Der Kampf ist beendet Wenn ich heute von meiner Zeit mit der Essstörung erzähle, werde ich oft gefragt, wann das alles begann. Eine schwierige Frage. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ein gesundes Verhältnis zu Essen gehabt zu haben. Allerdings kann ich mich noch gut daran erinnern, dass ich mich im Alter von 10 Jahren schämte mich im Badeanzug zu zeigen, obwohl ich für mein Alter ein völlig normales und gesundes Gewicht hatte. Irgendwann in diesem Alter sagte ein Junge zu mir, ich sei dick. Vielleicht war das der Auslöser für alles, doch wahrscheinlich liegt dieser viel weiter in der Vergangenheit. Es gab eine Zeit, in der ich versuchte einen konkreten Auslöser für meine Geschichte zu finden, damals war es mir das Naheliegendste meinen Eltern und ihren Erziehungsmethoden die Schuld zu zuweisen. Wie bei vielen bikulturellen Familien, mein Vater ist Araber, meine Mutter Schweizerin, gab es auch in meiner Kindheit Streit und Gewalt. Wenn ich heute auf diese Zeit zurück blicke, erinnere ich mich an diverse Szenen in denen ich entweder Gewalt meines Vaters gegen meine Mutter miterlebte oder selber Opfer von Gewalt wurde. Einige Szenen haben sich wie eine Brandmarke in mein Gedächtnis gebrannt und wenn ich daran zurück denke, erinnere ich mich nicht nur an das Geschehene, da sind auch erlebte Emotionen, Gerüche, Geräusche sofort wieder da. Dennoch ist es für mich unmöglich abzuschätzen, in welchem Ausmaß und in welcher Häufigkeit Gewalt in meiner Kindheit wirklich eine Rolle spielte. Ich erinnere mich gut daran, zeitweise als zurückgezogenes und verstörtes Kind gegolten zu haben. Das begann mit etwa vier Jahren. Ich baute mir überall wo ich konnte kleine Hütten und Nester, um mich vor dem weltlichen Geschehen zu verstecken. Etwa in dieser Zeit ist das Gefühl in mir entstanden, falsch zu sein und nicht gut genug. Dieses Gefühl begleitet mich in den nächsten Jahren auf meinem Weg. Mit etwa 13 Jahren fühlte ich mich zunehmend unwohl in meinem Körper. Wenn ich heute zurück blicke lag das wohl hauptsächlich an den immer weiblicheren Körperformen die sich in dieser Zeit entwickelten. So begann ich meine erste Diät. Radikal wie ich war, beschloss ich einfach Nichts mehr zu essen. Ich wollte meine Rundungen, meine Weiblichkeit weg haben, sie weghungern. Meinen Eltern gaukelte ich vor Magenschmerzen zu haben, nach einigen Tagen glaubten sie mir dies zwar nicht mehr, ließen mich aber dennoch gewähren. Das Ganze ging etwa drei Wochen, dann wurde ich im Sportunterricht ohnmächtig. Ich begann wieder zu essen. Von diesem Tag an, waren meine Mahlzeiten von Scham- und Schuldgefühlen begleitet. Wann immer ich etwas aß, hatte ich das Gefühl es nicht verdient zu haben und versuchte dies mittels Sport auszugleichen. Mit zwanzig war ich das erste Mal länger von zu Hause weg. Ich lebte einige Zeit in Afrika und fühlte mich endlich frei und unkontrolliert in meinem Essverhalten. Ich fing an zu joggen, jeden Tag, bei 40 Grad. Der Sport und das Essen fingen an mein Leben zu kontrollieren. Um den Sport nicht zu versäumen vermied ich gewisse Veranstaltungen. Essenseinladungen schlug ich wenn immer möglich ab. Zu dieser Zeit fing ich an gewisse Lebensmittel komplett zu vermeiden,.... Alkohol, Brot, Teigwaren, Süßigkeiten,... Als ich dann in die Schweiz zurückfuhr, bestimmten das Essen und der Sport bereits mein ganzes Leben. Für das Studium zog ich in eine andere Stadt, weg von meiner Familie und meinen alten Freunden, in eine eigene kleine Wohnung. Ich fing an akribisch Kalorien zu zählen. Ich nahm nichts mehr zu mir, ohne es vorher abzuwiegen. Bald kannte ich die Kalorienzahl von sämtlichen Lebensmitteln. Ich machte weiterhin intensiv Sport, bis zu vier Stunden am Tag und trieb es immer weiter. Eine Weile lang baute ich sämtliche zu mir genommenen Kalorien mittels Sport wieder ab. Für soziale Kontakte hatte ich keine Zeit, ich konnte kaum noch an andere Dinge denken als an Essen und Sport. Irgendwann gönnte ich mir nach langer Zeit wieder mal etwas Süßes. Da ist es durchgebrannt. Ich verlor die Kontrolle. Alles was ich mir in den vergangenen Monaten verweigert hatte, wollte ich mir nun „einverleiben“. Ich hatte meine erste Fressattacke. Anfangs dachte ich, dies sei eine einmalige Sache. Ich beschloss, die darauf folgenden Tage zu Fasten und trieb dazu exzessiv Sport um meinen Kontrollverlust wieder auszugleichen. Doch je mehr ich mir verweigerte, umso schwerer wurde es für mich die Kontrolle zu behalten. Zu Beginn kamen die Fressattacken monatlich, doch dann häuften sie sich. Es fiel mir immer schwerer die zu mir genommenen Kalorien wieder auszugleichen. Ich verdrückte immer mehr, in stets kürzeren Abständen. Danach fühlte ich immer sehr viel Ekel. Ekel vor mir selber, Ekel vor meinem Körper. Eines Tages hielt ich den Druck nicht mehr aus. Ich steckte mir den Finger in den Hals und übergab mich. Erleichterung breitete sich aus,... Das selbstinduzierte Erbrechen fühlte sich an wie ein Triumpf. Ich glaubte nun ein Mittel gefunden zu haben, wie ich trotz meiner Fressattacken verhindern konnte zuzunehmen. Und so nahm es weiter seinen Lauf. Im Internet tauschte ich mich mit anderen Betroffenen aus. Wir gaben uns gegenseitig Tipps, welche Lebensmittel in Ordnung sind, wie man sich leichter übergeben kann und wie man sich am Besten anstellt, damit das Umfeld von all dem nichts mitbekommt. Täglich berichteten wir uns über unsere Gewichtsentwicklung und nannten uns Mia oder Ana. Je nachdem ob wir eine sogenannte Bulimia oder Anorexia hatten. Schnell lernte ich, welche Lebensmittel besonders geeignet waren um sie nachher leicht wieder auszukotzen. Zu Beginn der Fressattacke nahm ich gerne bunte Lebensmittel zu mir, so wusste ich, wann alles wieder draußen war. Dann trank ich Limonade oder Sprudelwasser während den Fressattacken, das erleichterte das Erbrechen. Auch kaufte ich bei verschiedenen Lebensmittelhändlern ein, so dass niemanden auffiel, welch große Menge an Junkfood ich einkaufte. Am Ende nahm ich während einer Fressattacke bis zu 15`000 Kalorien zu mir. Somit konnte ich den Wochenbedarf einer erwachsenen Person verdrücken. Innerhalb von einer Stunde. Das ging eine ganze Weile so weiter, ich merkte, wie mich die Essstörung immer mehr einnahm, sich all meine Gedanken nur noch um zwei Sachen drehten: Essen und Kotzen. Mehr und mehr zog ich mich in dieser Welt zurück, wann immer möglich verkroch ich mich in meinem Zimmer, ich verbrachte Stunden damit auszurechnen, welche Lebensmittel wie viele Kalorien hatten. Eines Tages erreichte ich den Punkt der völligen Verzweiflung, ich wusste, dass es so nicht mehr weiter gehen konnte. Ich vertraute mich einer guten Freundin an, für sie kam die Nachricht nicht gerade überraschend. Sie ermutigte mich eine Therapie zu machen, doch ich hatte große Widerstände mich einem Therapeuten anzuvertrauen. Und es gab einen Teil in mir, der wusste, dass ich die Essstörung aus eigener Kraft hinter mir lassen konnte, es brauchte nur meine vollständige Bereitschaft und den Mut loszulassen. Ein Freund erzählte mir zu dieser Zeit von einem stille Retreat, das er in einem Ashram besuchte. Unter anderen Menschen sein, Verbundenheit erleben und zeitgleich bei sich sein, in Stille. So machte ich mich eines Abends im Internet auf die Suche und wurde fündig. Stille Retreat in der Sahara. Ich buchte am selben Abend. Zwei Wochen später flog ich nach Tunesien. Ich wusste ganz und gar nicht was mich da erwartete, hatte auch noch kaum Zugang zur Spiritualität. Doch etwas in mir schrie von ganzem Herzen Ja. Die ersten Tage in der Wüste fühlten sich für mich fremd und ungewohnt an. Es schien fast so, als wäre ich in einem Raum angekommen, der völlig frei von Bewertung funktionierte. Als wir das erste Mal alleine in der Wüste gingen, entschied ich mich als Letzte der Gruppe zu gehen. Die Strecke war an diesem Tag nur sehr kurz und voller Tatendrang machte ich mich auf den Weg. Nach etwa der Hälfte der Strecke, die anderen Teilnehmen waren schon alle außer Sichtweite, verließen mich meine Kräfte auf einen Schlag. Es war mir unmöglich auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als würde mein ganzes System den Kampf aufgeben. Ich übergab mich, diesmal unabsichtlich, dann sackte ich zu Boden. Da lag ich nun, ganz alleine, mitten in der Wüste, neben meinem eigenen Erbrochenen. Plötzlich lachte ich los. Es lachte. Ich lachte über die Situation in der ich gerade feststeckte. Ich lachte über mich selber. ich lachte über die Essstörung. Ich lachte über das Leben. Und in diesem Augenblick spürte ich, dass ich vollkommen heil bin. Es mag sich etwas verrückt anhören - doch ich spürte es mit meinem ganzen Körper, meinem ganzen Sein. Ich bin gesund und alles ist gut so wie es ist. Der Kampf ist beendet. Ich lag noch eine ganze Weile da, bis ich wieder aufstehen konnte und weiterging. Am nächsten Morgen vertraute ich mich der Gruppe an. Ich erzählte von meiner Essstörung. Zu meiner Überraschung, erntete ich weder Ablehnung noch Mitleid. Die Gruppe war einfach nur da, niemand drängte mich mein Essverhalten zu ändern und zum ersten Mal war ich einfach nur angenommen mit und ohne Essstörung. Das Wüstenteam begleitete mich in dieser intensiven Phase und gemeinsam untersuchten wir, was die möglichen Ursachen meines Essverhaltens sein könnten. Nach zwei Wochen war meine Reise schon vorbei, ich wollte gar nicht mehr zurück. Meine Angst zu Hause wieder in meine alten Muster zu fallen, war riesen groß. Dennoch machte ich mich auf die Reise, zurück in die Schweiz. Und ja die Essstörung begleitete mich tatsächlich noch einige Monate. Aber der entscheidende Stein war gesetzt. In der Sahara wurde ich daran erinnert, um was es wirklich geht auf dieser Reise namens Leben. Ich durfte erfahren, wie sich wahre bedingungslose Liebe anfühlt. Und was ist eine Essstörung sonst, wenn nicht ein Schrei nach Gesehen-sein, Wert zu sein, ein Schrei nach Liebe? Ist es nicht das, nachdem wir alle streben in unserem Leben? Voll und ganz angenommen und geliebt zu sein? Womöglich ist der erste Schritt dahin, sich selber anzunehmen, sich selbst zu lieben. So wie ich jetzt bin, nicht wie ich meine sein zu müssen.. oder wie ich meine, dass Andere mich haben wollen. Seit meiner ersten Saharatour sind nun drei Jahre vergangen. Und die Essstörung, die hat mich irgendwann auf meinem Weg verlassen. Und heute bin ich endlich befreit, aus meinem selbsterbautem Gefängnis. Ja, der Kampf ist beendet. Heute darf ich endlich meinen eigenen Weg gehen, meine Freiheit leben. Mein Blick auf das Leben und auf mich hat sich gänzlich verändert. Wenn ich heute an die Zeit der Essstörung denke, dann ist da ein tiefes Danke in mir. Die Bulimie war für mich ein Wake-up Call. Sie hat mich in die Wüste gebracht und meinem Leben eine neue Ausrichtung gegeben. Heute kann ich annehmen, was im Leben ist. Mittlerweile habe ich erkannt und spüre, dass ich genau diese Erfahrungen, die Gewalt in der Kindheit, die Essstörung, gebraucht habe, um heute da zu sein wo ich bin. Ich habe sie gebraucht, um meine Erkenntnis und Lernschritte zu machen. Ich habe sie gebraucht, um heute diese Erfahrungen zu haben, diesen „Erfahrungsschatz“ zu besitzen. Ganz besonders freue ich mich, dass ich heute als Teammitglied auf den Wüstentouren dabei bin und andere Menschen unterstütze ihren ganz eigenen Lebensweg zu erkennen und zu gehen. Die Touren erinnern mich immer wieder daran, zu mir zu stehen und meinen eigenen Weg kompromisslos weiter zu gehen. In kompromissloser Liebe, in Ehrlichkeit. Das braucht es erst Mut, womöglich ein Loslassen. Und dann wird immer klarer es ist das, was Sinn und Liebe macht. Wie ist es mit dir? Bist auch du bereit dein Gefängnis zu erkennen und zu verlassen? Bist du bereit alles los zu lassen, um deinen eigenen Weg der Freiheit zu gehen? Bereit deinen Kampf zu beenden und dein ganz besonderes Leben sich entfalten lassen? Für mich war es ein ganz wesentlicher Schritt. Innezuhalten, in Stille sein, zu fühlen, was ist es wirklich wofür ich auf diese Welt gekommen bin. Und womöglich ist es auch für dich ein wesentlicher Schritt, mit uns diese Stille zu erfahren? Wenn ja, na dann herzlich Willkommen bei uns und mit mir auf dieser Reise durch das Sandmeer! September, 2015 Samira Kerdioui
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