die Notlage
der Flüchtlinge schamlos ausnutzen, in diesem Geschäftsfeld inzwischen eine wichtige Rolle spielen.
Durch den „Kampf gegen die Schlepperbanden“
wird dieses Problem aber nicht behoben, sondern
verschärft: Mit dem Risiko für die im Verborgenen
agierenden Transportunternehmer_innen steigen
auch die Preise. Flüchtlinge, die diese nicht bezah-
len können, müssen dann verstärkt auf Anbieter zurückgreifen, die weniger auf langfristige Geschäftsbeziehungen setzen als auf schnelle Gewinne und
dafür eine erhöhte Gefährdung der geschleusten
Personen in Kauf nehmen.
Die Mobilisierung gegen „Schlepper“ kann daher
nicht als humanitäre Maßnahme gelten, sondern
vor allem als geschicktes Ablenkungsmanöver von
Politiker_innen, die mindestens so skrupellos sind,
wie die Schlimmsten der von ihnen als Feindbild
auserkorenen Transportunternehmer_innen. Wer
die Leben von Flüchtlingen retten will, kann nicht
den Kampf gegen diejenigen unterstützen, auf deren Dienstleistungen diese aktuell zwingend angewiesen sind, sondern muss für die Zerschlagung des
Grenzregimes und die Eröffnung sicherer Passagen
und Einreisemöglichkeiten eintreten. Richtig bleibt
daher, was antirassistische Aktivist_innen schon
lange fordern:
Fähren statt Frontex!
19
Abschottungspolitik und Verlagerung von
Fluchtrouten
Die Abschottung der europäischen Außengrenzen liegt nicht in der alleinigen Verantwortung
einzelner Staaten, sondern wird durch eigens
eingerichtete EU-Institutionen koordiniert und
gefördert. Eine zentrale Rolle spielt dabei die
im Jahr 2004 entstandene „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den
Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“, die in der Öffentlichkeit fast
nur unter ihrem Kürzel „Frontex“ bekannt ist.
Die zentrale Aufgabe von Frontex besteht darin, die Lage an den Außengrenzen zu analysieren und Abschottungsmaßnahmen gezielt voranzutreiben. Die auf diese Weise intensivierte
Schließung relativ sicherer Zugangswege in
die EU ist ein wesentlicher Faktor für die Verlagerung von Fluchtbewegungen auf immer
gefährlichere Routen.
20
Dass sich Flüchtlinge überhaupt auf die hoch
riskante Reise in Booten oder maroden Schiffen über das Meer begeben, liegt hauptsächlich daran, dass ihnen legale Möglichkeiten des
Zugangs zur EU verwehrt werden. So könnte
für viele Flüchtlinge die Einreise per Flugzeug
oder Fähre eine sichere (und kostengünstigere) Alternative bieten. Die EU weigert sich jedoch, Flüchtlingen die notwendigen Visa zu
erteilen. Zusätzlich verpflichtet sie die Beförderungsunternehmen, die gesamten Kosten
für den Rücktransport zu tragen, wenn Flüchtlinge nicht ins Zielland einreisen dürfen. Aufgrund dieses finanziellen Risikos weigern sich
Flugunternehmen und Fährgesellschaften,
Flüchtlinge überhaupt an Bord zu nehmen.
Neben solchen Regelungen setzt die EU auch
darauf, bisher viel genutzte Routen zu zerschla-
gen, die zwar nicht legal, aber relativ risikoarm
waren. Beispielsweise war es bis vor kurzem für
viele noch möglich, über die grüne Grenze auf
dem Landweg aus der Türkei nach Griechenland
und Bulgarien zu gelangen. Inzwischen haben
aber beide EU-Staaten ihre Grenzanlagen durch
meterhohe Zäune und NATO-Draht so stark ausgebaut, dass es zunehmend notwendig wird,
gefährlichere Ausweichrouten wie den Seeweg
über die Ägäis zu nutzen.
nun auf wesentlich längere Wege über den Atlantik aus, um so weiter westlich gelegene Bereiche
des spanischen Festlandes oder die Kanarischen
Inseln zu erreichen. Ein anderer Teil versucht die
Flucht über das zentrale Mittelmeer, insbesondere nach Lampedusa. Gerade in diesem Seegebiet sind in den vergangenen Jahren tausende
Menschen ertrunken. Die Toten im Mittelmeer
sind eine direkte Konsequenz der durch die Abschottungspolitik erzwungenen Verlagerung von
Fluchtrouten.
Ein anderes Beispiel ist die Meerenge von Gibraltar, die nur wenige Kilometer breit ist und deshalb
lange Zeit einen wichtigen Fluchtweg nach Europa bildete. Durch den Aufbau einer hochtechnisierten und fast lückenlosen Überwachung in
diesem Bereich hat diese Route erheblich an Bedeutung verloren. Ein Teil der Flüchtlinge weicht
21
Desaströse Lebensbedingungen für
Flüchtlinge in den
Erstaufnahmeländern
Die meisten Abschiebungen in Deutschland werden aufgrund des Dublin-Abkommens durchgeführt, weil dieses beinhaltet, dass Flüchtlinge nur
in dem Land Asyl beantragen können, in welchem
sie erstmals europäischen Boden betreten haben.
Dies sind in der Regel südliche Küstenländer und
EU-Länder in Osteuropa, während Deutschland
durch seine geografische Lage abgeschirmt ist.1 In
erstgenannten Ländern droht vielen Flüchtlingen
aufgrund noch unfaireren Asylverfahren erst recht
die Abschiebung, hinzu kommen häufig desaströse Lebensbedingungen.1
In Italien haben 85.000 Bootsflüchtlinge im Jahr
2014 das Festland erreicht, von denen jedoch nur
30% einen Asylantrag stellten. Nach wenigen Tagen ziehen die meisten Flüchtlinge von den Erstaufnahmeeinrichtungen (CPSA), in denen die
Lebensbedingungen besonders schlecht sind, in
eines der neun Aufnahmezentren für Asylbewerber_innen (CDA oder CARA), die in verschiedenen Regionen Italiens verteilt sind und in denen
zwischen sechs Monaten und zwei Jahren (der
Bearbeitungszeitraum ihres Asylverfahrens) leben müssen. Während dieser Zeit stehen ihnen
in Italien nur 2,50 Euro „Taschengeld“ pro Tag zur
Verfügung. Der Rest der 30-34 Euro, die Italien pro
Flüchtling am Tag ausgibt, geht an Einrichtungen
in privater Trägerschaft, welche die Aufnahme
von Flüchtlingen zu einem lukrativen Geschäft
gemacht haben und keine Rücksicht auf deren Bedürfnisse nehmen. Hinzu kommt die Überlastung
der Flüchtlingsheime, denn während die Aufnahmekapazität der CARA nur bei 9.000 Menschen
liegt, leben in ihnen 11.000 Menschen. Die Anzahl
der Flüchtlinge in leerstehenden Gebäuden, wie
Schulen und Kirchen, wird auf noch einmal 40.000
geschätzt.2 Viele Menschen werden nach dem
Verlassen der CPSA aber auch obdachlos und sich
selbst überlassen, was häufig eine Verelendung zur
Folge hat und dazu führt, dass der Asylbescheid
gar nicht übermittelt werden kann, wenn das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist.
Ein Beispiel für die desolate Situation in Italien ist
die Fluchtgeschichte der achtköpfigen afghanischen Familie Tarakhel. Sie kam im Sommer 2011
in einem desaströsen Zustand mit dem Boot in Italien an, wo sie zunächst provisorisch in einer Schule untergebracht wurde, um dann in eine Unterkunft mit 50 weiteren Flüchtlingen auf kleinstem
Raum zusammengepfercht leben zu müssen. Ein
von Zigarettenrauch durchtränkter Raum, in dem
die sechs kleinen Kinder der Familie unter sehr
schlechten hygienischen Bedingungen nun leben
sollten. Nur zwei Matratzen fungierten als Bett für
die gesamte Familie, die sich daraufhin entschloss,
die weitere Flucht über Österreich in die Schweiz
anzutreten. Aus der Schweiz sollte die Familie per
Schnellverfahren zurück nach Italien abgeschoben
werden. In ein Land, in dem nicht nur die Unterkünfte überfüllt und die Gefahr Opfer von Gewalt
zu werden groß ist, sondern in dem auch die Familie getrennt werden könnte. Getrennt, weil in den
normalen Flüchtlingsunterkünften keine kindgerechte Unterbringung möglich ist und die Kinder
in ein separates Kinderheim kommen könnten.
Auch die Möglichkeit, dass der Vater in ein Männerwohnheim überführt werden könnte, besteht.3
Die Familie klagte gegen die bevorstehende Abschiebung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser entschied, dass sie
nur abgeschoben werden dürfe, wenn Italien die
Garantie für eine kindgerechte Unterkunft sowie
die Wahrung der Familieneinheit übernehme.4 Unabhängig vom Urteil des EGMR sind wir der Meinung, dass Menschen selbst bestimmen dürfen
sollen, wo sie leben möchten und dies unabhängig
1 Vgl. http://www.migazin.de/2014/12/11/kampf-abschiebung-bundesamt-fluechtlinge-kirchenasyl/, zugegriffen am 27.04.2015.
2 Vgl. http://mediendienst-integration.de/artikel/fluechtlinge-italien-aufnahme-einrichtungen-cpsa-cara-sprar.html , zugegriffen am
28.04.2015.
3 Vgl. http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/sind_abschiebungen_nach_italien_menschenrechtswidrig/, zugegriffen am
29.04.2015.
4 Vgl. http://skmr.ch/de/themenbereiche/migration/artikel/egmr-tarakhel-gegen-schweiz.html?zur=39, zugegriffen am 29.04.2015.
22
von ihrer Nationalität.
Noch schlimmer ist die Situation für Flüchtlinge, die
über die Türkei nach Griechenland flüchten, denn
hier sind systematische Menschenrechtsverletzungen, überfüllte Haftlager und ein nicht funktionierendes Asylsystem bittere Realität. Aufgegriffene
Flüchtlinge werden hier in Haftlagern interniert, in
welchen sie nicht einmal einen Schlafplatz erhalten,
was per Definition einer inhumanen und erniedrigenden Behandlung im Sinne Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonventionen entspricht.5
Die Abschiebung von Flüchtlingen aus Deutschland
nach Griechenland ist daher nach einem Urteil des
Europäischen Gerichtshofs von 2011 untersagt worden.6
Ein Beispiel für die unmenschlichen Lebensbedingungen, unter denen Flüchtlinge in Griechenland zu
leiden haben, gibt die Geschichte eines Flüchtlings,
der aus dem Irak über die Türkei erst nach Griechenland und schließlich weiter nach Belgien geflüchtet
ist. Er war Polizist im Nordirak und politischer Ver5 Vgl. http://www.proasyl.de/de/themen/eu-politik/situation-in-griechenland/, zugegriffen am 29.04.2015.
6 Vgl. http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/eugh_bestaetigt_
keine_abschiebung_nach_griechenland/, zugegriffen am 29.04.2015
folgung ausgesetzt, die in einem Mordversuch mündete. In Griechenland behandelte man ihn wie einen
Verbrecher, nahm zunächst seine Fingerabdrücke
und sperrte ihn anschließend ohne Übersetzer_in
und Anwält_in in eine Zelle. Nachdem er zurück
nach Istanbul abgeschoben wurde, brachte ihn ein
Schlepper nach Belgien, wo er gegen seine erneute
Abschiebung, diesmal aufgrund des Dublin-Abkommens nach Griechenland, klagte.7
Beide Beispiele führen vor Augen, wie nationale
Grenzen zum Mittel von Abschottung und Ausgrenzung werden. Nicht einmal menschenunwürdige
Lebensbedingungen, überlastete Flüchtlingsunterkünfte und desaströse Versorgungsverhältnisse
hindern die deutschen Behörden daran, Abschiebungen in sogenannte Erstaufnahmeländer anzuordnen.
7 Vgl. http://www.zeit.de/campus/2013/04/erstes-mal-anwaeltin-europaeischer-gerichtshof, zugegriffen am 29.04.2015.
23
Lebensbedingungen von Geflüchteten in der Bundesrepublik
Flüchtlinge sind nicht nur dem Druck von
Abschiebungen ausgesetzt; die Ungleichbehandlung und Diskriminierung erstreckt
sich vielmehr über alle Lebensbereiche.
Ausschluss vom öffentlichen Gesundheitssystem, willkürliche Streichungen von
Geldern noch unter das gesetzliche Existenzminimum, Lagerunterbringung, gesundheitsschädigende Wohnsituationen, das
Gutscheinsystem oder die Residenzpflicht
B . erzählt von seinem gesund­heitlichen
Zus­tand: B hat seit Langem eine Augenkrankheit. Er ist beim Auge­narzt gewe­sen,
der ihm bestätigt hatte, dass er drin­gend
operiert wer­den sollte. Mehr als drei Monate sind seit­dem ver­gan­gen und bis jetzt
hat er noch keinen Über­weisungsschein
von der Aus­län­der­be­hörde aus­gestellt
bekom­men. „Die Aus­län­der­be­hör­den
ignori­eren meinen gesund­heitlichen Zus­
tand, weil ich als Gedulde­ter per­ma­nent
nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­
setzt bestraft und sank­tion­iert wer­den
soll. Gesund­heit steht jedem Men­schen
zu, egal welche Papiere und Aufen­thalt­
srechte er besitzt.“
sind nur einige Beispiele dafür, wie Geflüchtete gesellschaftlich isoliert und in den elementarsten Bedürfnissen eingeschränkt
werden.
Diese erniedrigenden und menschenverachtenden Lebensbedingungen werden
durch ein ganzes Sammelsurium an Gesetzen und Vorschriften zementiert und von
den zuständigen Behörden in der alltäglichen Arbeit umgesetzt. Die Solidarität mit
den Geflüchteten darf sich deswegen nicht
24
allein auf die Verhinderung von Abschiebungen beschränken, sondern bedeutet auch
den Kampf gegen diese inhumane Ordnung.
Im Folgenden werden die wesentlichen Elemente dieser Diskriminierung und ihre Bedeutung für Geflüchtete skizziert.
Asylbewerberleistungsgesetz
Mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) von 1993 wurden
Geflüchtete von dem Bezug allgemeiner
Sozialhilfe (nach SGB II) ausgeschlossen.
Die Regelungen dieses Gesetzes sind darauf
angelegt, die Leistungen noch unter das Niveau des gesetzlich garantierten Existenzminimums zu drücken und die Geflüchteten
vom Gesundheitssystem weitestgehend
auszuschließen. Medizinische Flüchtlingshilfen fordern seit langem die Abschaffung dieses Sonderrechts für Geflüchtete, das einzig
und allein der zusätzlichen Drangsalierung
von Geflüchteten und der Beschneidung ihrer Rechte dient.1 Betroffen vom AsylbLG
sind geduldete Menschen und Personen mit
Aufenthaltsgestattung (für die Dauer des
Asylverfahrens). Die Einschränkung gegenüber Sozialhilfeleistungen wird mit einer
angenommenen geringen Aufenthaltsdauer
gerechtfertigt. Dies ist aber irreführend, da
die Mehrzahl der bloß geduldeten Flüchtlinge über Jahre hinweg in Deutschland bleibt.2
Leistungskürzungen
Zudem wird im Gesetz die Möglichkeit zusätzlicher Leistungskürzungen gegeben.
1 Vgl. Kampagne zur Abschaffung des AsylbLG: http://stopasylblg.de/
2 Vgl. Die Stellungnahme von ProAsyl zur Gesetzesänderung 2014: „Von den ca. 90.000 Geduldeten leben mehr als
die Hälfte bereits länger als sechs Jahren in Deutschland”
(Quelle: <http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/
PROASYL_AsylbLG_BMAS_2014.pdf>, Seite 3.
Dies beträfe diejenigen Personen, „die
sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen
nach diesem Gesetz zu erlangen” (AsylbLG §1a). Ein solcher Vorwurf kann von
den Behörden erhoben werden, wenn
Flüchtlinge bspw. angeben, dass sie in
ihrem Herkunftsland in Armut lebten
oder ihre sonstigen Fluchtgründe nicht
anerkannt bzw. angezweifelt werden.
Ebenso sind Personen davon betroffen,
die der Verzögerung von „aufenthaltsbeendende[n] Maßnahmen” (ebd.), d. h.
ihrer Abschiebung, beschuldigt werden.
Eine von der Bundesregierung im Herbst
2015 vorgelegte Gesetzesänderung3 beinhaltet in diesem Bereich weitere Verschärfungen: Für vollziehbar Ausreisepflichtige, d.h. Personen die ihrer Ausreisepflicht
nicht innerhalb einer ihnen gesetzten Frist
nachgekommen sind und deren Ausreise
keine aufenthaltsrechtlichen Hindernisse
entgegenstehen, ist eine Kürzung auf das
„physische Existenzminimum“ vorgesehen.
Das gleiche soll auch für Dublin-Flüchtlinge
3 Vgl. den Gesetzesentwurf der Regierungsfraktionen,
Stand 29.09.2015: http://dip21.bundestag.de/dip21/
btd/18/061/1806185.pdf
A, ein Mit­be­wohner, erzählt: „Wir wohnen zu acht in einer Woh­nung, die aus
zweiein­halb Zim­mern besteht. Wir sind
acht Män­ner mit ver­schiede­nen Nation­al­
itäten auf eng­stem Raum. Wir haben eine
Koch­platte und eine Toi­lette und Dusche.
Diese beengte Wohn­si­t­u­a­tion nimmt mir,
und meinen Mit­be­wohn­ern ähn­lich, jeden
Freiraum und jede Rück­zugsmöglichkeit.
Außer­dem sind die san­itären Ein­rich­tun­
gen der Häuser in katas­trophalem Zus­
tand – von Schim­mel bis Kälte. Das gefährdet unsere Gesundheit.“
gelten sowie für solche Geflüchtete, die per
EU-Entscheidung einem anderen Mitgliedsstaat (bspw. per Quotenregelung) zugeteilt
worden sind.
Gutscheinpraxis und Sachleistungen
Vielerorts – und von 1998 bis 2013 auch in
Göttingen – werden die Sozialleistungen
den Flüchtlingen nicht in Form von Geldbeträgen, sondern lediglich in Form von Gutscheinen, für welche nur ein eingeschränk25
tes Warensortiment in einer begrenzten
Anzahl von Geschäften erstanden werden
kann, sowie von Sachleistungen, zur Verfügung gestellt. Die von der Bundesregierung im Herbst 2015 auf den Weg gebrachte Gesetzesverschärfung sieht die erneute
Einschränkung von Geldleistungen und die
Ausweitung der Sachleistungspraxis vor.
Dieses aufwendige System dient allein
dem Ziel der Kontrolle und der Stigmatisierung Geflüchteter. In Einzelfällen wie
nach einer verhinderten Abschiebung
greift auch die Stadt Göttingen auf die
Austeilung von Gutscheinen zurück, was
einer individuellen Bestrafung der Geflüchteten gleichkommt.
Gesundheitsversorgung
Ein Anspruch auf medi­zinis­che Behand­
lung besteht allein bei akuten Erkrankun­
gen und dadurch verur­sachten Schmerz­
en, während die Behand­lung chro­nis­cher
Krankheiten ver­
weigert wird. Sämtliche
Behand­lun­gen und ärztliche Über­weisun­
gen müssen von den Sozial­be­hör­den genehmigt wer­den. In der Praxis wer­den
26
oft­mals nötige Über­weisungss­cheine
nicht aus­gestellt oder der gesund­heitliche
Zus­tand der Geflüchteten ignoriert. Auch
die durch die Prüfung entstehende Verzögerung kann eine Verschlechterung des
Gesundheitszustandes der Geflüchteten
bewirken. Durch die Nichtbehandlung
chronischer Krankheiten entstehen den
Betroffenen langfristige gesundheitliche
Schäden, die mitunter zum Tod führen
können.
Wohnsituation
Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, werden nach ihrer Registrierung
in einem der Erstaufnahmelager auf die
Bundesländer und dort auf die einzelnen
Kommunen verteilt. Die Bedingungen
dieser Unterbringung reichen von der Kasernierung in Massenunterkünften wie
Lagern und Heimen bis zur Zuweisung
von Sozialwohnungen. Die Unterbringung
von Geflüchteten gehört zu den medial
präsentesten Aspekten der Migrationspolitik. So wird beispielsweise durch die örtliche Konzen­tra­tion vieler Flüchtlinge in zu
kleinen Unterkünften das Bild eines nicht zu
bewältigenden Ansturms erzeugt.
In der Stadt Göttingen gab es zwar bislang
keine Lager, dennoch folgt die Unterbringung
von Flüchtlingen auch hier grundsätzlich ähnlichen Prinzipien. Wie Geflüchtete in einem
Protestschreiben darlegen, steht ihre Wohnsituation in eklatantem Widerspruch zum
grundlegenden Recht auf ausreichenden und
menschenwürdigen Wohnraum. Viele Flüchtlinge werden von der Stadt in maroden Häuserblocks im Rosenwinkel und im Neuen Weg
untergebracht. Daneben gibt es inzwischen
eine Reihe von Sammelunterkünften. Sie
befördern tendenziell die Isolation von der
sonstigen Stadtbevölkerung und den Ausschluss vom sozialen und kulturellen Leben.
Seit Jahren sind solche Sammelunterkünfte
zudem für ihre miserablen Wohnbedingungen bekannt. Diejenigen Flüchtlinge, die sich
selbst eine Wohnung suchen dürfen, haben
bei Vermieter_innen keine Chance, weil sie
keinen festen Aufenthaltsstatus, sondern
nur kurzfristige Duldungen erhalten. Behördliche Schikanen, die Verknappung von
Wohnraum im unteren Mietpreissegment
und in vielen Fällen auch rassistische Einstellungen seitens potentieller Vermieter_innen
greifen nahtlos ineinander.
bAnkkonten
Ein Konto zu besitzen erscheint als alltägliche, geradezu selbstverständliche Angelegenheit. Ob beim Eintritt in den Beruf, das
Eingehen eines Mietverhältnisses oder bei
einer einfachen Bestellung im Internet, an
wie vielen Stellen führt heutzutage kein Weg
an der Angabe eines Kontos vorbei. Dennoch
stehen Flüchtlinge in Deutschland vor massiven Schwierigkeiten, wenn sie versuchen
wollen, ein eigenes Konto einzurichten. Dies
hängt damit zusammen, dass die Banken
ihre Ausweisdokumente (Aufenthaltsgestattungen bzw. Duldungen) für nicht ausreichend erachten. Sie verweisen in diesem
Zusammenhang u.a. auf das sogenannte
Geldwäschegesetz, also eine gesetzliche Regelung, die offiziell dem Kampf gegen organisierte Kriminalität (nämlich dem “Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten”)
dienen soll. Hier wird sie aber als pauschaler
Vorwand und Legitimation genutzt, um einer Personengruppe die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verweigern.
Aus diesen Benachteiligungen ergibt sich
auch die diskriminierende Praxis der monatlichen Barauszahlung der Sozialleistungen. In
Göttingen müssen die Betroffenen Monatsende für Monatsende – in einzelnen Fällen
auch Woche für Woche – bei den Behörden
vorsprechen, um dort die ihnen zustehenden
Geldbeträge abzuholen. Das stundenlange Warten im tristen Eingangsbereich des
Rathauses mit über hundert Personen stellt
insbesondere für Eltern oder Kranke eine extrem stressige Situation dar.
C, ein weiterer Bewohner des Hauses,
sagt: „Am schlimmsten ist es, den ganzen
Tag nichts zu tun und keinen Kontakt zu
anderen Menschen zu haben. Hinzu kommt
bei allem noch die ungewisse Zukunft, das
Warten auf die Bearbeitung ihres Asylantrags und die Angst vor Abschiebung.
Viele von uns haben psychische Probleme
mit Folge von Depressionen.“
Die meisten Behörden (wie hier in Göttingen)
legen die ohnehin rassistische Gesetzgebung
so restriktiv wie möglich aus. Dies treibt die
Flüchtlinge in eine Lage der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und soll sie dazu bringen, ihre Ansprüche auf Asyl, auf ein menschenwürdiges Leben und auf die Erfüllung
grundlegender Bedürfnisse aufzugeben. Die
ohnehin schon sehr geringen Sozialleistungen werden häufig als Druckmittel genutzt,
um eine sogenannte „freiwillige Ausreise“ zu
erzwingen. Auch Arbeitsverbot, Verwehrung
von Deutschkursen für Geflüchtete ohne
anerkanntes Bleiberecht sowie Lagerunterbringung stehen dem Aufbau eines selbstbestimmten Lebens im Weg. Wenn in der
Politik und in den Medien über das Für und
Wider von Lagerunterbringung, die Vor- und
Nachteile eines Arbeitsverbots, der Freizügigkeit, der medizinischen Versorgung, der
Isolation ohne Rücksicht auf die Perspektive
der Betroffenen debattiert wird, spielen die
Bedürfnisse und Wünsche der Geflüchteten
keine Rolle.
27
Flüchtlingsproteste und Kämpfe für
gleiche Rechte
Mit Protestzel­ten und -märschen, Beset­zun­
gen und Hunger­streiks brin­gen Flüchtlinge in der
gesamten Bundesrepublik diese men­
schen­
ver­
ach­t­ende Poli­tik und deren Auswirkun­gen in das
Bewusst­sein der Gesellschaft. Sie haben sich entschlossen, die rassistische Diskriminierung und
Entrechtung, der sie zum Teil seit Jahren ausgesetzt sind, nicht länger hinzunehmen. Gemeinsam
mit Unterstützer_innen aus unterschiedlichen politischen Spektren kämpfen sie für Bleiberecht und
gleiche Rechte.
Eine neue Protestdynamik
Proteste gegen das europäische Grenz- und Abschieberegime sowie gegen rassistische Sondergesetze sind in der BRD kein neues Phänomen.
Bereits seit Jahrzehnten setzen sich Betroffene
sowohl gegen die mörderische Abschottung der
europäischen Außengrenzen, als auch gegen die
entwürdigenden Bedingungen zur Wehr, unter denen sie hierzulande nach dem Willen der Behörden
leben sollen.
Auch in Göttingen war es nie wirklich ruhig. Vor
allem der Kampf gegen Abschiebungen und das
Gutscheinsystem erlangte hier zwischenzeitlich
28
immer wieder große Intensität und konnte neben
vielen bitteren Niederlagen auch einige Erfolge
vorweisen. Obwohl es ähnliche Aktivitäten also
schon recht lange gibt, lassen sich seit einiger Zeit
dennoch Veränderungen konstatieren: Seit etwa
2012 haben die Kämpfe von Geflüchteten in ganz
Deutschland an Dynamik gewonnen.
Mit mitunter spektakulären Aktionen, die teilweise – wie die Initiative „Lampedusa in Hamburg“
oder die Besetzung des Oranienplatzes in Berlin
– bundesweite Aufmerksamkeit fanden, haben
Flüchtlinge an zahlreichen Orten deutlich artikuliert, dass sie sich nicht mehr zum Schweigen bringen lassen. Eine wichtige Rolle in diesem neuen
Protestzyklus spielt die Inbesitznahme von stark
frequentierten Plätzen. Mit der dauerhaften Präsenz im öffentlichen Raum machen die Aktivist_innen unmissverständlich deutlich, dass das Thema
Flüchtlingsrechte nicht von der Tagesordnung verschwinden wird. Auch Geflüchtete aus Göttingen
und Umgebung sind mit einem Protestzelt in der
Innenstadt, Kundgebungen und Demonstrationen
sichtbarer Teil dieser erstarkten Bewegung geworden.
youR libeRAtion is bound up With mine
Konflikte um die Kontrolle von Migration sind mit
anderen gesellschaftlichen Feldern auf das engste verknüpft. Das zeigt sich auch daran, dass der
Umgang mit Flüchtlingen immer wieder als Experimentierfeld für Zumutungen dient, die danach auf
weitere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt werden.
So wurden z.B. einige im Zuge der Hartz IV-Gesetze
umfassend etablierte Maßnahmen (u.a. Ein-EuroJobs, Gutscheine statt Bargeld als Sanktionsmittel)
in ähnlicher Form zuvor vor allem an Geflüchteten
ausprobiert.
Die Auseinandersetzungen, die die Geflüchteten
aktuell führen, erweisen sich als ein Element weltweiter Kämpfe für ein besseres, ein menschenwürdiges, ein Leben ohne Unterdrückung und Ausbeutung. Die nationalen Grenzen gehören zu den
Orten, an denen der Kapitalismus sein menschenfeindliches Gesicht am offensten zeigt. Im Kontext
von Migration wird der Kampf um Würde immer
häufiger zum Kampf um das Leben selbst.
Doch was sich hier in extremer Zuspitzung zeigt,
besitzt eine Vielzahl von Bezügen zu anderen gesellschaftlichen Konflikten. Wer sich eine bessere
Zukunft nicht nur für eine kleine privilegierte Minderheit wünscht, ist gut beraten, Flüchtlinge bei ih-
ren Aktionen zu unterstützen, auch wenn er oder sie
nicht direkt selbst von rassistischen Sondergesetzen betroffen ist: Nicht nur aus Empathie, Gerechtigkeitssinn, Mitgefühl oder Nächstenliebe, sondern auch im eigenen Interesse. Denn den Kampf
um Befreiung können wir nur gemeinsam führen.
Viele Flüchtlinge sind bereits in ihren Herkunftsländern politisch aktiv gewesen. Gerade ihre Kontakte
bieten ein enormes Potential, um das Aufbegehren
gegen die herrschenden Verhältnisse auch über
Ländergrenzen hinweg zu verbinden.
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Bildverzeichnis
Zoriah: https://flic.kr/p/6CQpbW (CC BY-NC 2.0) Editorial.
Murplejane: https://flic.kr/p/5HDcrC (CC BY-SA 2.0) , S.17.
Fibonacci Blue: https://flic.kr/p/snPbPd (CC BY 2.0) Cover.
Brian Auer :https://flic.kr/p/5vHibf (CC BY-NC-ND 2.0), S.19.
Franz Joachim: https://flic.kr/p/z7vJRm (CC BY-NC-ND 2.0), S.4-5.
Mstyslav Chernov: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_line_of_Syrian_refugees_crossing_the_border_of_Hungary_and_Austria_on_their_way_to_Germany._Hungary,_Central_Europe,_6_September_2015.jpg. S20-21.
Daniel Müller: https://flic.kr/p/fdc4AR (CC BY-NC-ND 2.0), S.6.
Moody College of Communication : https://flic.kr/p/xwqZRd (CC BY-SA 2.0), S.9.
Michael Gubi: https://flic.kr/p/yh6kep (CC BY-NC 2.0), S.23.
Daniel Müller: https://flic.kr/p/gyKYJZ (CC BY-NC-ND 2.0), S.10-11.
Michi: https://flic.kr/p/nVuvwu (CC BY-NC-SA 2.0), S.25.
hom 26: https://flic.kr/p/dPMFRx (CC BY-NC-ND 2.0), S.12-13.
Michi: https://flic.kr/p/nF4o12 (CC BY-NC-SA 2.0), S.26.
Michi: https://flic.kr/p/mpnWJn (CC BY-NC-SA 2.0), S.14.
Jan Truter: https://flic.kr/p/n1N4RS (CC BY-NC-ND 2.0), S. 29.
darren brooks: https://flic.kr/p/b6aXZ (CC BY 2.0) , S.15.
philippe leroyer: https://flic.kr/p/4FybUV (CC BY-NC-ND 2.0) Cover.
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Wer ist die Basisdemokratische Linke?
Die Basisdemokratische Linke Göttingen existiert in der heutigen Form seit dem November 2013 und ist aus einem Zusammenschluss verschiedener Basisgruppen und
Einzelpersonen entstanden. Der Hauptansatzpunkt unserer Politik besteht darin, Basiskämpfe zu organisieren bzw. uns in diese im Rahmen unserer Möglichkeiten einzubringen, um gemeinsam mit den jeweils Betroffenen aktiv zu werden. Das heißt
hier konkret: Menschen mit gefährdetem und unsicherem Aufenthaltsstatus in ihrem
Kampf um Bleiberecht und ihrem Streben nach einem lebenswerten Leben aktiv zu
unterstützen. Unser Ziel bleibt es, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Die
Auseinandersetzung darum beginnt für uns aber nicht in einer fernen Zukunft, sondern im Hier und Jetzt.
Es ist uns wichtig emanzipatorische Politik über die lokale Ebene hinaus zu etablieren
und über eine gemeinsame linksradikale Organisierung eine größere Wirkmächtigkeit
zu erreichen. Nur wenn wir mehr werden, solidarisch sind, nur wenn wir überregional gemeinsame Strategien und Perspektiven entwerfen, ist die Umwälzung der herrschenden Verhältnisse möglich. Deshalb sind wir Teil der Interventionistischen Linken,
eines Zusammenschlusses von Gruppen und Einzelpersonen aus der undogmatischen
und emanzipatorischen Linken.
Wir freuen uns immer über neue Leute, die daran interessiert sind bei uns dauerhaft
und verbindlich mitzuarbeiten. Erreichen könnt ihr uns per mail oder über unser Postfach im Roten Buchladen.
Basisdemokratische Linke Göttingen
c/o Roter Buchladen
Nikolaikirchhof 7
37073 Göttingen
[email protected]
www.inventati.org/blgoe
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