Musiktherapie und die Alzheimer-Krankheit - Nordoff

Musiktherapie und die Alzheimer-Krankheit
Eine Diskussionsarbeit
David & Gudrun Aldridge
1
emenz ist eine wichtige Ursache von chronischen Behinderungen, die sowohl zu steigenden Pflegekosten als auch zu einer progressiven
Störung der Lebensqualität für Patienten und ihre
Familien führt. In den USA wird der Aufwand für institutionalisierte Pflege für an Demenz leidenden
Patienten auf $25 Milliarden pro Jahr geschätzt (Steg
1990). In dieser Bevölkerungsgruppe wird die Hypothese aufgestellt, daß 15% der über 65jährigen an
leichter bis schwerer Demenz leiden werden, mit einer Steigerung bis zu 45% unter den über 90jährigen (Odenheimer 1989), wobei mehr als 60% dieser Fälle von Demenz aus der Alzheimer-Krankheit
hervorgehen (Kalayam & Shamoian 1990).
D
Da die ältere Bevölkerung Europas vermutlich
immer zahlreicher wird (Aldridge 1990), dürfte es
höchste Zeit sein, Behandlungsinitiativen in der
westlichen Welt zu finden, die die Auswirkungen
dieses Problems entschärfen könnten. Obwohl die
Musiktherapie keine Heilung für die AlzheimerKrankheit bieten kann, wäre sie in der Lage, ihre
Auswirkungen zu mildern und für eine wertvolle Ergänzung in der Diagnostik zu sorgen. Krankheiten,
die Demenz hervorrufen, d.h. erworbene kognitive
Störungen, sind seit Jahrhunderten bekannt, aber es
sind kaum Fortschritte in der spezifischen Diagnose vor der Evolution der nosologischen Einstellung
zum Kranksein und den frühen klinischen Beschreibungen von Neurosyphilis und Chorea Huntington
im 19. Jahrhundert gemacht worden. In solchen Beschreibungen wurde vermutet, daß das Hirn einen
direkten Einfluß auf das Verhalten des Menschen hat.
Die frühesten histopathologischen Charakterisierungen von kognitiven Störungen wurden erst
durch die Entwicklung des optischen Mikroskops ermöglicht. Infolgedessen war es Alzheimer möglich
(Alzheimer 1907; Drachman et al. 1990) neurologische Degeneration und senile Plaques im Hirn ei-
ner an progressivem Gedächtnisschwund leidenden 55jährigen Frau zu erkennen und die Krankheit
als solche zu identifizieren, die heute seinen Namen
trägt.
Während kognitive Schäden durch Verhalten offensichtlich werden und neurologische Degeneration von der Neurohistopathie erkannt wird, neigt die
Diagnose der Alzheimer-Krankheit jedoch zu Fehleinschätzungen, und Autoren sind verschiedener
Meinung, was die Schwierigkeit einer präzisen Diagnose angeht (Odenheimer 1989; Steg 1990). Im
Frühstadium der Erkrankung können die Symptome
nur schwerlich von denen des normalen Alterns, ein
Vorgang der ohnehin ungenügend verstanden wird,
unterschieden werden. Zur Zeit gibt es weder normativ etablierte Meßwerte in bezug auf kognitive
Schäden oder Gedächtnisschwund noch Klarheit
hinsichtlich der neurochemischen und neurophysiologischen Veränderungen, von denen das normale Altern begleitet werden. Deshalb ist es außerordentlich schwierig, Kriterien für die Determinierung
von abweichenden Veränderungen in der normalen
Bevölkerung zu etablieren. Der Forscher/Kliniker
muß sich zum Teil auf ‘within-the subject’ (individuelle) Studien-Designs verlassen, um fortschreitenden Verfall überhaupt aufzeichnen zu können.
Eine zweite Fehlerquelle in der Diagnostik der
Alzheimer-Krankheit ist, daß sie hinter anderen Beschwerden verborgen bleiben kann (s. Tabelle 1).
Hauptursache dieser Beschwerden ist Depression,
die auch kognitive und Verhaltensstörungen verursachen kann. Zusätzlich schätzt man, daß 20% bis
30% der an der Alzheimer-Krankheit leidenden Patienten auch begleitende Depression aufweisen
(Kalayam & Shamoian 1990), wodurch die diagnostische Problematik nur noch erschwert wird.
Tabelle 1:
Unterschiedliche Diagnosestellung zur
Alzheimer-Krankheit
Unterschiedliche Diagnosestellung
Multi-Infarkt-Demenz und andere Formen
der zerebralvaskulären Erkrankung
Parkinson’sche Krankheit
Progressive supranukleare Lähmung
Chorea Huntington
Infektion des Zentralnervensystems
Subdurale Haematoma
Normaldruckhydrozephalus
Multiple sclerose
Schlaganfall
Gehirntumor
Zerebrale Trauma
Metabolische Störung
Ernährungsmangel
Psychiatrische Störung
Substanzmißbrauch oder Übermedikation
Klinische Beschreibungen von Demenz
Klinische Beschreibungen von Demenz
as klinische Syndrom von Demenz wird durch einen erworbenen Verfall der kognitiven Funktionen charakterisiert, der durch Gedächtnisschwund und Aphasie in Erscheinung tritt. Obwohl der Ausdruck Demenz sowohl in der medizinischen Fachliteratur als auch im Volksmund (= Schwachsinn) Verwendung findet, bezieht er sich in der Beschreibung kognitiver Funktionsstörungen auf zwei Beschwerden: senile Demenz vom Alzheimer-Typ (SDAT) und Multi-Infarkt-Demenz.
D
2
Der Verlauf der Alzheimer-Krankheit besteht aus einem progressiven Verfall, der durch degenerative Veränderungen im Hirn verursacht wird. Ein solcher Verfall manifestiert sich in einem klinischen Bild episodenhafter
Veränderungen und Muster bestimmter kognitiver Schwächen, die variabler Natur sind (Drachman, O´Donnell,
Law & Swearer, 1990).‘Mental status testing’ (Prüfung des intellektuellen Zustandes) ist eine wichtige Methode der
Evaluation dieser kognitiven Funktionsstörungen, zu denen Veränderungen im Kurzzeit- sowie im Langzeitgedächtnis,Abnahme des abstrakten Denkvermögens und Urteilens, Sprachbehinderungen (Aphasie) und Schwierigkeiten bei der Namensgebung von Wörtern (Anomie) gehören; dazu zählt auch der Verlust der Fähigkeit, das
Gehörte, Gesagte oder Empfundene interpretieren zu können (Agnosie), sowie die Unfähigkeit motorische Aktivitäten z.B. die Benutzung eines Schreibstifts oder der Zahnbürste durchführen zu können, obwohl die motorische Funktion als solche noch intakt ist (Apraxie).Wenn solche klinischen Ergebnisse gegeben sind, kann eine
mutmaßliche Diagnose gestellt werden. Eine definitive Diagnose hängt jedoch von einer Gewebeanalyse ab (s.
Tabelle 2).
Tabelle 2:
Diagnostische Evaluation von Demenz*
Diagnostische Kategorien
Vollständige medizinische Vorgeschichte
Mental status examination
Gründliche physikalische und neurologische
Untersuchung (inklusive Untersuchung des
Zentralnervensystems, falls Verdacht auf
Infektion besteht)
Vollständiges Blutbild und blutchemische
Tests (auch Vitamin B12 Anteile)
Tests zur Schilddrüsenfunktion
Serologie für Syphilis
Obwohl chronische Demenz vom Alzheimer-Typ erst ab 40 anfängt und daher als eine geriatrische Erkrankung eingestuft wird, ist die Signifikanz des Lebensalters für die Prognose weniger wichtig als der momentane
Schweregrad zur Zeit der Diagnose (Drachman et al. 1990). Der durch die Evaluation der intellektuellen Funktionen gemessene Krankheitszustand scheint die zuverlässigste Voraussagbarkeit für den darauffolgenden Krankheitsverlauf zu besitzen, insbesondere, wenn dieser von einer Kombination von Verwirrtheitszuständen, ziellosem Umherirren und Verhaltensproblemen begleitet wird (Walsh,Welch, & Larson 1990). Die Rate des Verfalls
zwischen Patienten-Untergruppen ist jedoch variabel und daher kann das Tempo des Verfalls bei einem Patienten während eines Jahres nicht unbedingt als zukunftsweisend betrachtet werden, was den weiteren Verfall angeht (Salmon et al. 1990). Manche Autoren (Cooper, Mungas, & Weiler 1990) beziehen sich auf einen noch nicht
bewiesenen Faktor außerhalb des Verfalls der kognitiven Funktionen, der möglicherweise in Zusammenhang mit
den assoziierten abnormalen Verhaltensweisen: Wutausbrüche, Agitiertheit, Persönlichkeitsänderung,Verwirrtheitszustände, Schlaflosigkeit und Depression, die im späteren Verlauf der Krankheit auftreten, eine Rolle spielt.
Computertomographie (CT) oder
Magnetfeldresonanz Imaging (MRI), Elektroenzephalographie (EEG) oder PositronenEmissions-Tomographie (PET) Scan
Steg, R. (1990). Determining the cause
of dementia. Nebraska Medical Journal,
75, (4), 59-63.
*
Der Patient leidet offensichtlich selbst unter seiner Krankheit. Der vor dem einsetzenden motorischen Verfall erscheinende Gedächtnisverlust und
die begleitende Aphasie führen zu Störungen seines
täglichen Lebens; Kommunikation, die Basis aller sozialen Interaktion, ist gestört. Der sich androhende
progressive Verfall und die Verhaltensstörungen sind
nicht nur für Patienten problematisch, sondern auch
für ihre Angehörigen, die die soziale Verantwortung
für die Patientenbetreuung mindestens teilweise
übernehmen müssen, obendrein mit der emotionalen Belastung, zusehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch sich allmählich in Verwirrtheit und Isolation verliert.
Zu guter Letzt sollte
berücksichtigt werden, daß
alte depressive Menschen
manchmal eine Pseudodemenz an den Tag legen
(Caine 1981), wobei die
Alzheimer-Krankheit ‘vorgegaukelt’ wird (Siehe Tabelle 3). Solche Patienten
erholen sich und zeigen
keine Anzeichen residualer intellektueller Beeinträchtigungen.
Die Evaluation
von Demenz
in kurzer kognitiver
Test, der ‘Mini-Mental
State Examination’ (MMSE), wurde entwickelt, um
die Progression der Alzheimer-Krankheit zu betrachten und zu überwachen (Folstein, Folstein, &
McHugh 1975) Der Test,
der sich aus Fragen und
Aktivitäten zusammen-
E
setzt, ist eigentlich für den Kliniker gedacht, um die
Funktionen verschiedener Hirnregionen zu messen
(s.Tabelle 4); er ist ein weit verbreitetes und erfahrenes validiertes klinisches Instrument (Babikian et
al. 1990; Beatty & Goodkin 1990; Caine 1981; Eustache et al. 1990; Faustman, Moses, & Csernansky
1990; Gagnon et al. 1990; Jairath & Campbell 1990;
Summers et al. 1990; Zillmer et al. 1990).
1990 ), ohne durch motorische und sensorische
Defizite kontaminierbar zu sein (Beatty & Goodkin
1990; Jairath & Campbell 1990).
Ältere Patienten, die aus einem möglichen Ergebnis von 30 Punkten weniger als 24 erzielen, werden als ‘schwachsinnig’ bezeichnet. Jedoch ist dieses
Punktsystem aufgrund der unteren Grenze von 24
Punkten in Frage gestellt worden, insbesondere im
Hinblick auf präsenile Demenz (Galasko et al. 1990),
Als Krankenbett-Test wird der MMSE weit veraber auch wegen des Einflusses der jeweiligen
breitet zur Überprüfung der intellektuellen FähigSchulbildung auf die Ergebnisse (Gagnon et al.1990).
keiten eingesetzt und ist auch als ein prediktives
Schwachgebildete Menschen mit weniger als 8 BilMeßinstrument für kognitiven Verfall und semantidungsjahren könnten mit weniger als 24 Punkten
schen Gedächtnisverlust nützlich (Eustache et al.
abschneiden ohne von
Demenz befallen zu sein.
Eine weitere Kritik des
Tabelle 3:
Mini-Mental-State-ExDie differenzierenden Merkmale von Pseudodemenz und Demenz
amination ist, daß er
nicht empfindlich genug
Demenz
Pseudodemenz
auf geringe Defizite reagiert, aber er könnte
durch die Einbindung eiAnfang kann nur vage vermutet werden
Anfang kann relativ präzise datiert werden
nes Wortflüssigkeitstests
und die Verbesserung
Symptome können von längerer Dauer sein, bevor
Symptome von kurzer Dauer bevor ärztliche Hildes Aufmerksamkeitsärztliche Hilfe gesucht wird
fe gesucht wird
Konzentrationstests ergänzt werden (Galasko
Selten frühere psychiatrische Störungen
Oft frühere psychiatrische Störungen
et al. 1990 ). Zudem
werden die kognitiven
Kaum Patientenbeschwerden über kognitiven VerHäufige Patientenbeschwerden über kognitiven
Funktionsstörungen bei
fall
Verfall
psychiatrischen Patienten ernsthaft unterbewertet (Faustman, MoPatienten geben sich große Mühe mit den AufgaPatienten geben sich wenig Mühe, selbst bei den
ses, & Csernansky 1990),
ben
einfachsten Aufgaben
denn eine wichtige Eigenschaft, die von dem
Verhalten stimmt mit dem Schweregrad des
Verhalten oft unvereinbar mit dem Schweregrad
MMSE vernachlässigt wird,
kognitiven Versagens überein
des kognitiven Versagens
ist ‘Intentionalität’ oder
exekutive Kontrolle (OdenHäufige nächtliche Betonung der VerhaltungsNächtliche Betonung von Verhaltungsstörungen
heimer 1989), die die
störungen
ungewöhnlich
Fähigkeit eines Patienten
beschreibt, sich auf eine
Aufgabe zu konzentrieAntworten häufig beinahe richtig
„Ich weiß nicht” Antworten typisch
ren, ein gesetztes Ziel zu
erreichen, oder auch die
Gleichbleibend schlechte Leistungen bei Aufgaben
Auffällige Leistungsunterschiede bei Aufgaben
Aufgabe wechseln zu
ähnlichen Schwierigkeitsgrads
ähnlichen Schwierigkeitsgrads
können.
3
Tabelle 4:
Mini-Mental State Examination*
Item
Komponent
Ergebnis
Zeitliche Orientierung
Jahr, Jahreszeit, Monat, Datum und Tag
5
Örtliche Orientierung
Land, Kreis, Stadt, Gebäude und Etage
5
Registration
Patient wiederholt „Rose“, „Ball“ und „Schlüssel“
3
Aufmerksamkeit für Rechenaufgaben (Kalkulationen)
Serielle Subtraktion von 7 von 100 oder „Welt“
rückwärts buchstabieren
5
Erinnerungsvermögen
„Rose“, „Ball“ und „Schlüssel“
3
Namensgebung
Bleistift und Armbanduhr
2
Wiederholung
Kein wenn und oder aber
1
Dreistufiger verbaler Befehl
Nehmen Sie ein Blatt Papier in die rechte Hand,
falten Sie es, damit es halb so groß ist und legen
Sie es auf den Boden
3
Geschriebener Befehl
Machen Sie die Augen zu!
1
Schreiben
Ein spontaner Satz
1
Konstruktion
Zwei miteinander verbundene Pentagramme
1
Ausgehend von diesem augenblicklichen Leistungsvermögen, wobei musikalische Evaluation mit
medizinischer Diagnose gekoppelt wird, wäre es
möglich, ein breites Spektrum therapeutischer Veränderungen, ob Verbesserungen oder Verschlechterungen, die nicht auf verbalen Fähigkeiten beschränkt wären, zu erkennen.
4
Summe
30
Galasko, D., Klauber, M., Hofstetter, C., Salmon, D., Lasker, B., & Thal, L. (1990 ).The Mini-Mental State Examination in the early diagnosis of Alzheimer’s disease. Arch-Neurol, 47, (1), 49-52.
*
Die Items, die der MMSE nicht berücksichtigt
(geringere Sprachdefizite) oder nicht evaluieren
kann (Fluß und Intentionalität), können jedoch
durch das improvisierte Musikspiel erkannt werden.
Eine dynamische Evaluation des Patientenverhaltens
in Verbindung mit motorischer Koordination und
der Intention, die für das Spielen auf Musikinstrumenten innerhalb der Musiktherapie unerläßlich ist,
könnte sich zusammen mit der interpersonellen
Kommunikation als empfindsames komplementä-
res Instrument der Evaluation herausstellen (Aldridge 1989a) (Siehe Tabelle 5). Jedoch wäre hiermit
die Musiktherapie noch kein eigenständiges diagnostisches Instrument. Es wäre nicht möglich zu beurteilen, wie Patienten vor ihrer Erkrankung gespielt
hätten, oder daß ihre momentane besondere Spielweise das Ergebnis ihrer Erkrankung sei, jedoch wäre sie ein geeignetes Evaluierungsinstrument für das
augenblickliche Leistungsvermögen eines Individuums.
Musik und Demenz
it 56 Jahren, nach der Komposition zweier bedeutsamer Klavierkonzerte, fing der Komponist Maurice Ravel an, über erhöhte Erschöpfung
und Mattigkeit zu klagen. Nach einem Verkehrsunfall verschlechterte sich sein Zustand progressiv
(Henson 1988). Er verlor die Fähigkeit, sich an Namen zu erinnern, spontan zu sprechen und zu
schreiben (Dalessio 1984).
M
Obwohl er Sprache noch verstehen konnte, verfügte er nicht mehr über die erforderliche Koordination, um ein großes Orchester zu dirigieren.
Gleichwohl, wie er berichtete, sein Kopf voller musikalischer Ideen sei, war er nicht mehr in der Lage,
sie niederzuschreiben (Dalessio 1984). Mit der Zeit
verschlechterten sich seine intellektuellen Funktionen und seine Sprachfähigkeit derartig, daß er letztlich nicht einmal mehr seine eigene Musik erkannte. Er litt scheinbar an einer Krankheit, die wir heutzutage als die Alzheimer-Krankheit erkennen würden.
Jedoch ist die Reaktion auf Musik der an der Alzheimer-Krankheit leidenden Patienten ein bemerkenswertes Phänomen (Swartz et al. 1989).
Während sich kognitive Defizite durch Sprachverfall bemerkbar machen, scheinen musikalische Fähigkeiten erhalten zu bleiben. Dieses könnte dadurch
erklärbar sein, daß die Ursprünge von Sprache
selbst musikalisch sind und der Entwicklung von semantischen und lexikalischen Sprachfunktionen vorangehen (Aldridge 1989a;Aldridge 1989b;Aldridge
1991b).
Wir wissen nur wenig über den Verlust von musikalischen und sprachlichen Fähigkeiten in Fällen
Tabelle 5:
Eigenschaften medizinischer und musikalischer Evaluierung
Medizinische Evaluierungselemente
Musikalische Evaluierungselemente
Kontinuierliche Beobachtung des intellektuellen und funktionellen Zustandes
Kontinuierliche Beobachtung des intellektuellen und funktionellen Zustandes
Überprüfung der verbalen Fähigkeiten inklusive Sprachgewandtheit
Überprüfung der musikalischen Fähigkeiten: Rhythmus, Melodie, Harmonie, Lautstärke,
Phrasierung, Artikulation
Prüfung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten und der
Fähigkeit, komplexe motorische Aufgaben zu bewältigen (inklusiv Greifen und
links/rechts Koordination)
Testung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten und der Fähigkeit
komplexe motorische Aufgaben zu bewältigen (inklusiv Greifen und links/rechts
Koordination)
Test für progredientes Gedächtnisversagen
Test für progredientes Gedächtnisversagen
Motivation, die Tests zu Ende zu führen, gesetzte Ziele zu erreichen und gestellte
Aufgaben nicht aufzugeben
Motivation, beim improvisierten Musizieren durchzuhalten, musikalische Ziele zu
erreichen und die musikalische Form beizubehalten
‘Intentionalität’ hier schwer zu evaluieren
‘Intentionalität’ ist eine Eigenschaft der musikalischen Improvisation
Konzentration und Dauer der Aufmerksamkeit
Konzentration auf das improvisierte Spiel und Aufmerksamkeit gegenüber den
Instrumenten
Flexibilität beim Aufgabenwechsel
Flexibilität bei musikalischen (auch instrumentalen) Veränderungen
Mini-Mental State Examination Ergebnisse werden vom Bildungsniveau
beeinflußt
Fähigkeit improvisierte Musik zu spielen, mit Rücksicht auf den Einfluß der früheren
musikalischen Erziehung
Unempfindlichkeit für geringe Veränderungen
Empfindlichkeit für geringe Veränderungen
Fähigkeit, die Umgebung zu interpretieren
Fähigkeit, den musikalischen Kontext zu interpretieren und die Kommunikation
innerhalb des therapeutischen Verhältnisses zu evaluieren
5
6
von globalen kortikalen Schäden. Etwaige Diskussion muß sich zwangsweise auf Hypothesen beschränken, da es keine etablierten Maßstäbe für musikalische Leistungen in der erwachsenen Bevölkerung gibt (Swartz et al. 1989).Aphasie, ein Symptom
von kognitivem Verfall, ist ein kompliziertes Phänomen. Während syntaktische Funktionen länger erhalten bleiben können, fangen die lexikalischen und
semantischen Funktionen der Namensgebung und
Zuordnung schon im frühen Stadium an zu versagen. Phrasierung und grammatische Strukturen bleiben erhalten und geben den Äußerungen eine
scheinbare Normalität, während deren Inhalte zunehmend durcheinander geraten. Dieser progrediente Verfall scheint sich innerhalb des Kontextes
von semantischer und episodischer Gedächtniseinbuße anzusiedeln.
Musikalität und Singen werden nur selten für ihre Tauglichkeit als Hinweise zum kognitiven Verfall
überprüft, obwohl die Konservierung dieser Fähigkeiten bei Aphasiebefallenen mit einer eventuellen
Genesung gekoppelt wurde und gar signifikante Indikatoren von hierarchischen Veränderungen in kognitivem Verhalten darstellen könnten. Jacome (Jacome 1984) entdeckte, daß ein musikalisch naiver
Patient mit transkortikaler, gemischter Aphasie wiederholt und spontan pfeiffen und Fragen mit Pfeiffen erwidern konnte. Der Patient sang häufig spontan und fehlerfrei bezüglich Tonhöhe, Melodie,
Rhythmus und Lyrik und widmete sich über lange
Zeitspannen dem Musikhören. Beatty (Beatty et al.
1988) beschreibt eine Frau mit schweren Beeinträchtigungen durch Aphasie, Gedächtnisstörungen
und Apraxie, die dennoch in der Lage war, ein unbekanntes Lied vom Blatt zu lesen und Xylophon ein für sie ungewohntes Instrument - zu spielen.Wie
Ravel (Dalessio 1984) und ein älterer Musiker, der
Musik auswendig spielen konnte (Crystal, Grober, &
Masur 1989), aber den Namen der Komponisten
vergessen hatte, konnte die Frau sich auch nicht
mehr an den Titel der Musik, die sie gerade spielte,
erinnern.
Swartz und seine Kollegen (Swartz et al. 1989)
unterbreiten eine Reihe perzeptiver Ebenen, auf denen musikalische Störungen in Erscheinung treten:
I
die akustisch-psychische Ebene - Veränderungen in Intensität,Tonhöhe und Klang,
II die diskriminierende Ebene - Differenzierung
von Intervallen und Akkorden,
III die kategorische Ebene, - bestimmende Identifizierung von rhythmischen Mustern und Intervallen,
IV die Konfigurationsebene, - Wahrnehmung von
Melodien, die Erkennung von Motiven und Themen, tonale Veränderungen, die Identifizierung
von Instrumenten und rhythmische Differenzierung,
V die Ebene, bei der musikalische Form erkannt
wird, einschließlich der Wahrnehmung harmonischer, melodischer und rhythmischer Transformation, sowie deren exekutiver Funktion.
Bei Alzheimer Patienten wird erwartet, daß
während die Ebenen I, II und III nicht beeinträchtigt
werden, die Komplexitäten der Ebenen IV und V bisweilen erhalten bleiben können, wenn auch ohne
Verweisfähigkeit, jedoch sind sie für den Verfall anfällig.
Es ist durchaus erwähnenswert, daß diese Fehlfunktionen eigentlich gar keine musikalischen, sondern Gehörfehler sind. Nur Fehlfunktionen in musikalischer Produktion sollten zu der Annahme
führen, daß eine musikalische Fehlfunktion die Ursache sei. Improvisiertes Musizieren bietet also eine
einmalige Gelegenheit, einen Beweis für den hypothetischen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Produktion zu erbringen.
Rhythmus ist der Schlüssel zu dem integrativen
Prozeß sowohl von musikalischer Wahrnehmung als
auch physiologischer Kohärenz. Barfields (Barfield
1978) Ansatz konstatiert, daß die Begegnung von
musikalischer Form als Tongestalt mit dem Atmungsrhythmus ein musikalisches Erlebnis ergibt.
Die externe Gehöraktivität wird vom internen Auffassungsvermögen im Kontext des individuellen
Rhythmus weitervermittelt. Rhythmus ist auch in
Bezug auf Kommunikation ein fundamentaler Teil
der Organisation und Koordination interner und
zwischenmenschlicher Prozesse (Aldridge, 1989a).
Rhythmus liefert einen Bezugsrahmen für Wahrnehmung (Povel 1984). In Sequenzen gespielte Tonfolgen, die durch Tonhöhe, Volumen, Timbre und
Länge charakterisiert werden, schreibt man eine
Doppelfunktion zu. Zusätzlich markieren sie Zeitpunkte. Diese Töne produzieren also Zeitstrukturen
und Strukturen in der Zeit.Wenn Tonsequenzen einer Zeitordnung lediglich als temporale Konzepte
gehorchen, stellen sie eine Art von temporalem
Gitter dar, eine Zeitskala, auf der die Längen und Positionen der Tonsequenzen entworfen werden. Man
könnte sinnigerweise fragen, welche isomorphischen Geschehnisse in physiologischer Hinsicht eine solche Doppelfunktion übernehmen könnten.
Möglicherweise gibt es regelmäßige sequenzielle
Impulse von metabolischer, kardialer, oder respiratorischer Aktivität innerhalb des Körpers, die auch
der jeweiligen Qualität der Tonhöhe, -farbe und -länge entsprechen.
Rhythmus spielt auch in der Wahrnehmung von
Melodie eine Rolle. Die Wahrnehmung von Sprache
und Musik stellen ungeheure Anforderungen in der
Wahrnehmung von Mustern. Der Zuhörer muß
den Sinn aus langen Sequenzen von rasch wechselnden temporal eingeteilten Elementen herausfiltern (Morrongiello et al. 1985).Temporale Voraussagbarkeit spielt eine wichtige Rolle in der Verfolgung von melodischen Linien (Jones, Kidd, & Wetzel
1981; Kidd, Boltz, & Jones 1984). Kidd et al definieren Melodie als Struktur in der Zeit und argumentieren, daß ein regelmäßiger Rhythmus die Erkennung eines Tonintervalles und seine anschließende
Integration in eine kognitive Repräsentation der seriellen Struktur eines musikalischen Schemas erleichtert. Erwachsene identifizieren bekannte Melodien auf der Basis der Information über die relativen Tonintervalle vielmehr als durch absolute Information von vereinzelten Tönen. Bei der Erkennung
von unbekannten Melodien geht es weniger um Informationen über die einzelnen Töne als um sukzessive Tonhöhenveränderungen oder melodische
Umriße. Der rhythmische Kontext bereitet den
Zuhörer auf den Beginn bestimmter musikalischer
Intervalle vor und ist deshalb ein Mittel zur Erkennung,Voraussagung oder Veränderung. Diese Veränderungen werden vielleicht nicht wahrgenommen,
man stimmt harmonisch oder zeitlich nicht mehr
mit der Umgebung überein. Ein solcher Verlust der
rhythmischen Struktur, der nach außen hin Verwirrung stiftet, könnte ein verborgener Faktor im Verständnis der Alzheimer-Krankheit sein.
Wichtig bei diesen Beschreibungen der musikalischen Wahrnehmung ist, daß die Betonung auf der
Situation liegt, in der die verschiedenen Ebenen der
Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund einer temporalen Struktur gleichzeitig auftreten (Jones, Kidd,
& Wetzel 1981; Kidd, Boltz, & Jones 1984). Musikalische Improvisation mit einem Therapeuten, die Aufmerksamkeit (Sandman 1984; Walker & Sandman
1979; Walker & Sandman 1982) , Tempoveränderungen und freiwillige Mitwirkung einbindet (Safranek, Koshland, & Raymond 1982), ohne dabei auf
lexikalische Inhalte Rücksicht nehmen zu müssen,
könnte eine ideale Behandlungsmaßnahme für Alzheimer Patienten bieten. Daß der Therapeut dem
Patienten einfache rhythmische Formen und melo-
dische Phrasen vorspielt in der Erwartung, daß der
Patient diese Formen oder Phrasen nachmachen
wird, ähnelt dem Element der ‘Registration’ im Mental-State-Examination-Test.
Während improvisiertes Musizieren ein nützliches Instrument für die Evaluation musikalischer
Fähigkeiten bleibt, wird es auch innerhalb eines therapeutischen Kontextes eingesetzt.Auf diese Weise
werden Evaluation und Therapie gekoppelt, wobei
die Evaluation Kriterien vorgibt für die Identifizierung von therapeutischen Zielen und die Entwicklung therapeutischer Strategien.
Musiktherapie mit einer
Alzheimer Patientin
ie Nordoff-Robbins Musiktherapie basiert auf
musikalischer Improvisation zwischen Therapeut und Patient (Nordoff & Robbins 1977). Der
Musiktherapeut improvisiert am Klavier mit dem Patienten, dem eine ganze Reihe von Musikinstrumenten zur Verfügung stehen. Die Arbeit fängt oft
mit einer ‘Erforschungssitzung’ an, in der rhythmische
Instrumente, insbesondere Trommel und Zymbel,
eingesetzt werden, gefolgt vom Einsatz rhythmischmelodischer Instrumente wie Glockenspiel oder
Xylophon. Im Verlauf der sich weiter entwickelnden
Arbeit im melodischen Bereich werden Metallophon, Klavier und die Stimme einbezogen. So liegt
der Schwerpunkt dieser Arbeit während jeder Sitzung auf musikalischen Improvisationen, in der die
Musik als Träger der Therapie fungiert. Jede Sitzung
wird mit Einverständnis des Patienten auf Tonkassette festgehalten, um zu einem späteren Zeitpunkt
analysiert und, für ihren musikalischen Inhalt, katalogisiert zu werden.
D
In der folgenden Fallstudie wird die Musiktherapie als Teil einer umfangreichen Behandlung eingesetzt. Die Patientin erhält auf ambulanter Basis Therapiesitzungen, die einmal wöchentlich für jeweils 40
Minuten stattfinden. Da die Patientin den Weg nicht
mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen kann,
wird sie von ihrem Sohn ins Krankenhaus gebracht.
Frau X war eine 55jährige Frau, die zur Behandlung ins Krankenhaus kam. Ihre verstorbene
Schwester litt an der Alzheimer-Krankheit und da
sich das Gedächtnis von Frau X zunehmend verschlechterte, befürchtete ihre Familie, daß ihr das
gleiche Schicksal wie das ihrer Schwester widerfahren könnte. Sie hatte mit 40 Jahren angefangen, für
Familie, Freunde und Bekannte Klavier zu spielen,
obwohl sie keinen formellen Unterricht nahm. Diese Tatsache führte zu der Annahme, daß Musiktherapie zusätzlich zur medizinischen Behandlung eine
potentielle adjuvante Therapie wäre.
Die Patientin wurde ursprünglich zu dem Zeitpunkt ans Krankenhaus überwiesen als ihr fortschreitender Verfall sowohl ihr, wie auch ihrem Sohn
bewußt wurde, obwohl die Krankheit noch im Frühstadium war. Zu Hause hatte sie schon Schwierigkeiten, ihre Kleidung und andere Dinge für das tägliche Leben zu finden. Sie war nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu kochen oder ihren eigenen Namen zu schreiben. Beim Sprechen hatte sie
Schwierigkeiten mit der Wortfindung.Aufgrund der
Familiengeschichte und ihres eigenen Verständnisses
über ihre Schwächen können wir davon ausgehen,
daß ihre kognitiven Probleme durch Depression
verstärkt wurden und wahrscheinlich eine Pseudodemenz darstellten.
Rhythmisches Spiel
n allen zehn Sitzungen zeigte Frau X ihre Fähigkeit,
ohne den Einfluß ihrer Musiktherapeutin ein rhythmisches Muster im 4/4 Takt mit einem Schlegel auf
einer Trommel zu spielen. Dieser Musterrhythmus
trat, wie in Beispiel I demonstriert, in unterschiedlichen Formen auf.
I
Eine Eigenschaft ihres rhythmischen Spiels war,
daß der Patientin während einer Improvisation allmählich die Kontrolle über den Rhythmus verlor, so
daß er immer unpräziser wurde und sowohl an
Form als auch an Vitalität einbüßte. Der zu Anfang
klare und präzise Impuls ihres rhythmischen Spiels
baute schrittweise mit dem Verlust an Konzentrati-
7
8
Beispiel 1
on und Ausdauer ab. Jedoch konnte die Patientin ihre rhythmische Präzision wiedererlangen, wenn die
Therapeutin ihr im Laufe der Improvisation eine
musikalische Gesamtstruktur anbot.Wie bereits erwähnt, ist eine übergeordnete rhythmische Struktur
notwendig, um Wahrnehmung aufrecht zu erhalten,
und es ist gerade die ‘musikalische Gestalt’ (d.h. die
Fähigkeit, eine Gesamtorganisation im zeitlichen
Rahmen anzubieten), die in der Alzheimer-Krankheit
fehlt.
Die Patientin reagierte schnell auf Tempowechsel und auf verschiedene rhythmische Muster und
konnte diese in ihr Spiel integrieren. Signifikant war
ihre flüssige Reaktion beim Wechsel vom 4/4 in einen 3/4 Takt mit ihrer häufigen Bemerkung „...und
jetzt ist es ein Walzer...“. Bei typischen familiären
rhythmischen Mustern (z.B. dem Habanera-Rhythmus) zusammen mit charakteristischen melodischen Phrasen lachte sie, atmete tief durch und
spielte mit größerer Entschlossenheit.
Diese rhythmischen Improvisationen auf verschiedenen Trommeln wurden in späteren Sitzungen auf zwei Instrumenten gespielt. Die Patientin
hatte keine Schwierigkeit, die Schlegel zu kontrollieren und festzuhalten. In gleicher Weise war ihr die
Koordination von paralleler oder alternierender
Spielweise auf einem einzelnen Instrument unproblematisch, auch wenn sie ein meist schnelles Tempo wählte (120 Schläge pro Minute ). Jedoch verursachte die Einführung eines zweiten, gleichzeitig zu
spielenden Instruments erhebliche Schwierigkeiten
für die Patientin. Sie blieb desorientiert vor den Instrumenten stehen, unfähig, beide gleichzeitig in ihr
Spiel einzubinden. Lediglich durch Anweisung und
Führung der Therapeutin war die Patientin in der Lage, das Rechts/Links-Spiel auf zwei Instrumenten zu
koordinieren. Auch Veränderungen im Spielmuster
waren nur schwer umsetzbar (siehe Beispiele 2 und 3).
Durch alle Improvisationen hindurch blieb jedoch die instinktive Musikalität der Patientin, was
Tempo (ritardando, accelerando, rubato) und Lautstärke betrifft, erhalten und wurde bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck gebracht, was übereinstimmt
mit den von Swartz et al. definierten Wahrnehmungsebenen, auf denen sich musikalische Störungen ereignen (d.h. Ebenen: (a) die akustisch-psy-
Rhythmisches Spiel der Patientin auf einer Trommel mit einem Schlegel in der rechten Hand
Beispiel 2
Dialogspiel auf der Trommel
Therapeutin
Patientin
Beispiel 3
Eine Veränderung im Spielmuster
Therapeutin
Patientin
Beispiel 4
Veränderung in der Spielform der Patientin
Trommel (r H)
Zymbel (l H.)
chologische Ebene, (b) die diskriminierende Ebene,
mit der Differenzierung von Intervallen und Akkorden und (c) die kategorische Ebene, mit der bestimmenden Identifizierung von rhythmischen Mustern und Intervallen).
che Töne sie spielen sollte, vermochte sie den Fingerbewegungen der Therapeutin zu folgen. Ihr fiel es
sehr schwer, eine ihr vorgespielte kleine Tonreihe
nachzuspielen, was allerdings ihre visuell-räumlichen
Schwierigkeiten verschlimmert haben könnten (es
ist beispielsweise einfacher, die Oberfläche einer
Trommel als die limitierten präzisen Oberflächen eines Glockenspieles zu treffen).
kontrastierenden Klangqualitäten von Dur und Moll
vermindert, aber insgesamt zeigte sie eine unverkennbare Wahrnehmung für harmonische Vorgänge. Wie in Tests für Sprachfunktion, ist hier die Musikproduktion beeinträchtigt, während Wahrnehmungsfähigkeiten erhalten bleiben.
9
Melodisches Spiel
Veränderungen im musikalischen Spiel der Patientin
elodie ist der natürliche Ausdruck einer Bewegung, die von einem Moment zum nächsten entsteht und vergeht. Die Größe der Intervalle gibt dieser Bewegung eine immense melodische
Spannung, die von sich aus eine dynamische Stärke
entfaltet. Jedoch ist das melodische Erlebnis zugleich
ein formales; schon zu Beginn einer Melodie entsteht die Möglichkeit, das Gefühl der Unmittelbarkeit der ganzen Form zu erfassen, um sich für das
ästhetische Vergnügen der Abweichung vom erwarteten Schema vorzubereiten. Dieses Spannungselement zwischen dem Erwarteten und dem
Unvoraussehbaren ist seit 200 Jahren die Quintessenz musikalischer Komposition gewesen. Überdies
ist es Melodie, die Musik aus der rhythmischen Welt
der Gefühle in die kognitive Welt der Imagination
führt.
M
Die von Frau X gespielten Melodien waren immer lebendig. Sie kannte viele Volkslieder aus früheren Tagen und konnte sie selbständig singen. Wenn
der Therapeut ihr ein paar Töne am Klavier vorspielte, konnte sie diese Töne mit einem populären
Lied assoziieren. Jedoch war es der Patientin unmöglich, eigenständig eine ganze Melodie am Klavier,
oder an einem anderen melodischen Instrument zu
spielen. Obwohl sie spontan und flüssig anfangen
konnte, hatte sie Schwierigkeiten, eine bekannte
Melodie zu Ende zu spielen.
Melodische Instrumente wie z.B. Metallophon
und Xylophon, die sie zuvor nicht gekannt hatte,
blieben ihr auch weiterhin fremd. Wenn eine neue
Melodie vorgeschlagen wurde, suchte sie häufig
stattdessen eine ihr bekannte, um der Ungewißheit
einer Improvisation zuvorzukommen. Wenn die
Therapeutin ihr gegenüber saß und ihr zeigte, wel-
m rhythmischen Spiel an Trommel und Zymbel,
versuchte die Therapeutin die Aufmerksamkeit
der Patientin dadurch zu verlängern, indem sie kurze musikalische Muster mit wechselndem Ausdruck
(Moll, Dur, leise, laut, schnell, langsam) ständig wiederholte, in der Hoffnung, daß die Patientin eine stabile musikalische Form aufrechterhalten würde. Diese Technik half der Patientin, länger bei einem
rhythmischen Muster zu bleiben und es stärker zum
Ausdruck zu bringen. Über die Betonung des
Grundschlags in der Musik versuchte die Therapeutin auf andere Weise dem Entgleiten des rhythmischen Musters entgegenzuwirken. In einem schnellen Tempo konnte die Patientin den Grundschlag
über eine gewisse Zeit aufrechterhalten. Sobald sich
aber das Tempo verlangsamte oder die Musik variierte, schoben sich Achtel ein, die das stabile Element des Grundschlags beeinträchtigten und somit
ihrem Spiel einen oberflächlichen Charakter gaben.
I
Harmonisches Spiel
anz am Anfang der ersten Therapiesitzung, entdeckte Frau X beim Betreten des Therapieraums das Klavier und begann spontan ‘Lustig ist das
Zigeunerleben’ zu spielen. Sie begleitete dieses Lied
mühelos mit harmonischen Dreiklängen und Terzen.
Das zweite Lied, das sie zu spielen versuchte, stellte sich als schwieriger heraus. Sie fand die Subdominante nicht, worauf sie ihr Spiel unterbrach und
bemerkte „...das passiert mir immer wieder“. Dieser Vorgang, in dem sie eine Melodie spontan anspielte, nur um abzubrechen, wenn die harmonische
Struktur versagte, wiederholte sich, wenn immer sie
andere Lieder wie ‘Happy Birthday’ und ‘Horch was
kommt von draußen rein’ anstimmte. Sie zeigte dabei eine feine Sensitivität für die passende Harmonie, die sie nicht immer spielen konnte. Beim Trommelspiel war ihre musikalische Sensitivität zu den
G
Eine weitere Veränderung in der Improvisation
ereignete sich, als die Patientin rhythmische Muster
erkannte und wiederholen konnte, die dann häufig
in einen musikalischen Dialog umgesetzt und in einen musikalischen Kontext eingebunden wurden.
Während der letzten Therapiesitzung konnte die
Patientin ihr Spiel in der Weise verändern, daß sie
durch die Organisation ihres kontemplativen und
expressiven Spieles eine stärkere Ausdrucksweise in
ihrer Spielform erzielte (siehe Beispiel 4).
Obwohl ihr das Spiel auf zwei Instrumenten mit
der Zeit vertrauter wurde, so daß sie zuweilen ohne Hilfe auskam, konnte sie es doch nicht als eine
neue, selbständige und eigenständige Spielaktivität
ergreifen. Auch trotz der häufigen Anwendung der
ihr nicht mehr fremden Melodieinstrumente, wie
Xylophon und Metallophon, kam kein Vertrautsein
im Umgang mit diesen auf. Sie äußerte jedesmal ihre Unsicherheit: „Jetzt weiß ich nicht wie das geht”
und benötigte meistens eine Anleitung.
10
Die Patientin zeigte kaum dynamische Veränderungen in ihrem Spiel. Sie reagierte zwar auf dynamische Kontraste und Übergänge, aber ein für sie
kraftvolles Forte konnte nur in der letzten Sitzung
erreicht werden. Somit hatte ihr Spiel zuweilen, bedingt durch eine gleichbleibende Anschlagstärke, einen etwas mechanischen und unbeweglichen Charakter. Auch mit einer kleinen Auswahl von ausgesuchten Tönen war es der Patientin nicht möglich,
in eine eigene, freie melodische Gestaltung zu kommen. Es schien, als ob sie von der Suche nach altbekannten, festgefügten Liedmelodien in Bann gehalten wurde. Infolgedessen wählte die Therapeutin
häufiger die freie Improvisation auf rhythmischen
Instrumenten.
Intentionalität
chon ab der ersten Therapiesitzung zeigte die
Patientin unmißverständlich ihre Entschlossenheit, sich ans Klavier zu setzen und die Melodien mit
der jeweils passenden harmonischen Begleitung zu
spielen, die ihr gerade einfiel. Diese Zielstrebigkeit
und die entsprechende Willenskraft, sie umzusetzen,
zeigte sie bei allen Sitzungen. Dieser Spielimpuls gewann insofern an Bedeutung als er sich auch als Ausgangspunkt für die freien Improvisationen nutzen
ließ. In der sechsten Sitzung improvisierte Frau X ein
rhythmisches Stück im 4/4 Takt, das die Therapeutin
anschließend in eine melodische Phrase umwandelte. Am Ende der Phrase lachte die Patientin vor
Freude über den Erfolg ihres Spiels und bat um eine Wiederholung. Das anfänglich beobachtete labile rhythmische Spiel (Entgleiten und Auflösen der
rhythmischen Form) konnte z.T. in intentionales, ausdrucksbewußtes Spiel geführt werden. Obwohl
S
Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsreaktionen
durch die Improvisationen wachgehalten und verstärkt werden konnten, versagten Konzentration
und Ausdauer bei der Vollendung musikalischer
Phrasen. Hier war die Patientin von der übergeordneten rhythmischen Struktur abhängig, mit der die
Therapeutin sie musikalisch unterstützte.
Klinische Veränderungen
m Ende der Behandlungsperiode, in der auch
homöopathische Medikamente angewendet
wurden, konnte Frau X für sich kochen und ihre Sachen zu Hause finden. Der Psychiater, der die Verantwortung für ihre therapeutische Behandlung
trug, berichtete über eine allgemeine Verbesserung
ihrer Anteilnahme an Geschehnissen in ihrer Umgebung, insbesondere, daß sie ihre Aufmerksamkeit
für Besucher und Gespräche aufrechterhalten konnte. Die Patientin hatte ihre Fähigkeit, ihren Namen
zu schreiben, wiedergewonnen - wenn auch nur
langsam. Obwohl sie sprechen wollte, hatte sie noch
Schwierigkeiten mit der Wortfindung. Der praktische Arzt, der die allgemeine Verantwortung für ihre Behandlung trug, machte von einer validierten klinischen Prozedur für Mental-State Examination keinen Gebrauch.
A
Es scheint, daß Musiktherapie eine günstige Wirkung auf die Lebensqualität dieser Patientin hatte,
und daß dieser therapeutische Effekt teilweise durch
die musiktherapeutische Behandlung der Depression resultierte. Es ist sogar möglich, daß die Patientin an einer Pseudodemenz litt, die durch ihre eigenen Ängste und ihre Depression hinsichtlich des Todes ihrer Schwester verschlimmert wurde. Obwohl
die Patientin in allen Sitzungen deutlich ihre Absicht
zeigte, spielen zu wollen, war ihre Fähigkeit, die Initiative zu ergreifen, herabgesetzt. Dieser Zustand
spiegelte die Situation in ihrem täglichen Leben: sie
wollte zwar selbständig sein, konnte aber nicht aus
eigener Initiative heraus handeln. Der Stimulus, die
eigene Initiative zu ergreifen, wurde von der Therapeutin als eine wichtige Eigenschaft der Musikthe-
rapie angesehen und scheint korrelativ zu sein mit
der Art, mit der die Patientin begann, in ihrem täglichen Leben die Initiative zu ergreifen. Aktives Musizieren förderte die Interaktion zwischen den teilnehmenden Personen und damit die der Patientin
Vergnügen bereitenden Kommunikationsinitiativen,
insbesondere dann, wenn ihr eine vollständige Improvisation gelang.
Eine Kontraindikation für Musiktherapie mit Patienten, die ihrer Probleme bewußt sind, ist dann gegeben, wenn durch das Musizieren diese fehlenden
kognitiven Fähigkeiten stärker bewußt werden und
unter Umständen eine womöglich tieferliegende
Depression verschlimmern könnten, so daß der Patient im weiteren Verlauf der Therapie demotiviert
werden könnte.
Schlußfolgerung
enn für uns die normalen Vorgänge im kognitiven Verfall des Alterns ungewiß sind, sind
wir erst recht im unklaren, was die normalen musikalischen Fähigkeiten von Erwachsenen betrifft. Die
Literatur suggeriert, daß musikalische Aktivitäten
konserviert werden, während andere kognitive
Funktionen versagen. Trotz Aphasie und Gedächtnisverlust, singen Alzheimer Patienten alte Lieder
und tanzen zu alten Melodien wenn immer sich die
Gelegenheit ergibt. Jedoch scheinen Musikproduktion und Musikimprovisation auf die gleiche Weise
wie die Sprache zu verfallen. Bedauerlicherweise
existieren keine etablierten Richtlinien für den normalen Umfang musikalischer Improvisation mit Erwachsenen.
W
Improvisierte Musiktherapie bietet erfahrungsgemäß eine Möglichkeit Mental-State Examinations
in den Bereichen zu ergänzen, die diese Prüfungen
vernachlässigen (Siehe Tabellen 1 und 2).
\
Zum ersten ist es möglich, den Fluß der Musikproduktion zu ermitteln.
\
Zum zweiten sind Intentionalität, Aufmerksamkeit, Konzentration und Durchhaltevermögen
Tabelle 6:
Musikalische Elemente, Evaluierung und Improvisationsbeispiele
Musikalische Evaluierungselemente
Improvisationsbeispiele
Überprüfung der musikalischen Fähigkeiten: Rhythmus, Melodie, Harmonie,
Lautstärke, Phrasierung, Artikulation
Improvisationen mit rhythmischen Instrumenten (Trommel und Becken) einzeln
oder kombiniert
Improvisation mit melodischen Instrumenten
Singen und Spielen von Volksliedern mit Harmoniebegleitung
Testung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten
Spielen auf Metallophon, Xylophon, Glockenspiel, das anspruchsvollen und präzisen
Bewegungen bedarf
Test für progredientes Gedächtnisversagen
Das Spielen von kurzen rhythmischen und melodischen Phrasen innerhalb der Sitzung
und in darauffolgenden Sitzungen
Motivation, beim Improvisieren durchzuhalten, musikalische Ziele zu erreichen
und in unermüdlicher musikalischer ‘Intentionalität’, der Form zu folgen.
‘Intentionalität’ ist ein wesentlicher Aspekt der musikalischen Improvisation
Das Spielen eines rhythmischen Musters läßt die Begleitung des Therapeuten zu,
wie auch die Fähigkeit, eine bekannte Melodie zu Ende zu spielen, obwohl das
Tempo nicht nachläßt
Die Patientin bekundet vom Anfang der Therapie an ihre Absicht, Klavier zu spielen
und bleibt bei ihrem Vorhaben bis zum Ende der therapeutischen Behandlung
Konzentration auf das improvisierte Spiel und Aufmerksamkeit gegenüber
den Instrumenten
Die Patientin verliert ihre Konzentration während ihres Spieles, mit qualitativem Verlust im musikalischen Spiel und fehlender Präzision beim Schlagen auf Stabspielen
Flexibilität bei musikalischen (auch instrumentalen) Veränderungen
Zuerst beschränkt sich das musikalische Spiel auf ein Tempo von 120 Schlägen pro Min.
und auf ein typisches Muster, aber Veränderungen können herbeigeführt werden
Fähigkeit, improvisierte Musik zu spielen, mit Rücksicht auf den Einfluß
der früheren musikalischen Erziehung
Obwohl die Patientin eine musikalische Erziehung genoß, ist diese nur hilfreich, wenn
sie das musikalische Spiel wahrnimmt, es hat kaum einen Einfluß auf das
improvisierte Spiel
Empfindlichkeit für geringe Veränderungen
Zu Anfang fehlende Flexibilität in Tempo, Lautstärke, und Ausdruck, die erst nach und
nach entwickelt werden kann
Fähigkeit, den musikalischen Kontext zu interpretieren und die Kommunikation
innerhalb des therapeutischen Verhältnisses zu evaluieren
Die Patientin entwickelt die Fähigkeit zum dialogischen Spiel, das sowohl genauere
musikalische Perzeption, als auch musikalische Umsetzung erfordert
11
bei einer gestellten Aufgabe wichtige Eigenschaften des musikalischen Improvisierens und
können durch Musizieren zugänglich gemacht
werden.
\
12
Zum dritten kann das episodische Gedächtnis
für seine Fähigkeit, kurze rhythmische und melodische Phrasen zu wiederholen, geprüft werden.
Die Unfähigkeit, solche Phrasen zu bilden, könnte Gedächtnisschwierigkeiten zugeschrieben werden, oder einem bisher unbekannten Faktor, der
möglicherweise mit der Organisation von Zeitstrukturen in Zusammenhang steht.
Wenn rhythmische Struktur einen Gesamtkontext für musikalische Produktion und eine Basisstruktur für Wahrnehmung darstellt, muß der Eindruck entstehen, daß es dieser Gesamtkontext ist,
der bei Alzheimer Patienten in Verfall gerät. Ein Verlust des rhythmischen Kontextes wäre eine Erklärung für die Fähigkeit dieser Patienten, sich einem
rhythmischen und melodischen Spiel nur dann zuwenden und widmen zu können, wenn der Therapeut ihnen eine Gesamtstruktur vorgibt. Eine solche
Hypothese würde mit der von Swartz vorgeschlagenen musikalischen Hierarchie (Swartz et al. 1989)
S. 154) übereinstimmen und einen globalen Verfall
der Kognition bei einer Beibehaltung der einfacheren Fähigkeiten nahelegen. Jedoch müßte bei dieser
von Swartz propagierten Hierarchie der musikalischen Wahrnehmungsebenen wahrscheinlich eine
weitere Unterteilung in eine Klassifizierung von Musikrezeption und Musikproduktion vorgenommen
werden.
Die Musiktherapie scheint auch deshalb ein sensibles Evaluations-Instrument zu sein, weil sie die lexikalisch ungebundenen prosodischen Elemente
von Sprache zu prüfen vermag. Weiterhin können
rezeptive und produktive Funktionsgebiete evaluiert werden, die nicht in ausreichendem Maße von
anderen Prüfverfahren berücksichtigt werden, z.B.
Geschicklichkeit, Durchhaltevermögen, Aufmerksamkeit, Konzentration und Intentionalität (siehe Tabelle 6). Zusätzlich bietet sie eine Therapieform, die
möglicherweise kognitive Aktivität auf eine Art und
Weise stimulieren könnte, daß für progressiven Verfall anfällige Regionen erhalten bleiben. Anekdoten-
haftes Beweismaterial erweckt auf jeden Fall den
Eindruck, daß die Lebensqualität von Alzheimer Patienten durch Musiktherapie signifikant verbessert
wird (Tyson 1989), begleitet von dem sozialen Gesamtgewinn der Integration und des Zugehörigkeitsgefühls, der eine Interkommunikation mit sich
bringt (Morris 1986). Prinsley empfielt Musiktherapie in der geriatrischen Pflege von dem Standpunkt
aus, daß dadurch die individuelle Verabreichung von
Beruhigungsmitteln gesenkt wird, weniger Bedarf an
Hypnotika auf der Krankenhausstation entsteht und
der Rehabilitation generell geholfen wird. Er empfielt, daß Musiktherapie sich nach Behandlungszielen
orientiere: soziale Ziele der interaktiven Kooperation; psychologische Ziele der Stimmungsverbesserung und Selbstdarstellung; intellektuelle Ziele der
Sprachstimulation; Organisation der intellektuellen
Prozesse; physische Ziele der sensorischen Stimulation und motorische Integration (Prinsley 1986).
In weiterer Forschung scheinen Single-Case Designs - mit der möglichen Einbindung von Multiple
Baselines - im klinischen Bereich eine plausible Form
der Evaluierung individueller Reaktionen auf musikalische Intervenierung mit Alzheimer Patienten zu
werden. Solche Studien würden von sorgfältigen klinischen Untersuchungen, Mental-State Examinations und musikalischen Evaluierungen abhängig sein.
Bedauerlicherweise beruht beinahe die gesamte Literatur zur Kognition und musikalischen Wahrnehmung auf Musikrezeption und nicht Musikpro-
duktion. Die Produktion von Musik ist, wie die Produktion von Sprache, ein sehr komplexes, noch
kaum verstandenes Globalphänomen. Das Verständnis von Musikproduktion könnte einen Hinweis zur Basisstruktur von Sprache und Kommunikation im allgemeinen geben. Die Erforschung dieser Domäne der Wahrnehmung ist nicht nur zum
besseren Verständnis der Alzheimer Patienten zwingend, sondern im gesamten Kontext kognitiver Defizite und zerebraler Dominanzen. Wie Berman
(Berman 1981) konstatierte, könnte es sein, daß die
nicht dominante Hemisphäre einen Vorrat an Funktionen im Falle regionalen Versagens parat hält, und
daß diese Funktionalität stimuliert werden kann, um
die Progression degenerativer Erkrankung zu verzögern. Überdies sollte darauf aufmerksam gemacht
werden, daß, trotz des Versagens des globalen rhythmischen Musters bei der oben beschriebenen Patientin, sie weiterhin im Takt schlagen konnte. Eine
ähnliche Situation könnte bei komatösen Patienten
eintreten, die ihre fundamentalen Lebensimpulse im
rhythmischen Zusammenhang nicht koordinieren
können, und somit ihr Bewußtsein nicht wiedererlangen (Aldridge 1991a; Aldridge, Gustorff, & Hannich 1990).Vielleicht müssen wir uns in zukünftiger
Forschung der koordinierenden Funktion von
Rhythmus im menschlichen Intellekt und Bewußtsein annehmen, sei es bei Menschen, deren kognitive Fähigkeiten verlorengehen, oder bei Menschen,
die ihre kognitiven Fähigkeiten wieder zu erlangen
versuchen.
Wir wollten eine gemeinsame Sprache zwischen
Klinikern und Therapeuten herausarbeiten und dieses Ziel haben wir erreicht. Obwohl der klinische
Nutzen von Musiktherapie für Patienten mit Demenz oder Pseudodemenz spekulativ blieb, wurde
eine gemeinsame Sprache für die Diskussion und
den Vergleich therapeutischer Veränderungen entwickelt, die der erste Schritt in einem Programm
kontinuierlicher Forschungsdialoge ist. Der nächste
Schritt wird der Versuch anderer Therapeuten sein,
mit ihren älteren Patienten zu korrelieren, um festzustellen, ob unsere Hypothesen klinischen Untersuchungen standhalten können. Unsere Erfahrungen
lehren uns, daß es wichtig ist, eine Periode aktiver
Evaluierung abseits von der Therapie zu berücksichtigen, und daß diese Evaluierung auch Zeit für
die Orientierung zur musiktherapeutischen Umgebung, zur Interaktion, zu den Instrumenten und zur
Improvisationsaktivität einkalkulieren sollte. Musikproduktion ist, wie auch Sprachproduktion, ein komplexes Globalphänomen, das bisher wenig verstanden wurde. Ein Verständnis von musikalischer Kreativität könnte vielleicht einen Hinweis zur universalen Grundstruktur von Sprache und Kommunikation
geben. Wie Berman konstatiert (Berman 1981), ist
es vielleicht möglich, daß die nicht dominante Hemisphäre einen Vorrat an Funktionen für den Fall eines regionalen Versagens bereithält, und daß diese
Funktionalität stimuliert werden könnte, um die
Progredienz degenerativer Erkrankungen aufzuhalten.
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