Unsichtbare Killer - Welt

5,50 € | 7,80 sFr
www.welt-sichten.org
2-2016 februar
Energie für Afrika: Solarstrom auf Raten
Islamismus: Mörder zur Einsicht bringen
Klimaschutz: Leere Versprechen aus Paris
Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit
seuchen
Unsichtbare Killer
Termine
•
•
•
•
•
•
Jena 10. – 11. Februar 2016
Frankfurt 12. Februar 2016
Leipzig 22. März 2016
Kiel 19. Mai 2016
Mainz 13. Juni 2016
Saarland 12. Juli 2016
Weitere Termine folgen.
BRING
DICH EIN.
Beiträge einreichen
und anmelden unter
www.zukunftstour.de
Zukunftscharta
EINEWELT - UNSERE VERANTWORTUNG
editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Bernd Ludermann
Chefredakteur
Seuchen gehören seit Jahrtausenden zu den Geißeln der Menschheit. Welche Gefahr übertragbare Krankheiten noch immer sind, hat die Ebola-Epidemie in Westafrika gezeigt. Erst nach mehr als zehntausend
Todesopfern konnte sie weitgehend gestoppt werden. Das liegt auch daran, dass die betroffenen Länder
nicht rechtzeitig Hilfe bekamen; die Staatengemeinschaft muss sich besser auf Epidemien vorbereiten,
erklärt Sascha Karberg. So hat die Globale Impf-Allianz GAVI jüngst mit dem Pharma-Konzern Merck
vereinbart, dass er einen Ebola-Impfstoff weiterentwi-
Wir fragen für Sie!
Sie fragen sich, wie in Nepal der Wiederaufbau nach dem
Erdbeben vorankommt? Sie wollen wissen, ob der Klimawandel den Krieg in Syrien verursacht hat oder was die Weltbank
damit meint, dass die Armut sinkt? Ab Mai lassen wir in
solche Fragen unserer Leserinnen und Leser
von Fachleuten in kurzen Interviews beantworten. Beteiligen
Sie sich schon jetzt und schreiben Sie uns, was Sie wissen
wollen (E-Mail: [email protected])!
ckelt und vorrätig hält. In Sierra Leone wirkt das von
Ebola ausgelöste Misstrauen nach, und das Verhältnis
zwischen traditionellen Heilern und moderner Medizin
ist wieder infrage gestellt, berichtet Luisa Enria.
Anders als Viren wie Ebola oder Grippe kann man
Bakterien mit Antibiotika in Schach halten. Doch sie
werden gegen immer mehr Mittel resistent, weil die
falsch verwendet werden, schreibt Barbara Erbe.
Tuberkulose ist in vielen armen Ländern kaum noch
behandelbar, Durchfall und einfache Operationen könnten wieder lebensbedrohlich werden. Und das
Wundermittel, das den Malaria-Parasiten ausrottet, ist bisher nicht gefunden, berichtet Tillmann Elliesen.
Trotzdem konnte das Wechselfieber zurückgedrängt werden – nicht zuletzt weil mit der Armut auch die
Brutstätten der Mücke, die Malaria überträgt, verschwinden. Erfolgreich verläuft auch der Kampf gegen die
Flussblindheit in Nigeria, wie Katrin Gänsler herausgefunden hat.
Mit dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas beschäftigen sich zwei weitere Beiträge in diesem Heft: Obinna
Anyadike berichtet über den Versuch, Mitglieder der Terrorgruppe Boko Haram zu resozialisieren. Und
William S. Miles schildert, warum in der Volksgruppe der Igbo viele zum Judentum übertreten. Wie die
deutsche Entwicklungspolitik religiöse Organisationen stärker einbeziehen will, wollte Gesine Kauffmann
von Ulrich Nitschke wissen, der dazu bei der GIZ ein Programm leitet. Und ich habe in Paris beobachtet, dass
auf dem UN-Klimagipfel die Regeln des globalen Klimaschutzes zu Lasten der Schwellenländer umgeschrieben wurden.
Eine spannende Lektüre wünscht
| 2-2016
3
inhalt
Sia Kambou/AFP/Getty Images
4
12
Reiche Länder können sich besser vor
Seuchen schützen als arme. In Haiti
forderte ein Cholera-Ausbruch nach
dem Erdbeben von 2010 Tausende
Menschenleben – hier kämpft ein
Mitarbeiter des Gesundheits­
ministeriums in einem Camp für
Erdbebenopfer gegen die Epidemie.
Doch auch der Schutz in reichen
­Ländern wird löchrig, weil Krankheitserreger gegen Antibiotika
resistent werden.
Gegen Malaria-Überträger wird ein Abwassertümpel in der
­Elfenbeinküste mit Insektengift besprüht. Wo man der AnophelesMücke weniger Brutstätten bietet, geht die Krankheit zurück.
schwerpunkt seuchen
12 Heillos überfordert
Ebola hat gezeigt, wie schlecht die Staatengemeinschaft auf Epidemien
vorbereitet ist
Sascha Karberg
Olivier Laban-Mattei/Laif
16 „Das Vertrauen zurückgewinnen“
Gespräch mit der Direktorin des Deutschen Institutes für Ärztliche Mission (DIFÄM), Gisela Schneider, über Lehren aus der Ebola-Epidemie
17 Die Angst wirkt lange nach
In Sierra Leone hat Ebola tiefe Risse in der Gesellschaft hinterlassen
Luisa Enria
20 Ein Dorf hält das Virus fern
Eine liberianische Gemeinde ist von Ebola frei geblieben
Jehoshaphat Dogolea und Rebecca Hackstein
21 Die Abwehr der Bakterien
Immer mehr Erreger sind gegen Antibiotika resistent
Barbara Erbe
24 Magische Pillen gegen den Fadenwurm
Nigeria kommt im Kampf gegen die Flussblindheit voran
Katrin Gänsler
28 Keine Zauberformel gegen die Malaria
Das Sumpffieber lässt sich eindämmen, aber kaum weltweit ausrotten
Ein Teil der Auflage enthält Beilagen des
Evangelischen Werks für Diakonie und
Entwicklung, der Freunde der Serengeti
Schweiz, des MEDA Office in Europe sowie
.
eine Bestellkarte von
Tillmann Elliesen
31 Zweifelhafte Schnitte
In Afrika werden Millionen Männer beschnitten, um sie vor HIV zu schützen
Hanna Pütz
2-2016 |
28
Chika Oduah
inhalt
Standpunkte
6 Die Seite Sechs
7 Leitartikel: Wir schaffen das – wenn wir wollen.
Wer Obergrenzen fordert, macht sich und
anderen etwas vor
Tillmann Elliesen
8 Kommentar: Strom auf Raten. In Afrika verbessert Mobilfunktechnik die Energieversorgung
Gabriel Davies
10 Kommentar: Beim Frieden für Syrien müssen
Frauen mitreden können
In der Volksgruppe der Igbo in Nigeria treten viele zum jüdischen
Glauben über. Die Gemeinden sind jung und treffen auf viele Vorurteile – zum Beispiel, sie seien eine neue Sekte.
Gesine Kauffmann
10Leserbriefe
44
11 Herausgeberkolumne: Was nicht gemessen
wird, wird nicht getan. Indikatoren für die
Nachhaltigkeitsziele
Rainer Brockhaus
Journal
welt-blicke
50 Politische Bildung: Streit um Gemeinnützigkeit
32 Klimaschutz: Kein zweites Kopenhagen
In Paris wurde ein neuer Klimavertrag besiegelt. Er macht
Versprechen, die nicht einzuhalten sind
50 Studie: Schuften für eine bessere Zukunft
36 Entwicklungspolitik: „Jede Form von Extremismus schließen wir aus“
Gespräch mit Ulrich Nitschke von der Deutschen Gesellschaft für
Internationale Zusammenarbeit über Religion und nachhaltige Entwicklung
39 Islamismus: Mörder zur Einsicht bringen
Nigeria will frühere Kämpfer von Boko Haram wieder
in die Gesellschaft eingliedern
William F. S. Miles
48 Uganda: Singen für den Wahlsieg
Im Wahlkampf der Präsidentschaftsanwärter mischt
die Musik­branche kräftig mit
54 Brüssel: Gericht kippt Freihandelsvertrag mit
Marokko
55 Schweiz: Unternehmen für MenschenrechtsSchutz gewinnen
57Österreich: Das Afro-Asiatische Institut wird
aufgelöst
Obinna Anyadike
44 Religion: Rat von Rabbi Google
Die jüdische Gemeinde in Nigeria wächst – und vertraut auf religiöse
Unterweisung mittels Internet
52 Berlin: Die Agrarindustrie bleibt ein Partner
Bernd Ludermann
Nanna Schneidermann
58Kirche und Ökumene: Christen im Nahen
Osten kritisieren deutsche Flüchtlingspolitik
60Global Lokal: Richtig konsumieren allein hilft
nicht
60Personalia
service
62 Filmkritik
62 Rezensionen
65 Termine
Kommentieren Sie die Artikel im Internet:
www.welt-sichten.org
| 2-2016
65 Impressum
5
standpunkte die seite sechs
Reife Leistung
Chappatté in „International new york times“, www.globecartoon.com
6
Die indische Zeitung „Hindustan
Times“ hat ein kaum beachtetes
Risiko des modernen Lebens
ins Blickfeld gerückt: Tod durch
Selfie. Immerhin 27 Menschen
sollen 2015 beim Versuch gestorben sein, sich selbst zu fotografieren, fast die Hälfte davon in
Indien. Nein, nicht nur Touristen
wie der Japaner, der am Tadsch
Mahal abstürzte – auch Inder
wie die drei Studenten, die sich
vor einem nahenden Zug auf
den Gleisen ablichten wollten.
Was ist’s?
„Die Herrschaft des Pöbels
ist dabei, die Rechtsstaat­
lichkeit zu ersetzen.“
Der Generalsekretär des Europäischen
Stein- und Braunkohleverbands
(Euracoal), Brian Ricketts, zur
Greenpeace-Klimademonstration
­während der Klimaschutzkonferenz
in Paris.
Gewitzte Kriegsherren nutzten sie bereits im Mittelalter
als Waffe: Bei der Belagerung
einer Stadt ließen sie verseuchte Tierkadaver über die
Burgmauern werfen. Dann
mussten sie nur noch warten,
bis ihre Gegner krank wurden
und schließlich starben. Denn
unbehandelt geht die Krankheit, im Altertum „persisches
Feuer“ genannt, häufig tödlich
aus, und im Mittelalter war weder ihre Ursache bekannt noch
ein Mittel dagegen. Erst Mitte
des 19. Jahrhunderts entdeckte ein findiger Wissenschaftler
den Erreger in Schafsblut, und
gut 25 Jahre später wurde das
Bakterium dann systematisch
erforscht. Es kann mit Hilfe widerstandsfähiger Sporen über
Jahrzehnte im Erdreich überleben. Eine Ansteckung erfolgt
fast ausschließlich über Tiere;
die Übertragung von Mensch
zu Mensch gilt als sehr unwahr-
scheinlich. Das Leiden tritt in
mehreren Formen auf, in den
häufigsten Fällen ist die Haut
befallen, aber auch die Lungen und der Darm können in
Mitleidenschaft gezogen werden. Jeder kann sich infizieren,
überall auf der Welt, doch am
häufigsten treten Infektionen
in wärmeren Regionen auf, vor
allem in Afrika, Zentral- und
Südasien. Seine Karriere als
biologischer Kampfstoff hat
der Bazillus übrigens fortgesetzt: Bis in die 1970er Jahre
experimentierten die USA, die
Sowjetunion und europäische
Regierungen mit Wirkungsweise und Abwehrmöglichkeiten.
Dieses Wissen soll nun auch
zur Heilung eingesetzt werden:
Derzeit wird es als Zellgift gegen Krebs erforscht. Was ist’s?
Auflösung aus Heft 12-2015/12016: Gesucht war der Schweizer
Unternehmer Henri Nestlé.
Die Behörden in Mumbai nehmen nun ihre Schutzpflicht für
arglose Handy-Nutzer ernst und
wollen an Orten wie Festungen
Selbstporträts verbieten. Das
ist ehrenwert, aber abwegig.
Gefährlich sind die Geräte, nicht
die Orte; bildverliebte Besucher von spannenden Stellen
wegzulenken, schadet nur dem
Tourismus. Sinnvoller geht Russland vor, wo sich 2015 mehr als
zehn Menschen mittels Selbstporträt ins Jenseits befördert
haben. Das Innenministerium
warnt in einer Broschüre: Nur
sichere Selfies machen – nicht
etwa auf Hausdächern, mit
Tieren oder an Stromleitungen!
Allein: Wer liest Broschüren von
russischen Behörden – und wer
glaubt ihnen? Man muss nach
dem Vorbild der USA die Firmen
in die Pflicht nehmen. Wie jetzt
auf jedem Kaffeebecher steht
„Vorsicht, Inhalt heiß“, so müssen
künftig die Hersteller von Handys
und Selfie-Stangen auf ihren Produkten Warnhinweise anbringen
wie „Nicht für Selfies am Abgrund
verwenden“. Reichen wird das
aber nicht, denn der Erfindergeist
der Fotografen ist beeindruckend:
Ein Mexikaner erschießt sich
für das Foto „ich mit Waffe“; ein
Spanier setzt sich auf dem Dach
eines Zuges unter Starkstrom;
auch am Steuer eines Autos, eines
Motorrads und eines Kleinflugzeugs hat die Selfie-Seuche schon
Menschen dahingerafft. Wir
brauchen daher zusätzlich eine
sehr deutsche Lösung: Handys
nur gegen Waffenschein!
2-2016 |
leitartikel standpunkte
Wir schaffen das – wenn wir wollen
Wer Obergrenzen fordert, macht sich und anderen etwas vor
Von Tillmann Elliesen
E
in Geständnis vorweg: Nach den Terroranschlägen in Paris im November war ich fest entschlossen, mir ein Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe zu
suchen. Bislang ist es bei dem Vorsatz geblieben, teils
aus Bequemlichkeit, teils weil ich davor zurückschrecke, meine knappe Freizeit dafür zu opfern.
Ein wenig schäme ich mich dafür. Wobei es mir
gar nicht so sehr um die Flüchtlinge selbst geht, sondern vor allem um meine Heimatstadt und um die
Gesellschaft, in der ich lebe – ja, um mein Deutschland. Indem ich Flüchtlingen helfe, würde ich meinen Beitrag zur Willkommenskultur und damit zum
ersten wichtigen Schritt für ihre Integration leisten.
Ich würde damit hoffentlich dazu beitragen, ein Abdriften vor allem der jungen Männer in Parallelge-
Die Flüchtlinge zeigen: Europa ist Teil
dieser globalisierten Welt mit all ihren Vorzügen,
aber eben auch Risiken und Problemen.
Tillmann Elliesen
.
ist Redakteur bei
| 2-2016
sellschaften und das Entstehen von Einwandererghettos in unseren Städten zu verhindern – von
Ghettos wie in Frankreich und Belgien, aus denen die
Massenmörder von Paris kamen.
Die Integration von Hunderttausenden Männern,
Frauen und Kindern aus anderen Weltregionen und
Kulturen – das wird die wichtigste Aufgabe deutscher
Politik und Gesellschaft in diesem und in den nächsten Jahren sein. Dazu wird sowohl den Zuwanderern
als auch den Einheimischen einiges abverlangt, und
derzeit sieht es nicht gut aus, dass das gelingt. Nach
den Hunderten Übergriffen auf Frauen und den bedrohlichen Szenen in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof schrieb Alice Schwarzer mit Blick
auf die Täter und deren Herkunft aus Nordafrika und
dem arabischen Raum, das seien die Früchte einer
versäumten Integration. Das ist richtig. Nicht richtig
hingegen ist, dass dieses Versäumnis Ergebnis einer
„falschen Toleranz“ ist, wie Schwarzer meint. Nicht
falsche Toleranz steht der Integration im Weg, sondern Ignoranz.
Der satten deutschen Mehrheit sind muslimische Parallelgesellschaften völlig gleichgültig, solange sie eben das bleiben: Parallelgesellschaften, die
das eigene Leben, die eigene Gesellschaft nicht berühren. Und für die wirtschaftlich, politisch und kulturell abgehängten „Problemviertel“, die es auch in
unseren Städten schon gibt, interessieren sich bestenfalls unterbezahlte Sozialarbeiter – zumindest so-
lange deren Bewohner bleiben, wo sie sind. Diese
Gleichgültigkeit abzulegen, wäre ein erster notwendiger Beitrag, den wir einheimische Deutsche zur Integration leisten müssen.
Denn Integration gelingt ja nicht über Seminare
zu deutscher Leitkultur oder Benimmkurse. Wer
ernsthaft will, dass Flüchtlinge und Zuwanderer Teil
unserer Gesellschaft werden und nicht bloß oberflächliche Bekenntnisse zu deutschen Werten und
Sitten abgeben, muss ihnen eine Chance geben, diese
Werte und Sitten zu leben. Man muss ihnen die Möglichkeit bieten, zu lernen, zu arbeiten, an Kultur und
Politik teilzunehmen und sich einzubringen. Viele
werden solche Angebote annehmen, andere werden
sie ausschlagen, aus welchen Gründen auch immer.
Aber Leute, die sich nicht integrieren wollen, gibt es
auch unter einheimischen Deutschen. Flüchtlinge
sind nicht per se bessere Menschen, aber auch nicht
schlechtere.
Deutschland werde durch die große Zahl von Zuwanderern ein anderes Land, sagt der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Er meint das als Drohung. Man kann es auch als Chance sehen. Vor allem
aber ist es eine zurzeit nicht zu ändernde Tatsache:
Europa steckt seit vielen Jahren viele Millionen Euro
in einen hochgerüsteten High-Tech-Grenzschutz zu
Lande, zu Wasser und in der Luft. Doch die Flüchtlinge kommen trotzdem, und Deutschland wird sich
mit jedem einzelnen befassen müssen, der an seine
Tür klopft. Angela Merkel habe die Leute „eingeladen“,
habe sie „gerufen“, heißt es jetzt manchmal. Wie schäbig und kleingeistig ist das angesichts des Elends und
der Gewalt, vor dem die Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak oder Somalia fliehen.
Natürlich kann Deutschland nicht unbegrenzt
Flüchtlinge aufnehmen und integrieren. Aber wer bereits nach einem halben Jahr verstärkter Zuwanderung Obergrenzen fordert, zeigt, dass er nicht allzu
viel Vertrauen in die Integrationskraft unserer Gesellschaft und politischen Institutionen hat. Oder aber er
zeigt, dass ihm jeder neue Ausländer eigentlich zu
viel ist. Wären Deutschland und Europa wirklich jetzt
schon am Limit, dann wäre das ein Armutszeugnis.
Die Flüchtlinge zeigen: Unser Land und unser
Kontinent sind Teil dieser globalisierten Welt mit all
ihren Vorzügen, aber eben auch Risiken und Problemen. Wer willkürlich gesetzte Obergrenzen fordert,
ohne gleichzeitig zu sagen, wie er die Fluchtursachen
abstellen will, macht sich selbst und anderen etwas
vor. Abschotten hilft nicht mehr. Zum „Wir schaffen
das!“ von Bundeskanzlerin Merkel gibt es deshalb
keine Alternative. 7
8
standpunkte kommentar
Strom auf Raten
In Afrika verbessert Mobilfunktechnologie die Energieversorgung
Von Gabriel Davies
Wer in Afrika auf dem Land lebt, ist
meistens arm und nicht ans Stromnetz angeschlossen. Der Kauf einer
netzunabhängigen
Solaranlage
kommt für die meisten nicht in
Frage. Es gibt aber eine Alternative: Vorbild ist ein Geschäftsmodell
von Mobilfunkunternehmen in
den reichen Industrieländern.
Grünes Wachstum mag zwar in
entwicklungspolitischen Kreisen
das Schlagwort der Stunde sein.
Doch manche betrachten erneuerbare Energien noch immer als
Luxus, den sich Entwicklungsländer nicht leisten können. Der Umweltökonom Bjørn Lomborg etwa
sagt: „Fossile Brennstoffe sind das
einzige Mittel, um die Leute aus
dem Qualm und dem Dunkel zu
befreien, die mit Energiearmut
einhergehen.“
Doch neue Technologien
könnten Lomborg widerlegen.
Ob kleine Solaranlagen für 100
Dollar oder 140 Meter hohe Windturbinen – erneuerbare Energien ermöglichen es den ärmsten
Ländern, ihre Entwicklung zu beschleunigen. Und dank neuer Bezahlsysteme und Verleihmodelle
könnten künftig in Zusammenarbeit mit Mobilfunkanbietern
Millionen Haushalte mit Energie
versorgt werden.
Laut Fachleuten wird im Jahr 2040 jeder
vierte Afrikaner Strom aus netz­­un­ab­
hängigen Kleinkraftwerken beziehen.
Mosambik ist ein Beispiel dafür. Wie der Rest von SubsaharaAfrika braucht das Land dringend
mehr Energie, um sein schnelles
wirtschaftliches Wachstum zu sichern. In der Hauptstadt Maputo
beschweren sich alle darüber,
vom Taxifahrer bis zum Hotelier:
Die Stromversorgung hält nicht
Schritt mit dem Wachstum von
durchschnittlich sieben Prozent
in den vergangenen zehn Jahren.
Die Weltbank schätzt, dass der
Energiemangel die Region jähr-
lich vier Prozent Wirtschaftswachstum kostet: Geschäfte müssen früher schließen und Fabriken sind gezwungen, ihre Produktion zu stoppen.
Der Mangel an Elektrizität
sorgt für Verluste. Regierungen in
Subsahara-Afrika zahlen deshalb
bereitwillig umgerechnet etwa
280 Euro für eine Megawattstunde Strom aus Dieselgeneratoren.
Und ländliche Haushalte geben
bis zu 30 Prozent ihres Einkommens für kerosinbetriebene Beleuchtung aus. Zum Vergleich: In
Deutschland liegt der Strompreis
an der Börse derzeit bei etwa 30
Euro pro Megawattstunde.
Für eine Wirtschaft wie die in
Mosambik sind erneuerbare
Energien eine günstige, schnelle
und einfach zu bauende Alternative. Im Nachbarland Südafrika
wurden ganze Solarfarmen in weniger als neun Monaten errichtet.
Sie liefern Strom für derzeit etwa
55 Euro pro Megawattstunde.
Sonnen- und Windenergie
können die wirtschaftliche Entwicklung außerdem vorantreiben, indem sie die fragilen Stromnetze zuverlässiger machen. Im
Januar vor einem Jahr rissen
Überschwemmungen im nördlichen Mosambik die Masten einer
800 Kilometer langen Stromtrasse um. Sie verbindet die Region
mit dem Cahora-Bassa-Damm
und seinem 2000-MegawattKraftwerk. Da in der Region nur
wenig Energie lokal erzeugt wird,
waren einige Landesteile nach
den Überschwemmungen für
mehrere Wochen vom Strom abgeschnitten. Die Regierung sollte
mit ihrer Strategie für erneuerbare Energien dafür sorgen, dass die
Energiequellen vielfältiger wer-
den und kleinere Solar- und
Windkraftanlagen die Versorgung
landesweit sichern helfen.
Doch was ist mit den 60 Prozent der Mosambikaner, die gar
nicht erst ans Stromnetz angebunden sind? Für sie kann sich
mit kleinen, lokalen Kraftwerken
für erneuerbare Energien vieles
ändern – wenn man sie mit einer
anderen Erfindung kombiniert:
mit Mobiltelefonen.
Wer in einem der üblichen
überfüllten Minibusse auf einer
der staubigen Straßen durch das
ländliche Mosambik unterwegs
ist, der sieht, dass die grün-braune Landschaft von roten und weißen Sprenkeln durchzogen ist. Es
ist das Logo des Mobilfunkanbieters Vodacom, das überall in frischer Farbe auf Gebäuden und
Läden prangt. Dieses Zeichen –
zusammen mit denen von mCell
und Movitel, zwei anderen wichtigen Anbietern in Mosambik –
zeugt davon, dass in vielen Gemeinden mobile Bezahlsysteme
und Mobiltelefone allgegenwärtig sind. Und jetzt steht es zunehmend auch für dezentrale Energieversorgung.
Wie hängt das eine mit dem
anderen zusammen? Solarzellen
und Batteriespeicher bringen immer mehr Leistung und werden
gleichzeitig immer billiger. SolarHeimsysteme sind deshalb heute
konkurrenzfähig mit Energie aus
Kerosin und Einmalbatterien,
den bisher wichtigsten Energiequellen in Haushalten ohne Anschluss ans Stromnetz. Kerosin
und Batterien sind auf Dauer
zwar teurer, aber sie haben einen
Vorteil: Bei Solaranlagen entfallen 99 Prozent der Kosten auf die
Investition, während bei Kerosin
2-2016 |
9
wolfgang ammer
kommentar standpunkte
Gabriel Davies
ist Analyst bei Augusta & Co, einer
Investmentbank in London, die auf
erneuerbare Energien spezialisiert ist.
Vorher war er unter anderem
Politikberater im britischen Energie­
ministerium. Der Text ist zuerst bei
„This is Africa” erschienen.
| 2-2016
letztlich nur Betriebskosten anfallen. Wer ein monatliches Einkommen von nur 50 Dollar hat,
kann sich selbst eine kleine Solaranlage für 100 Dollar einfach
nicht leisten. Er kann hingegen
fünf bis 15 Dollar pro Monat für
Kerosin oder Batterien ausgeben.
Hier kommt das Mobilfunkunternehmen Vodacom ins Spiel.
In vielen Ländern Afrikas werden
Geldgeschäfte längst über mobile
Bezahlsysteme wie M-Pesa abgewickelt. Auf diese Weise können
Solaranlagen einfach gemietet
oder in Raten bezahlt werden,
selbst von Kunden in den abgelegensten Regionen ohne Anschluss ans Stromnetz. So werden
aus den hohen Investitionskosten
tragbare Betriebskosten. Ähnlich
gehen Mobilfunkanbieter in den
reichen Ländern vor: Sie verkaufen teure Smartphones an Kunden, die sich das auf einen Schlag
nicht leisten könnten, indem sie
monatliche Ratenverträge anbieten. In Afrika ist M-Kopa Solar ein
Vorreiter der Idee, Menschen auf
diese Weise mit Solarenergie zu
versorgen. Das Unternehmen hat
mehr als 200.000 Kunden in Kenia, Tansania und Uganda.
An der Menge der insgesamt
erzeugten Energie im Land wird
dieses Modell nicht viel ändern;
es wird die Stromversorgung
nicht komplett umkrempeln.
Selbst wenn in Mosambik jeder,
der nicht ans Stromnetz angeschlossen ist, morgen eine ZehnWatt-Anlage kaufte, kämen all
diese Systeme zusammen nur auf
sechs Prozent der in Mosambik
produzierten Energie. Die Beratungsfirma McKinsey schätzt in
einer Studie, dass 2040 nur zwei
Prozent der gesamten Stromproduktion in Subsahara-Afrika aus
netzunabhängigen Quellen kommen wird.
Entscheidend ist aber, wem
dieser Wandel nutzen wird. Dieselbe McKinsey-Studie sagt voraus, dass diese zwei Prozent der
Stromproduktion ein Viertel der
Bevölkerung in Subsahara-Afrika
versorgen wird – im Jahr 2040
werden das 500 Millionen Menschen sein. Ein großer Teil von
ihnen wird seine eigenen Solarsysteme für zu Hause in regelmä-
ßigen Raten über das Handy bezahlen. Menschen, die nie die
Mittel dazu hatten, können so einen Kredit aufnehmen.
Die Zahlungen werden von
den Mobilfunkanbietern erfasst
und aufgezeichnet. Das Unternehmen, das ein Zehn-Watt-Solarsystem verkauft hat, wird auf
diesem Weg auch weitere Informationen sammeln, etwa darüber, wer sich ein 30- oder
100-Watt-System leisten kann –
und vielleicht sogar einen Kühlschrank, einen Fernseher, eine
Wasserpumpe oder ein Darlehen,
um in ein eigenes Unternehmen
zu investieren. Millionen ländlicher Haushalte wären mit dem
übrigen Wirtschaftssystem verbunden. Das war vorher nicht
möglich.
Netzunabhängige erneuerbare Energien stören den Markt
nicht – sie schaffen einen neuen.
Sie sind kein Luxus, sondern vielmehr ein Motor für Wachstum.
Entwicklungsländer können es
sich nicht leisten, darauf zu verzichten. Aus dem Englischen von Hanna Pütz.
10
standpunkte kommentar | leserbriefe
Nicht länger unter Männern
Beim Frieden für Syrien müssen Frauen mitreden können
Bislang waren die syrischen Frauen
außen vor, wenn über die Zukunft
ihres Landes verhandelt wurde.
Das muss sich jetzt ändern – und
die Zeichen stehen besser als vor
zwei Jahren.
Bereits vor gut zwei Jahren verhandelten in Genf Vertreter der
syrischen Regierung und der Opposition unter Leitung der Vereinten Nationen über einen Frieden für das vom Bürgerkrieg zerrüttete Land. Sie diskutierten
über Möglichkeiten, die Gewalt
zu beenden und eine Übergangsregierung einzusetzen. Die Zivilgesellschaft war damals nicht am
Konferenztisch vertreten – und
schon gar keine Frauen. Sie waren
ausgeschlossen von den Plänen
für die Zukunft ihres Landes. Das
ist nicht nur diskriminierend,
sondern auch kurzsichtig. Ihr
Wissen, ihre Erfahrungen und ihr
Einfluss blieben ungenutzt.
Dabei haben Aktivistinnen
2011 in Syrien ganz vorne mitgekämpft, um politische, wirtschaftliche und soziale Reformen einzufordern. Sie protestierten ge-
gen das herrschende Regime, und
sie formulierten Vorschläge für
den Aufbau einer gerechten und
stabilen Gesellschaft. Im November 2012 gründeten engagierte
Frauen aus dem gesamten politischen Spektrum das Forum „Syrische Frauen für den Frieden“. Sie
legten noch vor den Genfer Gesprächen im Januar 2014 eine
Friedenscharta vor. Darin fordern
sie, Waffenlieferungen nach Syrien und das Eindringen ausländischer Kämpfer und Terroristen zu
unterbinden. Sie treten dafür ein,
dass die Zivilgesellschaft bei der
Ausarbeitung einer neuen Verfassung eine wichtige Rolle spielen
muss. Und sie schlagen Programme vor, mit denen Flüchtlingen
eine Rückkehr in die zerstörte
Heimat ermöglicht werden soll.
Doch ihre Stimmen wurden
nicht gehört. Das muss im Verlauf
der gegenwärtigen Gespräche anders werden, und die Zeichen stehen etwas günstiger. Der UN-Syrienbeauftragte Staffan di Mistura
hat sich die Konvention zu Herzen genommen, laut der Staaten
verpflichtet sind, Frauen einen
Platz bei Friedensgesprächen und
vor allem beim Wiederaufbau
nach Konflikten einzuräumen.
Gemeinsam mit der schottischen
Regierung hat er eine Initiative
gestartet, um Frauengruppen für
die Teilnahme an den Syrien-Gesprächen zu qualifizieren. Diese
Initiative ist wichtig. Ihren Mut
und ihre Hartnäckigkeit haben
die Aktivistinnen schon vielfach
bewiesen. Beides brauchen sie
auch, um den politischen Eliten
die Stirn zu bieten und sich einen
Sitz am Verhandlungstisch zu ertrotzen. Dafür verdienen sie jede
Unterstützung. (gka)
Vielleicht befassen Sie sich einmal
intensiver mit der Fusion von Brot
für die Welt und dem Evangelischen Entwicklungsdienst (EED).
Der Eindruck kann trügen: EEDler
sind nur noch verschwindend gering zu finden; mit Herrn Henke
geht ein weiterer. Klarheit wäre
jedenfalls besser als Verschweigen
und Ausweichen – das nährt
Skepsis und Verdacht.
sammeln und auszuwerten. Vielleicht ist die Armutsmessung gar
nicht ein notwendiger Auslöser
für eine bessere Politik. Womöglich zeigt sie einfach im Nachhinein, woran es gelegen hat, dass
sich die Lebensverhältnisse in
vielen Teilen der Welt gravierend
verbessert haben. Hinschauen,
verstehen, daraus lernen. Ohne
eine vernünftige Datengrundlage
lösen sich gutgemeinte und kostspielige Maßnahmen viel zu oft
in Rauch auf, der den Blick auf die
Ursachen vernebelt.
Ergebnis erreichen könnte: soviel
Wertschöpfung im Erzeugerland
lassen wie möglich, damit die Bevölkerung Arbeit und gerechten
Lohn bekommt. Seit Beginn vieler
Aktionen vor 30 oder 40 Jahren
kaufen wir unseren Kaffee nur als
Fair Trade von meist konfessionellen Vereinigungen. Hier bekommen die Erzeuger einen fairen Preis und diese haben dann
auch keinen Grund ihre Heimat
zu verlassen. So weit so gut. Der
Rest wird aber in Europa gemacht.
Einen Schritt weiter ging man
bei „Solino“-Kaffee aus Hamburg.
Zusätzlich zu dem fairen Preis für
die Erzeuger wird der Kaffee in
Äthiopien geröstet und verpackt.
30 bis 35 Mitarbeiter werden damit beschäftigt. Ich frage mich,
wer von diesen vielleicht unter
den Flüchtlingen wäre, hätte er
nicht diesen Job.
leserbriefe
Der Antwort
ausgewichen
Zum Interview „Auf einem guten Weg“,
welt-sichten 11/2015
Ihre erste Frage an Tilman Henke
betrifft die „grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen über
die perspektivische Zusammenarbeit im Vorstand“. Ausdrücklich
fragen Sie noch: „Was verbirgt sich
dahinter?“ Herr Henke gibt darauf
keine Antwort; er weicht erkennbar mit einer privaten Perspektive
aus. Seine Antwort ist eine Missachtung jedes auch nur einigermaßen aufmerksamen Lesers.
Eine derartige Behandlung sind
wir zur Genüge von den Mächtigen in der Politik oder der Wirtschaft gewöhnt. Bitte dasselbe
nicht auch noch von der viel gelobten Zivilgesellschaft. Und Sie
lassen ihm das durchgehen, ohne
auch nur einmal ernsthaft nachzufragen. Auch nicht gerade ein
Glanzlicht journalistischer Arbeit.
Cay Gabbe, welt-sichten.org
Die Armut zu messen
macht Sinn
Zum Kommentar „Es geht nicht nur
ums Geld“, welt-sichten 11/2015
Wirtschafts-Nobelpreis für einen
Armutsforscher! Für einen notorischen Datensammler! Ist das
Messen und die Empirie vielleicht
doch wichtiger als gedacht? Angus Deaton hat sein ganzes wissenschaftliches Leben damit verbracht, Daten über Armut zu
M. Benninger, welt-sichten.org
Fair Trade hilft
Zum Interview „Wir müssen über die
Gefahren aufklären“, welt-sichten
10/2015
Im Interview mit Aminu Munkaila wird auf die Hintergründe der
Flucht aus Afrika hingewiesen.
Ein kleines Beispiel, wie man mit
wenigen Mitteln ein optimales
Peter Kobert, Bad Lippspringe
Die Redaktion freut sich über Leser­
briefe, behält sich aber vor, sie zu
kürzen.
2-2016 |
herausgeberKolumne standpunkte
Was nicht gemessen wird, wird nicht getan
Die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele braucht gute Indikatoren und Daten
Die UN-Nachhaltigkeitsziele sind unter Dach und Fach. Die bisher vorliegenden Indikatoren, an
denen die Umsetzung gemessen werden soll, machen Hoffnung, dass die Lage von Menschen
mit Behinderungen ausreichend beachtet wird.
Von Rainer Brockhaus
Es war ein historischer Moment
und ein Grund zum Feiern: Die
Verabschiedung der 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung
durch die Generalversammlung
der Vereinten Nationen (UN)
im vergangenen Jahr. Mit den 17
nachhaltigen Entwicklungszielen
(Sustainable Development Goals,
SDGs) haben sich alle 193 UN-Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, bis
zum Jahr 2030 extreme Armut zu
beenden, Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu bekämpfen und
den Klimawandel zu regulieren.
Deutschland muss die Statistikbehörden
in Entwicklungsländern finanziell
und technisch unterstützen.
Dr. Rainer Brockhaus
ist Direktor der ChristoffelBlindenmission Deutschland.
| 2-2016
Historisch besonders bedeutend ist, dass erstmals Menschen
mit Behinderungen in den globalen Entwicklungszielen berücksichtigt werden – ein Meilenstein
für die rund eine Milliarde behinderter Menschen weltweit.
Damit die 2030-Agenda Erfolg
hat, kommt es jetzt darauf an,
sie gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Gruppen zügig und
nachprüfbar umzusetzen. Denn 15
Jahre sind nicht viel Zeit, um die
ambitionierten Ziele zu erreichen.
Für die Umsetzung sind umfassende globale Messgrößen unerlässlich. Denn schon die Millenniumsentwicklungsziele aus dem
Jahr 2000 haben gezeigt: Was
nicht gemessen wird, wird nicht
getan.
Ein wichtiger Schritt in Richtung verbindlicher Messgrößen
ist das geplante Indikatoren-Rahmenwerk, das die UN-Statistik-
kommission im März verabschieden will. Eine Arbeitsgruppe hat
schon jetzt eine Liste mit Indikatoren vorgelegt. Als Leitlinie gilt,
dass alle Daten nach Einkommen,
Geschlecht, Alter, Ethnie, Migrationsstatus, Behinderungen und
geographischer Lage aufgeschlüsselt werden. Das heißt, es soll
möglichst für alle diese Bevölkerungsgruppen geprüft werden,
wie weit die Ziele erreicht sind.
Das ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber früheren Entwürfen und ein positives Signal,
das Hoffnung macht auf eine
wirklich inklusive Umsetzung
der Entwicklungsziele. Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Für
die Unterziele, die vor allem für
„besonders verletzliche Gruppen“
wichtig sind – etwa die Hungerbekämpfung –, gibt es kaum Indikatoren, die auf einzelne dieser Gruppen zugeschnitten sind,
seien es Kinder, alte Menschen
oder eben Menschen mit Behinderungen. Hier muss nachgebessert werden, um ein vollständiges
Monitoring zu ermöglichen und
die Umsetzung im Sinne der ursprünglichen Idee sicherzustellen.
Diese grundsätzlich richtige Definition der Indikatoren ist
aber nur dann sinnvoll, wenn
die Zielerreichung anhand hochwertiger und aktueller Daten
überprüft wird. Dass das in vielen Ländern schwierig ist, zeigt
der UN-Abschlussbericht zu den
Millenniumentwicklungszielen
aus dem vergangenen Sommer:
In vielen Entwicklungsbereichen
bestehen erhebliche Datenlücken,
und vorhandene Statistiken sind
häufig von schlechter Qualität,
nicht aktuell oder schlicht unzu-
reichend, um Veränderungen beispielsweise im Bereich Armut zu
überprüfen. Das führt dazu, dass
die Ärmsten in diesen Ländern
bis heute statistisch unsichtbar
sind.
Wir benötigen deshalb zur
Umsetzung der Entwicklungsagenda deutlich mehr belastbare
und tiefer aufgeschlüsselte Daten
– besonders zur Lebenssituation
von behinderten Menschen. Um
dies zu erreichen, muss einerseits
Deutschland mit gutem Beispiel
vorangehen und dem Statistischen Bundesamt mehr Mittel
und Personal zur Verfügung stellen. Andererseits muss die Bundesregierung die Statistikbehörden in Entwicklungsländern finanziell und technisch unterstützen sowie Fachpersonal ausbilden.
Eine ebenfalls zentrale Forderung an die Umsetzung und das
Monitoring der 2030-Agenda ist,
dass alle gesellschaftlichen Gruppen einbezogen werden. Dies
muss auch für Menschen mit Behinderungen gelten: Sie müssen
als aktiv gestaltende Kräfte einbezogen werden – und nicht bloß als
passive Objekte und Wohlfahrtsempfänger.
Die inklusive Umsetzung der
nachhaltigen Entwicklungsziele
verlangt ein grundsätzliches Umdenken in der Entwicklungszusammenarbeit: Einerseits müssen
mehr Projekte aufgelegt werden,
die sich an behinderte Menschen
richten. Andererseits müssen
bereits laufende Projekte in Richtung Inklusion nachgesteuert
werden. Das alles kostet weniger
Geld als oft gedacht; notwendig
sind spezielle Budgets für inklusive Projekte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
Nur wenn die Staatengemeinschaft die Umsetzung wirklich ernst nimmt, haben wir die
Chance, das Versprechen der
2030-Agenda einzulösen und
auch das Leben von einer Milliarde Menschen mit Behinderungen
weltweit zu verbessern.
11
12
schwerpunkt seuchen
Heillos überfordert
Die Ebola-Epidemie in Westafrika ist weitgehend vorbei.
Was hat die Staatengemeinschaft im Kampf gegen die Seuche
falsch gemacht? Und was hat sie daraus gelernt?
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
Von Sascha Karberg
E
Erschöpft vom Einsatz gegen Ebola:
Gesundheitshelfer ruhen sich Ende
2014 in einer Einrichtung des Roten
Kreuzes in Koidu, Sierra Leone, von ihrer
­aufreibenden Arbeit aus.
Baz Ratner/Reuters
| 2-2016
s begann im Dezember 2013 unter einem hohlen Baum in Guinea,
von der Welt unbemerkt. Ein Kleinkind steckte sich über den Kot
infizierter Fledermäuse mit dem Ebola-Virus an, gab die Erreger an
seine Familie weiter, und so verbreitete sich die Krankheit im ganzen
Dorf Meliandou. Es folgte die größte jemals registrierte Ebola-Epidemie.
11.316 Menschen starben in den westafrikanischen Ländern Guinea, Liberia und Sierra Leone an den Folgen des Fiebers, 28.638 Infizierte überlebten – so die offiziellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation
WHO (Stand: 17. Januar). Die Dunkelziffern dürften weit höher liegen.
Mitte Januar erklärte die WHO die Ebola-Epidemie in Westafrika für beendet; nur Stunden später wurde ein neuer Fall in Sierra Leone bekannt.
Der Versuch, einer Katastrophe dieses Ausmaßes etwas Gutes abringen zu wollen, muss zynisch erscheinen. Die Seuche hat Familien zerrissen und mehr als 22.000 Kinder zu Waisen gemacht. Die ohnehin marode Wirtschaft der Länder, in denen sie gewütet hat, liegt am Boden.
Die Gesundheitssysteme sind zusammengebrochen, weil so viele Ärzte,
Pfleger und Helfer im Kampf gegen das Fieber gestorben sind. Doch zugleich hat die Angst vor Ebola der Welt die Augen dafür geöffnet, wie
wenig sie auf solche Erreger vorbereitet ist. Sie hat den Zustand der
WHO offenbart: schlecht organisiert, träge und unterfinanziert. Und sie
hat gezeigt, wie kurzsichtig es von den Industrienationen ist, den Ausbau der Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern zu vernachlässigen. „Ein Weckruf“, so hat es der Multimilliardär und Stiftungsgründer
Bill Gates formuliert.
„Wir sind im Stich gelassen worden“, sagt Tankred Stöbe von „Ärzte
ohne Grenzen“. Schon im Frühjahr 2014 hatte die Hilfsorganisation vor
einer unkontrollierten Ansteckungswelle gewarnt und begonnen, in
den westafrikanischen Ländern Behandlungszentren und Isolierstationen aufzubauen. Die Weltgemeinschaft hingegen wurde erst richtig aktiv, als die Gefahr bestand, dass das Virus nach Europa oder in die USA
eingeschleppt werden könnte – erst im August 2014 rief die WHO den
Gesundheitsnotstand aus. Viel zu spät, sagt Ashish Jha, Professor für
Gesundheitspolitik an der Harvard School of Public Health. Jha ist einer
der Vorsitzenden einer unabhängigen Expertengruppe, die die Fehler
der WHO im Management der Ebola-Krise analysiert und Verbesserungsvorschläge erarbeitet hat.
Mit Kritik sparten die Experten nicht in ihrem Bericht, der Ende
2015 im medizinischen Fachblatt „Lancet“ veröffentlicht wurde. Katastrophen wie die Ebola-Epidemie zu bekämpfen sei eine der wichtigsten Aufgaben der WHO – ihre „Reputation und Glaubwürdigkeit“ habe
durch das Missmanagement des jüngsten Ausbruchs gelitten. Die Organisation müsse sich wieder auf ihre Kernaufgaben konzentrieren
und neu strukturieren. Die Verantwortlichen stellen sich der Kritik:
„Wir haben gehört, was die Welt von der WHO erwartet“, sagte die Generaldirektorin Margaret Chan bei der Eröffnung der Weltgesundheitsversammlung in Genf im vergangenen Jahr. Zwar bekämpfe die WHO
jährlich etwa 100 Ausbrüche und medizinische Notfälle, doch der Ebola-Ausbruch sei beispiellos und habe gezeigt, dass die Kapazitäten und
Methoden der Organisation nicht immer an derart schwierige Aufgaben angepasst werden können.
13
14
schwerpunkt seuchen
„Wir haben jetzt die historische Chance, aus den
Fehlern zu lernen“, ergänzte WHO-Berater Lawrence
Gostin von der Georgetown University in Washington. Schon im August letzten Jahres legte die WHO
einen Fünf-Punkte-Plan vor, um für künftige Krisen
besser gewappnet zu sein. Sie will unter anderem
mehr Gesundheitszentren sowie eine globale Einsatzgruppe für Gesundheitsnotfälle einrichten. Zudem soll ein neuer Fonds geschaffen werden als Baustein eines internationalen Systems zur Finanzierung der Seuchenbekämpfung und anderer medizinischer Notfälle. Um ihre Reformziele zu erreichen,
hat die WHO begonnen, ihren Notfallplan zu überarbeiten und in Informationstechnologien zu investieren, um das Krisenmanagement zu verbessern und
Daten für schnellere und bessere Entscheidungen zu
sammeln.
Doch nicht alle Versäumnisse sind der Weltgesundheitsorganisation zur Last zu legen. Als eine der
Kernursachen der Ebola-Epidemie nennen die Experten den schlechten Zustand der Gesundheitssysteme
in den betroffenen Ländern, vor allem das Fehlen einer Seuchenkontrollbehörde. Zwar hatte sich Guinea
wie viele andere Länder dazu verpflichtet, ein solches
Institut einzurichten, das bei Infektionskrankheiten
zuverlässig und schnell Hilfe organisieren könnte –
so wie es in den meisten Industrieländern selbstverständlich ist. Bis 2014 waren jedoch zwei Drittel aller
WHO-Mitgliedsländer dieser Verpflichtung nicht
nachgekommen.
Die Ebola-Epidemie hat klar gemacht, wie fahrlässig das ist – und auch, dass eine funktionierende medizinische Versorgung ein wirksamer Schutzschild
gegen Viren wie Ebola sein kann. Im Senegal und in
Nigeria, deren Gesundheitssysteme weit besser organisiert sind als die in Liberia, Guinea oder Sierra Leone, konnte trotz einiger Fälle eine Ausbreitung verhindert werden. Die Behörden hatten aufgrund der
bestehenden Strukturen schnell genug reagieren
können, um Kontaktpersonen zu Ebola-Erkrankten
zügig zu identifizieren und zu isolieren.
Als einen der Hauptgründe für das Ausmaß der
Ebola-Seuche sehen die Experten, dass die WHO den
internationalen Gesundheitsnotstand viel zu spät
ausgerufen hat. Das hängt wohl auch mit den Erfahrungen aus vergangenen Epidemien zusammen: Bei
der SARS-Epidemie in China 2003 und der Schweinegrippe 2009 hatten Reisewarnungen der WHO zu
Handelseinbußen der betroffenen Länder geführt.
Dafür mussten die Verantwortlichen teils harsche
Kritik einstecken.
A
ls sich die Ebola-Epidemie in Guinea anbahnte, spielten die örtlichen Behörden die Gefahr
aus Angst vor wirtschaftlichen Konsequenzen
herunter, so das Expertengremium um Harvard-Professor Ashish Jha. „Länder sind souverän und handeln im eigenen Interesse“, sagt Jha. „Aber wir haben
doch Institutionen wie die WHO genau dafür, Entscheidungen im Sinne der globalen Gesundheit zu
treffen.“
Die WHO ist nicht der Ansicht, sie habe den Gesundheitsnotstand zu spät ausgerufen. Sie begrüßt
aber den Vorschlag, eine Vorstufe einzurichten, um
die internationale Gemeinschaft früher auf eine Gesundheitskrise aufmerksam machen zu können,
ohne gleich den Notstand auszurufen. Allerdings
dürfen die Staaten dann auch keine überzogenen
Selbstschutzmaßnahmen ergreifen, die Hilfsmaßnahmen erschweren. Länder dürfen zwar Reisewar-
Links: Die WHO-Chefin Margaret
Chan muss sich scharfe Kritik an der
Arbeit ihrer Weltgesundheits­organi­
sation gefallen lassen.
Alain Grosclaude/Afp/Getty Images
Oben: Krankheitserreger können
von Tieren auf Menschen überspringen – nicht nur im Fall Ebola:
­Tierärzte impfen im September
2005 im Norden Vietnams ein Huhn
gegen die Vogelgrippe.
Reuters
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
nungen aussprechen und den Grenzverkehr kontrollieren, um die Ausbreitung der Viren zu verhindern.
Doch der Warenverkehr, Hilfstransporte und die Einund Ausreise von Ärzten und Hilfspersonal sollen
nicht behindert werden. In der Ebola-Krise haben viele Regierungen genau das getan: Sie schlossen die
Grenzen komplett, nachdem die WHO den Gesundheitsnotstand ausgerufen hatte.
Unter anderem um solche unvereinbaren Interessen in den Griff zu bekommen, wünschen sich die
Experten ausdrücklich einen „starken“ WHO-Direktor, der die nötigen Maßnahmen auch gegen die
machtvollsten Mitgliedsstaaten durchsetzen kann.
Ferner fordern sie, die Weltgesundheitsorganisation
im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu verankern, um Gesundheitsthemen mehr globale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wie diese Machtposition im Detail erreicht werden soll und wie sie sich
politisch durchsetzen lässt, lassen die Experten allerdings offen.
Konkreter ist die Forderung an internationale wie
nationale Einrichtungen der Forschungsförderung,
spezielle Fonds einzurichten, mit dem neue Impfstoffe und Medikamente gegen Ebola oder die Atemwegsinfektionen MERS und SARS erforscht werden
können. Denn in der Regel lohnt sich für die Pharmafirmen die Entwicklung von Mitteln gegen Erreger
nicht, die in Afrika in unregelmäßigen Abständen ein
paar hundert oder tausend Menschenleben kosten.
Auch Industrienationen investieren wenig in die Forschung zu Viren, die die eigene Bevölkerung nicht
oder kaum bedrohen.
Dass im Zuge der Ebola-Epidemie Impfstoffe gegen den Erreger erfolgreich getestet werden konnten,
lag einzig und allein daran, dass nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA viel
Geld zur Erforschung von potenziell biowaffentauglichen Viren zur Verfügung gestellt wurde. Nur des-
Als sich die Epidemie anbahnte,
spielten die Behörden die Gefahr aus Angst
vor wirtschaftlichen Folgen herunter.
Sascha Karberg
ist freier Wissenschaftsjournalist
im Journalistenbüro „Schnittstelle“
in Berlin.
| 2-2016
halb standen Impfstoff-Prototypen wie „ZMapp“ bereit, die künftig helfen können, eine neuerliche Epidemie einzugrenzen oder gar zu verhindern. Um die
Anstrengungen zu verstetigen hat die WHO Ende
letzten Jahres eine Blaupause auf den Weg gebracht,
wie Forschung und Entwicklung zwischen und während Ausbrüchen organisiert werden sollen.
Nicht berücksichtigt wird in den Reformvorschlägen der Experten die Rolle der örtlichen Religionsgemeinschaften. Das ist ein Versäumnis, denn die Ebola-Epidemie hat gezeigt, wie sehr der Glaube und seine Traditionen die Seuchenbekämpfung beeinflussen – oder unmöglich machen. So ist es in Guinea
üblich, sich von toten Familienangehörigen zu verabschieden, sie zu küssen, zu berühren, zu umarmen.
Allein der Vorschlag der Ärzte und Helfer, dies wegen
der Ansteckungsgefahr zu unterlassen, verstärkte das
ohnehin verbreitete Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Gesundheitsdiensten.
„Komplexe Wechselbeziehungen von Kultur, Tradition, Stigma, und Vorurteilen beeinflussen die Akzeptanz von Gesundheitsleistungen“, schreiben die
Gesundheitswissenschaftlerinnen Katherine Marshall und Sally Smith im Juli 2015 im „Lancet“. Glaubensgemeinschaften könnten ein Teil der Lösung
sein, wenn sie als vollwertige Partner einbezogen werden und ihre Kommunikationswege und ihr Wissen
einbringen. Die „Channels of Hope“ der Hilfsorganisation World Vision etwa verbreiten unter anderem
wissenschaftliche Informationen und binden muslimische und christliche Führer in ihre Arbeit ein. Auch
das Deutsche Institut für Ärztliche Mission in Tübingen und das Würzburger Missionsärztliche Institut
arbeiten mit religiösen Partnerorganisationen zusammen, um die Gesundheitsdienste in armen Ländern zu verbessern (siehe Interview Seite 16).
E
s ist offen, ob die Vorschläge der Experten verwirklicht werden und die Weltgemeinschaft in
die Lage versetzen, die nächste Epidemie wirksamer zu bekämpfen. „Wir hatten auch zuvor große
Ausbrüche und gründliche Auswertungen, aber die
Welt vergisst schnell“, sagt Ashish Jha. Sicher ist nur
eines: Der nächste Ausbruch kommt bestimmt. Er
kann von Viren wie MERS ausgelöst werden, das im
Sommer 2015 in Südkorea 36 Menschen das Leben
kostete, von einer der vielen Varianten des Grippeerregers oder von Viren, die Forscher noch nicht einmal kennen, weil sie bislang nur in Tieren kursieren
und nur noch nicht reif sind, auf den Menschen
überzuspringen.
Oder Ebola kommt zurück. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist größer denn je. Die Fledermäuse, die
den Virus übertragen, haben die Seuche offenbar
über das ursprüngliche Herkunftsgebiet Zentralafrika hinaus verbreitet, unter anderem nach Guinea, wo
die Krankheit zuvor unbekannt war. Ein zweites Reservoir sind die Überlebenden der Epidemie. Noch
Monate nach dem Abklingen des Fiebers finden Ärzte
die Viren in der Samenflüssigkeit, im Gehirn, im Innenauge und in den Gelenken. Zwar ist Ebola nach
dem bisherigen Forschungsstand nicht so leicht
durch sexuelle Aktivitäten übertragbar wie das Aids
auslösende HI-Virus. Doch zumindest in einigen Fällen scheint Geschlechtsverkehr der Übertragungsweg gewesen zu sein. Das Berliner Robert-Koch-Institut warnt deshalb, angesichts der hohen Zahl Überlebender könne nicht ausgeschlossen werden, dass
auch künftig neue Fälle von Ebola in Guinea, Sierra
Leone und Liberia auftreten.
Es sei keine Zeit zu verlieren, betonen die internationalen Gesundheitsexperten in ihrem „Lancet“-Artikel. Bereits nach der SARS-Epidemie in China und
dem Schweinegrippe-Ausbruch 2009 sei die Gelegenheit verspielt worden, die WHO schlagkräftiger
und effizienter zu machen. Geschehe dies erneut, stehe man der nächsten Epidemie „völlig unvorbereitet“
gegenüber.
15
16
schwerpunkt seuchen
„Das Vertrauen zurückgewinnen“
Erste Lehren aus der Ebola-Epidemie: Jedes kirchliche Krankenhaus in den betroffenen
Ländern hat jetzt einen Hygienebeauftragten. Was sich sonst noch verbessern muss, erklärt
die Direktorin des Deutschen Institutes für Ärztliche Mission (DIFÄM), Gisela Schneider.
Frau Schneider, was haben Sie und
Ihre Partner aus der Ebola-Epidemie gelernt?
Wir müssen selbstkritisch festhalten, dass viele der kirchlichen
Krankhäuser in Sierra Leone und
Liberia vernachlässigt waren. Wir
und andere Hilfswerke haben in
den vergangenen zehn, 15 Jahren
viel zu wenig in das Gesundheitssystem investiert. Die Einrichtungen hatten zu wenig qualifiziertes
Personal, Ausrüstung und Infrastruktur waren mangelhaft. In Liberia etwa waren vor dem Bürgerkrieg die kirchlichen Krankenhäuser die besseren. Die Qualität der
Versorgung hat auch gelitten, weil
viele Fachkräfte in andere Länder
abgewandert sind.
Das ändert sich jetzt?
Wir müssen dazu beitragen,
die örtlichen Gesundheitssysteme zu stärken. Unsere Partner legen wieder mehr Wert auf die
Qualität ihrer Einrichtungen. Bei
der Generalversammlung des
kirchlichen Gesundheitsnetzwerkes CHAL im November wurde
festgestellt, dass die Bevölkerung
die Krankenhäuser wieder häufiger aufsucht und deren Arbeit
schätzt. Kliniken, die während der
Epidemie aufgrund ihrer schlechten Ausstattung geschlossen waren, was vor allem in Sierra Leone
der Fall war, tun sich allerdings
schwer. Die Menschen in der Umgebung sagen, als wir euch am
meisten gebraucht haben, wart
ihr nicht da. Hier muss das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewonnen werden. Das ist ein
langwieriger Prozess.
Wie werden die Angebote verbessert?
Im vergangenen Jahr wurden
alle Mitarbeitenden in Infektionskontrolle aus- und weitergebildet.
Jedes kirchliche Krankenhaus hat
inzwischen einen Hygienebeauftragten, der sicherstellt, dass die
vorbeugenden Maßnahmen angewendet werden. Jeder Verdachtsfall wird sofort getestet, bis
das Ergebnis feststeht, werden
solche Patienten strikt isoliert.
Das hat in den vergangenen Monaten auch sehr gut geklappt.
Wie läuft die Kooperation zwischen kirchlichen und staatlichen
Einrichtungen?
In Liberia kann das Netzwerk
CHAL in vielen Gremien mitarbeiten. In Sierra Leone stuft der Staat
die kirchlichen Einrichtungen als
„privat“ ein und so fehlt es an Unterstützung. Aber auch hier finden Gespräche mit dem Gesundheitsministerium statt. Ziel muss
es sein, dass sich kirchliche Einrichtungen an der kostenfreien
Versorgung von Kindern und
Schwangeren beteiligen.
Was sind die nächsten Schritte für
das DIFÄM?
Das DIFÄM bereitet derzeit
mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit für jedes
der drei Ebola-Länder sogenannte
„Open-Space-Konferenzen“ vor.
Dort sollen sich Betroffene, Mitarbeitende im Gesundheitswesen
sowie Vertreter von Zivilgesellschaft und Staat darüber austauschen, wie die Gesundheitssysteme gestaltet sein müssen, um
von der Bevölkerung akzeptiert
zu werden und den Erfordernissen vor Ort zu entsprechen. Daraus sollen mittel- und langfristige
Projekte entwickelt werden, die
die Lage verbessern.
Muss man nicht schnell handeln,
um Infektionen vorzubeugen?
Im Moment ist die Wachsamkeit noch sehr hoch. Die Infektionskontrolle muss unbedingt aufrechterhalten werden. Dafür werden neben den Mitarbeitenden
im Gesundheitswesen auch ehrenamtliche Gesundheitshelfer in
den Dörfern eingesetzt. Zugleich
muss aber längerfristig in die Gesundheitssysteme investiert werden, weil deren Schwäche die
Menschen so verwundbar für
Ebola gemacht hat.
Tausende haben das Fieber überlebt. Welche Hilfe brauchen sie?
Ebola-Überlebende haben oft
körperliche Symptome. Eine Folge
ist die Entzündung der Regenbogenhaut im Auge, einige der Erkrankten sind erblindet. Rechtzeitige Behandlung kann hier Abhilfe schaffen. Das wird routinemäßig untersucht und behandelt.
Hinzu kommen posttraumatische
Störungen, die Menschen fühlen
sich über lange Zeit schwach,
mental und psychisch erschöpft.
Viele sind stigmatisiert. Um ihre
Anliegen kümmern sich örtliche
Unterstützergruppen.
Gibt es auch spezielle Behandlungen für Traumatisierte?
In der katholischen LorettoKlinik in Makeni in Sierra Leone
kümmern sich auf die Behandlung
von psychischen Störungen spezialisierte Krankenschwestern um
Ebola-Überlebende. Sie bieten
Sprechstunden an und besuchen
Betroffene auch in umliegenden
Dörfern. In Liberia sollen Teilneh-
Gisela Schneider leitet das DIFÄM
seit 2007. Sie war während der
Ebola-Epidemie mehrfach in Liberia
und Sierra Leone, zuletzt im
November 2015 mit einer
Delegation der Europäischen Union.
mende des nach dem Bürgerkrieg
aufgelegten Friedens- und Versöhnungsprogramms für solche Aufgaben weitergebildet werden.
Wie haben sich die Kirchen mit
ihren Zeremonien auf Ebola eingestellt?
Im Moment werden noch immer sichere Beerdigungen abgehalten, die Leichen werden nicht
gewaschen und in Leichensäcken
begraben. Das Beerdigungsteam
trägt zum Teil noch Schutzkleidung. Die Angehörigen dürfen dabei sein, aber nicht so nahe herankommen. In einem Gottesdienst
in Monrovia habe ich erlebt, wie
sehr das Desinfizieren der Hände
bereits Teil der Abendmahlsliturgie geworden ist.
Wie groß ist die Gefahr, dass die
Welt die Lehren aus Ebola schnell
wieder vergisst?
Wir werden nicht alles auf
dem derzeit hohen Niveau halten können. Positiv gestimmt haben mich Äußerungen bei einem
Meeting der WHO im Dezember,
wonach sie realisiert haben, welche starke Rolle die Zivilgesellschaft und die nichtstaatlichen
Organisationen in der Gesundheitsversorgung spielen und dass
man mit ihnen kooperieren muss.
Wenn das verwirklicht wird, ist
schon viel gewonnen.
Das Gespräch führte
Gesine Kauffmann.
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
Die Angst wirkt lange nach
Die Ebola-Epidemie hat in Sierra Leone tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen.
Nach ihrem Ende müssen moderne Medizin und traditionelle Heiler ein neues Verhältnis
zueinander finden.
Von Luisa Enria
A
ls Westafrika Mitte Januar für Ebola-frei erklärt wurde, verhieß dies das Ende einer beispiellosen Seuchenkrise in der Region. Mindestens 28.638 Menschen hatten sich bis dahin mit
dem Virus angesteckt, 11.316 waren daran gestorben.
Unter den Überlebenden haben viele noch immer
erhebliche Gesundheitsprobleme oder werden ausgegrenzt.
Jetzt, da in Guinea, Sierra Leone und Liberia nach
fast zwei Jahren nur noch sehr vereinzelt neue
Krankheitsfälle verzeichnet werden, können die
Menschen über ihre Zukunft jenseits von Ebola
nachdenken. Dabei stehen sie vor der enormen Anforderung, ihren Wunsch nach Rückkehr zum „normalen Leben“ mit den Bemühungen zu vereinbaren,
entstandene Brüche und Konflikte zu heilen.
Auf dem Höhepunkt der Epidemie funktionierte
in Sierra Leone gar nichts mehr. Über die geschäftige, normalerweise von chaotischem Verkehr geprägte Hauptstadt Freetown verhängten die Behör-
Ein traditioneller Heiler behandelt
2013 in Freetown einen ­Patienten.
Während der Ebola-Epidemie
­durften Heiler nicht praktizieren.
Mattia Zopellaro/Laif
| 2-2016
den im März 2015 eine dreitägige Ausgangssperre,
um der Ausbreitung der Krankheit Herr zu werden.
Außerdem erklärten sie den Ausnahmezustand und
erließen eine Sperrstunde. Die Geschäfte öffneten
nur noch wenige Stunden am Tag, Versammlungen
und Feiern waren verboten, und entgegen allen Landessitten sollten die Menschen von Sierra Leone mit
einem Mal jeden Körperkontakt vermeiden. Es fiel
ihnen schwer, einander nicht mehr die Hand zu geben, und noch schwerer, ihre Angehörigen gerade in
den harten Stunden der Krankheit nicht mehr tröstend in die Arme schließen zu können.
Die Wirtschaft kam zum Erliegen, Investoren zogen sich zurück, Entwicklungsprojekte wurden eingestellt. Die Arbeitslosigkeit, die schon vor dem
Ebola-Ausbruch hoch war, stieg rasant. Viele meist
junge Menschen, die sich mit kleinen Straßengeschäften durchgeschlagen hatten, standen praktisch vor dem Nichts. Viele brachten gerade die
Krankenhäuser mit dem Übel in Zusammenhang
17
18
schwerpunkt seuchen
in den Bars, Teehäusern und an den Imbiss-Ständen,
die Sperrstunde wurde aufgehoben. Große Märkte
wie der von Bamoi Luma im Distrikt Kambia im
Nordosten öffneten wieder, und das brachte auch die
Wirtschaft wieder auf Touren. Auch Waren aus Guinea kamen erneut über die Grenze, und die kleinen
Händler hatten keine Angst mehr, in die Dörfer zu
fahren und den Bauern ihre Produkte abzukaufen.
Das Angebot an Lebensmitteln verbesserte sich, so
dass Großhändler keine Wucherpreise mehr verlangen konnten. Junge Leute organisierten die gewohnten Partys, fast noch öfter als vor dem Ausbruch von
Ebola – als gälte es, die verlorene Zeit aufzuholen. Wie
zuvor kündigten sie die Veranstaltungen an, indem
sie in überfüllten Autos und mit dröhnenden Musikanlagen durch die Straßen fuhren.
Inzwischen verzeichnen auch die Krankenhäuser
wieder fast so viele Patienten wie vor Ausbruch der
Ebola-Epidemie. Die Menschen verbinden Gesundheitseinrichtungen nicht mehr vorrangig mit der
Oben: Einwohner von Kailahun
warten Ende 2014 auf Pässe, mit
denen sie die Quarantäne-­Gebiete
des Distriktes verlassen dürfen.
Mitte: Ebola hat Begräbnisse
­ efährlich gemacht; Freiwillige
g
­bestatten ein Opfer in Waterloo
südöstlich von Freetown.
Rechts: Die Seuche hat Märkte lahm­gelegt wie diesen in Freetown 2008.
Nach dem Abklingen der Epidemie
kommt der Handel wieder in Gang.
afp/Getty Images (2); Reuters
und vermieden es, dorthin zu gehen – auch aus
Angst, fälschlich als Ebola-infiziert zu gelten und zusammen mit Ebola-Patienten in die Quarantänestation gezwungen zu werden. Verschwörungstheorien
machten die Runde. So hieß es, dass internationale
Organisationen oder die Regierung von Sierra Leone bewusst die Seuche verbreitet hätten, um die Bevölkerung zu dezimieren. Entsprechend begegnete
man Gesundheitseinrichtungen und ihren Mitarbeitenden mit Misstrauen.
A
uf den Straßen türmten sich derweil die Leichen. Unterfinanzierte, schlecht ausgestattete Bestattungstrupps waren überfordert und
kaum in der Lage, angemessen auf diese Situation zu
reagieren. Schon fragten sich einige, ob nicht ein
Fluch über dem Land lag, das sich noch immer nicht
ganz von dem Bürgerkrieg der Jahre 1991 bis 2002
erholt hatte.
Doch dann ebbte im Sommer 2015 die Epidemie
langsam – viel zu langsam – ab. Betroffene meldeten
sich nun doch zeitiger in den Behandlungszentren.
Viele hielten die Regeln zur Vermeidung einer Ansteckung, auf die sie zuvor mit Skepsis reagiert hatten,
nun ein. Die Hilfskräfte vor Ort hatten im Umgang
mit Problemen bislang unbekannten Ausmaßes gelernt, wie man die Bevölkerung in den Kampf gegen
die Krankheit einbindet.
Am 7. November 2015 wurde Sierra Leone zum
ersten Mal für von Ebola frei erklärt. Mitte Januar trat
zwar erneut ein Fall auf, doch zumindest oberflächlich betrachtet kehrte bemerkenswert schnell die
Normalität zurück. Die Menschen trafen sich wieder
Seuche. Aber die Rückkehr zur Normalität in Sierra
Leone bedeutet auch, dass in den Ortschaften, in denen Seuchenhelfer zu wichtigen Arbeitgebern geworden waren, viele Menschen entlassen wurden. Sie
haben kaum Aussicht auf eine andere Stelle. Stattdessen werden wohl auch sie in die bereits aus allen Nähten platzenden Städte ziehen. Die Gelassenheit, die
wieder in die ländlichen Gebiete eingezogen ist, steht
in scharfem Kontrast zu der vorherigen Anspannung,
eine große Gemeinschaftsaufgabe bewältigen zu
müssen.
Noch lässt sich nicht sagen, welche Folgen die
Ebola-Krise auf Dauer für die Gemeinden haben
wird; sie reichen möglicherweise tiefer, als es zunächst scheint. Bereits an dem Tag, als das Ende von
Ebola verkündet wurde, entbrannte in der Stadt Kam-
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
Während des Ebola-Ausbruchs durften traditionelle Heiler vielerorts nicht praktizieren, und man
warnte die Bevölkerung, dass sie sich gerade bei ihnen mit der Krankheit anstecken könnten. Die traditionelle Medizin wurde so im Vergleich mit der modernen westlichen Medizin als Relikt der Vergangenheit dargestellt. Nun wird in Sierra Leone darüber
debattiert, wie wichtig es ist, die Kenntnisse der Einheimischen über Heilkräuter in die modernen Behandlungsmethoden einzubinden.
Den Menschen aber wurde während der Ebola­
krise eine klare Hierarchie des Wissens vermittelt.
Die Folge ist, dass nun kaum noch jemand zugeben
will, zu einem Heiler zu gehen aus Angst, für rückständig, dumm oder fortschrittsfeindlich gehalten
zu werden. Die Heiler, denen jahrelang ein Auskommen an der Seite der modernen Gesundheitsdienste
versprochen wurde, fühlen sich jetzt um ihre Patienten geprellt und an den Rand gedrängt.
bia eine heftige Debatte darüber, ob es angebracht sei,
dieses Ereignis zu feiern. Einige fanden das taktlos
gegenüber den Toten und jenen, die Familienangehörige verloren hatten. Eine Gemeinde gab einer gemeinsamen Trauerfeier den Vorzug vor lautem Jubel
auf den Straßen.
Die Epidemie hat nicht nur Menschenleben gekostet. Sie hatte auch spürbare Auswirkungen auf das
soziale Leben und das Vertrauen der Menschen zueinander. So mussten die Hilfskräfte im Laufe der Epidemie sämtliche Krankheits- und Todesfälle den Behörden melden. Auch wenn dies für die Eindämmung
der Krankheit wichtig war, sahen viele darin einen
Vertrauensbruch. Bestenfalls hielten sie die Notfallhelfer für bloße „Klatschmäuler“; teilweise warfen sie
ihnen aber auch vor, zu ihrem eigenen Vorteil Seuchenfälle erfunden zu haben. Auf dem Höhepunkt
der Krise wurden Helfer auch gewaltsam angegriffen.
Manche fürchten noch immer, dass die Familien der
von ihnen gemeldeten Kranken an ihnen Rache nehmen könnten.
K
Luisa Enria
ist Wissenschaftlerin an der
London School of Hygiene and
Tropical Medicine. Sie erforscht
zurzeit, wie der Test einer
Ebola-Impfung im Norden Sierra
Leones von der Bevölkerung
akzeptiert wird.
| 2-2016
risen können mitunter produktiv sein und
viel schnellere Veränderungen anstoßen als
von oben verordnete Maßnahmen. Wie so oft
kann man aber auch in diesem Fall die vielschichtigen Änderungen erst nach einiger Zeit ermessen.
Ein Paradebeispiel ist die zwiespältige Rolle der
westlichen Medizin während der Epidemie. Mit dem
internationalen Großeinsatz zur Bekämpfung des
Virus wurde eine Vielzahl von Botschaften verbreitet, die darauf abzielten, das Verhalten der Menschen im Krankheitsfall zu ändern. Am wichtigsten
sei es, ein Krankenhaus aufzusuchen, hieß es. Vor
dem Ausbruch von Ebola gingen viele Menschen,
die krank wurden, zunächst zu einem traditionelle
Heiler – sei es, dass sie kein Geld für das Krankenhaus hatten, sei es, dass sie überzeugt waren, gewisse Krankheiten ließen sich besser „traditionell“ behandeln.
G
enauer betrachtet hat Ebola die traditionelle
Medizin allerdings nicht einfach nur abgewertet, sondern eine tiefgreifende und wichtige Debatte über den Wert verschiedener Arten von
Kenntnissen und Methoden in der Gesundheitsfürsorge angestoßen. Viele gehen weiterhin zu Heilern,
auch wenn sie es nicht öffentlich zugeben wollen,
und stellen damit für sich den Wert der westlichen
Wissenschaft in Frage. Anfangs, so sagen sie, habe
man den Menschen verkündet, es gäbe keine Heilung für Ebola, sie aber trotzdem aufgefordert, ins
Krankenhaus zu gehen. Das wurde weithin als Widerspruch empfunden und weckte Misstrauen.
Auch verweisen viele Menschen darauf, dass die
Mediziner sich selbst nicht über die Nachwirkungen
der Krankheit einig werden, weshalb sie ständig neue
Empfehlungen herausgeben (beispielsweise was ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Überlebenden
betrifft). Andere stellen dem Idealbild der Krankenhäuser die Wirklichkeit des heruntergekommenen,
unter Geldmangel und Missmanagement leidenden
Gesundheitswesens gegenüber. Für viele Bürger Sierra Leones hat der Ebola-Ausbruch einmal mehr deutlich gemacht, was sie längst wissen: Dass das Gesundheitssystems des Landes seiner Aufgabe nicht gewachsen ist.
Die derzeitige Debatte über die Gesundheitsversorgung deutet auf ein tieferes Problem: Während
vordergründig das Leben nach Ebola wieder zur
Normalität gefunden hat, hängt die Zukunft von der
Bereitschaft ab, von der Krise eröffnete Spielraume
zu nutzen. Vor allem gilt es, ein Gesundheitssystem
aufzubauen, dem die Menschen wieder vertrauen
können. Es muss auch die Stärken und die Vielfalt
der zahlreichen schon vorhandenen Anbieter von
Gesundheitsleistungen einbeziehen. Es bedarf also
einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den
vielschichtigen Überzeugungen und Erfahrungen
der Menschen. Es kann nicht bloß darum gehen,
von ihnen oberflächliche Verhaltensänderungen zu
fordern.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
19
20
schwerpunkt seuchen
Ein Dorf hält das Virus fern
In Malema hat Ebola kein einziges Opfer gefordert. Der erfolgreiche Kampf gegen die Seuche
hat die Gemeinschaft enger zusammen­
geschweißt.
D
as Dorf Malema liegt inmitten
einer
großen
Palmölplantage nordwestlich der liberianischen Hauptstadt
Monrovia. Seinen Einwohnern ist
es gelungen, die Seuche fernzuhalten – indem sie sich organisierten, präventive Maßnahmen trafen und sich strikt daran hielten.
Mobile Gesundheitsteams klärten
über Ansteckungsrisiken und
Schutzmaßnahmen auf. So wurde
davor gewarnt, Buschfleisch zu essen, außerdem sollten sich die
Dorfbewohner von pflanzenfressenden Fledermäusen fernhalten.
Eltern hielten ihre Kinder während der Regenzeit davon ab, nach
draußen zu gehen und frische
Mangos zu essen. Sie fanden Möglichkeiten, sie im Haus zu beschäftigen. Die ganze Gemeinschaft
bemühte sich zudem darum, die
Umgebung sauber zu halten, um
die Ausbreitung anderer Krankheiten zu verhindern.
Doch bald schürten Gerüchte neue Ängste und Misstrauen
gegenüber jedem, der das Dorf
betreten wollte: Angeblich hatten Leute aus anderen Teilen des
Landes Wasserquellen vergiftet,
um die Zahl der Todesfälle zu
erhöhen. Die Bewohner von Malema organisierten deshalb eine
Bürgerwehr, die die Wasserpumpe der Gemeinde Tag und Nacht
bewachen sollte. Die Männer, die
die Nachtschichten übernahmen,
bekamen dafür ein Abendessen.
Dazu steuerten alle etwas bei, teils
auch kleinere Geldbeträge, etwa
für die Batterien der Taschenlampen.
Dennoch wuchs das Misstrauen. Jede Familie versuchte, weitgehend unter sich zu bleiben. Selbst
das gemeinsame Essen, früher ein
wesentlicher Bestandteil des Dorflebens, wurde schwierig. Niemand
wollte mehr etwas zu sich nehmen, das außerhalb der eigenen
Familie zubereitet worden war.
Auch die Mahlzeiten für die Bürgerwehr wurden nur noch unter
deren Aufsicht gekocht. Zum Essen brachten alle ihre eigenen Teller und Löffel mit – früher hätte
das als seltsam gegolten. Die
selbstauferlegte Isolation hatte ei-
Trotzdem wurden die strengen
Regeln akzeptiert. Die Angst vor
Ebola überwog.
Auch auf die Wirtschaft wirkte
sich die Abschottung aus. Lebensmittel aus der Hauptstadt wurden
kritisch beäugt, so dass viele
Händler keinen Umsatz mehr
machten. Immer mehr Waren gerieten in Verdacht, vergiftet zu
sein – die Menschen wollten keinen Fisch mehr essen und strichen zeitweise sogar Salz vom
Speiseplan. Die Frauen hörten
Einwohnerinnen von Malema erzählen bei einem
Treffen der nichtstaatlichen Bildungsorganisation NAEAL,
wie sie ihr Dorf vor Ebola bewahrt haben.
Mehmet Kutlu
nen hohen sozialen Preis. Fremde
wurden von Malema ferngehalten – vor allem Menschen aus
Monrovia, wo die Seuche besonders stark grassierte. Tagsüber bewachten Frauen die Straße, die
zur Gemeinde führt; Neuankömmlinge wurden zu ihrer Herkunft befragt. Damit wurde es zugleich für Reisende aus der Gemeinde schwieriger, wieder zurückzukehren. Viele Einwohner
von Malema konnten ihre Verwandten in Monrovia und anderen Teilen Liberias nicht mehr
treffen. Die Schule im Dorf blieb
geschlossen; die Kinder mussten
mehr als sieben Monate zu Hause
verbringen, und wurden dort
auch, so gut es ging, unterrichtet.
auf, Kohle herzustellen, weil im
Dorf niemand mehr welche kaufen wollte, man verwendete lieber
Feuerholz zum Kochen. Und die
Kunden aus Monrovia wurden
nicht ins Dorf gelassen. Sogar die
Arbeit auf der umliegenden
Palmölplantage wurde eingestellt.
Seit kurzem kehrt das Dorf
schrittweise zum gewohnten Leben zurück. Der Handel wurde
wiederbelebt, doch die Landwirtschaft liegt noch brach. Etliche
Farmer haben einen großen Teil
ihrer Werkzeuge verloren, die sie
während der Ebola-Monate auf
den Feldern zurückgelassen hatten. Auch wenn keine neuen Ebola-Fälle mehr gemeldet werden, ist
es nicht leicht, das Vertrauen ins
Gesundheitssystem wiederherzustellen. Während einer Kampagne
gegen Polio lehnten viele eine
Impfung ab: Gerüchte hatten die
Runde gemacht, denen zufolge
Kinder sich so mit dem Ebola-Virus infizieren würden.
Angst und Misstrauen schützten die Gemeinde während des
Ebola-Ausbruchs. Nun hindern sie
die Menschen daran, zu ihrem Alltag zurückzukehren. Die Erleichterung über das Ende der EbolaEpidemie ist groß, doch es wird
dauern, bis die emotionalen und
sozialen Wunden geheilt sind. Die
Angst ist noch immer da. Manche
berichten, sie seien zwar äußerlich zu ihren Geschäften zurückgekehrt. Doch es sei nicht gut, irgendwo alleine zu sitzen. Dann
fange man, nachzudenken und
sich zu ängstigen, erzählen sie.
Andere fühlen sich durch Lieder im Radio an die schwere Zeit
erinnert und nutzen die Gelegenheit, um mit der Familie oder den
Nachbarn darüber zu sprechen. Es
scheint, als hätten viele Einwohner von Malema im Glauben Halt
gefunden. Christen und Muslime
kamen während der Ebola-Epidemie zusammen, um gemeinsam
zu fasten und zu beten. Die meisten empfinden tiefe Dankbarkeit
dafür, dass ihre Gemeinde verschont wurde. Auch wenn manches dazu geführt hat, dass sich
die Menschen voneinander entfernt haben, bleibt doch auch ein
Gefühl des Zusammenhalts zurück. Einige der Schutzmaßnahmen wie Hände waschen und putzen hat Eingang in die alltägliche
Routine gefunden.
In den vergangenen Monaten
flackerten immer wieder Nachrichten über Ebola in Liberia und
den Nachbarländern auf. Viele haben Angst, dass die Seuche zurückkehren könnte. Die Menschen in Malema leben in einem
Zwischenstadium: Sie haben wieder mehr Freiheiten, doch sie sind
in ständiger Alarmbereitschaft. Jehoshaphat Dogolea
und Rebecca Hackstein
Aus dem Englischen von Hanna Pütz.
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
In vielen
Ländern sind
Antibiotika
rezeptfrei
erhältlich – so
auch in Indien:
Apotheke in
Bharatpur,
Rajasthan.
Christian Hütter/
Lineair
Die Abwehr der Bakterien
Von Barbara Erbe
Antibiotika haben die
Behandlung von Infektionskrankheiten weltweit
revolutioniert. Doch immer
mehr Bakterien sind heute
gegen sie resistent.
| 2-2016
W
enn sich die Helferinnen und Helfer von
Ärzte ohne Grenzen in Indien um Menschen mit Tuberkulose (TB) kümmern,
stehen sie oft vor einer heiklen Wahl. Viele der üblichen Antibiotika wirken nicht mehr, weil die Krankheitserreger resistent gegen sie geworden sind. Daher müssen die Mediziner immer häufiger auf weniger effiziente oder ältere Mittel zurückgreifen. Sie
müssen bis zu zwei Jahre lang eingenommen werden und können schwere Nebenwirkungen verursachen. Das TB-Medikament Kanamycin etwa greift
das Gehör an, und zwar so stark, dass die Patienten
schwerhörig oder sogar taub werden. „Ob in Zentralasien, Osteuropa oder in jordanischen Flüchtlingslagern, immer häufiger hindern antimikrobielle Resistenzen uns daran, Infektionskrankheiten
wirksam zu bekämpfen“, sagt Philipp Frisch, Koordinator der Medikamentenkampagne bei Ärzte ohne
Grenzen.
Unempfindlichkeit gegen Antibiotika ist eine biologische Eigenschaft, die im Erbgut vieler Bakterienstämme festgelegt ist und damit bei der Vermehrung weitergegeben wird. Aber wie entsteht sie? Bei
der Vermehrung von Bakterien komme es immer zu
zufälligen genetischen Veränderungen, sagt Martin
Exner, Professor am Institut für Hygiene und Öffent-
liche Gesundheit der Universität Bonn. „Der verbreitete Einsatz von Antibiotika hat nun weltweit und
über Jahrzehnte zu einer Selektion geführt, also zu
einem Überlebensvorteil für Bakterienstämme, die
gegen eine wachsende Zahl von Wirkstoffen resistent
sind.“ Die anfangs nur zufällig resistenten Bakterien
verdrängen langsam aber sicher die empfindlicheren
Stämme. Denn sobald der Organismus, den sie besiedeln, mit Antibiotika in Kontakt kommt, haben sie
die besseren Überlebenschancen und können sich
stärker vermehren.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt
derweil, dass 700.000 Menschen jährlich an Infektionen mit multiresistenten Erregern sterben – also
mit Erregern, die gegen eine ganze Reihe von Antibiotika unempfindlich sind. Im Jahr 2050, so befürchtet
sie, könnten es zehn Millionen sein. Dass der weltweite Verbrauch von Antibiotika nach wie vor steigt, verschärft das Problem. Laut der britischen MedizinFachzeitschrift „Lancet“ ist er zwischen 2000 und
2010 um 36 Prozent gewachsen. Der Anstieg geht vor
allem auf das Konto der Schwellenländer Brasilien,
Russland, Indien, China und Südafrika, wo Antibiotika in den vergangenen Jahren deutlich erschwinglicher geworden sind, ihr Einsatz aber kaum reguliert
wird.
21
22
schwerpunkt seuchen
Die Ursachen für die Misere sind vielfältig. Häufig werden Antibiotika falsch und vorschnell verordnet. Das kann ein Baby in einem Industrieland mit einer fiebrigen Erkältung sein, damit es schnell wieder
die Krippe besuchen kann. Oder ein fieberndes Kind
in einer dürftig ausgestatteten Gesundheitsstation
eines südostasiatischen Schwellenlandes erhält vorsorglich ein Antibiotikum, ohne dass eine richtige
Diagnose gestellt wurde. „Wenn die Diagnosemöglichkeiten unzureichend sind, ist der präventive Griff
zum Antibiotikum oft die Regel“, erläutert Philipp
Frisch.
Das Geschäft mit Antibiotika ist für
Pharmakonzerne wenig lukrativ. Deshalb
investieren sie kein Geld in neue Mittel.
In vielen Ländern sind Antibiotika nicht verschreibungspflichtig, sondern in Drogerien, Apotheken oder bei Straßenhändlern frei erhältlich. Ihre Abgabe wird vielerorts kaum kontrolliert. Gleichzeitig
weiß eine große Zahl von Patienten nicht, in welchen
Fällen Antibiotika helfen und wie sie korrekt angewendet werden müssen. So gehen laut dem diesjährigen WHO-Bericht über antimikrobielle Resistenzen
drei Viertel der in Indien Befragten davon aus, dass
Antibiotika Erkältung und Grippe bekämpfen – obwohl sie gegen Viren nichts ausrichten können, sondern nur gegen Bakterien wirken. Mehr als die Hälfte
der in China Befragten gaben an, die Behandlung mit
Antibiotika abzubrechen, sobald es ihnen besser
gehe.
Mediziner werden dagegen auch in den Industrie­
ländern nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, die
Medikamente bis zum Ende des vorgeschriebenen
Gefährliche Keime in Deutschland
In Deutschland spielen Keime, die gegen Antibiotika resistent sind, noch eine deutlich geringere Rolle als in den ärmeren Ländern Afrikas und Asiens. Das liegt daran,
dass Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie oder schwere Durchfallerkrankungen in den Industriestaaten weniger weit verbreitet sind. Zu Problemkeimen können multiresistente Erreger aber auch hierzulande werden: Für Patienten,
die durch eine schwere Grunderkrankung geschwächt sind und den Keimen mit einer Operationswunde, einem Harnkatheter oder dem Anschluss an ein Beatmungsgerät eine Eintrittspforte bieten.
„Längst nicht jeder, der von dem Keim besiedelt ist, wird auch infiziert“, betont
Christian Brandt, der Sprecher der Ständigen Arbeitsgemeinschaft Allgemeine und
Krankenhaushygiene der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie.
Dennoch gilt: „Je mehr Menschen die Keime in sich tragen, desto größer ist die Gefahr von Infektionen.“ In Deutschland gilt deshalb seit 2008 die von der Bundesregierung eingesetzte Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie (DART). Darunter werden die Aus- und Fortbildung der Ärzte, Hygienemaßnahmen, die Anwendung von
Antibiotika sowie die Diagnostik überwacht und die Entwicklung neuer Antibiotika
und alternativer Arzneimittel unterstützt. Sie ist in die Antibiotika-Resistenzstrategie der WHO eingebunden. (erb)
Zeitraums einzunehmen. Nur so können sie ihre volle Wirkung entfalten und es können keine Bakterien
überleben, die anschließend Resistenzen weitergeben könnten.
Darüber hinaus wird die Arzneimittelqualität
vor allem in ärmeren Ländern nur unzureichend
überwacht. Die Folge ist, häufig unbeabsichtigt, eine
falsche Dosierung, die ebenfalls Resistenzbildungen
fördert. Dasselbe geschieht, wenn sich mehrere Mitglieder einer Familie aus Kostengründen ein Antibiotikum teilen oder wenn Packungsreste an andere
weitergegeben werden. „Dann bekommt jeder nur
eine Teildosis, die dazu führt, dass sich die Bakterien,
die eigentlich bekämpft werden sollen, besser gegen
das Medikament wappnen können“, erklärt Philipp
Frisch.
Aber nicht nur in der Humanmedizin besteht
Handlungsbedarf. Auch die Tierhaltung trage weltweit entscheidend dazu bei, dass Mikroben Resistenzen entwickeln, erläutert Maria Vehreschild von der
Deutschen Gesellschaft für Infektiologie. „Es ist unstrittig, dass bestimmte resistente Bakterien oder
ihre Resistenzgene aus der Landwirtschaft, vor allem
der Tiermast, auf den Menschen übertragen werden.“
Dennoch werden Antibiotika weltweit und auch in
Deutschland in der Massentierhaltung eingesetzt –
vor allem, um möglichen Infektionen im Stall vorzubeugen, in einigen Ländern aber auch, um den Stoffwechsel von Masttieren so zu beeinflussen, dass sie
schneller an Gewicht zulegen. „Wenn Mensch und
Tier dann auch noch auf sehr engem Raum zusammenleben, steigt die Gefahr, dass Resistenzen sich
übertragen.“
Erschreckende Neuigkeiten kamen vor kurzem
aus China. Laut „Lancet“ stießen Wissenschaftler verschiedener chinesischer Universitäten bei der Untersuchung von Darmbakterien erstmals auf sogenannte Plasmid-vermittelte Resistenzen gegen Colistin.
Colistin ist eines der weltweit wichtigsten so genannten Reserveantibiotika: ein Medikament, das extrem
sparsam verwendet werden soll, weil es als letztes
Mittel gilt, wenn gängige Antibiotika wegen Resistenzen versagen.
„Diese Entdeckung könnte verheerende Folgen
für die Wirksamkeit von Reserveantibiotika haben“,
sagt Maria Vehreschild. Plasmide sind kleine, außerhalb der Chromosomen liegende DNA-Moleküle.
Dass die Resistenz über sie weitergegeben wird statt
nur bei der Vermehrung der Bakterien, bedeutet: Die
Colistin-Resistenz kann auch artübergreifend zwischen verschiedenen Bakterientypen weitergereicht
werden, sagt Vehreschild. „Wir wissen, dass sich Resistenzen von Bakterien in diesem Fall deutlich schneller verbreiten. So war es auch schon bei den Carbapenemen, die ihren Nutzen als Reserveantibiotika
in manchen Regionen der Welt weitgehend verloren
haben.“
Aufgrund von Antibiotikaresistenzen können
Krankheiten, die seit Jahrzehnten als beherrschbar
galten, wieder lebensbedrohlich werden. So sind Lungenentzündungen und Durchfallerkrankungen, die
vor allem bei Kindern verbreitet sind, mit den her-
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
kömmlichen Antibiotika schon jetzt in Brasilien,
Russland, Indien, China und Südafrika kaum mehr zu
heilen. Auch eine nach einer Routineoperation infizierte Wunde kann ohne ein wirksames Gegenmedikament den Tod bringen. „Antibiotikaresistenzen
gefährden unsere Fähigkeit, Infektionskrankheiten
wirksam zu bekämpfen, und sie drohen viele Fortschritte der Medizin rückgängig zu machen“, betont
aus diesem Grund auch WHO-Generaldirektorin
Margaret Chan.
Philipp Frisch von Ärzte ohne Grenzen sieht
eine weitere Ursache für die neuen Risiken im „Versagen des Marktes“. Das Geschäft mit Antibiotika ist
für Pharmakonzerne wenig lukrativ. Denn diese
werden anders als Diabetes-, Blutdruck- oder Krebsmedikamente nur über einen kurzen Zeitraum verabreicht, und sie dürfen wegen der Resistenzgefahren nicht unbegrenzt vermarktet werden. Außerdem werden die Mittel vor allem in ärmeren Ländern gebraucht, die ungleich stärker von
Infektionskrankheiten betroffen sind als reiche.
Eine Folge davon ist: Seit Jahrzehnten werden kaum
noch neue Antibiotika entwickelt, mit denen sich –
zumindest für eine gewisse Zeit – Bakterien be-
kämpfen ließen, die gegen die bisherigen Mittel resistent sind.
„In den vergangenen 50 Jahren hat, bis auf zwei
Ausnahmen in jüngster Zeit, kein Pharmaunternehmen ein neues Antibiotikum gegen Tuberkulose auf
den Markt gebracht“, kritisiert Philipp Frisch. Um Forschung und Entwicklung zu fördern, müssten Forschungskosten und Marktpreise entkoppelt werden.
Das Mittel der Wahl wäre ein staatlich finanzierter
Forschungsfonds zugunsten neuer Antibiotika. Er
sollte auch die Entwicklung einfacher Diagnoseinstrumente fördern, damit weniger Antibiotika ohne
richtige Diagnose verwendet werden.
In diese Richtung geht auch der Aktionsplan, den
die WHO in diesem Jahr verabschiedet hat. Demnach
sollen die Mitgliedsstaaten nicht nur Aktionspläne
im Sinne eines „One Health“-Ansatzes erstellen, also
einer gemeinsamen Herangehensweise von Humanund Tiermedizin sowie Landwirtschaft für einen gezielteren Einsatz von Antibiotika. Die WHO möchte
darüber hinaus einen staatlich finanzierten globalen
Fonds zur Erforschung neuartiger Antibiotika einrichten. Wann und in welchem Ausmaß das geschehen soll, ist allerdings noch unklar. Barbara Erbe
ist Redakteurin bei
.
Bücher zum Thema
Hugh Pennington
Have Bacteria won?
Polity Press, Cambridge 2016,
146 Seiten, ca. 13,50 Euro
Bert Ehgartner
Die Hygiene Falle
Ennsthaler Verlag, Steyr 2015,
249 Seiten, 19,90 Euro
| 2-2016
Der Begriff „Bakterien“ beschwört
die Vorstellung einer Armee Übel
bringender Keime herauf, die es
zu besiegen gilt. Darin sind sich
der britische Bakteriologe Hugh
Pennington und der österreichische Journalist Bert Ehgartner einig. Auch darin, dass dieser Eindruck täuscht, weil die meisten
Bakterien, die den Menschen besiedeln, ihm nützen und nicht
schaden. Wo jedoch der emeritierte Professor der Universität von
Aberdeen kurzweilig und kenntnisreich die Fortschritte der Wissenschaft im Umgang mit Pest,
Typhus und anderen Geißeln der
Menschheit schildert, beleuchtet
Ehgartner diese Fortschritte deutlich kritischer.
Pennington beschreibt unter anderem, wie die Ende des 19.
Jahrhunderts von Louis Pasteur
erfundene Pasteurisierung der
Milch die Zahl der Kinder, die an
abdomineller Tuberkulose (die
befällt den Darm) erkrankten und
starben, stark sinken ließ. Das bestreitet Ehgartner nicht. Aber er
betont, dass durch die Erhitzung
der Milch auch wertvolle Bakterien zerstört werden, die für ein intaktes Immunsystem wichtig sind.
Pennington kommentiert diesen
Aspekt knapp mit dem Hinweis,
dass sich zahlungskräftige Konsumenten in reichen Ländern nach
wie vor für Rohmilchprodukte
entscheiden könnten, er selbst darin aber eher ein Luxusproblem
sieht.
Ob es um Impfungen geht,
Antibiotika oder Resistenzen dagegen: Pennington sieht sie vor
allem als Errungenschaften und
mahnt einen bewussten Umgang
damit an, um diese Waffen nicht
stumpf werden zu lassen. Ehgartner dagegen spricht sich für eine
ganzheitliche Medizin und einen
deutlich restriktiveren Einsatz
von Antibiotika und Impfungen
aus. Seine Helden sind weniger
Louis Pasteur, Robert Koch oder
Alexander Fleming als „Erfinder“
des Penicillins, sondern Sozialmediziner wie Max von Pettenkofer
und Rudolf Virchow. Sie, das wird
er nicht müde zu betonen, kritisierten die „Generalmobilmachung gegen alle Mikroben“ und
setzten sich stattdessen dafür ein,
den Körper und sein Immunsystem als Ganzes zu stärken.
In Stil, Herangehensweise und
Grundthese unterscheiden sich
die beiden Titel deutlich. Wo Pennington anekdotisch referiert und
einen zwar kritischen, aber eher
zuversichtlichen Ausblick auf den
künftigen Umgang mit Infektionskrankheiten gibt, ist Ehgartner
– wie schon der Titel verrät – deutlich polemischer.
Dennoch sind die beiden oft
näher beieinander, als es zunächst
scheint. Auch Pennington geht
mehrfach darauf ein, wie wichtig
das menschliche Mikrobiom ist,
also die Tausende verschiedener
Bakterienarten, die unseren Körper bevölkern, und dass es durch
bedenkenlosen Umgang mit Antibiotika oder Impfungen Schaden
nimmt.
Ehgartner wiederum bestreitet nicht, dass Hygiene und Antibiotika die Menschen im 19. Jahrhundert auch vor großem Elend
gerettet haben: „Sie sind eines der
wenigen wirklichen Hilfsmittel,
die die Medizin jemals erfunden
hat.“ Anders als Pennington widmet er sich jedoch ausdrücklich,
wenn auch zuweilen recht pauschal, den (Konzern)Interessen,
die hinter der modernen Medizin
stehen, und deren Auswirkungen
vor allem in Europa und den USA.
Für beide Bücher gilt: Eine spannende, anregende Lektüre.
Barbara Erbe
23
24
schwerpunkt seuchen
Magische
Pillen gegen
den Fadenwurm
Der Kampf gegen die Flussblindheit ist eine Erfolgsgeschichte:
In Ecuador und Kolumbien ist die Krankheit schon ausgerottet.
Nigeria ist noch nicht ganz so weit.
Text und Fotos: Katrin Gänsler
A
mina Bazamfare kneift die
Augen fest zusammen. Sie
öffnet sie langsam wieder
und blinzelt gegen die Sonne. So
grell wie sonst um die Mittagszeit
ist das Licht in diesen Wochen
nicht. Gerade ist Harmattan in
Westafrika: eine besondere Windkonstellation, die Wüstensand
und Staub bringt und dafür sorgt,
dass der Himmel stets ein wenig schmutzverhangen aussieht.
Amina Bazamfare, die im Dorf
Kudaru im Norden Nigerias lebt,
kann dadurch etwas besser sehen,
zumindest mit dem linken Auge.
„Rechts geht gar nichts mehr“, sagt
die alte Frau. Seit wann das rechte Auge blind ist, kann sie nicht
mehr genau sagen, genau so wenig, wie alt sie ist. „Viele Jahre habe
ich schon hinter mir. Die zähle ich
doch nicht mehr.“ Auf ihrem Gesicht macht sich ein Grinsen breit.
Doch sie kann sich noch genau erinnern, wie das Leiden begann. „Es waren diese Fliegen, die
mich auf dem Feld ständig gestochen haben. Ich habe mir die ganzen Beine aufgekratzt.“ Sie zeigt
auf die glatte, dünne Haut an den
Unterschenkeln, die wie Pergament wirkt und an einigen Stellen
vernarbt ist. Medizinisch versorgt
wurden die Stiche nicht. „Bei uns
gibt es nicht mal ein Krankenhaus“, sagt Amina Bazamfare. Kudaru liegt zwar nur zwei Autostunden entfernt von der Millionenstadt Kaduna. Doch die Reise
dorthin ist noch immer beschwerlich. Auch als das Jucken immer
unerträglicher wurde, war daran
nicht zu denken. Die Beine von
Amina Bazamfare schaute sich
deshalb lange kein Arzt an. Auch
ihre Augen nicht – die wurden mit
der Zeit immer schlechter.
Dass sie an der Flussblindheit
erkrankt war, erfuhr die alte Frau
erst viel später. Onchozerkose, so
die wissenschaftliche Bezeichnung, ist eine Parasitenerkrankung. Die Larven des Fadenwurms,
Onchocerca volvulus, werden
durch Stiche der Kriebelmücke
übertragen und breiten sich nach
und nach im Körper aus. Anfangs
sorgen sie für Juckreiz und Hautveränderungen. Danach entstehen Knoten im Bindegewebe. Die
Augen werden erst nach vielen
Jahren ohne Behandlung befallen.
Vor allem auf dem Land ist die
Krankheit in Nigeria verbreitet
Die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) zählt die Flussblindheit zu
den 17 vernachlässigten Tropenkrankheiten. Es sind Krankheiten,
die nur im globalen Süden ausbrechen und in Industrieländern
weitgehend unbekannt sind.
Häufig bedeutet das: Das Interesse an der Erforschung von Impfstoffen oder Medikamenten ist
gering, denn die Nutznießer sind
in der Regel arm. Das macht den
Absatzmarkt für Pharmaunternehmen uninteressant.
Sunday Ishaku (links) stellt anhand
der K
­ örpergröße fest, wer wie viele
Tabletten nehmen muss, um nicht an
Flussblindheit zu erkranken.
Oben rechts: Amina Bazamfare kann
kaum noch sehen, weil die Infektion bei
ihr jahrelang nicht behandelt wurde.
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
Im Riesenstaat Nigeria mit
180 Millionen Einwohnern ist die
Flussblindheit besonders verbreitet. Nach Einschätzung des USamerikanischen Carter Centers,
das unter anderem für die Ausrottung vernachlässigter Tropenkrankheiten kämpft, laufen rund
31 Millionen Menschen Gefahr,
sich zu infizieren. Der Direktor
des nigerianischen Zentrums für
vernachlässigte Tropenkrankheiten, Ifeoma Anagbogu, befürchtet
sogar, dass sich bis zu 50 Millionen Nigerianer infizieren könnten, wenn nichts gegen die Krankheit unternommen wird. Derzeit
kommt die Onchozerkose in 29
der 36 Bundesstaaten vor, vor allem in den ländlichen Regionen,
und sie breitet sich dort in der
Nähe von Gewässern aus, wo die
Mücken leben. Tatsächlich erkrankt sind weltweit laut WHO
rund 18 Millionen Menschen.
Unten: Plakate klären in Kudaru
darüber auf, was man tun soll,
um sich vor F­ lussblindheit
zu schützen.
| 2-2016
Rund 6,5 Millionen von ihnen leiden
an
schweren
Haut­
erkrankungen wie Amina Bazamfare. 270.000 Erkrankte haben ihr
Augenlicht komplett verloren.
Die Zahlen klingen alarmierend.
Trotzdem ist der Kampf gegen die
Flussblindheit eine Erfolgsgeschichte. Denn Amina Bazamfare
gehört zu den wenigen Menschen
der alten Generation in Nigeria,
die ihre Sehkraft verloren haben.
In den Nachbardörfern können
sich die jungen Leute gar nicht
mehr daran erinnern, dass jemand durch kleine Kriebelmücken blind geworden ist. Vor gut
40 Jahren gab es in Westafrika
Dörfer, in denen jeder zweite
Mann über 40 seine komplette
Seh- und damit auch seine Arbeitskraft verlor. In den 1970er
Jahren betrugen die wirtschaftlichen Verluste in der Region laut
WHO-Schätzungen jährlich rund
30 Millionen US-Dollar.
Millionen Menschen wurden
vor einer Infektion bewahrt
Bereits 1974 wurde das Onchozerkose-Kontrollprogramm für
Westafrika gestartet. Zu Beginn
wurden aus Flugzeugen und Hubschraubern heraus Insektizide gesprüht, um die Kriebelmücken zu
bekämpfen. Seit 1989 wird zusätzlich das Medikament Mectizan
verteilt – Millionen Menschen
konnten so vor einer Infektion
bewahrt werden.
Daran hat auch Sunday Isiyaku seinen Anteil. Er leitet die
Nigeria-Niederlassung der britischen Hilfsorganisation Sightsavers, die ihren Sitz in Kaduna
hat und seit mehr als 40 Jahren
in sechs Bundesstaaten aktiv ist.
Zu den Aufgaben der insgesamt
31 Mitarbeiter gehört es, gesundheitliche Aufklärung zu leisten,
zu überprüfen, ob die Krankheit
möglicherweise an bisher weniger betroffenen Orten wieder
ausbricht, und entlegene Dörfer
mit Mectizan zu versorgen. „Nigeria hat viel im Kampf gegen die
Krankheit getan“, lautet sein vorläufiges Fazit.
Dieser Kampf sei zugleich ein
gutes Beispiel dafür, wie Staat,
Hilfsorganisationen und private
Einrichtungen zusammen arbeiten können. So viel Lob für die Regierung ist eher selten. Doch Isiyaku beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Flussblindheit und hat
alle Maßnahmen, die aus der
Hauptstadt Abuja kamen, sowie
25
26
schwerpunkt seuchen
die Aktivitäten der Regionalregierungen verfolgt. So gibt es verschiedene Komitees und Arbeitskreise, die sich regelmäßig austauschen. Die Regierung des Bundesstaates Kaduna stellt der
nichtstaatlichen
Organisation
kostenfrei Büroräume zur Verfügung.
Flussblindheit tritt fast nur
noch in Afrika auf
„Insekten mochte ich schon immer“, sagt Isiyaku und lächelt, als
er im großen und ein wenig düster wirkenden Konferenzraum
von Sightsavers sitzt. Nach seinem Bachelor-Abschluss in Zoologie an der Universität Ahmadu
Bello in Zaria, einer renommierten Lehr- und Forschungseinrichtung des Landes, entschied er sich
deshalb, Insektenkunde und Pa-
Flussblindheit in Afrika 2014
WESTSAHARA
MALI
TSCHAD
SENEGAL
GAMBIA
BURKINA
GUINEA- GUINEA
FASO
BENIN NIGERIA
BISSAU
ELFENBEINTOGO
KÜSTE
ZAR
GHANA
LIBERIA
KAMERUN
REP
KONGO
JEMEN
SUDAN
SÜDSUDAN
UGANDA
ÄTHIOPIEN
KENIA
DR KONGO BURUNDI
TANSANIA
ANGOLA
MALAWI
MOSAMBIK
stark betroffen (Prävalenz > 20%)
weniger stark betroffen (Prävalenz < 20%)
Quelle: WHO
und hoch motiviertes medizinisches Personal viel zum Erfolg
beigetragen. Allerdings waren die
Infektionsraten auch geringer als
im westlichen Afrika, wo nach
WHO-Angaben bis zu 90 Prozent
aller Fälle auftraten. Heute sind es
sogar 99 Prozent der Fälle.
Die Pillen machen Amina
­Bazamfare das Leben leichter
rasitologie zu studieren. Vor allem das Zusammenspiel von Insekten, Krankheiten und Übertragungswegen interessierte ihn.
Nach dem Ende seines Studiums
1992 stieß er auf eine Krankheit,
die damals ins Gespräch kam –
Onchozerkose. „Sie hat mich fasziniert, weil ich spürte, es gibt
gute Möglichkeiten, sie zu bekämpfen.“
Sunday Isiyaku sollte Recht
behalten. „Nigerias Regierung hat
gerade wieder ein Komitee zur
Ausrottung von Onchozerkose gegründet“, sagt er. Ihm gehören Ex-
Sunday Isiyaku leitet den
­ igerianischen Zweig der
n
britischen NGO Sightsavers. Der
Insektenkundler ist überzeugt,
dass man die Onchozerkose
besiegen kann.
perten an, die Erfahrung aus Südamerika mitbringen. Dort ist die
Krankheit nahezu ausgerottet,
laut WHO gelten Kolumbien und
Ecuador bereits als frei davon.
Nach Angaben des Carter Centers
haben großangelegte Kampagnen
In Nigeria sollen nicht nur Gesundheitsexperten helfen, die
Krankheit einzudämmen. Ehrenamtliche beteiligen sich ebenfalls
– so wie Sunday Ishaku in Kudaru.
Der junge Mann trägt eine Strickmütze, Hemd und Hose sind ordentlich gebügelt, die frisch geputzten schwarzen Schuhe glänzen im Sonnenschein. In der rechten Hand hält Ishaku eine
Messlatte, die in fünf verschiedenen Farben gestrichen ist. Die
oberen vier Abschnitte sind mit
weißen Punkten verziert.
Sie ist sein Werkzeug im
Kampf gegen die Flussblindheit.
Einmal jährlich vermisst er alle
Einwohner des Dorfes damit. Ishaku hält die Latte an einen Mann
in einem karierten Hemd: „Wenn
du so groß bist, wie dieser Mann,
dann musst du vier Tabletten
nehmen.“ Dann lässt er seine
Hand in Richtung Boden wandern.
„Wenn wir jetzt ein zehnjähriges
Katrin Gänsler
ist Korrespondentin für mehrere deutschsprachige Medien in
West­afrika. Sie
lebt in Abuja
und Cotonou.
2-2016 |
Mission Weltrettung
seuchen schwerpunkt
Kind hätten“, er hält zwischen
dem grünen und roten Bereich
kurz inne, „dann wäre es in etwa
so groß und müsste zwischen einer und zwei Tabletten nehmen.“
Ishaku ist stolz auf seine Aufgabe. Sightsavers hat ihn dafür
ausgebildet. Übertragen wurde
ihm das Ehrenamt jedoch von der
Dorfgemeinschaft, die den jungen
Mann für seriös und zuverlässig
hält. Das bestätigt auch Amina
Bazamfare. Einmal im Jahr bringt
Sunday Ishaku ihr die kostenlosen
Tabletten nach Hause. Von ihrer
Körpergröße her dürften es drei
oder vier sein. Die alte Frau hat
sich gerade hingehockt und wirkt
müde. Trotzdem lächelt sie, als sie
nach den Pillen gefragt wird. „Die
machen das Leben leichter.“ Sie
haben den weiteren Verlauf der
Krankheit schließlich aufgehalten, die alte Frau kann zumindest
noch ein wenig sehen. Auch über
starken Juckreiz klagt sie nicht
mehr. Ein weiterer Vorteil ist, dass
sie sich nicht selbst um die Beschaffung kümmern muss. Sightsavers organisiert die Verteilung
der Tabletten, die bis nach Kudaru
gebracht werden. Sie sind tropentauglich und können ohne Kühlschrank gelagert werden.
Die Entdecker des Medikaments
sind jetzt Nobelpreisträger
Bei den Tabletten handelt es sich
um das Medikament Mectizan
auf der Grundlage des Wirkstoffs
Avermectin, den die Forscher Satoshi Ōmura aus Japan und William C. Campbell aus Irland bereits Ende der 1970er Jahre entdeckt haben. Damit lassen sich
die für Onchozerkose verantwortlichen Parasiten unschädlich machen. Auf den Markt gebracht
wurde die Entdeckung 1987 vom
Pharmaunternehmen Merck, das
nach eigenen Angaben jährlich
bis zu 250 Millionen Tabletten
spendet. Das Medikament lässt
Blinde zwar nicht wieder sehen.
Aber es tötet die Fadenwürmer,
die dann keine Mikrofilarien –
Larven – mehr produzieren. Die
Krankheit wird daher gestoppt.
Dafür muss es mindestens zehn
Jahre lang ein- bis zweimal pro
Jahr eingenommen werden, je
nachdem, wie hoch das Risiko ist.
| 2-2016
Im Oktober 2015 erhielten
Ōmura und Campbell gemeinsam
mit der Japanerin Youyon Tu – sie
forscht seit Jahrzehnten zu Malaria – den Medizin-Nobelpreis.
Sightsavers-Chef Sunday Isiyaku
wird sich an diesen Tag womöglich sein ganzes Leben erinnern.
„Ich habe mich an diesem Morgen so erleichtert gefühlt“, sagt er.
„Endlich hat die Welt verstanden:
Es gibt diese kleine Tabletten, die
echte Magie bewirken. Sie haben
viele Millionen Menschen davor
bewahrt, blind zu werden.“ Wer
nie Probleme mit dem Augenlicht
hatte, mag seine Begeisterung
nicht verstehen. „Aber als ich als
junger Wissenschaftler zum ersten Mal mit der Krankheit in Berührung kam und Menschen sah,
die erblindet waren, hat mich das
sehr bewegt. Es hat mein Leben
verändert.“
Amina Bazamfare in Kudaru
geht es ähnlich. Immer wieder
zwinkert sie mit ihren Augen. Das
blinde rechte glänzt dabei manchmal ein wenig so wie eine Murmel.
Dann schüttelt sie langsam den
Kopf. „Als ich merkte, dass es immer schlechter wird, war ich so
unglücklich. Es fühlt sich fürchterlich an, nicht mehr sehen zu können“, sagt sie mit müder Stimme.
In Afrika bedeutet die Krankheit zudem hohe Einkommensverluste. Die Kriebelmücken stechen zu, wenn auf den Feldern
gearbeitet wird. Häufen sich die
Fälle, wird oft fruchtbares Ackerland nicht mehr bewirtschaftet.
Andere Verdienstmöglichkeiten
gibt es jedoch nicht. Amina Bazamfare ist auf Almosen von Verwandten und Nachbarn angewiesen. Sie hat nicht einmal mehr
Kinder, die sie unterstützen könnten. Alle vier sind gestorben – was
genau passierte, möchte sie nicht
erzählen.
Trotzdem lässt sie sich nicht
entmutigen. Zum Schluss des Gesprächs lächelt die alte Frau noch
einmal breit und setzt sich für
das Abschiedsfoto so aufrecht
wie möglich hin: „Ist es gut geworden?“, fragt Amina Bazamfare,
als sie das Klicken der Kamera gehört hat. Sie wird sich nie mit eigenen Augen davon überzeugen
können. 27
Was die Religionen zum
Klimaschutz beitragen können
Lesen Sie außerdem in
Publik-Forum:
? »Bomben lösen kein
Problem«: Friedensforscher
zum Kampf gegen den IS
? Auf der Suche nach
dem Bruttosozialglück:
Eine Reise nach Bhutan
? Margot Käßmann:
Christliche Werte,
die Flüchtlinge und wir
Die Zeitschrift, die
für eine bessere Welt streitet
Jetzt kostenlos Probelesen
www.publik-forum.de/ws
Telefon: 06171/7003470
Ja, schicken Sie mir bitte die nächsten zwei Ausgaben von
Publik-Forum kostenlos zu. Die Belieferung endet automatisch
nach der zweiten Ausgabe.
NAME, VORNAME
STRASSE, HAUSNUMMER
POSTLEITZAHL, ORT
TELEFON
E-MAIL
DATUM, UNTERSCHRIFT
GEBURTSDATUM
20152189
BITTE EINSENDEN:
Publik-Forum Verlagsgesellschaft, Postfach 2010,
61410 Oberursel,Telefon: 06171-7003470, Fax:
06171/700346 oder bestellen Sie Ihre zwei Ausgaben auf:
www.publik-forum.de/ws
28
schwerpunkt seuchen
Keine Zauberformel
gegen die Malaria
Wehrt die Mücken ab:
In Nigeria werben Schauspieler
2015 im ­Rahmen einer Kampagne
gegen Malaria für Kleidung,
die mit einem Mückenschutz
ausgerüstet ist.
pius utomi ekpei/afp/getty images
Mit Moskitonetzen und Medikamenten kann man das Sumpffieber eindämmen.
Doch endgültig los wird man die Krankheit so nicht.
Von Tillmann Elliesen
W
o die Malaria weit verbreitet ist, hat sie denselben Stellenwert wie bei uns in Deutschland eine fiebrige Erkältung zur Winterzeit:
Fast jeder hatte sie mal, sie kommt immer wieder, für
Erwachsene geht es meistens glimpflich aus. Malaria
ist vor allem in vielen Ländern Afrikas Alltag.
Alles nicht so schlimm also? Doch. Die hohen
Fallzahlen machen die Malaria zu einem bedrohlichen Killer. Laut der Weltgesundheitsorganisation
WHO waren in diesem Jahr mehr als 200 Millionen
Menschen mit Malaria-Parasiten infiziert. In den
ärmsten Ländern zählt die Malaria deshalb zu den
zehn häufigsten Todesursachen. In diesem Jahr sind
geschätzt zwischen 300.000 und 600.000 Menschen an dem Fieber gestorben, die meisten Opfer
sind kleine Kinder. Genauere Angaben sind nicht
möglich, die Dunkelziffer ist hoch. Neun von zehn Todesopfern lebten in Afrika, wo der gefährlichste Erreger grassiert: Plasmodium falciparum.
Die Malaria begleitet den Menschen von Anbeginn, und seit Jahrtausenden versucht er, sich von ihr
zu befreien. Der britische Mediziner Ronald Ross entdeckte 1897, dass die Infektion über Moskitostiche
übertragen wird. Er war zuversichtlich, dass in nur
zwei Jahren jede Stadt in den Tropen von der Krankheit befreit werden könnte. Sein Rezept: Einfach jeden mückenverseuchten Tümpel dünn mit Öl besprühen, so dass die im Wasser heranwachsenden
Larven ersticken. Zu dieser Zeit war Malaria auch in
Europa und Nordamerika weit verbreitet.
Sechzig Jahre später hieß das Wundermittel DDT.
1958 startete die US-Regierung eine globale Anti-Ma-
2-2016 |
seuchen schwerpunkt
laria-Kampagne, der sich 90 weitere Länder anschlossen. Überall auf der Welt wurden fünf Jahre lang Häuser und Hütten mit dem damals noch unumstrittenen Insektenvernichtungsmittel besprüht, um die
Moskitos auszurotten. Die Infektionszahlen gingen
tatsächlich deutlich zurück, und aus einigen Ländern
konnte die Malaria vertrieben werden. Doch nach
dem Ende der Kampagne erreichte die Zahl der Infektionen weltweit schnell wieder den alten Wert.
Heute kommt die Hoffnung aus dem GentechLabor. Im November meldeten Forscher der Universität von Kalifornien, sie hätten einen Moskito genetisch so verändert, dass er den Malariaerreger nicht
weitergibt und die neue Eigenschaft zudem an seinen Nachwuchs vererbt.
Öl auf Pfützen, flächendeckend DDT versprühen,
genmanipulierte Mücken – die Wissenschaftsjournalistin Sonia Shah, die ein dickes Buch über die Geschichte der Malaria geschrieben hat, nennt die vergeblichen Versuche, die Krankheit auszurotten, Abrakadabra-Maßnahmen: Mit dieser Zauberformel
wollte der römische Arzt Serenus Sammonicus vor
2000 Jahren das Sumpffieber vertreiben. Sonia Shah
hingegen ist überzeugt: Die Malaria lässt sich eindämmen, aber nicht endgültig besiegen. Der Mensch
muss lernen, mit ihr zu leben.
D
abei zeigen die Bemühungen, die Malaria zurückzudrängen, durchaus Erfolge. Zum Beispiel im westafrikanischen Benin. Der Tropenmediziner Klemens Ochel vom Missionsärztlichen
Institut Würzburg war dort Ende der 1980er Jahre als
Entwicklungshelfer in einem ländlichen Krankenhaus. Von den 100 Betten seien 20 das ganze Jahr
über mit schwer an Malaria erkrankten Kindern belegt gewesen; viele seien gestorben. Ganz anders das
Bild bei seinem Besuch vor zwei Jahren: kaum noch
Kinder mit Malaria, wenn überhaupt, dann nur während oder kurz nach der Regenzeit. Die Ärzte berichteten Ochel zudem, die Krankheitsverläufe seien weniger schwer als früher, es gebe weniger Tote.
Das deckt sich mit globalen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation: Demnach sind die Neuinfektionen in den vergangenen 15 Jahren weltweit um
mehr als die Hälfte zurückgegangen, die Zahl der Todesfälle durch Malaria sogar um zwei Drittel. In Benin seien flächendeckend Moskitonetze verteilt worden, sagt Ochel; das sei maßgeblich für den Erfolg
gewesen. Zudem habe man dazugelernt: Vor 30 Jahren habe jeder Patient mit entsprechenden Symptomen ein Malaria-Medikament erhalten, ohne sicher
zu sein, ob es sich überhaupt um das Fieber handelt.
Diese Überdiagnose, wie es in der Fachsprache heißt,
ist schädlich, weil sie die Parasiten resistent macht.
Heute werde deshalb gemäß den WHO-Richtlinien
nur noch gegen Malaria behandelt, wenn die Krankheit eindeutig diagnostiziert wurde. Dafür gibt es inzwischen einfache Schnelltests.
80 Prozent aller Malaria-Infektionen weltweit
konzentrieren sich auf rund 15 Länder, die meisten in
Afrika. Dort geht die Zahl der Neuinfektionen und
der Todesfälle deutlich langsamer zurück als in ande-
| 2-2016
ren Erdteilen. Immerhin: Das kleine Swasiland im
südlichen Afrika steht kurz davor, die Malaria innerhalb seiner Grenzen zu besiegen – es wäre nach den
beiden Inselstaaten Seychellen und Mauritius das
erste Land südlich der Sahara, dem das gelingt. Dazu
beigetragen hat ein engmaschiges Überwachungsverfahren: Sobald sich ein Patient mit Verdacht auf
Malaria meldet, werden landesweit Mitarbeiter des
staatlichen Malaria-Kontrollprogramms alarmiert,
um mögliche weitere Fälle aufzuspüren.
K
Die Behörden
in Abijan in der
Elfenbeinküste
rücken 2014
den Mücken mit
Insektengift zu
Leibe. Offene
Abwassertümpel wie hier
bieten ideale
Brutstätten.
sia kambou/afp/
getty images
inder unter fünf Jahren sind besonders gefährdet, weil sie noch keine Abwehrkräfte entwickelt haben. Laut WHO entfallen auf sie mehr
als zwei Drittel aller Malaria-Todesfälle. Erwachsene
hingegen sind häufig immun gegen die Erreger: Bis
zu 85 Prozent der infizierten Menschen zeigen nie
Symptome; die Parasiten schlummern in ihren Körpern, ohne dass das Fieber ausbricht. Auch das erschwert die Bekämpfung der Malaria: Die Menschen
tragen die Erreger in sich und geben sie weiter, ohne
es zu wissen. Die Weltgesundheitsorganisation sieht
deshalb die beste Vorbeugung darin, die Übertragungswege zu unterbrechen.
Die Leute müssen unter Netzen schlafen, um sich
vor Moskitostichen zu schützen. Laut der Initiative
Roll Back Malaria, zu der über 500 Organisationen,
Hilfswerke, Regierungen, Unternehmen und Forschungsinstitute gehören, wurden im Jahr 2014 auf
der ganzen Welt geschätzt 214 Millionen mit Insektiziden imprägnierte Moskitonetze verteilt. Ochel erklärt, das sei heute zielgerichteter möglich als früher,
weil man mehr über die Moskitos wisse: Manche lebten vor allem im Haus und warteten bis zur Nacht
29
30
schwerpunkt seuchen
auf menschliches Blut. In anderen Regionen, in denen viele Tiere gehalten werden, seien Moskitonetze
weniger notwendig. Hier leben die Mücken vor allem
im Freien und ernähren sich von Tierblut.
Ein anderer Weg, die Malariamücken vom Menschen fernzuhalten, besteht darin, Häuser, Hütten
und Wohnungen mit Insektiziden einzusprühen.
Gleichzeitig verteilen Hilfsorganisationen und Regierungen von Jahr zu Jahr mehr Medikamente in den
Malariagebieten. 2013 wurden nach Angaben von
Roll Back Malaria weltweit 392 Millionen Dosen des
am häufigsten gegen Malaria eingesetzten Wirkstoffs
Artemisinin geliefert; 2005 waren es noch elf Millionen Dosen.
Wann immer der Mensch dem Parasiten mit
­Medikamenten und der Mücke mit Pestiziden
zu Leibe rückt, entwickeln die Resistenzen.
Die WHO wertet ein Land als malariafrei, wenn in
drei aufeinanderfolgenden Jahren keine neuen Infektionen aufgetreten sind. In den vergangenen Jahren
haben das vier Länder geschafft: die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko, Turkmenistan und Armenien. Die Erfahrung aus früheren Versuchen, die Malaria zu beseitigen, lehrt, dass solche Kampagnen einen langen Atem brauchen und so wie in Swasiland
gut organisiert sein und straff durchgezogen werden
müssen.
A
Tillmann Elliesen
.
ist Redakteur bei
ls die USA und die Weltgesundheitsorganisation Anfang der 1960er Jahre ihre auf das
Pflanzenschutzmittel DDT gestützte Initiative nach nur fünf Jahren wieder einstellten, waren die
erzielten Erfolge schnell wieder zunichte. Laut Sonia
Shah konnte das Fieber nur aus 18 von den 93 beteiligten Ländern endgültig vertrieben werden. „Die
Malaria, die blieb“, schreibt die Journalistin, „hat sich
in den ärmsten Regionen der Welt festgesetzt. Sie ist
heute in jeder Hinsicht schwerer zu kontrollieren.“
Der Malaria-Parasit macht es seinen Gegnern
schwer, weil er sich ständig verändert und seiner Umgebung anpasst. Wann immer der Mensch ihm mit
Medikamenten zu Leibe rückt, entwickelt er Resistenzen dagegen. So häufen sich seit einigen Jahren in
Südostasien die Fälle von Resistenz gegen Artemisinin. Fachleute sind alarmiert: Sie fürchten, das sich
diese Widerstandsfähigkeit auf die Erreger in Afrika
ausbreiten könnte. Das würde die Behandlungsmöglichkeiten dort deutlich einschränken.
Tropenmediziner Ochel erklärt, solche Resistenzen würden dadurch begünstigt, dass in vielen Ländern Malariapräparate ohne Rezept zu kaufen sind
und von den Leuten unsachgemäß eingenommen
werden. Das ist eine Folge der früher weit verbreiteten Überdiagnose: Für die Leute ist jede mit Fieber
einhergehende Krankheit Malaria, die entsprechend
behandelt werden muss. Im zentralafrikanischen
Tschad etwa hat sich in der lokalen Variante des Arabischen der Name der Malaria-Arznei Chinin als Synonym für den Begriff Tablette eingebürgert.
Der komplexe Lebenszyklus der Malaria-Parasiten, seine Wandelbarkeit sowie viele Unbekannte in
der Reaktion des menschlichen Immunsystems auf
den Erreger erschweren auch die Entwicklung eines
Impfstoffs. Zwar wurden in den vergangenen 15 Jahren große Fortschritte gemacht, aber schon oft haben
Forscher oder Pharmaunternehmen voreilig erklärt,
sie stünden kurz vor dem Durchbruch. Das vielversprechendste Präparat der Firma GlaxoSmithKline
soll in den kommenden Jahren in einer Feldstudie in
einigen Ländern Afrikas getestet werden. In klinischen Tests hatte das Mittel die Infektionsrate bei
Kindern um 39 Prozent gesenkt. Mindestens nötig
seien aber 75 Prozent, um als Impfstoff flächendeckend eingesetzt zu werden, sagt Ochel.
O
b es gelingt, die Malaria weiter einzudämmen, wird nach Ansicht von Fachleuten vor
allem davon abhängen, ob es für die vielen
einzelnen Schritte – von der Verteilung von Moskitonetzen bis zur Forschung an neuen Medikamenten
– ausreichend Geld gibt. Die vor 15 Jahren verabschiedeten UN-Millenniumsziele hätten der Finanzierung einen enormen Schub verliehen, sagt Ochel.
Von 1993 bis 2013 haben sich allein die Ausgaben für
die Forschung an Malariamedikamenten und Impfstoffen auf jährlich 550 Millionen US-Dollar vervierfacht. Das meiste Geld kommt aus dem 2002 eingerichteten Globalen Fonds gegen Aids, Tuberkulose
und Malaria, dessen jährliches Budget derzeit bei vier
Milliarden US-Dollar liegt. Die größten Beiträge für
den Fonds liefern die USA, Norwegen, Schweden und
Großbritannien. Wichtigster privater Geber ist die
Stiftung von Bill und Melinda Gates. Sie steht weiter
fest zu dem Ziel, die Malaria endgültig zu besiegen.
Bis zum Jahr 2040 würden dafür insgesamt bis zu
120 Milliarden US-Dollar gebraucht.
Die Journalistin Sonia Shah bleibt skeptisch. Sie
ist im Laufe ihrer Recherchen zum Schluss gekommen, dass Interventionen von außen in die Malariagebiete das Problem lindern, aber nicht vollständig
beseitigen können – eben weil die Krankheit zum Alltag der Menschen gehört und die Bereitschaft, das
eigene Verhalten zu ändern, irgendwann an Grenzen
stößt. Wer will schon Nacht für Nacht in tropischer
Hitze unter einem Moskitonetz schlafen?
Das beste Mittel gegen Malaria sei deshalb Armutsbekämpfung. Wo Straßen nicht bei jedem Regen zu Schlammgruben werden, wo das Wasser aus
der Leitung kommt und nicht in trüben Tümpeln
steht und wo Abwässer unterirdisch entsorgt werden
und nicht offen durch das Dorf fließen, können die
Malariamoskitos nicht gedeihen. Europa und Nordamerika seien heute frei von Malaria, nicht weil man
die Krankheit als solche bekämpft, sondern weil man
die ländliche Armut beseitigt habe, sagt Shah. „Wir
haben die Lebensweise bekämpft, die Malaria begünstigt – und haben die Krankheit langsam verdrängt.“ 2-2016 |
seuchen schwerpunkt
Zweifelhafte Schnitte
In Afrika werden Millionen Männer beschnitten,
um sie besser vor HIV zu schützen. Der Erfolg des
Großprojekts ist nur schwer messbar – und
Frauen könnte es sogar gefährden.
D
er neueste Trend im Kampf
gegen Aids ist ein unscheinbarer weißer Plastik­
ring. Das kleine Einweg-Gerät ermöglicht die schnelle und unkomplizierte Beschneidung von
Männern – auch ohne einen fachkundigen Arzt. Krankenschwestern und Pfleger können alles,
was sie darüber wissen müssen,
in einem dreitägigen Kurs lernen.
Internationale Hilfsorganisationen setzen den Ring bereits tausendfach ein. Der Grund: Ohne
Vorhaut soll das Risiko einer
Übertragung des HI-Virus um 60
Prozent sinken.
In Süd- und Ostafrika haben
sich seit 2008 mehr als zehn
Millionen Männer freiwillig beschneiden lassen; bis 2021 sollen
weitere 27 Millionen in 14 Ländern dazukommen. Das hat sich
die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) zum Ziel gesetzt. Die größten Geldgeber sind die Aidsorganisation der Vereinten Nationen
(UNAIDS) und die Stiftung von Bill
und Melinda Gates. Sie haben bisher rund 1,5 Milliarden Dollar für
die Programme ausgegeben, die
sie meist gemeinsam mit den nationalen Regierungen umsetzen.
Die Erklärung dafür leuchtet ein: Wo keine empfindliche
Schleimhaut ist, die reißen und
zur Eintrittspforte für die HI-Viren werden kann, sinkt die Gefahr,
sich anzustecken. Außerdem sitzen unter der Vorhaut besonders
viele sogenannte LangerhansZellen. Die können HI-Viren zwar
erkennen und abbauen. Dringen
aber zu viele von ihnen auf einmal
ein, klappt das nicht mehr und die
Zellen leiten die Viren stattdessen
im Körper weiter. Ohne Vorhaut
sinke das Ansteckungsrisiko, sagt
Gisela Schneider, die Direktorin
des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm): „Das ist ein
Fakt.“ Auch bei der Bundeszentra-
| 2-2016
le für gesundheitliche Aufklärung
(BzgA) zweifelt daran niemand.
Trotzdem ist das Projekt der
WHO strittig, denn die bisherigen
Erfolgsmeldungen stützen sich
auf zweifelhafte Studien. Bei den
Untersuchungen in Südafrika, Kenia und Uganda wurde mit Kont-
Sexualverhalten fördert, weil die
Schutzwirkung überschätzt wird.
Die WHO rät zwar, dass Ärzte,
Krankenschwestern und Pfleger
den Leuten erklären, dass die Beschneidung kein Freifahrtschein
für ungeschützten Sex ist. Doch
etwa in Uganda verwenden weniger Leute als noch vor zehn Jahren
Kondome, obwohl diese als wichtigste Maßnahme im Kampf gegen Aids gelten. Für Schneider
heißt das, bei der Beschneidung
müsse künftig besser aufgeklärt
listin Catherine de Lange im Magazin „Nature“. Vielen sei überhaupt nicht bewusst, dass sie sich
ohne Kondom bei einem unbeschnittenen Mann genau so
leicht anstecken können wie bei
einem beschnittenen.
Dazu tragen auch die Werbekampagnen mancher Regierungen in Süd- und Ostafrika bei. „Ich
bin stolz, einen beschnittenen
Mann zu haben, weil für uns so
das Risiko kleiner ist, dass wir uns
mit HIV anstecken“, hieß es etwa
Beschneidungen zur Aids-Prävention
3.500.000
3.000.000
Anzahl der Männer, die im jeweiligen Jahr in ausgewählten afrikanischen Ländern unter
dem WHO-Programm zur HIV-Prävention beschnitten wurden
2.500.000
Kenia
2.000.000
Mosambik
Ruanda
1.500.000
Südafrika
Tansania
1.000.000
Uganda
Sambia
Simbabwe
500.000
0
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
Quelle: Weltgesundheitsorganisation
rollgruppen gearbeitet wie in der
Wissenschaft üblich. Dabei mussten die beschnittenen Teilnehmer
wegen ihrer Wunden für mindestens sechs Wochen auf Sex verzichten, die unbeschnittenen hingegen nicht. Das Ansteckungsrisiko war für sie also von vornherein
höher. Außerdem wurden andere
mögliche Infektionswege bei der
späteren Untersuchung der Studienteilnehmer nicht berücksichtigt, zum Beispiel Bluttransfusionen oder kontaminierte Spritzen.
Ob das Risiko tatsächlich um 60
Prozent sinkt, wie von der WHO
gemeldet, ist deshalb unklar.
Zudem besteht die Gefahr,
dass die Beschneidung riskantes
und noch genauer hingeschaut
werden. „Die Frage ist nicht ob wir
weitermachen, sondern wie“, sagt
sie.
Das ist vor allem für die Frauen entscheidend. Denn die männliche Beschneidung senkt das Risiko einer HIV-Übertragung nur
von der Frau auf den Mann, nicht
jedoch umgekehrt. Langfristig erhöht sich zwar auch für Frauen
der Schutz, wenn insgesamt weniger Männer das Virus in sich tragen. Kurzfristig sind sie aber einem höheren Infektionsrisiko
ausgesetzt, weil sowohl Männer
als auch Frauen den Schutz durch
die Beschneidung überbewerten,
schreibt die Wissenschaftsjourna-
auf einem Plakat des ugandischen Gesundheitsministeriums.
Das erweckt den Eindruck, als sei
der Schutz durch Beschneidung
für Männer und Frauen gleich
hoch. Tansanische Fernsehspots
wiederum vermitteln, beschnittene Männer seien grundlegend
klüger und fürsorglicher. Die Beschneidung erscheint in solchen
Kampagnen nicht mehr als medizinisch sinnvoller Eingriff, sondern als Markenzeichen für ein
besseres und modernes Leben:
Viele Männer gehen einfach zum
Arzt, weil ihre Freunde das ebenfalls machen – und weil es bei
Frauen besser ankommt. Hanna Pütz
31
32
welt-blicke xxx
Kein zweites Kopenhagen
Von Bernd Ludermann
Erfolg in Paris: Da haben die
Diplomaten im Dezember
einen globalen Klimavertrag
zustande gebracht. Vor allem
einige Schwellenländer aber
haben nur ­zähneknirschend
­zugestimmt.
D
ie Konfliktlinien machten zwei Auftritte in der
zweiten Konferenzwoche deutlich. Dienstags
traten Brasilien, Indien, Südafrika und China
gemeinsam vor die Presse. Ihnen ging es ums Prinzip: die sogenannte Differenzierung in der UN-Klimarahmenkonvention UNFCCC von 1992. Danach
müssen die Industrieländer als Verursacher der Erd­
erwärmung ihre Emissionen senken; Klimaschutz in
Entwicklungsländern ist hingegen freiwillig und von
den Industrieländern zu finanzieren. „Wir wollen eine
Vereinbarung, die diese Konvention verbessert, nicht
sie neu schreibt“, sagte Südafrikas Umweltministerin
Bomo Edna Molewa.
Tags darauf gab US-Außenminister John Kerry
die Antwort, verpackt in einer Rede voller Pathos:
Weil heute Entwicklungsländer die meisten Treib­
hausgase ausstoßen, nütze Klimaschutz allein in Industrieländern nichts mehr. Alle Länder müssten
Verantwortung übernehmen – und alle freiwillig:
Internationale Vorgaben für die Einsparung von
Treibhausgasen werde der Kongress, das Parlament
in den USA, nicht billigen. Jeder Staat solle seine Bei-
2-2016 |
klimaschutz welt-blicke
Achtung, der Globus schmilzt:
Zu Beginn des Klimagipfels
fordern D
­ emonstranten in vielen
Ländern mehr Klimaschutz; hier
in Berlin haben sie die Weltkugel
in eine riesige Eistüte gesteckt.
Pawel Kopczynski/Reuters
| 2-2016
träge selbst festlegen, damit sei die Differenzierung
gewahrt. Aber alle müssten verpflichtet sein, transparent zu berichten, ob sie ihre Ziele einhalten. Und
alle müssten ihre Ziele nach und nach verschärfen.
Das Paris-Abkommen folgt diesem Ansatz (vgl.
Kasten) – es hat die UNFCCC umgeschrieben. Warum
konnte sich Kerry in Paris weitgehend durchsetzen,
obwohl die USA bisher ein Bremser beim Klimaschutz waren und ihre Emissionen bis zur Wirtschaftskrise 2008 ständig gestiegen sind? Die Regierung Obama wollte ein Abkommen – aber eines, das
der Kongress, in dem Gegner des Klimaschutzes eine
solide Mehrheit haben, nicht zu Fall bringen könnte.
Städte, Regionen und viele Unternehmen traten in
Paris lautstark für Klimaschutz ein und setzten die
Regierungen unter Druck. Vor allem aber hatte sich
in den vergangenen zehn Jahren in der Klimadiplomatie weltweit bereits die Einsicht verbreitet, dass
ein Neuansatz unumgänglich war: Man musste die
USA einbinden und dem Aufstieg der Schwellenländer Rechnung tragen.
Den Anstoß für das Umdenken gab das Scheitern
des Kyoto-Protokolls von 1997. Es verpflichtete die
Industrieländer, ihre Emissionen bis 2012 um zusammen gut fünf Prozent gegenüber 1990 zu vermindern. Doch der Kongress in den USA, dem damals größten Emittenten, lehnte das Protokoll ab,
und Präsident George W. Bush zog 2001 die Unterschrift der USA zurück. Kyoto trat 2005 dennoch in
Kraft, erfasste aber lediglich einen stetig schrumpfenden Teil der globalen Emissionen.
Denn der Treibhausgas-Ausstoß von Schwellenländern steigt – besonders seit der Jahrtausendwende
in China. Dessen Anteil am globalen Ausstoß hat sich
auf heute etwa 27 Prozent ungefähr verdoppelt; der
Anteil Indiens ist von rund vier auf sieben Prozent
gestiegen. Pro Kopf allerdings emittieren US-Amerikaner noch mehr als doppelt so viel Treibhausgase
wie Chinesen und Deutsche und rund achtmal so viel
wie Inder. Noch mehr ist es in reichen Ölstaaten am
Persischen Golf – und die gehören formal zur Gruppe
der Entwicklungsländer.
Diese Gruppe hat sich stark aufgefächert: Ölländer lehnen mehr Klimaschutz ab – in Paris taten sich
damit Saudi-Arabien und Venezuela hervor. Schwellenländer wie China und Indien suchen im eigenen
Interesse Entwicklungswege mit weniger Emissionen; aber sie pochen auf ihre Souveränität und wollen nicht für Folgen des Wohlstands in Industrieländern bluten. Viele der ärmsten Länder sind für Klimaänderungen besonders verwundbar und drängen
seit langem, mehr dagegen zu tun. Das aber machten
die USA und Japan davon abhängig, dass China sich
beteiligte. China und Indien wollten das allenfalls
freiwillig und wenn die reichen Länder bezahlten.
Dies blockierte die Anläufe für einen globalen Klimavertrag nach dem top-down-Ansatz des KyotoProtokolls. Der müsste global festlegen, wie viele
Emissionen eingespart werden sollen und die Summe bindend auf zu Minderungen verpflichtete Länder verteilen. Das scheiterte endgültig in Kopenhagen Ende 2009. Doch der „Konsens“, den dort führen-
de Industrie- und Schwellenländer hastig entwarfen,
wies einen Ausweg: Alle Staaten sollten erst einmal
auflisten, was sie freiwillig zum Klimaschutz beitragen wollen. Der Gipfel in Warschau 2013 machte daraus „unabhängige national festgelegte Beiträge“, sogenannte INDCs. Die hatten 185 Staaten bis Anfang
Dezember eingereicht. Damit hatten sie im Grunde
schon vor der Pariser Konferenz akzeptiert, dass bei
den Minderungszielen künftig Differenzierung
durch Selbsteinschätzung gilt.
D
och damit war der Konflikt über das Prinzip
nicht gelöst. Viele Entwicklungsländer banden ihre Klimaschutz-Zusagen an finanzielle
Unterstützung aus dem Norden und bestanden in
Paris darauf, dass bei den Finanzen die besondere
Verantwortung der Industrieländer weiter gilt. Außerdem wollten sie, dass ihre INDCs weniger Transparenz- und Prüfungspflichten unterworfen würden
als die der Industrieländer. Diese erfassen seit 1992
Der Klimavertrag von Paris
Der Klimagipfel in der französischen Hauptstadt hat ein Dokument verabschiedet, das aus
einer „Entschließung“ und einem kürzeren,
aber rechtsverbindlichen „Abkommen“ besteht. Darin bestätigen die Staaten das Ziel, die
Erderwärmung bis 2100 unter zwei Grad zu
halten, und sie verschärfen es: Sie wollen sich
bemühen, deutlich darunter zu bleiben. Das
zweite langfristige Ziel ist, dass in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts die globale Wirtschaft
treib­haus­gas-neutral werden soll.
Um die Ziele zu erreichen, verpflichten sich
die Staaten, ihre freiwilligen „National festgelegten Beiträge“ (NDCs) überprüfbar zu machen: Alle müssen Kohlenstoff-Inventare und
Berichte zur Umsetzung vorlegen; Entwicklungsländer, „die sie brauchen“, erhalten Flexibilität. Zudem werden die nationalen Klimaschutzpläne in gemeinsamen „globalen Bestandsaufnahmen“ auf ihre Gesamtwirkung
geprüft und sollen dabei verschärft werden –
und zwar alle fünf Jahre ab 2023. Hierbei „sollten“ die Industrieländer weiter bei Emissionsminderungen vorangehen; das stärkere Wort
„sollen“ wurde in letzter Minute auf Druck der
USA abgeschwächt.
Für Klimaschutz sowie für Anpassung an
Klimafolgen im Süden sagen die Industrieländer erneut 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr
ab 2020 zu, jedoch nicht im rechtsverbindlichen Abkommen, sondern nur in der Entschließung. Was mitgerechnet werden darf,
bleibt offen, und weitere Steigerungen versprechen sie nicht. Immerhin verpflichten sie
sich, alle zwei Jahre über ihre Klimafinanzierung zu berichten.
(bl)
33
34
welt-blicke klimaschutz
Dicke Luft um die Zementfabrik
von Baokang in China. Bei der
Herstellung von Zement, einem
weltweit begehrten Baustoff, entweichen große Mengen
Kohlendioxid.
Reuters
in nationalen Kohlenstoff-Registern, wie viele Treibhausgase freigesetzt und von Senken wie Wäldern
aufgenommen werden. Das ist sehr aufwendig.
„Wenn wir ein solches Register aufbauen müssen, ist
das für uns eine enorme Belastung“, erklärte Raju
Chhetri, der als freier Berater zur Verhandlungsdelegation Nepals gehörte.
Ohne Transparenz wäre aber der Neuansatz des
Paris-Abkommens wirkungslos. Denn ein Kernproblem beim Klimaschutz ist, dass alle mitmachen müssen: Kein Staat nimmt sich freiwillig ehrgeizige Treibhausgas-Minderungen vor, wenn er erwartet, dass
der Nutzen von anderen zunichte gemacht wird. Damit die Regierungen erkennen, dass alle bedeutenden Emittenten ihre Beiträge leisten, müssen diese
transparent und überprüfbar sein. Diese Forderung
hat sich in Paris weitgehend durchgesetzt.
Ein weiteres Kernproblem des Paris-Abkommens
ist, dass die Staaten zu geringe Minderungen versprechen. Die vorliegenden INDCs werden, wenn sie alle
eingehalten werden, die Emissionen und damit die
Erderwärmung bremsen. Sie dürfte aber bis 2100 immer noch 2,7 bis 3,7 Grad betragen – je nachdem, welches Wirtschaftswachstum und welche künftige Klimapolitik man unterstellt. Deshalb müssen die nationalen Ziele ständig verschärft werden.
S
Gefährliches Schlupfloch
Ein Instrument der Klimafinanzierung im Süden hat eine unklare Zukunft: der Clean
Development Mechanism (CDM). Er wurde mit dem Kyoto-Protokoll geschaffen, damit Industrieländer ihre Pflichten zur Emissionsminderung mit Vorhaben in Entwicklungsländern erfüllen können: Sie finanzieren dort Klimaschutz und rechnen
sich die eingesparten Emissionen an – im Fachjargon heißt das „Offsetting“.
Im Paris-Abkommen ist vage ein „Mechanismus“ vorgesehen, den man als Ausweitung des CDM verstehen kann. Dieser beruht aber auf der Trennung von Industrieund Entwicklungsländern: Nur die ersteren müssen unter Kyoto Emissionen einsparen. Unter dem Paris-Abkommen haben jedoch auch Entwicklungsländer Minderungsziele. Für das Offsetting bedeutet das: Entwicklungsländer können künftig Emissionseinsparungen untereinander verrechnen – zum Beispiel China für seine Projekte
in Äthiopien. Das dürften immer mehr Länder versuchen. Ein armes Land, das nun
selbst Emissionen einsparen soll, wird das Erreichte allerdings zuerst auf seine eigenen Ziele anrechnen wollen. Damit etwas übrig ist, was einem Geldgeber aus einem
Industrie- oder Schwellenland angerechnet wird, muss es seine nationalen Ziele übertreffen. Das gelingt natürlich am ehesten, wenn die Ziele nicht zu ehrgeizig sind.
Der neue „Mechanismus“ droht folglich für arme Staaten zum perversen Anreiz
zu werden, sich nicht zu viel Klimaschutz vorzunehmen. Dabei ist der Zweck des Abkommens gerade, alle Länder zu möglichst ehrgeizigen Zielen zu bringen. Wenn die
Industrieländer das ernst meinen, müssen sie auf Offsetting verzichten: Sie sollten
ihre Ziele zu Hause erfüllen und Klimaschutz im Süden finanzieren, ohne das der eigenen Klimabilanz gutzuschreiben. (bl)
trittig war in Paris, wie schnell das beginnen
sollte – und ob getreu dem Prinzip der Differenzierung die Entwicklungsländer schärfere Ziele
von mehr Hilfszahlungen der Industrieländer abhängig machen sollten. Der Süden wollte Finanzhilfen, auch solche für Anpassung an die Folgen der
Erd­erwärmung, zum Teil der regelmäßigen Prüfungen machen. Und mit der Verschärfung der Ziele
sollten auch diese Zahlungen steigen. Zudem wandten sich Südländer gegen Bestrebungen im Norden,
stark auf Kredite und Privatinvestitionen zu setzen
und Beiträge aus Öl- und Schwellenländern einzufordern: Süd-Süd-Hilfe sei freiwillig, Nord-Süd-Hilfe
aber eine Verpflichtung unter der UNFCCC. Intern
wurde in der Gruppe der Entwicklungsländer durchaus diskutiert, dass etwa Südkorea oder Saudi-Arabien mehr tun und mehr zahlen sollten. Die harte Haltung der Industrieländer, unter anderem bei Finanzen, ließ den Süden aber oft die Reihen schließen.
Doch der Kompromiss in Paris ist auch neuen Koalitionen zu verdanken. Die Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifik (AKP) hatten bereits Mitte 2015
eine informelle Gruppe mit der Europäischen Union
(EU) gebildet. Sie wollte das langfristige Ziel verankern, die Erderwärmung eher auf 1,5 als auf zwei Grad
zu begrenzen; ein Abkommen rechtlich bindend machen; und die Umsetzung der INDCs einheitlich messen und alle fünf Jahre überprüfen.
Das nahm den Kern der Einigung vorweg. Auf
der Konferenz trat die Gruppe als „High Ambition
Coalition“ hervor – und wuchs ständig. Die USA
schlossen sich an und gestanden die Verschärfung
des Zwei-Grad-Ziels zu. Brasilien schloss sich zwei
Tage später der Koalition an und ließ dabei die Forderung nach Differenzierung bei der Berichtspflicht
fallen. Einen Tag später konnte Frankreichs Außenminister Laurent Fabius die Annahme des Abkommens verkünden.
Im Ergebnis sollen nun auch arme Länder Emissionen einsparen, während reiche weiter übermäßig
Platz in der Atmosphäre beanspruchen. Das ist ein
Abschied von Klimagerechtigkeit, wie sie in der
UNFCCC theoretisch angelegt ist. Trotzdem sind die
neuen Regeln ein Fortschritt, falls sie wirksamer sind
als die alten. Denn alle Länder gewinnen und am
meisten die ärmsten, wenn die Erderwärmung möglichst klein gehalten werden kann.
2-2016 |
klimaschutz welt-blicke
Wer emittiert die meisten Treibhausgase?
Emissionen pro Kopf
der Bevölkerung 2012
Die zehn Staaten
mit den höchsten Emissionen 2012
Gigatonnen CO2-Äquivalent
Tonnen CO2-Äquivalent pro Kopf
Volksrepublik China
Vereinigte Staaten
Europäische Union
Indien
Russland
Indonesien
Brasilien
Japan
Kanada
Mexiko
25
20
15
10
5
0
0
2
4
6
8
10
12
Erfasst sind sechs Treibhausgase, umgerechnet auf die Wirkung von Kohlendioxid (CO2-Äquivalent). Für einige gibt es
nur ungenaue Daten. Landnutzungsänderungen wie die Umwandlung von Wäldern in Äcker sind eingerechnet und für
Indonesien die größte Quelle von Emissionen.
Quelle: World Resources Institute (http://cait.wri.org)
Kann das gelingen? Nun sollen freiwillige Ziele
plus Transparenz und Überprüfungspflicht plus Hilfe die Staaten dazu bringen, immer mehr zu tun –
begünstigt vom technischen Fortschritt. Am ehesten
dürfte das dort zu Emissionsminderung beitragen,
wo es technische Lösungen gibt, die wirtschaftlich
lohnend erscheinen. Das gilt vor allem für die Stromerzeugung: Das Abkommen dürfte den Übergang zu
erneuerbaren Energien globalisieren und beschleunigen. Vor allem in Afrika können Gebiete, die noch
keine Elektrizität haben, die Kohlekraft überspringen und sofort Wind- oder Solarstrom erhalten.
E
s wird auch mehr Geld in den Waldschutz und
in klimafreundliche Agrarmodelle im Süden
fließen; Deutschland und Norwegen haben ihre
Hilfe für Waldschutz bereits aufgestockt. Doch die
Emissionen der Landwirtschaft im Norden wurden
in Paris nur am Rande behandelt. Nachhaltige Konsummuster tauchen nur in einem Satz in der Präambel auf. Im Verkehr werden technische Lösungen wie
die Elektrifizierung nicht genügen, um fossile Energien schnell zu ersetzen. Und Flugverkehr und
Schifffahrt, deren Emissionen nicht von Staaten erfasst werden und stark steigen, bleiben unreguliert.
Die EU versuchte in Paris vergebens, das zu ändern.
Die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen,
wird sicher nicht gelingen. Was dazu nötig ist, haben
die Staaten in Paris gerade nicht beschlossen: Die globalen Emissionen müssten laut führenden Klimaforschern um 2020 ihren Höhepunkt erreichen. Danach
müssten reiche Länder bis 2030 jede KohlendioxidEmission beenden, arme müssten ein bis zwei Jahrzehnte später folgen.
| 2-2016
Eine Dekarbonisierung wollten die führenden Industrieländer (G7) im Paris-Abkommen vorsehen –
jedoch erst für die zweite Hälfte des Jahrhunderts.
Vor allem Ölstaaten sorgten dafür, dass stattdessen
vereinbart wurde, die Wirtschaft solle „treibhausgasneutral“ werden. Dann darf weiter emittiert werden,
wenn zum Ausgleich CO2 abgetrennt und in die Erde
Die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, ist nur
ein hohles Versprechen: Was dazu nötig ist, wollten die
Staaten in Paris gerade nicht beschließen.
gepresst oder mehr Kohlenstoff in Senken gebunden
wird, etwa durch Aufforstung. Dies sind zum guten
Teil Luftbuchungen, kommentierten führende Klimaforscher in Paris. „Die globalen Emissionen müssen Null werden, wenn die Erdtemperatur irgendwo
stabilisiert werden soll – ob bei 1,5 Grad, zwei Grad
oder sonst wo“, sagte der Norweger Joeri Rogelj.
Zudem soll das Paris-Abkommen erst 2020 in
Kraft treten. Wenn man den Temperaturanstieg unter zwei Grad halten will, muss man vorher zusätzlich
Emissionen senken. Hier sollen Unternehmen, Städte
und Regionen in die Bresche springen. Dass ihre Klimaschutz-Initiativen die Versäumnisse der Regierungen vor 2020 ausgleichen können, ist aber sehr zweifelhaft. Das Abkommen von Paris wird alleine die
Erd­erwärmung nicht bremsen. Es kann allenfalls den
Regierungen Klimaschutz-Initiativen erleichtern
und dafür neue Anreize setzen. Mehr kann man von
einem internationalen Vertrag nicht erwarten. Bernd Ludermann
ist Chefredakteur von
.
35
36
welt-blicke entwicklungspolitik
„Jede Form von Extremismus
schließen wir aus“
Die staatliche Entwicklungspolitik will sich den Religionen annähern
Kann Religion zu nachhaltiger Entwicklung beitragen? Ulrich Nitschke ist davon überzeugt. Der
Theologe leitet das Sektorvorhaben „Werte, Religion und Entwicklung“ bei der Deutschen
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Er erklärt, was er sich von der Kooperation mit religiösen Organisationen erhofft – und welche Hürden zu überwinden sind.
Gespräch mit Ulrich Nitschke
Herr Nitschke, derzeit erleben wir,
welche zerstörerische Kraft Religion entfachen kann. Haben Sie ein
Gegenbeispiel?
Die Abschaffung der Rassentrennung, der Apartheid, in Südafrika. Sie ist ohne die Kirche
nicht denkbar. Präsident Pieter
Botha konnte jegliche Opposition
verbieten, die Kirche jedoch nicht.
Das haben schlaue Theologen erkannt und sich 1985 mit ihrem
Kairos-Dokument auf die Seite
der armen und unterdrückten
schwarzen Mehrheit gestellt. Und
sie haben ihre Pforten für sie geöffnet. Das hat der Kirche eine
Glaubwürdigkeit verliehen, die
„Wir werden keine islamische
Entwicklungsbank unterstützen, die
ausschließlich Gutes für Muslime tut.“
bis weit in die 1990er Jahre gehalten hat. Für mich war das die prägende Erfahrung, dass Religion
zur Versöhnung, zur Befriedung
und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft beitragen kann. Aber es
bedarf einer besonderen theologischen Leistung, Apartheid als
Häresie, also Ketzerei, zu entlarven und eine Theologie der Befreiung dagegen zu setzen. Das ist
heute aktueller denn je.
In der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sehen
Sie Religion als „Leerstelle“. Was
meinen Sie damit?
In den Berichten über unsere
Partnerländer finden sich keinerlei Aussagen über die Religionsgemeinschaften, die dort vertreten
sind. Dabei wissen wir, dass acht
von zehn Menschen sich über die
Religionszugehörigkeit definieren. Und wir wissen auch, dass die
Religionsgemeinschaften einen
erheblichen Einfluss auf die Gesellschaften haben, in denen wir
arbeiten. Als säkulare Organisation ignorieren wir diese Tatsachen. Das will das Entwicklungsministerium ändern und hat die
GIZ deshalb mit dem Sektorvorhaben „Werte, Religion und Entwicklung“ beauftragt.
Woran liegt diese Ignoranz?
Wir glauben immer noch,
dass wir alles über finanzielle und
technische Zusammenarbeit lösen können. Wir erwarten von jedem, der religiös motiviert ist,
dass er bei Gesprächen über die
Zusammenarbeit mit uns seine
Überzeugung und seine Religion
an der Garderobe abgibt. Wenn er
rausgeht, kann er sie wieder anziehen. Ein weiterer Grund liegt
sicher darin, wie religiöse Organisationen aufgebaut sind. Oft ist
die religiöse Landschaft sehr zer-
splittert. Im Islam etwa gibt es
keine Vertretungsstruktur und
kein Lehramt. Jeder Imam vertritt
nur seine Gemeinschaft und seine muslimische Überzeugung.
Wen soll man da einbeziehen?
Wir erwarten auch von den Religionsgemeinschaften, dass sie auf
uns zukommen und einen Vertreter für Gespräche benennen.
Es gibt also Berührungsängste auf
beiden Seiten?
Ja. Bei uns herrscht die säkulare Weltanschauung vor, sie ist
quasi selbst zur Religion geworden. Das bestärken islamistische
Anschläge wie jüngst in Paris und
Bamako. Sie zeigen, dass Religion
eben auch hoch anfällig dafür ist,
für Wirtschafts- und Machtinteressen oder Terrorismus missbraucht zu werden. Sie wird bei
uns nicht unbedingt mit nachhaltiger Entwicklung verbunden,
sondern eher mit Rückständigkeit
und Extremismus. Es geht aber
darum, ihr Potenzial zu entwickeln, so wie damals in Südafrika.
Im Moment wird in der öffentlichen und leider auch zum Teil veröffentlichten Meinung der Islam
mit Terrorismus gleichgesetzt.
Macht das Ihre Arbeit schwieriger?
Absolut. Auf der anderen Seite macht es den Bedarf deutlich –
seit den Anschlägen in Paris haben wir so viele Anfragen nach
Beratung und Orientierung wie
noch nie. Entwicklungsminister
Müller bringt das so auf den
Punkt: „Wenn Religion Teil des
Problems ist, muss sie auch Teil
der Lösung sein.“ Wir müssen uns
deshalb auch die Mühe machen
zu sagen, was wir nicht tun.
2-2016 |
Ulrich Nitschke ist Leiter des
­Sektorvorhabens „Werte, ­Religion
und Entwicklung“ bei der GIZ.
Zuvor hat er unter anderem
Governance-Programme für die
Palästinensergebiete und das vom
Auswärtigen Amt finanzierte Projekt
„Zukunft für Palästina“ geleitet.
Gesine Kauffmann
entwicklungspolitik welt-blicke
Was würden Sie nicht tun?
Die GIZ würde niemals mit einer nur ansatzweise terroristisch
angehauchten Gruppe zusammenarbeiten. Aber vielleicht
müssen wir künftig den Missbrauch von Religion verhindern
helfen, indem wir mit den Religionsgemeinschaften präventiv in
sich anbahnende Konflikte eingreifen und den interreligiösen
Dialog fördern.
Gemeinsam mit Religionsführern
wurden in Westafrika würdevolle
und sichere Beerdigungsrituale für
Ebola-Tote entwickelt: Ein Pfarrer
und ein Imam bei einem Workshop.
Worldvision/Bundu
Und was tun Sie?
In unserer Reihe „Religion
matters“ laden wir im Auftrag des
BMZ religiöse Führungspersönlichkeiten in das Entwicklungsministerium ein, um mit ihnen über
die nachhaltige Entwicklung ihrer Gesellschaften zu diskutieren.
Im Oktober waren Erzbischof Ignatius Ayau Kaigama und Emir
Muhammadu Mohamed Muazu
aus Nigeria zu Gast. Es ging darum, wie man Jugendlichen in Ni-
„Es geht nicht darum, den eigenen Glauben
zu bekennen. Wir wollen den Umgang mit
Religion professionalisieren.“
geria eine Perspektive geben
kann, damit sie sich nicht Boko
Haram anschließen. Über den interreligiösen Dialog hinaus haben Christen und Muslime mit
Unterstützung der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit
ein Berufsbildungscollege aufgebaut. Solche Pilotprojekte, in denen es um Sinnstiftung und Orientierung geht, planen wir außerdem in Tansania, Jordanien und
Indonesien. Das BMZ möchte erfahren, inwieweit konkrete Maßnahmen in der Zusammenarbeit
mit religiös motivierten Organisationen vor Ort verbessert werden können.
für die Kooperation. Natürlich
muss die BMZ-Strategie davon
ausgehen, dass die Menschenrechte anerkannt werden, auch
die Frauenrechte und die Rechte
von Minderheiten. Jede Form von
Extremismus und Diskriminierung werden hier ebenfalls ausgeschlossen. Auch in den Pilotvorhaben werden wir zum Beispiel
im Auftrag des BMZ keine islamische Entwicklungsbank unterstützen, die ausschließlich Gutes
für Muslime tut. Und wir werden
überprüfen, ob die Kriterien eingehalten werden, genau wie bei
anderen nichtstaatlichen Organisationen auch.
Was können religiöse Organisationen in der Zusammenarbeit besonders gut?
Ich erhoffe mir, dass wir mit
ihrer Hilfe ganzheitlicher an Entwicklung herangehen. Sie sind
näher an den Menschen als die
staatlichen Stellen. Sie sind vor
allem in den ländlichen Regionen
gut verankert und genießen oft
eine hohe Glaubwürdigkeit. Sie
sind verlässlich, sie sind ständig
vor Ort, während wir in Drei-Jahres-Zyklen denken. Außerdem
werden die meisten sozialen
Dienste wie Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen von religiösen Organisationen in unseren
Partnerländern getragen.
Wie stehen die kirchlichen Hilfswerke zu der neuen Strategie des
BMZ?
Es gibt Vorbehalte, aber auch
eine hohe Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Die geplanten Pilotprojekte in den Partnerländern
werden wir zum Teil gemeinsam
mit ihnen verwirklichen. In Nigeria gibt es die Idee, mit Hilfe von
Partnern von Misereor und möglicherweise auch Brot für die Welt
gemeinsam den interreligiösen
Dialog auszubauen. Das befindet
sich allerdings noch in der Diskussion.
Wo sind die Grenzen der Zusammenarbeit? Manche Themen sind
heikel wie der Zugang zu Verhütungsmitteln oder der Umgang
mit Homosexuellen.
Das BMZ benennt in seiner
neuen Strategie, die es im Februar
veröffentlichen will, Prinzipien
| 2-2016
Nehmen christliche Hilfswerke die
staatliche Entwicklungsarbeit als
Konkurrenz wahr, die ihnen Partner wegnehmen will?
Das ist eine der Befürchtungen. Die Angst, instrumentalisiert
zu werden, ist auf beiden Seiten
vorhanden. Aber diese Einstellung ist von vorgestern. Wenn wir
nur ansatzweise eine Chance haben wollen, die ambitionierten 17
37
welt-blicke entwicklungspolitik
neuen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, dann geht das nur in einer neuen Qualität von Partnerschaft. Wir werden niemanden
mehr außen vor lassen können.
Wie können Sie verhindern, dass
religiöse Organisationen EZ-Vorhaben nutzen, um zu missionieren?
Das können nur diejenigen
verhindern, die sich vor Ort auf
eine Kooperation einlassen. Wir
wollen das Zuhören und Voneinander-Lernen befördern. Säkulare
und religiöse Akteure sollen sich
gegenseitig beeinflussen und
dem guten Vorbild folgen.
Wie wollen Sie GIZ-Experten für religiöse Fragen fit machen?
Wir werden eine Form entwickeln, wie wir in den Länderstudien analysieren, welche Religionsgemeinschaft wo vertreten ist
und wer ihre Führer sind. Für alle,
die wir entsenden, ist außerdem
ein Modul in der Vorbereitung geplant. In den Regionen, in denen
Religion eine besonders wichtige
Rolle spielt, würde ich gerne ein
Seminar für Führungskräfte anbieten, wie sie Respekt für religiöse Organisationen und Überzeugungen entwickeln und diese in
ihre
Entwicklungsprogramme
einbeziehen können.
Wie wichtig ist die persönliche Einstellung?
Allgemein gilt ja, Religion ist
Privatsache, das hat mit meinem
Beruf nichts zu tun. Aber es geht
nicht darum, den eigenen Glauben zu bekennen. Wir wollen den
Umgang mit Religion professionalisieren, also die Fähigkeit, zu
unterscheiden zwischen dem eigenen Zugang und dem Umgang
damit in der täglichen Arbeit.
Viele Regierungen haben inzwischen restriktive NGO-Gesetze
erlassen. Könnte es da schwierig
werden für ein GIZ-Landesbüro,
mit einer religiösen Organisation
zusammenzuarbeiten?
Ich habe in Benin und Palästina selbst erlebt, dass Organisationen von der politischen Führung
des Landes abgelehnt wurden.
Künftig will das BMZ auch in den
Regierungsverhandlungen mehr
auf die Religionsfreiheit in den
Partnerländern achten. Um die
religiöse Landschaft dort besser
zu verstehen, müssen wir als Sektorvorhaben den entsandten
Fachkräften in den Botschaften
und Landesbüros ein Analyseinstrument an die Hand geben, mit
dem sie die religiösen Akteure
besser einschätzen können.
Welchen Spielraum haben Sie,
wenn eine Regierung eine Partnerorganisation ablehnt?
Wenn es keine Kompromisse
gibt, war es bisher so, dass der
Nehmer, sprich die Partnerregierung irgendwann alle Augen zugedrückt hat, weil Deutschland
bezahlt. Aber das ist nicht das Verständnis von Partnerschaft in der
neuen Agenda 2030. Ich möchte
das BMZ ermutigen, in Zukunft
nicht nur mit Regierungen zu verhandeln, sondern andere Partner
einzubeziehen. Von den Religionsgemeinschaften erhoffe ich
mir, dass sie die Fragen von sozialer, ökologischer und ökonomischer Gerechtigkeit stärker aufgreifen. Da tun wir uns als staatliche Akteure oft schwer. Wir führen etwa keine Debatte darüber,
dass ein gewisser Reichtum
schädlich ist für Nachhaltigkeit.
Wir brauchen die Werteorientierung und die Vorstellung von Genügsamkeit aus den Religionen.
Ist das nicht eine Überforderung
der Religionsgemeinschaften?
Das wird mir oft entgegengehalten, aber trotzdem muss man
diese Fragen stellen. Die Glaubwürdigkeit von Papst Franziskus
kommt daher, dass er tut, was er
sagt. Daran mangelt es am meisten auf dieser Welt. Und ich habe
die Hoffnung, dass wir im Dialog
zwischen staatlichen und religiösen Akteuren einen Unterschied
machen können. Sonst bräuchten
wir die Kooperation nicht.
Das Gespräch führte
Gesine Kauffmann.
Anzeige
KUBA AUS FRAUENPERSPEKTIVE
© Heiner Heine
In Zeiten politischer und gesellschaftlicher Umbrüche steht Kuba im Mittelpunkt
des Weltgebetstags 2016. Frauen des Karibikstaates haben den Gottesdienst
dazu verfasst. Sie erzählen uns darin von ihrem Glauben und aus ihrem Alltag.
© WDPIC
38
Am 4. März 2016 finden weltweit
Gottesdienste sowie Bildungs- und
Kulturveranstaltungen statt.
Bestimmt auch bei Ihnen vor Ort!
Frauen, Männer,
Jugendliche und Kinder –
alle sind eingeladen
zum Weltgebetstag 2016!
Weltgebetstag der Frauen
Deutsches Komitee e. V.
Die Bewegung des Weltgebetstags …
… ist weltweit und vor Ort zu Hause
der Erde
… vernetzt Frauen in über 100 Ländern
… lebt ökumenisches Miteinander
Kirche
… fördert Geschlechtergerechtigkeit in
und Gesellschaft
en und
… unterstützt weltweit Projekte, die Frau
ischen
polit
,
alen
sozi
ihre
n,
ärke
Mädchen best
dern
ufor
einz
te
Rech
hen
und wirtschaftlic
Mehr Infos: www.weltgebetstag.de – www.facebook.de/weltgebetstag
2-2016 |
islamismus welt-blicke
Mörder zur Einsicht bringen
­Bürgerwehren
bieten in
­Maiduguri
den Islamisten
die Stirn und
sorgen mit
Unterstützung
der Regierung
für Sicherheit.
JOe Penney/Reuters
Nigeria will Kämpfer der islamistischen Sekte Boko Haram dazu bringen, ihre radikalen
Ansichten abzulegen. Doch ist die Gesellschaft bereit, sie wieder aufzunehmen?
Von Obinna Anyadike
M
alam Tata hat eine Berufung: Der Vollzugsbeamte hält es für seine
religiöse Pflicht, Menschen auf
den richtigen Weg zu bringen.
Und nur wenige von ihnen haben
seiner Meinung nach so schwer
gesündigt wie die 43 Mitglieder
der islamistischen Terrorgruppe
Boko Haram, die im Gefängnis
Kuje am Rande der nigerianischen
Hauptstadt Abuja sitzen. Dort tut
Tata seit 26 Jahren Dienst. Unter
seiner Leitung bemüht sich eine
Gruppe muslimischer Geistlicher,
| 2-2016
die Terroristen von ihren radikalen Ansichten abzubringen.
Jeden Tag diskutiert Tatas
Team mit ihnen über ihre Religion und stellt die Basis ihrer gewaltverherrlichenden Ideologie in
Frage. „Zum Teil sind sie Analphabeten. Sie kennen den Koran gar
nicht und dennoch meinen sie, sie
würden den Dschihad praktizieren“, sagt Tata. „Andere haben den
Koran und die Hadithe gelesen,
aber sie verstehen den Islam
falsch. Sie folgen den Einflüsterungen des Satans.“
In Kuje wird ein Programm
der Gewaltprävention erprobt, das
im März 2015 in nigerianischen
Haftanstalten eingeführt wurde.
Dahinter steckt die Idee, dass die
Männer, die wegen terroristischer
Vergehen inhaftiert sind, einer Art
Therapie unterzogen werden
müssen. Ihr Verhalten soll durch
Gespräche und Sport sowie allgemeinbildenden und berufsvorbereitenden Unterricht verändert
werden. Man hofft, auf diese Weise auch die Rekrutierung anderer
Gefangener zu unterbinden und
39
40
welt-blicke islamismus
„Jetzt weiß ich,
dass man zuhören und sich
mit anderen
austauschen
muss“ – ein
Teilnehmer am
Umerziehungsprogramm in
Kuje zeigt sich
einsichtig.
Obinna Anyadike
die Terroristen langfristig wieder
in die Gesellschaft zu integrieren.
Dafür soll das Betreuerteam eine
persönliche Beziehung zu den als
„Klienten“ bezeichneten Boko-Haram-Häftlingen aufbauen.
Die Deradikalisierung wird in
einem stillen und abgeschiedenen Teil des Gefängnisses in modernen Unterrichtsräumen praktiziert. Sie sind als einzige Räume
der spartanischen Vollzugsanstalt mit Klimaanlagen ausgestattet und sollten ursprünglich von
einem Institut der Erwachsenenbildung genutzt werden. Hier
treffe ich einen der Klienten. Der
untersetzte Mann in Jeans und
engem T-Shirt bezeichnet sich als
hen. Er betreut miteinander vernetzte Projekte, die an den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ansetzen, die Boko Haram
Zulauf verschaffen. Sie erarbeiten
zudem die Voraussetzungen dafür, Boko-Haram-Mitglieder zu
entwaffnen, zu demobilisieren
und zu resozialisieren für den Fall,
dass die Organisation zerschlagen
wird oder einem Friedensabkommen zustimmt.
Ikwang vertritt eine klare Position: Wer Gräueltaten begangen
hat, soll im Gefängnis bleiben –
und dort seiner radikalen Ideologie abschwören. Rangniedrigere
Kämpfer hingegen, die am Gewaltpräventionsprogramm teilge-
anstalten füllen sich ebenfalls
mit ehemaligen Boko-HaramKämpfern, denn sie legen immer
häufiger die Waffen nieder. Die
Teilnahme an den Umerziehungsprojekten ist freiwillig. In
Kuje wird sie von vier Gefange-
„Commander“. Er spricht Hausa
und artikuliert seine Gedanken in
kurzen Sätzen. Den Imam, der als
Dolmetscher dabei ist, fordert er
in regelmäßigen Abständen zum
Übersetzen auf – er will gehört
werden. Dank Tata und seinem
Team sei er ein neuer Mensch geworden, sagt er. Auf die Frage, an
welcher Stelle der Koran das Töten von Zivilisten rechtfertigt,
antwortet er, er könne sich nicht
erinnern. „Ich bin ein anderer geworden. Über die Rechtfertigung
von Gewalttaten möchte ich nicht
sprechen.“
Ferdinand Ikwang koordiniert
das landesweite Deradikalisierungsprogramm für das staatliche Büro für nationale Sicherheit,
dem die Gefängnisse unterste-
nommen haben, könnten freigelassen werden und wieder ein
normales Leben führen. Allerdings sollten sie weiter unter Beobachtung stehen. Dabei gehe es
nicht darum, dass sie ihre Überzeugungen ändern, sondern dass
sie ihre Gewaltbereitschaft ablegen, betont Ikwang.
nen abgelehnt, sie bestreiten, der
Terrorgruppe anzugehören.
Die meisten der 39 anderen
Klienten sind seit vier Jahren in
Haft, allerdings waren sie nicht
immer in Kuje. Die Beteiligung
am Deradikalisierungsprogramm
bietet ihnen Vorteile: Sie bekommen überwiegend Zellen mit nur
einem Doppelstockbett. So leben
sie viel komfortabler als die anderen Häftlinge der Anstalt, die 1989
für 80 Personen fertiggestellt
wurde, jetzt aber mit 910 Gefangenen belegt ist. Die Klienten sind
separat in einem mit Fördermitteln der Europäischen Union modernisierten Seitenflügel untergebracht, in dem sie sogar Toilettenpapier und Seife erhalten. Das findet man sonst nirgends in den
Immer mehr Kämpfer legen
die Waffen nieder
Nicht nur in Kuje sind Boko-Haram-Mitglieder inhaftiert. In
Aguata im Süden Nigerias sitzen
ebenfalls etwa hundert von ihnen
ein, die Anfang 2015 kapituliert
haben. Auch sie sollen unter Anleitung von Vollzugsbeamten, die
in Kuje ausgebildet wurden, deradikalisiert werden. Andere Haft-
2-2016 |
islamismus welt-blicke
unterfinanzierten nigerianischen
Gefängnissen, in denen von Rehabilitierung selten die Rede ist.
„Vielleicht machen viele zunächst wegen der Privilegien mit.
Die stimmen sie auf jeden Fall
weichherziger“, sagt Kasali Yusuf,
Ein Selbstmordanschlag hat
Mitte 2015 auf
einem Markt
in Maiduguri
mindestens
zwanzig Opfer
gefordert. Das
Attentat wird
Boko Haram
angelastet.
afp/Getty Images
| 2-2016
der Koordinator des Betreuungsteams in Kuje. Zugleich schüre die Vorzugsbehandlung jedoch
Ressentiments unter den anderen
Insassen, die Boko Haram ohnehin hassen. „Das bringt für uns allerlei Probleme mit sich. Wir
mussten den Häftlingen klar machen, dass das Programm von der
EU finanziert wird“, sagt Yusuf.
Der Psychologe Wahaab Akorede, hat die Fallgeschichten der
Klienten analysiert. Was sie von
den anderen Kriminellen unterscheidet, sei ihre tiefe Empörung,
der Wunsch, „alles kaputtzuschlagen“. Für ihn sind sie traumatisierte Opfer der Gesellschaft: Verzweifelt und chancenlos glauben sie
bereitwillig an das Paradies, mit
dem sie als „Märtyrer“ belohnt zu
werden hoffen. Wesentliche Anzeichen intensiver Frömmigkeit
sehen weder Akorede noch Yusuf
bei ihren Klienten.
Akorede verweist auf andere
mögliche Motive: In den polygamen Familien bemühen sich die
Frauen auf Kosten der Kinder um
die Aufmerksamkeit ihres Ehemannes. Die für den Norden Nigerias typische Form des Islam
verhindert zudem, dass die jungen Männer angemessen auf das
moderne Arbeitsleben vorberei-
me sie als Abschaum behandeln,
und die Religion bietet ihnen ein
Ventil, durch das sie ihre Wut ausleben können“, sagt Akorede.
Bei den Männern in Kuje unterscheidet der Psychologe zwischen Rädelsführern und Mitläufern. „Die Rädelsführer sind intelligent. Sie wissen, wie man Menschen erfolgreich manipuliert. Sie
sagen: ‚Eure Religion ist ein wertvoller Schatz, und der ist in Gefahr‘.“ So bilden sie eine Sekte, und
alle Außenstehenden – auch die
Mitglieder der traditionellen religiösen und gesellschaftlichen Hierarchien – sind ihre Feinde. Und
tet werden. Und die Verantwortungslosigkeit der Regierungen
stürzt die Menschen ins Elend
und bringt vielen einen frühen
Tod. „Entfremdung“ ist für ihn
der wesentliche Grund, weshalb
junge Männer in den Sog von
Boko Haram geraten. Sie haben
meist eine geringe Schulbildung
und fristen mit Gelegenheitsarbeiten ihre Existenz in den großen Städten. Es macht sie aggressiv, dass „auch die anderen Musli-
wo der Appell an den Glauben
und das Märtyrerideal nicht ausreicht, übernimmt Boko Haram
die materielle Unterstützung der
Familien. „Angenommen, jemand
ist mit seinem Leben unzufrieden. Er hat keine Ausbildung, er
hat keine Zukunft. Wenn man ihm
10.000 Naira (46 Euro) anbietet,
ist er bereit, Bomben zu legen“,
sagt Akorede.
Stolz erzählt der „Commander“: „Ich war schon bei Boko Ha-
Junge Männer brauchen ein
Ventil, um ihre Wut auszuleben
Korankurs im
Internat von
Jimeta im
Osten Nigerias.
Die Schulen
bereiten junge
Männer nicht
gut auf einen
Beruf vor.
Mohammed
Elshamy/
Anadolu Agency/
Getty Images
41
42
welt-blicke islamismus
ram, bevor Boko Haram überhaupt existierte.“ Er gehörte zu
den nigerianischen Taliban, die
für die Kämpfe in Afghanistan
Mudschaheddin anwarben. 2004
griffen sie entlang des nördlichen
Teils der Grenze zu Kamerun monatelang Polizeiwachen und andere Regierungsgebäude an. Damals gab es in Nigeria heftige Auseinandersetzungen über die Scharia, die im Jahr 2000 in zwölf
überwiegend islamischen Bundesstaaten im Norden Nigerias
eingeführt worden war. Das entsprach den Forderungen der muslimischen Bevölkerung, die darin
ein Mittel gegen die grassierende
Korruption sah. Doch letztlich
diente das nur der Elite und verhinderte jede wirkliche Reform.
Deshalb wandten sich Teile der
Radikalen nun gegen die herrschenden Schichten.
Fast alle Opfer von Boko Haram
sind ebenfalls Muslime
Im Juli 2009 kam es zum offenen
Konflikt. Boko-Haram-Gründer
Mohammed Yusuf hatte sich mit
der Regierung des Bundesstaates
Borno überworfen, und nachdem
mehrere seiner Anhänger getötet
worden waren, schwor er Rache. In
vier Staaten im Norden des Landes griffen seine Leute Polizeiwachen und andere Regierungsgebäude an. Während tagelanger
Kämpfe starben 700 Menschen,
darunter auch Yusuf selbst, der im
Polizeigewahrsam in Maiduguri
umkam. Der „Commander“ flüchtete weiter nach Norden in die
Stadt Kano und hielt sich versteckt, bis er schließlich gefasst
wurde.
Seiner Meinung nach war
Boko Haram in der Anfangsphase
bei weitem nicht so brutal wie unter der Führung von Yusufs Nachfolger Abubakar Shekau, der sich
der internationalen dschihadistischen Bewegung angeschlossen
hat. „In jeder Stadt, die sie einnehmen, bringen sie die Leute um.
Über wen wollen sie dann noch
herrschen, frage ich mich“, sagt
der „Commander“. Bei den Anschlägen der Terrorgruppe kamen
inzwischen mehr als 25.000 Menschen ums Leben, sowohl in Nigeria als auch in den Nachbarlän-
dern. Fast alle Opfer waren ebenfalls Muslime.
Der Vollzugsbeamte Tata stellt
mir einen weiteren Klienten vor,
einen zierlichen Mann mit Brille
und einem adrett geschnittenen
Bart, der ein reinliches weißes Gewand trägt. Er spricht voller Ehrfurcht über Mohammed Yusufs
Aufrichtigkeit und Integrität. Seiner Meinung nach ist Boko Haram
entstanden, weil Nigeria von Korruption, Ungerechtigkeit und Homosexualität befreit werden
musste. Er selbst hatte zu Yusufs
innerem Zirkel gehört, und vor
seiner Gefangennahme im Jahr
2011 hatte er in den Bundesstaaten Bauchi, Gombe und Plateau
die Gruppe angeführt. Den staatlichen Organen wirft er vor, sie hätten ungerechtfertigt Gewalt angewendet und Yusuf ermordet – kein
Polizist sei dafür zur Verantwortung gezogen worden.
Der von seinen Überzeugungen tief durchdrungene Mann ist
ein Paradebeispiel für Akoredes
Theorie, dass Boko Haram sich auf
frustrierte und empörte Menschen stützt. Er wuchs mit mehr
als 30 Geschwistern auf und verließ die Schule schon mit zwölf
Jahren. Dann arbeitete er als Automechaniker in Maiduguri, doch er
konnte sich mit der Armut im
Norden und der Gleichgültigkeit
der wohlhabenden Elite nicht abfinden. „Ich dachte, wenn man bereit ist, Gewalt anzuwenden, könne man seine Ziele durchsetzen“,
sagt er. „Bevor ich an diesem Umerziehungsprogramm teilnahm,
hätte ich mich mit Ihnen gar nicht
abgegeben. Wir meinten es ernst,
und ich war knallhart. Doch jetzt
weiß ich, dass man zuhören und
sich mit anderen austauschen
muss.“
In Maiduguri ist das Mittagsgebet gerade zu Ende. Ich schaue
mich im Viertel Monday Market
um, in dem Mohammed Yusuf
zuerst als Prediger aufgetreten
ist. Mit mehreren Männern komme ich darüber ins Gespräch, was
zur Entstehung von Boko Haram
beigetragen hat. Sie wollen nicht,
dass ihre Stadt in einen Topf geworfen wird mit der Gewalt und
dem Blutvergießen, das hier seinen Anfang genommen hat. Der
Schulleiter Suleiman Aliyu räumt
jedoch ein, dass es in Maiduguri
durchaus Sympathien für Boko
Haram gab. Die schlicht und traditionell gekleideten Anhänger
der Bewegung galten als fromm
und sittenstreng. Dass sie die Korruption anprangerten, stieß auf
breite Zustimmung. Ihre utopische Botschaft fand auch wohlhabende Unterstützer, die großzügig spendeten. „Wenn man nicht
zu genau darüber nachdachte,
glaubte man ihnen“, meint Aliyu.
„Das sind Teufel in
Menschengestalt“
Als die Aufstandsbewegung niedergeschlagen wurde, zerfiel die
Gruppe vorübergehend. Dank der
finanziellen Unterstützung durch
Dschihadisten aus Algerien und
Mali konnte sie sich neu organisieren und bereits 2010 wieder
aktiv werden. 2011 wurden im
Bundesstaat Borno Motorradtaxis verboten, weil sie oft dazu benutzt wurden, im Vorbeifahren
Menschen zu erschießen. Dadurch verloren um die 34.000
Menschen ihre Existenzgrundlage, und so bekam Boko Haram erneut Zulauf. Militärische Fehlschläge und die kollektive Bestrafung ganzer Stadtviertel für Attentate untergruben die Loyalität
der Bevölkerung zum Staat.
Unterdessen zeigte Boko Haram sich großzügig und übernahm etwa die Kosten für Familienfeiern. Die Gruppe wollte jeden
vereinnahmen und tötete diejenigen, die sich widersetzten. „Sie
versuchten die Kontrolle über das
gesamte Gemeinwesen zu übernehmen“, sagt Aliyu. Die Gründung der nur mit Äxten und Macheten bewaffneten Miliz Civilian
Joint Task Force (CJTF) war eine
mutige Antwort auf den Terror
von Boko Haram. Ihre Mitglieder
lieferten der Armee die Informationen, mit denen sie die Gruppe
bis Ende 2013 aus Maiduguri vertreiben und ihre Rückkehr weitgehend verhindern konnte.
Meine Gesprächspartner in
Maiduguri sind sich einig: Der
harte Kern von Boko Haram kann
nicht resozialisiert werden. „Sie
treten in Menschengestalt auf,
aber in Wirklichkeit sind es Teu-
2-2016 |
islamismus welt-blicke
fel“, sagt ein Mann, der seinen Namen nicht genannt wissen will.
Laut dem Leiter des Deradikalisierungsprogramms, Ferdinand Ikwang, sollen die, die freigelassen
werden, in speziellen Einrichtungen leben und dort überwacht
werden. Sie sollen Kooperativen
mit
geeigneten
beruflichen
Schwerpunkten bilden und müssen sich einer Therapie unterziehen. Entscheidend sei die Akzeptanz in der Bevölkerung, sagt er.
Wenn frühere nigerianische
Regierungen solche mittelfristig
angelegten Programme in Angriff
nahmen, gelang es selten, die Finanzierung sicherzustellen und
dafür zu sorgen, dass das Geld angemessen verwendet wird. Wie
kann gewährleistet werden, dass
die Mittel für das Deradikalisierungprogramm nicht in dunklen
Kanälen verschwinden? Psychologe Akorede beharrt darauf, dass
das Projekt weiterlaufen muss – es
gebe einfach keine Alternative.
Noch entscheidender ist jedoch die Frage, ob das Umerziehungskonzept überhaupt funkti-
oniert. Tatsächlich scheint es in
der Boko-Haram-Abteilung im
Gefängnis von Kuje friedlich zuzugehen, das liegt im Interesse
von Mitarbeitern wie Gefangenen. Die Betreuer tragen Zivilkleidung und pflegen einen zwanglosen Umgang mit den „Klienten“.
Das ist für ein nigerianisches Gefängnis höchst ungewöhnlich,
denn anderswo müssen die Insassen in die Hocke gehen, wenn sie
einen Aufseher ansprechen wollen.
Noch ist es zu früh, um
das Programm zu bewerten
Für die Weiterbildung der Mitarbeiter, die Modernisierung der
Gebäude und die Rehabilitierungsprogramme nach der Haftentlassung wird sehr viel Geld
ausgegeben. Doch gibt es bisher
keine eindeutigen Erkenntnisse
über die Rückfallquoten, und es
ist auch nicht klar, ob dies überhaupt das entscheidende Kriterium ist. „Das lässt sich jetzt noch
nicht beurteilen“, sagt Ekpeme
Udom, die Leiterin sämtlicher Ge-
waltpräventionsprogramme in
nigerianischen
Gefängnissen.
„Auch anderswo gibt es diese Art
von Gewaltprävention erst seit
etwa zehn Jahren.“ Und sie fügt
hinzu: „Wir müssen es schaffen,
die Herzen und den Verstand der
Extremisten anzusprechen. In Afrika ist das etwas ganz Neues, und
bislang erzielen wir sehr gute Ergebnisse.“
Nach Ansicht von Ferdinand
Ikwang liegen die Ursachen jedoch tiefer. Sie sind durch die
schlechte Regierungsführung in
Nigeria bedingt, die für die Entstehung von Boko Haram und für
andere Konflikte im ganzen Land
verantwortlich ist. „Der Extremismus ist eine Ideologie, die an der
Wurzel bekämpft werden muss,
angefangen im Kindergarten, und
dabei müsste sich die Regierung
viel stärker um die Belange der Bevölkerung kümmern“, sagt er warnend. Er überlegt eine Weile und
fragt schließlich: „Wie konnte uns
eine ganze Generation von Jugendlichen entgleiten?“
Aus dem Englischen von Anna Latz.
43
Obinna Anyadike
ist Redakteur des InternetPortals IRIN (Integrated Regional
Information Networks – www.
IRINnews.org), auf dem sein
Artikel im Original erschienen ist.
Anzeige
Die FAIR HANDELN ist eine Messe für alle, die sich
engagiert für ein global faires und nachhaltiges
Handeln einsetzen. Sie stellt einen Marktplatz dar
für Fachbesucher und Endverbraucher und zeigt
das Spektrum von fair gehandelten Produkten,
Nahrungsmittel bis hin zu Textilien, Kosmetik
und Kunst. Mit ihren zahlreichen Bildungsveranstaltungen, Forumsbeiträgen und Podiumsdiskussionen ist sie die Leitmesse für Fair Trade und
global verantwortliches Handeln in Deutschland.
Ausstellungsbereiche:
• Fairer Handel
• Entwicklungszusammenarbeit
• Nachhaltiger Tourismus
• Verantwortliche Unternehmensführung (CSR)
• Sonderbereich Nachhaltiges Finanzwesen
| 2-2016
www.fair-handeln.com
Donnerstag 14 bis 22 Uhr
Freitag – Sonntag 10 bis 18 Uhr
44
welt-blicke religion
Rat von
Rabbi
Google
In Nigeria wächst unter den Igbo eine junge
jüdische Gemeinde. Ihre Mitglieder
vertrauen bei der religiösen Unterweisung
vor allem auf das Internet.
Text: William F. S. Miles, Fotos: Chika Oduah
E
ine erstaunliche religiöse Bewegung fasst in Nigeria Fuß: Immer mehr Mitglieder der ethnischen Gruppe der Igbo treten zum Judentum
über. Zu ihnen zählt Emmanuel Ekegbunam, der als
Beamter in der Kommunalverwaltung im südlichen
Bundesstaat Anamabra arbeitet. 1968 geboren und
römisch-katholisch erzogen, fühlte er sich in seiner
Jugend zu einer Form des Christentums hingezogen,
die als „messianisches Judentum“ bezeichnet wird.
Messianische Juden übernehmen viele Symbole des
Judentums: die Kippa und den Gebetsmantel, Hebräisch als Gebetssprache, den Samstag als Feiertag,
den Sabbat. Doch sie halten an einer zentralen Glaubensüberzeugung des Christentums fest: dass Jesus
der Sohn Gottes ist.
Messianische Juden sind überzeugt, dass sie zu
den Wurzeln ihres Glaubens zurückkehren, wenn sie
ihn praktizieren wie seinerzeit Jesus und so ihm
nahe kommen. Diese Vorstellung ist für das etablierte Judentum natürlich nicht akzeptabel. Dort ist
man überzeugt, dass die „messianischen Juden“
durch ihr Missionieren und offensives Vorgehen naive und gutgläubige Menschen anlocken, die auf der
Suche nach religiöser Wahrheit sind.
Doch für Emmanuel Ekegbunam war es wie für
Tausende andere Nigerianer eine notwendige Phase,
die ihn schließlich zu seiner wahren spirituellen
Heimat geführt hat: dem Judentum ohne Jesus. Wie
sollten christlich erzogene Nigerianer auch zum Judentum finden, wenn Jesu ursprüngliche Religion
nicht eine besondere Anziehungskraft für sie hätte?
Emmanuel Ekegbunam ist seit 2007 orthodoxer
Jude.
Das nigerianische Judentum insgesamt ist kaum
ein Vierteljahrhundert alt. Wie die meisten nigerianischen Juden ist Emmanuel jedoch überzeugt, dass
er zum Glauben seiner Vorfahren zurückgekehrt ist.
Jüdische Igbo stützen die Behauptung, sie seien
Nachfahren der einstigen Israeliten, auf eine Vielzahl von Beweisen bezüglich der Sprache und der
Riten. Remy Ilona, der wegen seiner Publikationen
im Ausland bekannteste nigerianische Jude, vertritt
die These, der Kolonialismus und die damit einhergehende Missionierung in Afrika seien mit einer bewussten „Entjudaisierung“ seines Volkes verbunden
gewesen. Die Briten, die Nigeria 1960 in die Unabhängigkeit entließen, hätten den geheimen Plan verfolgt, die israelitischen Wurzeln aus dem Bewusst-
2-2016 |
religion welt-blicke
Nigerianische Juden feiern im
Februar 2013 den Sabbat in der
Gihon-Hebrew’s-ResearchSynagoge in Abuja.
| 2-2016
sein der Igbo zu tilgen, sagt Ilona. „Bei meinen Forschungen habe ich entdeckt, dass mich das, was der
Kolonialismus uns aufgezwungen hatte, nichts angeht. So wurde ich Jude.“ Derzeit promoviert er in
Judaistik an der Florida International University im
US-amerikanischen Miami.
Unabhängig von ihrer Religion verbindet die
Igbo eine schmerzliche Erinnerung mit dem jüdischen Volk: ein Genozid. 1967 begann diese ethnische Gruppe, das drittgrößte Volk Nigerias und überwiegend christlich, einen am Ende gescheiterten
Unabhängigkeitskrieg gegen das überwiegend muslimische Militärregime, das damals das Land regierte. Das Regime verfolgte eine unerbittliche Politik
der verbrannten Erde gegen die selbsternannte Nation „Biafra“ im Südosten des Landes. Mehr als eine
Million Menschen verloren ihr Leben, die meisten
Zivilisten. Die Bilder von hungernden Igbo-Kindern
und ihren von Unterernährung aufgeblähten Bäuchen waren ebenso dramatisch wie die von jüdischen Mädchen und Jungen, die während der NS-Zeit
von Soldaten zusammengetrieben worden waren.
Igbo-Chronisten zogen damals eine direkte Parallele
zum Holocaust.
40 Jahre nach dem Ende des Biafra-Krieges erinnerte Caliben Ikejuku, als er die Zeremonie der BarMizwa für den Sohn des Gemeindeleiters Sar Haba-
kkuk in Abuja leitete, die Gäste daran, dass man die
damalige Tragödie auch in Zeiten des Friedens nicht
vergessen dürfe. „Nie wieder! Es darf nie wieder geschehen.“ Damit bezog er sich ebenso auf die Katastrophe der Schoah wie auf die Tragödie von Biafra.
„Israel ist gekommen, um zu bleiben“, erklärte Ikejuku, der als Chirurg praktiziert.
D
ie neuen Juden von Nigeria halten sich im Alltag nicht mit den Tragödien der Vergangenheit auf, sondern bilden Glaubensgemeinschaften. In Abuja gibt es drei Synagogen: die Gihon
Hebrew’s Research Synagogue, die auf dem Grundstück von Sar Habakkuk und die neueste in Caliben
Ikejukus Haus. Dutzende weitere jüdische Gebetshäuser liegen verstreut in der Heimatregion der Igbo
im Südosten des Landes. Der berühmte verstorbene
Igbo-Autor Chinua Achebe wusste nicht einmal, dass
es in seiner Heimatstadt Ogidi eine Synagoge gibt,
bis ich ihm vor vier Jahren in seinem amerikanischen Büro an der Brown University davon erzählte.
Die Zahl der Juden in Nigeria ist schwer zu schätzen. Zwischen 20 und 30 Millionen Igbo leben in
dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Doch wesentlich mehr berufen sich auf eine vermeintliche
israelitische Vergangenheit, als tatsächlich die Art
von Judentum praktizieren, die von der jüdischen
45
46
welt-blicke religion
Weltgemeinschaft anerkannt wird. Zu ihnen gehören nicht nur die „messianischen Juden“, sondern
auch andere religiöse Gruppen, von protestantischen und römisch-katholischen bis hin zu teilweise
animistischen. Die Zahl derjenigen, die ausschließlich und konsequent die jüdische Religion praktizieren, dürfte bei ein paar Tausend liegen – auch wenn
2008 in der jüdisch-amerikanischen Zeitung „The
Forward“ von 35.000 die Rede war.
Sie sind wohl die weltweit erste jüdische Gemeinschaft, die religiöse Unterweisung weitgehend aus
dem Internet erfährt. Das erklärt, warum sie mühelos
Hebräisch lernen und in dieser Sprache beten und
singen. Und obwohl sie sich sehnlichst einen örtlichen Rabbiner wünschen, der die Gemeinde betreut,
beziehen sie inzwischen einen Großteil ihres Wissens
über die jüdische Religion von „Rabbi Google“.
E
in amerikanischer Rabbiner aus Fleisch und
Blut, Howard Gorin aus Maryland, kam 2003 zu
den nigerianischen Juden, nachdem er im Jahr
zuvor an einer Konversionszeremonie für Abayudaya in Uganda teilgenommen hatte. Die Abayudaya
behaupten nicht, dass sie von den Israeliten abstammen, bekennen sich jedoch seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum Judentum. Der Besuch Gorins in Nigeria und seine Folgebesuche, bei denen er eine ThoraRolle mitbrachte und Religionsunterricht erteilte,
waren ein wichtiger Anstoß für die Gemeinschaft. Er
wurde schließlich zum „Oberrabbiner von Nigeria“
ernannt, ein ehrenvolles Amt, das er ebenso wie die
geistliche Leitung der Gemeinde in Maryland inzwischen niedergelegt hat.
Ein Ansporn für die neuen nigerianischen Juden
waren zu Beginn auch gelegentliche Kontakte zu Israelis, die vorübergehend im Land arbeiteten, häufig
im Bauwesen. Das Verhältnis zwischen der israelischen Botschaft in Abuja und der nigerianischen jüdischen Gemeinde ist hingegen ambivalent und
hängt stark von der Aufgeschlossenheit des Botschafters ab. Während der eine offen für die Versuche der jüdischen Igbo ist, Kontakte zum Staat Israel
herzustellen, ist ein anderer vielleicht auf der Hut:
Weder das israelische Außen- noch das Innenministerium sind begeistert von der abwegigen Sorge,
dass eine Million Igbo sich auf das „Rückkehrgesetz“
berufen, um israelische Einwanderer und Bürger zu
werden. Nigerianer sind weltweit wegen Betrügereien, besonders mit E-Mails, in Verruf – die frommen
Igbo-Juden leiden darunter, dass sie damit in Verbindung gebracht werden.
Aber sie möchten ohnehin nicht unbedingt nach
Israel auswandern. Die Mehrheit der nigerianischen
Juden bekennt sich zum Judentum, wie es die meisten Juden in der weltweiten Diaspora tun. „HaSchem,
der Allerhöchste, hat uns geholfen, uns als jüdische
Gemeinde zu etablieren“, sagt Lawrence Okah, einer
der Gründer der Gemeinschaft. „Wir arbeiten mit
Ihm. Wir können Israel von Nigeria aus helfen. Ich
möchte nicht dorthin gehen und jemandem zur Last
fallen.“ Man müsse sich selbst und seiner Kultur treu
bleiben – als Igbo und als Jude.
Oben: Eze A.E. Chukwuemaka Eri
ist überzeugt, dass die Igbo von den
alten Israeliten abstammen.
Unten und rechts: An der
Sabbatfeier in Abuja nimmt auch
der Nachwuchs teil. Gebetet und
­gesungen wird auf Hebräisch.
Deshalb wurde auch der traditionelle Brauch der
Igbo, die Kolanuss zu segnen, in jüdische Zeremonien integriert. Caliben Ikejuku vergleicht sein Volk
gerne mit dem Vogel, der Jahrhunderte mit Schmetterlingen zusammenlebt und schließlich denkt, er
sei selbst einer. „Doch der Schmetterling weiß: ‚Nein,
das ist ein Vogel!‘“, sagt Ikeju. „Für uns ist es das Beste,
wir selbst zu sein, statt uns zu assimilieren, und mit
der Wahrheit zu leben“ – als Juden in Nigeria.
Die Igbo – und vor allem die Juden unter ihnen
– machen ihrem Ruf, unternehmerisch und innovativ zu sein, alle Ehre. Schon seit langem werden Igbo
2-2016 |
religion welt-blicke
„die Juden von Afrika“ genannt. Bei einem Chanukka-Fest, an dem ich 2009 teilnahm, hatten die Feiernden aus Coca-Cola-Flaschen eine Menora, den
traditionellen Kerzenleuchter, gebastelt. Heute nähen sie ihre eigenen Gebetsmäntel. Ihre ersten Gebetbücher waren unförmige Exemplare, Fotokopien
eines der seltenen verfügbaren Originale. Heute ha-
tum ist“, klagt der Gemeindeleiter Pinchas – sein Geburtsname ist Prince Azuka Ogbuka’a –, „deshalb
müssen wir vorsichtig sein.“ Doch das gilt nicht nur
für Außenstehende. Ein Mitglied der Gemeinde wurde beschuldigt, ein anderes Mitglied verhext zu haben. „Aber mit der Thora-Rolle und dem Segen von
HaShem halten wir Voodoo aus der Synagoge fern“,
sagt Pinchas zuversichtlich.
„Mit der Thora-Rolle und dem Segen des
Höchsten halten wir Voodoo aus der
Synagoge fern“, sagt der Gemeindeleiter.
Ein größeres Problem als schwarze Magie ist die
Gleichgültigkeit der Behörden. „Wir bekommen
nicht, was uns zusteht“, kritisiert Pinchas. Ein nigerianischer Muslim erhält einen staatlichen Zuschuss
für seine Hadsch nach Mekka. Ein Christ hat Anspruch auf staatliche Unterstützung, um eine Pilgerreise ins Heilige Land, nach Jerusalem, zu machen.
Anhänger des Judentums, das in Nigeria nicht als
Religion anerkannt ist, genießen solche Rechte nicht.
Noch schwieriger sind die täglichen Kämpfe um Anerkennung, wenn Genehmigungen von Behörden
nötig sind, zum Beispiel für so einfache Dinge wie
den Bau einer Synagoge.
D
ben sie komplette Sätze jüdischer Schriften zur Verfügung – vom Talmud, den Caliben Ikejuku im Ausland gekauft hat, bis hin zu den Büchern der mystischen Kabbala, die auch von Nichtjuden benutzt
werden.
A
llerdings sind Vorurteile und Misstrauen gegenüber den Juden verbreitet in diesem Land,
das fast zu gleichen Teilen zwischen Christen
(vor allem im Süden) und Muslimen (überwiegend
im Norden) aufgeteilt ist. Das zeigte sich während
meines Besuches an Chanukka. Als die Kerzen in der
Gihon-Synagoge angezündet wurden, bemerkte ich,
in meiner Heimat sei es Brauch, sie in die Fenster zur
Straße zu stellen und damit den Stolz auf den jüdischen Glauben zu zeigen. „Das können wir hier nicht
machen“, erklärte man mir. „Die Leute könnten denken, dass wir eine Sekte sind.“
Sekten sind ein Problem in Nigeria, ebenso wie
die Praxis der schwarzen Magie oder zumindest die
Angst davor. „Die Leute wissen nicht, was das Juden-
| 2-2016
as Bekenntnis zum jüdischen Glauben kann
mit persönlichen Opfern verbunden sein.
„Meine Frau konnte nicht verstehen, dass ich
Jude wurde, und verlangte, dass wir zum Christentum zurückkehrten“, berichtet Emanuel ben Yonatan, der früher Abor hieß. „Ich sagte zu ihr: ‚Ich habe
den Glauben meiner Vorfahren gefunden. Es gibt
kein Zurück.‘ Und so haben wir uns getrennt.“ Emanuel, katholisch erzogen und Immobilienmakler
von Beruf, ist nicht der einzige nigerianische Igbo,
dessen Ehe an seiner „Rückkehr“ zum Judentum zerbrochen ist. Der Gemeindeleiter Pinchas, der sich vor
zwei Jahren in den USA ein Bild vom Judentum in der
Diaspora gemacht hat, teilt sein Schicksal. Aber er ist
voller Hoffnung für seine Familie. „Vor einigen Monaten hatte ich die Möglichkeit, meine zwei Söhne
und meine Töchter das erste Mal in die Synagoge zu
bringen“, erzählt er glücklich. „Was für eine Freude!“
Im Lauf der Geschichte ist das seit je das Los der
Juden: Freude in einer Welt zu finden, die sie und
ihre Religion häufig nicht versteht oder ihnen sogar
mit offener Feindseligkeit begegnet. Nigerianische
Juden tragen eine doppelte Last, denn sie können sogar die Anerkennung von ihren Glaubensgenossen
im Ausland nicht als selbstverständlich voraussetzen. Aber sie besitzen großes Vertrauen zum Allerhöchsten. „Keine Angst“, pflegt der Gemeindeleiter
Sar Habakkuk zu Juden zu sagen, die zu Besuch kommen und vielleicht Angst vor ihrer ersten Begegnung mit Afrika haben. „Hier ist eine jüdische Familie. Und HaShem hat dich hergebracht.“
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
William F. S. Miles
ist Professor für politische
Wissenschaften an der Northeastern
University in Boston (USA) und Autor
des Buches „Jews of Nigeria“
(Markus Wiener Publishers 2012).
47
48
welt-blicke uganda
Singen für den Wahlsieg
In Uganda wird im Februar
eine neue Regierung gewählt.
Die politischen Kampagnen
laufen seit Monaten auf
Hochtouren – mit kräftiger
Unterstützung aus der
Musikbranche.
Von Nanna Schneidermann
P
räsident Yoweri Kaguta Museveni war im Oktober der Ehrengast bei einer Dinnerparty. Neben
ihm saßen ein paar der bekanntesten Sänger
am Tisch. Sie stellten dort ihr Lied „Tubonga Nawe“
vor, was in der lokalen Sprache Luganda „Wir stehen
hinter Euch“ bedeutet. Damit wollen sie die Wiederwahl des Präsidenten und seiner Partei „Nationale
Widerstandsbewegung“ (The National Resistance
Movement – NRM) unterstützen. Der Präsident wiederum soll laut Medienberichten mehr als 400 Millionen ugandische Schilling (100.000 Euro) an einen
Fonds zur Förderung der Musikindustrie gespendet
haben.
Das Lied hat in den Medien, in der aufstrebenden
städtischen Elite und auf den Straßen Kampalas eine
leidenschaftliche Diskussion über die angemessene
Beziehung zwischen Politik und Popmusik entfacht.
Sind bekannte Musiker verpflichtet, die politische
Elite zu loben? Oder haben sie mit ihrer Berühmtheit
eine besondere Verantwortung, gegen Ungerechtigkeit zu protestieren?
Künstler sollten ihre eigenen politischen Interessen vertreten statt Lobeshymnen zu singen, kom-
mentierte der ugandische Sänger Maurice Kirya auf
Facebook, wenige Stunden, nachdem das Lied veröffentlicht wurde. Auch andere vertraten die Ansicht,
Künstler sollten der Regierung kritisch gegenüberstehen statt sie zu bejubeln, denn sie seien die Stimme der Stimmlosen. Und einige berühmte Sänger
mussten der Boulevardpresse erklären, warum sie
sich der „Tubonga Nawe“-Starbesetzung nicht angeschlossen hatten – und damit gleichzeitig ihren politischen Standpunkt preisgeben.
Der junge Hip-Hop-Künstler Bana Mutibwa antwortete mit einem eigenen Lied auf die Hymne. Der
Titel: „Tetubonga Nawe“ – „Wir stehen nicht hinter
Euch“. Darin kritisiert der Rapper sowohl die Regierungspartei als auch diejenigen, die „Tubonga Nawe“
singen. Das Lied ging durch die Decke, als Kizza Besigye, Präsidentschaftskandidat und Oppositionsführer beim Forum für Demokratischen Wandel (Forum
for Democratic Change – FDC), das Lied auf Facebook
teilte. Plötzlich war Mutibwa überall: in den Nachrichten, im Radio und in den Klatschblättern. Über
das Internet und WhatsApp verbreitete sich das Lied
noch weiter.
2-2016 |
uganda welt-blicke
Ugandas Superstar José Chameleone
– hier bei einem Konzert in ­Kampala
2012 – singt beim umstrittenen
Loblied auf Präsident Museveni mit.
Die Kritik daran lässt ihn kalt.
Kathrin Harms/Laif
„Tubonga Nawe“ hat die Beziehung zwischen
Popmusik und Politik durcheinander gebracht.
Gleichzeitig hat das Lied neue Ausdrucksformen
und Handlungsmöglichkeiten geschaffen. Oder, wie
ein Freund in Uganda sagte: Musik wurde neu politisiert, die Hierarchien in der Gemeinschaft der Musiker haben sich verschoben.
Um zu verstehen, was für junge Leute in der
Branche auf dem Spiel steht, dürfen ihre Ausflüge in
die Politik nicht nur als Lob oder Protest gesehen
werden. Vielmehr greifen die Künstler – und nun
auch Politiker – damit zu einem merkwürdigen und
manchmal widersprüchlichen Mittel, um Beziehungen zu knüpfen, die ihnen mehr Ruhm, Einfluss und
Wohlstand verschaffen.
G
Nanna Schneidermann
lehrt Anthropologie an der dänischen
Aarhus-Universität. Sie forscht seit
2004 zu Jugend, Ruhm und Leben in
Ugandas wachsender Musikindustrie.
Ihr Artikel ist im Original online auf
matsutas.wordpress.com erschienen.
| 2-2016
enau wie in anderen Teilen Afrikas wurden
Musiker in Uganda lange als abhängig vom
Staat oder sogar als Betrüger und Hofnarren
wahrgenommen. Während der Hochphase des Königreichs Buganda waren Hunderte Musiker beim
Staat angestellt. Später, in der frühen postkolonialen
Ära, waren sie wieder von der Gunst des Staates und
einzelner Politiker abhängig. Denn denen gehörten
fast alle Medien – ohne sie hätten die Künstler kaum
ein großes Publikum erreichen können.
In den vergangenen Jahren haben junge Musiker
in Kampala ihre Rolle in der Popkultur neu definiert.
Die Medienwelt wurde in den 1990er Jahren stärker
privatisiert und ist informeller geworden, auch mit
Hilfe von Internet-Plattformen. Künstler begreifen
sich nicht länger als Diener des Staates, sondern als
Unternehmer auf dem globalen Markt. Sie wollen
vor allem ihre Musik und ihre eigene Marke verkaufen. Das ist die Grundlage der aufblühenden Musikindustrie in Uganda und die einer neuen Generation
von Stars.
Wenn sich Politiker und Sänger dieselbe Bühne
teilen wie bei den jüngsten Wahlkampagnen, sorgt
das unterschiedliche Verständnis von der Rolle der
Musiker für Spannungen. Bereits bei den Wahlen
2011 traten viele der heutigen „Tubonga Nawe“Künstler auf den Kundgebungen von Präsident Museveni auf. Doch sie spielten ihre eigenen Lieder
überall im Land vor einem riesigen Publikum. Sänger und Politiker standen nebeneinander auf der
Bühne, aber nicht zwangsläufig zu eng. Dieses Nebeneinander erlaubte es den Fans beziehungsweise
den Wählern im Publikum, ihre Beziehung zueinander unterschiedlich zu deuten.
Um in der Marktlogik der Musikindustrie zu bleiben: Die Künstler hatten ihren Namen und ihre Beliebtheit für ein paar Stunden an einen Politiker „vermietet“ und zugleich die Chance genutzt, für ihre
eigenen Lieder zu werben. Und Musikfans und Wähler verstanden, dass die Lobhudelei nicht unbedingt
die blinde Befürwortung eines Politikers bedeutete,
sondern dass es um die Anerkennung und das Geld
der politischen Elite ging, ohne sich auf ewig an sie
zu binden.
Das ewige Hin und Her zwischen Musikern und
Politikern sorgte bisher dafür, dass ihre Beziehung
mehrdeutig und ein wenig geheimnisvoll blieb –
und genau deshalb funktionierte das Zusammenspiel. Präsident Museveni hatte 2011 sogar seinen eigenen Hit. Er folgte demselben seltsamen Muster,
bei dem Musik und Politik sich mischen. Das Lied
warb nicht ausdrücklich für die Regierungspartei,
doch die Hörer konnten für sich selbst deuten: Was
könnte er wohl mit dem Titel „Willst Du einen weiteren Rap” meinen?
Die Beziehung zwischen der neuen Generation
ugandischer Stars und Politikern ist noch immer
mehrdeutig. Doch das „Tubonga Nawe“-Loblied lässt
zu wenig Raum für Interpretationen. Es erinnert an
alte Zeiten, als Diktatoren immer Musiker bei sich
hatten, die die Regierung für ihre Verdienste priesen.
Damals wirkte es, als besäßen die Politiker ihre eigenen Sänger. Doch die neuen Stars in Uganda werden
genau deshalb geliebt, weil sie nicht die Marionetten
der mächtigen Frauen und Männer sind. Sie haben
sich ihre eigene Industrie aufgebaut und sich selbst
nach oben gearbeitet.
Deshalb sind Fans und Kollegen enttäuscht und
wütend, wenn Musiker plötzlich nicht mehr sie
selbst sind und vor der politischen Elite niederknien.
Auch der „Tubonga Nawe“-Song ist eine eindeutige
Verbindung zwischen Musikern und der NRM-Partei.
Zumal bei seiner Präsentation öffentlich zwischen
Präsident und Künstlern Essen und Geld getauscht
wurden – den üblichen politischen Währungen in
Uganda. Und als der neue Hit auf den Facebook- und
Instagram-Seiten der Sänger vorgestellt wurde, überwogen die Fotos von den politischen Veranstaltungen, auf denen sie vor riesigen Menschenmengen
auftraten. Die Größen der ugandischen Musikszene
scheinen immer nahtloser mit der NRM-Partei zu
verschmelzen, je näher der Wahltermin rückt.
F
ür diese Deutung spricht der Kommentar des
Sängers Jose Chameleone zu seiner Beteiligung
an „Tubonga Nawe“. Er sei so kreativ und unabhängig wie immer, erklärte er in einer Internetzeitung: „Als Musiker habe ich 15 Jahre damit zugebracht, über die Probleme des Landes zu singen, und
ich singe sie als Jose Chameleone. Sagt nicht, ich
habe Euch betrogen, denn ihr habt mich nie beauftragt. Ich bin kein Politiker, ich habe nur klargemacht, auf welcher Seite ich stehe.“
Auf der einen Seite wollen Musiker nicht als Loblied-Sänger und Betrüger abgestempelt werden, die
nur die Agenda ihres politischen Schirmherrn wiederkäuen. Auf der anderen Seite verweigern sie den
Bürgern eine Erklärung für ihr Verhalten. Chameleone ist ein Beispiel für die neue Generation von
Künstlern, die darauf bestehen, als unabhängige Unternehmer und Vorbilder wahrgenommen zu werden – während sie zugleich die lästigen Pflichten
meiden wollen, die das Feld der Politik mit sich
bringt. Doch mit dem Singen von Lobliedern für die
herrschende Klasse verhallt ihr Wunsch nach Unabhängigkeit zunehmend wie ein hohles Echo.
Aus dem Englischen von Hanna Pütz.
49
50
journal studie
politische bildung
Politik von unten
Entwicklungsorganisationen fordern ein neues Gemeinnützigkeitsrecht
Alle möchten, dass Bürger sich
mehr politisch engagieren. Doch
zugleich gilt politische Arbeit in
Deutschland nicht als gemeinnützig. Eine Allianz politischer Organisationen will das ändern – auch im
eigenen Interesse.
TTIP, Landwirtschaft oder Kohlekraft: Wie stark dürfen sich Vereine im Namen der Gemeinnützigkeit ins politische Geschehen
einmischen? Ginge es nach dem
CDU-Bundestagsabgeordneten
Joachim Pfeiffer, sollten sich Organisationen wie Campact oder
Foodwatch tunlichst zurückhalten. Im Herbst hatte sich Pfeiffer
in einer Bundestagsdebatte vor
allem auf die „Bürgerbewegung“
Campact eingeschossen, die sich
mit Petitionen und bei Demonstrationen zu aktuellen politischen
Themen äußert. Die Organisation
betreibe mit ihren Kampagnen
eine Empörungsindustrie, meinte Pfeiffer und forderte anschließend in den „Stuttgarter Nachrichten“, dass ihre Gemeinnützigkeit überprüft werden müsse.
Laut Abgabenordnung sei das
Verfolgen politischer Zwecke unvereinbar mit dem Status der Gemeinnützigkeit.
Einer ähnlichen Argumentation folgte 2014 das Finanzamt
Frankfurt am Main, das dem
globalisierungskritischen Verein
Attac den Status der Gemeinnützigkeit entzog. Die Begründung
damals: Attac mache nicht nur
Bildungsarbeit,
sondern
verfolge auch allgemeinpolitische
Ziele wie etwa die Regulierung
der Finanzmärkte oder die Einführung einer Vermögensabgabe. Frauke Distelrath von Attac
sieht darin keinen Widerspruch:
„Gesellschaftliche Bildung führt
oft automatisch zu politischem
Engagement“, sagt sie. Das gelte
auch für andere Zwecke, die als
gemeinnützig anerkannt seien:
Wenn sich eine Organisation für
den Umweltschutz einsetze, gehö-
Nicht jedes staatsbürgerliche Engagement gilt als gemeinnützig: Protest der
Organisation Attac in Berlin gegen das Freihandelsabkommen CETA.
picture Alliance/dpa
re dazu auch die Forderung nach
einem Ende der Kohlekraft.
Was gemeinnützig ist, regelt
in Deutschland Paragraph 52 der
Abgabenordnung. Er besagt, eine
Körperschaft verfolgt gemeinnützige Ziele, wenn ihre Tätigkeit die
Allgemeinheit auf materiellem,
geistigem oder sittlichem Gebiet
selbstlos fördert. Politische Ziele
gelten dagegen nicht als gemeinnützig. Das Problem für die Vereine: Wer nicht anerkannt ist, darf
auch keine Spendenbescheinigungen ausstellen und erhält weniger Fördermittel. Schlimmstenfalls kann das die Existenz der Organisation bedrohen.
Unternehmen setzen ihre
Lobby-Arbeit von der Steuer ab
Weil Finanzämter die Regeln unterschiedlich und nicht immer
im Sinne der Vereine auslegen,
fordert eine Allianz politischer
Organisationen wie Brot für die
Welt, Attac und Oxfam eine Reform der Abgabenordnung und
die Anerkennung von „politischer
Willensbildung“ als Vereinsziel.
Die geltende Regelung stamme
aus den 1970er-Jahren und offenbare ein überholtes Politikver-
ständnis, kritisiert Stefan Diefenbach-Trommer, Koordinator der
Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“. Die Politik
werde heute nicht mehr nur von
Parteien geprägt, sondern zunehmend von zivilgesellschaftlichem
Engagement, das auch von den
Politikern gefordert werde.
Eine Reform sei auch mit Blick
auf die politische Arbeit von Unternehmen wichtig, sagt Diefenbach-Trommer. Diese könnten
Lobbyausgaben als Betriebsausgaben absetzen, auch Beiträge für
Berufsverbände seien steuerfrei.
Es sei ungerecht, gesellschaftliche Organisationen, die im öffentlichen Interesse handelten,
demgegenüber zu benachteiligen.
Gerade für viele Entwicklungsorganisationen ist die Forderung der Allianz relevant, die
Liste der gemeinnützigen Satzungsziele zu erweitern. So sollte
künftig auch der Einsatz für Frieden, Klimaschutz oder Menschenrechte anerkannt werden. Organisationen, die in diesen Bereichen
tätig sind, müssen oft auf andere
Satzungsziele verweisen, etwa Bildung oder Entwicklungszusammenarbeit.
Attac hilft all das vorerst wenig. Mitte 2014 hatte die Organisation Widerspruch gegen den Entzug der Gemeinnützigkeit beim
Finanzamt Frankfurt eingelegt –
bislang ohne Ergebnis. Sollte der
Bescheid negativ ausfallen, will
die Organisation vor Gericht ziehen. Zwar seien die Spenden in
den vergangenen zwei Jahren
nicht eingebrochen, aber Attac
könne keine größeren Veranstaltungen mehr stemmen, weil
Drittmittel fehlten. „Außerdem
frisst der Streit mit dem Finanzamt viel Zeit, die wir lieber in die
inhaltliche Arbeit stecken würden“, sagt Frauke Distelrath.
Sebastian Drescher
studien
Schuften für eine bessere Zukunft
Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur menschlichen
Entwicklung. Doch um zukunftsfähig zu werden, müsse sich sowohl die Arbeitswelt als auch die unbezahlte
Haus- und Betreuungsarbeit deutlich verändern. Darauf
macht der neue „Bericht über die menschliche Entwicklung 2015“ (HDR) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) aufmerksam. Menschenwürdige Arbeit ist auch eines der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Sie erweitert die Wahlmöglichkeiten
der Menschen und fördert gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das gilt nicht nur für bezahlte Beschäftigung,
2-2016 |
studie | berlin journal
sondern auch für unbezahlte
Hausarbeit, Alten- und Krankenpflege, Kinderbetreuung und ehrenamtliche Tätigkeiten.
Der „Bericht über die menschliche Entwicklung 2015“ macht
deutlich, dass solche Wirkungen
nicht automatisch zustande kommen. Rund 830 Millionen „erwerbstätige Arme“ weltweit müssten mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen, mehr als
1,5 Milliarden Menschen seien
prekär beschäftigt, 21 Millionen
leisteten Zwangsarbeit.
Der Bericht zeigt: Arbeit, die
Menschenrechte und Menschenwürde verletzt, Freiheit und
Selbstbestimmung einschränkt
und der Gesundheit schadet, un-
tergräbt die menschliche Entwicklung. Er skizziert das Konzept
„nachhaltiger Arbeit“, die auch
den Schutz von Umwelt und Klima stärkt. Dafür müssen nicht
zukunftsfähige Arbeitsfelder wie
der Kohleabbau stillgelegt, andere umweltfreundlicher werden.
Wieder andere müssen neu geschaffen werden, etwa im Bereich
erneuerbare Energien.
Um die Ziele für menschliche
Entwicklung zu erreichen, braucht
es mehr Arbeitskräfte zum Beispiel im Bildungs- und Gesundheitswesen. Zu den wesentlichen
notwendigen Veränderungen in
der Arbeitswelt zählt der Bericht
einen besseren Sozialschutz, existenzsichernde Einkommen, die
Stärkung der Gewerkschaften,
Mindestlöhne und den Schutz
von Arbeitnehmerrechten.
Wie jedes Jahr enthält der HDR
ein Länderranking nach dem Index der menschlichen Entwicklung (HDI). Die Statistiken zeigen,
dass der globale HDI-Wert in
knapp 25 Jahren um mehr als 20
Prozent gestiegen ist, in den am
wenigsten entwickelten Ländern
sogar um mehr als 40 Prozent. Allerdings hat sich der Fortschritt
verlangsamt: Während im Zeitraum 2000 bis 2010 in Entwicklungsländern noch ein HDIWachstum von 1,2 Prozent pro
Jahr zu verzeichnen war, lag es
2010 bis 2014 nur noch bei 0,7
Prozent jährlich.
Christina Kamp
UNDP
Human Development Report 2015
Work for Human Development
UNDP, New York 2015, 288 Seiten
hdr.undp.org
berlin
„Wir lassen uns von den Mächtigen nicht einlullen“
Der VENRO-Vorsitzende Bernd Bornhorst bilanziert die Arbeit des NGO-Dachverbands
Der entwicklungspolitische Dachverband VENRO feiert sein 20. Jubiläum. Der Vorsitzende Bernd
Bornhorst erklärt im Interview,
warum sich der Verband zu manchen Themen nicht äußert und
wieso sich die Organisation stärker
mit innenpolitischen Fragen auseinandersetzen sollte.
Im November hat die OECD der
deutschen
Entwicklungspolitik
ein sehr wohlwollendes Zeugnis
ausgestellt. Die Opposition in Berlin hat sich dazu kritisch geäußert,
ebenso einige Hilfswerke. Warum
nicht auch VENRO?
Unser Prinzip ist: Wenn Mitglieder sich äußern, dann muss
VENRO das nicht unbedingt auch
noch tun. Wir versuchen diese
Logo-Teppiche zu vermeiden, die
dann entstehen, wenn jeder sich
zu jedem Thema zu Wort meldet.
Die Kehrseite ist, dass Ihr Verband
in der Öffentlichkeit kaum präsent
ist. Mir fallen zu etlichen Themen
verschiedene Hilfsorganisationen
ein, zu kaum einem aber VENRO.
Schade, ich hoffe, wir können
das in Zukunft ändern. Ihre Wahr-
| 2-2016
nehmung ist aber teilweise richtig. Positionen werden bei VENRO
in Arbeitsgruppen erarbeitet, und
dort, wo es noch keine gemeinsame Position gibt, ist es schwer
sich spontan zu melden.
Aber der Verband kann auch
schnell reagieren wie zum Beispiel beim Flüchtlingsthema:
Dazu haben wir in kurzer Zeit einen Standpunkt geschrieben und
veröffentlicht. Einzelne Mitglieder können sich leichter kritisch
und zugespitzt äußern als ein Gesamtverband, der mit der Politik
im Dialog ist und das auch bleiben will.
Spielt eine Rolle, dass VENRO einen
ganzen Batzen Geld vom Ministerium kriegt?
Falsch, kriegen wir doch gar
nicht ...
Laut Ihrem Jahresbericht kam gut
ein Drittel der Gesamterträge
2014 von Engagement Global...
Ja, aber VENRO als Verband
wird zu 100 Prozent von den
Mitgliedern getragen. Zusätzlich
gibt es Drittmittelprojekte wie
die Kampagne „Deine Stimme
Bernd Bornhorst leitet die Abteilung
für Politik und globale Zukunfts­
fragen beim katholischen Hilfswerk
Misereor. Seit 2013 ist er Vorstandsvorsitzender des Verbands
Entwicklungspolitik und
Humanitäre Hilfe VENRO.
VENRO
gegen Armut“. Die werden tatsächlich unter anderem vom Entwicklungsministerium finanziert.
Aber das berührt nicht unsere Lebensfähigkeit. Wir haben immer
sehr darauf geachtet, dass VENRO
auch ohne Drittmittel funktioniert.
Ist es schwer, bei 124 Mitgliedern
eine gemeinsame Position zu einem Thema zu finden?
Das funktioniert immer besser. In den Arbeitsgruppen wird
zunehmend offen und konfliktfreudiger diskutiert. Zudem honorieren es die Mitgliedsorganisationen heute stärker als früher,
wenn der Verband und seine Geschäftsstelle auch mal vorangehen und Stellung nehmen, ohne
dass es ein gemeinsam beschlossenes Ticket gibt. Früher war bei
manchen Mitgliedern die Sorge
größer, VENRO könnte ihnen die
Butter vom Brot nehmen.
Was wäre in der deutschen Entwicklungspolitik anders ohne VENRO?
Es gäbe in der Zivilgesellschaft
viel weniger Verständnis für Qualität in der Entwicklungszusammenarbeit oder für vernünftige
Öffentlichkeitsarbeit. Dazu haben
wir in den vergangenen 20 Jahren
Kodizes entwickelt. Viele unserer
Mitglieder hätten es zudem
schwerer, Zugang zu öffentlichen
Fördermitteln zu bekommen und
die erforderlichen Verfahren ein-
51
52
journal berlin
zuhalten. Und schließlich wäre
das Verhältnis zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Entwicklungspolitik anders: Für die
staatliche
Entwicklungspolitik
sind wir ein Gesprächspartner,
der sich kritisch äußert, den man
aber auch gerne an seiner Seite
hat.
Die Aufgabe von VENRO ist also
nicht, laut in der Öffentlichkeit zu
poltern, sondern hinter den Kulissen auf Politik einzuwirken?
Ich versuche es immer mit
dem Begriff „konstruktiv kritisch“
zu erklären: Wir wollen uns natürlich nicht auf dem Sofa der
Mächtigen einlullen lassen. Aber
wir müssen zugleich sprachfähig
bleiben. Das heißt, wir müssen
auch einfach mal die Regierungen loben, dass etwa das Klimaabkommen ein großer Schritt ist.
Das macht uns aber nicht zu einem zahnlosen Tiger. Wir werden
genau hinsehen, wie die Umsetzung läuft.
Wo war VENRO erfolgreich?
Ein Highlight war der G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm. VENRO hatte großen Anteil daran,
dass Fragen wie Umwelt und Entwicklung, Klimaschutz und Entwicklungsfinanzierung deutlich
wahrgenommen wurden. Dasselbe gilt für den deutschen Beitrag
zur Agenda 2030 und den G7Gipfel im vergangenen Sommer
in Elmau. Ich glaube auch, VENRO
hat viel dazu beigetragen, dass
die Entwicklungspolitik in der Öffentlichkeit als etwas wahrgenommen wird, das mehr ist als
Spenden und Projekte finanzieren.
Und wo müssen Sie mehr tun?
Trotz erkennbarer Erfolge
müssen wir noch stärker heraus
aus der entwicklungspolitischen
Ecke. Wenn wir früher von Kohärenz gesprochen haben, dann haben Verbände aus der Sozial- oder
Umweltpolitik das immer so verstanden, als ob sie sich nach uns
richten müssten. Eigentlich aber
müssen wir viel mehr auf andere
politische und gesellschaftliche
Kreise zugehen. Wir versuchen
das gerade bei den Nachhaltigkeitszielen: Wir wollen mit Gewerkschaften und Sozialverbänden enger in Kontakt kommen,
um zu zeigen, dass es in Nord und
Süd um dieselben Fragen geht,
die wir gemeinsam bearbeiten
müssen.
Mit Erfolg?
Am Anfang war das ziemlich
schwierig. Wenn wir die Sozialverbände eingeladen haben, haben
die gesagt: Was sollen wir denn
da? Das ist doch eure Aufgabe.
Jetzt, da es um die Umsetzung der
Agenda 2030 geht, sind wir gerade im Hintergrund dabei, mehrere Verbände unter einen Hut zu
bringen. Wir wollen der Regierung
zeigen, dass wir die an sie gerichtete Forderung nach Kohärenz als
Zivilgesellschaft ansatzweise auch
erfüllen, indem wir gemeinsam
auftreten.
Und wie finden die VENRO-Mitglieder das?
Wir müssen natürlich darauf
achten, dass nicht alles verwischt
und unsere Mitglieder irgendwann sagen: Was macht ihr denn
da? Wir sind doch ein entwicklungspolitischer Verband. Aber
auch für uns gilt der Anspruch,
ein zukunftsfähiges Modell von
Entwicklungszusammenarbeit zu
definieren. Wir müssen uns fra-
gen, ob wir an den richtigen Themen mit den richtigen Partnern
dran sind. Haben wir es uns zu
gemütlich gemacht in unserer
kuscheligen EZ-Ecke? Oder müssen wir da heraus? Manche Mitglieder verunsichern solche Fragen. Das Beste ist deshalb, sie gemeinsam zu bearbeiten.
Ihre aktuelle Fünfjahresstrategie
endet dieses Jahr. Was wird der
Schwerpunkt der nächsten sein?
Ein Ziel ist, dass VENRO sich
vor dem Hintergrund der Agenda 2030 stärker in entwicklungspolitisch relevante innenpolitische Debatten einbringt. Beispiel
Flüchtlinge: Da wird der Verband
derzeit vor allem gefragt, wie
man Fluchtursachen bekämpfen könnte. Ich finde, wir sollten
auch etwas dazu sagen, wie wir
in Deutschland mit Flüchtlingen
umgehen. Und auf internationaler Ebene sollten wir im Prinzip in
fünf bis zehn Jahren so weit sein,
dass unsere Partner im Süden uns
als Alliierte sehen, die die gleichen
Ziele wie sie selbst verfolgen, nur
eben im Norden auf der anderen
Seite des Globus.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
berlin
Nur ein neues Etikett?
Die German Food Partnership ist zu Ende, die Kooperation mit der Agrarwirtschaft nicht
Der Schulterschluss mit Agrarkonzernen in Afrika und Asien im Rahmen der German Food Partnership
(GFP) war Entwicklungsorganisationen immer ein Dorn im Auge.
Zum Jahresende 2015 verkündeten sie: Die GFP ist Geschichte.
Wirklich?
Seit dem Start der Global Food
Partnership noch unter Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP)
haben Kritiker gefragt, wem sie eigentlich nützt. So fand ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen, dass die beteiligten
deutschen Unternehmen zu viel,
lokale Betriebe hingegen zu wenig
Einfluss hätten. Nun begrüßt das
Bündnis das Auslaufen der GFP
als Erfolg ihrer Kampagnenarbeit.
Eine BMZ-Sprecherin betont allerdings auf Anfrage, die Partnerschaft sei ohnehin nur bis März
2015 begrenzt gewesen. Sie habe
„ihr Ziel innerhalb ihrer Laufzeit
voll erfüllt“: Es seien drei erfolgreiche Projekte initiiert und wichtige Impulse für eine zukünftige
Zusammenarbeit gesetzt worden.
Mit der deutschen Agrar- und
Lebensmittelwirtschaft will das
Ministerium auch in Zukunft arbeiten, und zwar unter dem Dach
der Sonderinitiative Eine Welt
ohne Hunger von Niebels Nachfolger Gerd Müller. Darin sei die
Zivilgesellschaft von Anfang an
stärker einbezogen worden, betonte die Sprecherin. Das trage
deren Wunsch nach mehr Transparenz Rechnung. Der von der Zivilgesellschaft erhoffte „prinzipielle Kurswechsel“ bleibt aber aus.
Zwei von drei Projekten der GFP
laufen weiter
An der Partnerschaft beteiligen
sich Firmen wie der Landmaschinenhersteller AGCO, die Chemieriesen BASF und Bayer oder der
Düngemittelhersteller K+S. Mit
dem erklärten Ziel, die Ernährungslage zu verbessern, stellen
sie für landwirtschaftliche Projekte Wissen und ihre Produkte zur
Verfügung. Die Projekte sollen
zeigen, ob und wie sich dadurch
der Ertrag, die Marktanbindung
und die Wettbewerbsfähigkeit der
Bauern verbessern.
In Indonesien, den Philippinen, Thailand und Vietnam bleibt
das BMZ bis 2017 Auftraggeber der
„Better Rice Initiative Asia“. In drei
indonesischen Provinzen sollen
dort 7500 Reisbauern in nachhaltiger Reisproduktion geschult
werden. Ebenfalls bis 2017 läuft
das Reisprojekt in Nigeria, Ghana,
Burkina Faso und Tansania. Ziel
dort: Wettbewerbsfähigkeit und
Marktanbindung von 120.000
einkommensschwachen Reisbauern verbessern – davon mindestens 30 Prozent Frauen.
2-2016 |
berlin journal
Nur das in Kenia angesiedelte
Projekt „Potato Initiative Africa“
ist beendet. Die Kartoffel ist dort
zweitwichtigstes Grundnahrungsmittel. Bei dem mit 700.000 Euro
finanzierten Vorhaben kamen
unter anderem Kartoffelsorten
der Firmen Europlant und Solana, Pestizide von Bayer CropScience und Maschinen von Grimme zum Einsatz. Der Ertrag habe
sich durch die Unterstützung aus
Deutschland vervierfacht, sagt
die ausführende Gesellschaft für
Internationale Zusammenarbeit
(GIZ). Laut Marita Wiggerthale
von der Hilfsorganisation Oxfam
will die GIZ ein vergleichbares
Projekt auf Ostafrika ausweiten.
Nach Wiggerthales Fazit ging
es den beteiligten Unternehmen
vor allem um den Markt, der von
niederländischen Saatkartoffeln
dominiert ist. Die getesteten
Sorten der deutschen Anbieter
passten allerdings nicht zum
Bedarf: Kleinbauern, die 90 Prozent des Anbaus ausmachten und
sich kaum Pestizide leisten können, brauchten Sorten mit höherer Krankheitsresistenz. Augenscheinlich seien als Zielgruppe
des Projekts aber nicht Kleinbauern ausgewählt worden, die nicht
In Indonesien – hier
die Reisterrassen
von Jatiluwih –
bleibt das BMZ bis
2017 Auftraggeber
der „Better Rice
Initiative Asia“.
Mikel Bilbao/VWPics/
Redux/Redux/laif
ausreichend zu essen haben, sondern landwirtschaftliche Testbetriebe, die sich als Abnehmer für
Saatgut und Pestizide eignen. „Es
ist davon auszugehen, dass die
Kooperation mit Agrarkonzernen
im Rahmen des Kartoffelprojekts
die Zahl der von Hunger betroffenen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in dem Bezirk nicht reduziert hat.“
Auch der Grünen-Politiker
Uwe Kekeritz sagt, auf Fragen
nach dem entwicklungspolitischen Mehrwert aus der GFP-Kooperation habe er nur ausweichende Antworten erhalten. Er
schließe daraus, dass die Bundesregierung entweder keine
Vorstellung davon habe, wie man
die Situation von Kleinbauern
verbessern könne, oder dass sie
Erkenntnisse dazu bewusst ignoriere.
Marita Wiggerthale verweist
auf andere Ansätze der GIZ in Kenia, die besser geeignet seien, den
nachhaltigen
kleinbäuerlichen
Kartoffelanbau zu fördern. Beide
sind der Ansicht, dass BMZ und
GIZ die Türöffner-Kooperation
mit den Agrarkonzernen beenden
sollten. Marina Zapf
berlin
Der Showdown kommt noch
Debatte über die Verantwortung der Wirtschaft für die Menschenrechte
Deutschland will bis Mitte 2016
seinen Nationalen Aktionsplan
Wirtschaft und Menschenrechte
verabschieden. Zum Abschluss der
Konsultationen haben Gewerkschafter, das Forum Menschenrechte und der entwicklungspolitische Dachverband VENRO von der
Regierung einen Politikwechsel
gefordert: Man erwarte verbindliche Regeln für Unternehmen.
In zwölf Sitzungen hatte das federführende Auswärtige Amt in
den vergangenen Monaten zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen und Wirtschaftsverbände angehört. Bis März soll der
| 2-2016
Aktionsplan (NAP) in Absprache
mit dem Wirtschafts- und dem
Entwicklungsministerium Form
annehmen, dann im Kabinett verabschiedet und im Bundestag beraten werden. Im Koalitionsvertrag hatte die Regierung zugesagt,
die UN-Leitprinzipien Wirtschaft
und Menschenrechte umzusetzen. Staaten sind darin angehalten, Verstöße von Unternehmen
gegen die Menschenrechte zu verhindern, zu untersuchen, zu ahnden und wiedergutzumachen.
Der Aktionsplan soll den freiwilligen Leitprinzipien Biss verleihen. Unternehmerverbände lehnen es jedoch ab, ihre Mitglieder
für mögliche Missstände entlang
einer langen Lieferkette – in der
Textilindustrie etwa vom Baumwollfeld bis zum Kleiderbügel –
haftbar zu machen. Die beteiligten Ministerien halten sich bedeckt, wie weit sie mit der Verbindlichkeit zu gehen bereit sind.
Zwar stimmen sie mit der Zivilgesellschaft überein, dass der NAP
„ambitioniert“ sein und „Signalwirkung“ haben soll. „Aber der
Showdown kommt jetzt erst“, sagt
Frank Zach, Asienexperte des DGB.
Tatsächlich lassen die bisherige
Politik und Äußerungen der beiden federführenden Ministerien
nicht darauf schließen, dass sie
auf eine Konfrontation mit der
Wirtschaft erpicht sind. So ist bereits das vom Entwicklungsministerium (BMZ) initiierte Textilbündnis darauf angelegt, beteiligten Unternehmen in kleinen
Schritten abgestimmte, aber freiwillige Verhaltensregeln abzutrotzen.
Deutschland hat eine
­besondere Verantwortung
Entsprechend zurückhaltend äußerte sich BMZ-Staatssekretär
Thomas Silberhorn bei der
Schlusskonferenz der Anhörungen. Deutschland erwachse aus
der Position des Exportweltmeis-
53
54
journal berlin | brüssel
ters zwar besondere Verantwortung, sagte er. Unternehmen dürften nicht nur bei Preisen und Produktqualität genau hinschauen,
sondern auch bei Arbeitsbedingungen und Umweltstandards.
Ein Aktionsplan müsse ihnen daher „so konkret und praktisch wie
möglich“ zeigen, wie sie ihre Ge-
schäfte auf Menschenrechtsrisiken überprüfen können“. Einschränkend fügte er hinzu: „Gesetzliche Regelungen bieten am
Ende oft nur eine Einigung auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner. Freiwillige Selbstverpflichtungen hingegen können ambitioniertere Ziele verfolgen.“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund sieht es dagegen als Aufgabe des Gesetzgebers, klare Regeln
für alle Branchen zu schaffen.
„Unternehmen schadlos zu halten,
ist auch eine Art von Protektionismus“, findet Frank Zach. Und
auch der Menschenrechtsbeauftragte
der
Bundesregierung,
Christoph Strässer (SPD), hält
eine Dosis Verbindlichkeit für unausweichlich; sonst sei der Aktionsplan ein zahnloser Tiger, sagte er. Dazu gehörten Berichtspflichten mit Folgen im Falle der
Missachtung – ohne indes einen
Bürokratiewust zu verursachen.
(Siehe auch Seite 55.) Marina Zapf
brüssel
Kein Freihandel mit Besatzern
Gericht kippt den europäischen Handelsvertrag mit Marokko
Der
Europäische
Gerichtshof
(EuGH) hat den Freihandelsvertrag
für Landwirtschaft und Fischerei
zwischen der EU und Marokko
annuliert. Begründung: Das Abkommen berücksichtige nicht die
besonderen Umstände der von Marokko besetzten Westsahara.
Gegen das 2012 geschlossene Abkommen geklagt hatte die Frente
Polisario, die politische Vertretung der von Marokko besetzten
Westsahara. Ihr Vorwurf: Der Vertrag verstoße in mehreren Punkten gegen die Regeln der Verein-
ten Nationen sowie gegen internationales und EU-Recht. So sei
die Bevölkerung der Westsahara
an den Verhandlungen nicht beteiligt worden; ihre „legitimen Interessen“ seien missachtet worden. In einem entscheidenden
Punkt folgten die Richter in Luxemburg den Klägern: Die gesetzliche Hoheit Marokkos über die
Westsahara sei international
nicht als rechtmäßig anerkannt
und könne damit nicht Gegenstand eines Freihandelsvertrages
zwischen der EU und Marokko
sein.
Die Westsahara ist ein wichtiges Anbaugebiet für landwirtschaftliche Produkte wie Tomaten, die bislang zollfrei in die EU
eingeführt werden konnten. Auswirkungen wird das Urteil wohl
auch für weiter anhängige Klagen
beim EuGH haben; dort soll demnächst die Klage der Polisario gegen das EU-Fischereiabkommen
mit Marokko entschieden werden.
Dabei geht es darum, ob die EU
und Marokko das Recht haben,
die Fischgründe vor der Küste der
Westsahara leer zu fischen. In Vorbereitung ist auch eine Klage gegen eine marokkanische Lizenz
für eine irische Firma zur Suche
nach Erdöl in der Westsahara.
Die EU muss in Handelsverträgen
die Menschenrechte achten
In ihrem Urteil beziehen sich die
Richter in Luxemburg auf ähnlich
gelagerte Fälle, in denen gesonderte Regeln für besetzte Gebiete
in Handelsverträge geschrieben
wurden, etwa für Waren aus dem
von der Türkei annektierten NordZypern. Für Diskussion sorgte vor
allem die Entscheidung der EUKommission im vergangenen
Herbst, dass Erzeugnisse aus jüdischen Siedlungen in den von Israel besetzten palästinensischen
Gebieten im Westjordanland oder
Sahrauis und Sympathisanten
protestieren im November 2014
in Madrid gegen die marokkanische Besetzung der Westsahara.
Juan Medina/Reuters
den Golanhöhen gekennzeichnet
werden müssen. Vertreter Israels
hatten dies scharf kritisiert und
dabei auch die Agrarexporte aus
der Westsahara zum Thema gemacht. Die EU-Kommission schob
in einer Erklärung Anfang Dezember den EU-Mitgliedstatten den
schwarzen Peter zu: Es sei deren
Sache, wie sie die Kennzeichnung
des Warenursprungs handhabten.
Der EuGH macht nun deutlich, dass die EU die Menschenrechte und das Recht auf Selbstbestimmung der betroffenen Bevölkerung beim Abschluss von
Handelsverträgen beachten muss.
Ob sich die Politik an die Vorgaben hält, steht auf einem anderen
Blatt. Die EU-Außenbeauftragte
Federica Mogherini kündigte bereits im Dezember an, dass der
EU-Ministerrat Berufung gegen
das Urteil einlegen werde. Der
marokkanische Außenminister
Salaheddine Mezouar bestand
darauf, dass einmal beschlossene
und rechtskräftige Verträge einzuhalten seien.
Immerhin stimmte das EUParlament kurz vor Weihnachten
dafür, den jährlichen EU-Menschenrechtsbericht zu ergänzen:
Die EU-Kommission und der Ministerrat sollten sich aktiv für die
Anerkennung der Rechte der
Menschen in der Westsahara einsetzen. Für die Polisario und ihre
Regierung der Westsahara (SADR)
ist das EuGH-Urteil ein Meilenstein in dem nun 40 Jahre dauernden Kampf um Unabhängigkeit.
Heimo Claasen
2-2016 |
brüssel | schweiz journal
brüssel
Stillstand in der Kreislaufwirtschaft
Die Kommission verkündet anspruchsvolle Ziele, tut aber nichts für die Umsetzung
Als die amtierende EU-Kommission Ende 2014 antrat, kippte sie das
Vorhaben ihrer Vorgängerin, die
Abfallrichtlinie der Europäischen
Union von 2006 umfassend zu reformieren. Stattdessen versprach
sie eine eigene ehrgeizige Fassung.
Die liegt jetzt vor, aber von Ehrgeiz
ist darin keine Spur.
Das Papier liest sich fast wie die
Gebrauchsanweisung für eine
ideale grüne Wirtschaft: Zwei Drittel allen Hausmülls sollen in Zukunft aufbereitet und wiederverwendet werden, drei Viertel sogar
von allem Verpackungsmüll. Im
Jahr 2030 sollen höchstens zehn
Prozent des in der EU anfallenden
Abfalls noch auf Deponien abgeladen werden. Der Schrott elektro-
nischer Geräte, ausgediente Autos
und Batterien sollen bestmöglich
wiederverwendet werden; das
sollte möglichst schon beim Entwurf und beim Bau der Geräte
und Anlagen beachtet werden.
Alle diese Ziele stehen in der
umfassenden Begründung des
Pakets. Diese Begründung ist
allerdings nur die Verpackung.
Aufgeschnürt enthält das Paket
lediglich sechs Vorlagen für Regelungen, mit denen ohnehin bestehende EU-Richtlinien verändert
werden sollen. Und diese Richtlinien betreffen nur die Berichterstattung der Mitgliedstaaten zu
Müll, Mülltrennung, Behandlung
und Verbleib von Abfall und die
Übermittlung von Daten an die
EU-Kommission.
Das ist zwar sinnvoll, denn
trotz gut drei Dutzend einschlägigen EU-Richtlinien und -Regelungen erweist sich die Datenlage als
ziemlich lückenhaft, um die Problematik überhaupt zu erfassen.
Doch die Ziele zur Müllreduzierung bis 2030 selbst stehen nur in
den Begründungen, nicht in den
Vorlagen zu den gesetzlichen Texten, mit denen die sechs bereits
geltenden EU-Regelungen geändert werden sollen. Erst in späteren Vorlagen der Kommission sollen dafür dann eventuell Vorgaben für die Mitgliedsstaaten festgelegt werden. Das ist eine
zeitraubende Prozedur, die laut
der britischen Regierung drei Jahre dauern würde. Die Umsetzung
der dann endlich gefassten EU-
Richtlinien in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union dürfte dann noch einmal bis zu fünf
Jahre dauern.
So gut wie alle Fraktionen
des EU-Parlaments äußerten sich
deshalb enttäuscht zu der Kommissionsvorlage, ebenso Umwelt-,
Verbraucher- und Entwicklungsorganisationen. So richtig die
Ziele seien, so zweifelhaft sei die
Umsetzung. Nach der Rücknahme
der ursprünglichen Vorlagen zur
Kreislaufwirtschaft sei „ein volles
Jahr verschwendet“ worden, monieren die Liberalen. Und die Grünen nannten es „schändlich“, wie
die Kommission die Gelegenheit
zu einem wirklich umfassenden
Ansatz verpasst habe.
Heimo Claasen
schweiz
Zwei Wege, dasselbe Ziel
Wie bringt man Unternehmen dazu, die Menschenrechte zu achten?
Der Schweizer Ableger des UN Global Compact hat sich neu aufgestellt, um Unternehmen zum Menschenrechtsschutz zu motivieren.
Die Träger der Konzernverantwortungsinitiative haben dasselbe Anliegen, fordern aber verbindliche
Vorgaben.
Der UN Global Compact wurde im
Jahr 2000 lanciert. Seither dürfen
sich Unternehmen, die sich an seine zehn Prinzipien halten, mit
dem UN-Logo schmücken. Derzeit
sind 8343 Unternehmen Mitglied,
178 haben ihren Sitz in der
Schweiz, darunter Rohstoffriesen
wie Glencore, Metalor oder auch
Trafigura, die immer wieder in der
Kritik stehen (siehe Kasten).
Das Global Compact Netzwerk
Schweiz (GCNS) will Unternehmen dazu bringen, sich freiwillig
für die Einhaltung von Menschen-
| 2-2016
und Arbeitsrechten, von Umweltvorgaben und gegen Korruption
zu engagieren. Das Netzwerk
bringt Unternehmen zusammen,
unterstützt sie dabei, soziale
Verantwortung zu übernehmen
(Corporate Social Responsibility),
bietet in Kooperation mit dem
Global Compact in Deutschland
Menschenrechtstrainings an und
ermöglicht den Dialog mit Kritikern. Unterstützt wird es von der
Direktion für Entwicklung und
Zusammenarbeit.
Im Kontrast dazu steht die
Konzernverantwortungsinitiative,
die vergangenes Jahr lanciert wurde und von 76 Schweizer Organisationen getragen wird. Ihr Ziel ist
es, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte gesetzlich zu verankern: Unternehmen sollen den Menschenrechtsschutz verbindlich in sämtliche
Geschäftsabläufe einbauen, und
Opfer sollen Zugang zu Rechtsmitteln erhalten.
Das Global Compact Netzwerk
nimmt politisch keine Stellung
zur Konzernverantwortungsiniti-
ative. Seine Mitglieder fürchten
jedoch, sie könnten zu stark reguliert werden, weil sie laut der Initiative die Verantwortung über die
gesamte Zulieferkette übernehmen müssten, sagt Antonio Haut-
Ohne Sanktionen
Eine der Hauptkritikpunkte am Global Compact ist,
dass er keine Sanktionen vorsieht. Unternehmen
müssen jährlich über ihre Fortschritte zu den zehn
Prinzipien berichten. Tun sie das nicht, wird zunächst die Mitgliedschaft auf Eis gelegt, beim zweiten Mal wird das Unternehmen ausgeschlossen
und der Name publiziert. Menschenrechts- und
Entwicklungsorganisationen monieren jedoch,
dass die Berichte nicht inhaltlich geprüft werden.
Der Global Compact verweist indes darauf, dass die
Organisationen Zugang zu den Berichten hätten
und sie auf ihre Richtigkeit prüfen könnten. (ver)
55
56
journal schweiz
le, der Programmverantwortliche
beim GCNS. Er selbst sieht in der
Initiative eine Chance: In seiner
Funktion könne er die Zivilgesellschaft, die sich für verbindliche
Maßnahmen stark macht, mit
Unternehmen und Konzernen
zusammenbringen, die auf freiwilliges Engagement setzen.
„Die Aufgaben für Unternehmen wären kolossal“
„Ich mache der Wirtschaft verständlich, was die Konzernverantwortungsinitiative will, und gebe
weiter, was die Wirtschaft befürchtet“, erklärt der ehemalige
Direktor des Hilfswerks Fastenopfer. Er sieht in seiner Arbeit und
dem freiwilligen Engagement
von Unternehmen eine Art Mittelweg: „Wenn sich die freiwillige
Praxis etabliert und bewährt, ist
der Schritt zur Regulierung kleiner, weil die Anpassungsarbeit
bereits geleistet ist.“ Würde je-
doch die Konzernverantwortungsinitiative heute angenommen,
dann wären die Aufgaben für Unternehmen „kolossal“, sagt Hautle. Das Ziel sei nur in kleinen
Schritten zu erreichen.
„Die Revolution ist, dass Unternehmen zugeben, dass sie ein Problem haben. Früher wurden solche noch totgeschwiegen.“ Er sei
„erstaunt und freudig“, wie ernst
Unternehmen die Menschenrechtsfrage nehmen. Die Schwierigkeit sei jedoch oft, diese Haltung unternehmensintern umzusetzen und Verwaltungsräte oder
Zulieferer davon zu überzeugen.
Großen Nachholbedarf sieht
Hautle vor allem bei der Rohstoffbranche und der Finanz- und Ver-
sicherungsindustrie, die in der
Schweiz sehr stark sind. Wenn diese die Prinzipien des Global Compact ernsthaft unterstützten, hätte das große Hebelwirkung. Doch
meist sei die Rendite immer noch
wichtiger als die Achtung der
Menschen- und Arbeitsrechte
und der Schutz der Umwelt. Rebecca Vermot
schweiz — kurz notiert
Für jeden Franken, den die Regierung in die
öffentliche Entwicklungshilfe investiert, fließen 1,19 Franken in die Schweizer Wirtschaft
zurück. Insgesamt hätten die 3,2 Milliarden
Franken, die 2014 für Entwicklungshilfe
ausgegeben wurden, eine Rendite von 3,6
Milliarden Franken generiert, heißt es in einer Studie der Universität Neuenburg im
Auftrag der Bundesbehörden. Die Autoren
gehen außerdem davon aus, dass im Untersuchungsjahr rund 25.000 Vollzeitstellen in
der Schweiz indirekt der Entwicklungshilfe
zu verdanken waren; das wäre ein Zuwachs
von 20 Prozent in vier Jahren. Die Regierung
lässt alle vier Jahre untersuchen, wie die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit auf
die Schweizer Wirtschaft wirkt. Stark ins Gewicht fällt dabei die Präsenz großer internationaler Organisationen wie der Vereinten
Nationen oder des Roten Kreuzes in Genf.
Eingerechnet wird auch der Kauf von Gütern
und Dienstleistungen bei ausländischen Filialen von Schweizer Unternehmen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. (tp)
schweiz
Diebstahl am Volk soll nicht verjähren
Das Schweizer Parlament regelt die Rückgabe von Diktatoren-Fluchtgeldern
Mitte 2016 tritt in der Schweiz ein
neues Potentatengelder-Gesetz in
Kraft. Es ermöglicht, illegale Vermögen von gestürzten Machthabern auf Schweizer Konten auch
dann zurückzuführen, wenn die
Straftaten verjährt sind.
Ursprünglich wollte die rechtskonservative Mehrheit in der großen Parlamentskammer, dem Nationalrat, aus „rechtsstaatlichen
Gründen“ eine Verjährung in das
Gesetz einbauen. Im zweiten Anlauf schwenkte die Kammer dann
aber im vergangenen Dezember
auf die Linie der Regierung und
der kleinen Parlamentskammer,
des Ständerats, ein. Die hatte die
Abgeordneten erfolgreich davor
gewarnt, dass Potentaten mit juristischer Verzögerungstaktik die
Verjährung anstreben und so die
Rückzahlung der außer Landes geschafften Gelder blockieren könnten.
Graffiti in Tunis.
Auf Schweizer Konten liegen
noch 60 Millionen Franken
des früheren tunesischen
Diktators Ben Ali.
Lindsay Mackenzie/redux/laif
Das Gesetz tritt nach Ablauf
der Referendumsfrist voraussichtlich im Mai in Kraft und verankert die bisherige Politik des
Bundesrates. In den vergangenen
15 Jahren hat die Schweiz rund 1,5
Milliarden Franken illegal erwor-
bener Vermögenswerte an die
Herkunftsstaaten zurückerstattet
– darunter etwa die beschlagnahmten Gelder der früheren
Diktatoren Ferdinand Marcos von
den Philippinen und Sani Abacha
aus Nigeria.
Immer noch blockiert ist die
Rückerstattung von beschlagnahmten Geldern des gestürzten
tunesischen Machthabers Ben Ali.
Die Schweiz möchte die rund 60
Millionen Franken längst an das
demokratisierte Tunesien zurückgeben. 2014 scheiterte eine Rückgabe von 40 Millionen Franken an
einer Beschwerde von Ben Alis
Schwager, der moniert hatte, sein
Anspruch auf rechtliches Gehör
sei verletzt worden. Gegen ihn
und rund ein Dutzend Mitglieder
des Ben-Ali-Clans läuft in der
Schweiz ein Strafverfahren wegen
Beteiligung an einer kriminellen
Organisation, Geldwäscherei und
Bestechung.
2-2016 |
schweiz | österreich journal
Zum Stand des Verfahrens will
sich die Bundesanwaltschaft nicht
im Detail äußern. „Die Untersuchungen werden fortgeführt“,
teilte eine Sprecherin auf Anfrage mit. Es werde derzeit geprüft,
unter welchen Bedingungen Teile
der Gelder zurückerstattet werden könnten. Im Oktober 2015 war
Bundesanwalt Michael Lauber
nach Tunis gereist, um sich mit
den tunesischen Behörden über
die laufenden Verfahren auszutauschen. Er bekräftigte das Ziel,
die beschlagnahmten Gelder „innert nützlicher Frist“ an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Was mit „nützlicher Frist“
genau gemeint ist, präzisierte die
Sprecherin nicht. Die Dauer eines
Verfahrens hänge von verschiede-
57
nen Faktoren ab. Immerhin: Die
Rechtshilfe zwischen beiden Ländern funktioniere gut. Inzwischen
seien im Rahmen des Rechtshilfeverfahrens bereits Beweismittel
nach Tunesien übermittelt worden.
Theodora Peter
österreich
Das Afro-Asiatische Institut wird aufgelöst
Laut Kritikern ist das Institut nicht mit der Zeit gegangen
Entwicklungen nicht immer anseit anderthalb Jahren Verluste.
Wiener Generalvikar Nikolaus
Krasa laut Kathpress. Das gesche- Zugleich habe der Staat Subventi- gemessen nachvollziehen könhe heute dezentral über die Pfar- onen für Stipendien und die Bil- nen, sagt Hödl und nennt etwa
die Finanzkrise, die die politische
rer beziehungsweise über die Bil- dungsarbeit gekürzt. Hödl sieht
Unterstützung der Entwicklungsdung anderssprachlicher katholi- den Wendepunkt bereits um die
Jahrhundertwende, als der dama- zusammenarbeit unterminiert
scher Gemeinden, „die seit Jahren
und die Ungleichheit in Österlige Rektor Petrus Bsteh staatliche
stark wachsen und heute einen
Unterstützungen für das AAI ver- reich und der Welt zugespitzt
besonders lebendigen Teil der
loren und viel Renommee ver- habe. Auch dass die EntwickKirche in Wien ausmachen“.
Das AAI wurde 1959 von Kardinal
lungszusammenarbeit
zunehspielt habe.
Das AAI lädt regelmäßig zu
Franz König als Treffpunkt von
mend politischer werden und
In den vergangenen Jahren
Vorträgen, Podiumsdiskussionen
Menschen aus aller Welt in Wien
verstärkt die Ursachen von Arhabe das Institut internationale
aber auch interkulturellen Festen.
gegründet. Sie sollten sich hier
untereinander und mit Österrei- Die Erzdiözese subventioniert das
Institut mit jährlich 180.000
chern treffen, sich austauschen
Anzeige
Euro. Davon sei zuletzt etwa die
und voneinander lernen. Im Lauf
der Jahre entstand ein entwick- Hälfte in den interreligiösen Dialog geflossen, so Geschäftsführer
lungspolitisches
Bildungshaus,
Heger. Diese Mittel will
das den Dialog von Menschen
faltdas Erzviel einsetzen.
t
u
1/ 2015
bistum künftig
direkt
unterschiedlicher Kulturen und
g
aat
le S
a
Das
Wohnheim
mit
99
EinzelzimReligionen initiiert und begleitet.
b
r glo
Mitte dieses Jahres wird es seine
z fü mern und einer Wohngemeinn
e
r
fe und
schaft sei von der Umstrukturieinterkulturellen Aktivitäten
Kon
Forum Umwelt & Entwicklung
rung nicht betroffen, versichert
den interreligiösen Dialog an die
Heger. Das Heim wird aber ohneErzdiözese Wien abgeben. „Das
soll Chefsache werden“, sagt AAI- dies längst vom Jugendherbergswerk betrieben. Es beherberGeschäftsführer Nikolaus Heger.
ge derzeit Studentinnen und StuDer Diskussionsprozess sei noch
denten aus
nicht abgeschlossen, so Heger,
den 30 Nationen. Auch die
Welche Bedingungen sind für
globalen
Kapelle, der muslimische Gebetsdeswegen könne er über Erhalt
die der
ZuSaatgutvielfalt notwendig?
raum und der Hindutempel und
kunft nicht viel sagen.
die Gelegenheit zum KonDie katholische Nachrichten- damit hops,
Vorträge, Works
Was?
Süd- mit Menschen anderer Reliagentur Kathpress berichtet,
der, Nord-takt
Begegnung
,
Austausch, Süd-Süd-Austausch
se
gionen
sollen
bleiben. Aber die
Umbau spiegele laut Erzdiözese
uttauschbör
Ausstellung, Saatg
Marke AAI wird verschwinden.
die veränderte gesellschaftliche
Für Wen? Interessierte,
und Sa. Geschäftsführer
19-22h Hödl,
Heinz
Situation seit der GründungWann/
deswo? Fr. 29. Mai
AktivistInnen, GärtnerInnen,
ow30. Mai 9-21h, Langenbeck-Virch
BäuerInnen, politische
58/59
der
Koordinierungsstelle
der ÖsInstituts. 1959 sei es darumHaus
gestraße
Luisen
Mitte,
Berlin
in
EntscheiderInnen
terreichischen Bischofskonferenz
gangen, mit den wenigen in Wien
lebenden Studierenden aus Afri- (KOO), die im Gebäude des AAI
die sich mit der
Juni 2015,Lides G7-Gip
siehtfelsinimerster
ka und Lateinamerika in
Bezie- eingemietet
Vorfeldist,
Eine öffentliche Konferenz im
egionen
Saatgut in verschiedenen Weltr
Thema
zum
ion
Situat
chen
.
aktuellen politis nie wirtschaftliche Süd-A
Erwägungen
hung zu treten. Die Delegierung
sien, Afrika und Europa stehen
n die Regionen
auseinandersetzt. Im Fokus werde
Teilnahme ist kostenfrei.
Die dünne Haut der Erde
englisch stattfinden.
h undUntergang
auf deutsc
hinter
dem
desDie
traditider interkulturellen KommunikaDie Konferenz wird
onsreichen
Instituts. Da Erträge
tion an ein eigenes Institut sei Anme
.de.
ldung über kontakt@saatmachtsatt
aatmachtsatt.de
Programm unter www.svon
zumVermietungen
»Krisenprofiteure«, »Globalisierung und Freihandel«, »Bioökonomie und
aus
Räumen
heute angesichts „großer, anhal- Infos
Welthunger«, »Goldrausch in den
Meeren«...
und Büros im Wiener Sitz zurücktender Migrationsströme“ nicht
Plantagen und Boden
Weltwüstentag
Gescheiterte EUUnsichtbares Ökosystem
Bodenrahmenrichtlinie
Boden
gegangen
seien, schreibe das AAI
mehr zeitgemäß, erklärte dervon der Rosa-Lu
Aktuelles rund
um Umwelt, Entwicklung, internationale
xemburgEnde des vergangenen Jahres erklärte das Afro-Asiatische Institut (AAI) in Wien seinen Austritt
aus dem entwicklungspolitischen
Dachverband Globale Verantwortung. Begründung: „Es wird uns
bald nicht mehr geben.“
RUNDBRIEF
KRITISCH .
TI EFGRÜN DIG.
IN FORM ATIV.
Die Zeitschrift des Forum
Umwelt und Ent wicklung
Ökosystem Boden
Seite 2
Veranstaltet
Forum
Stiftung in Kooperation mit dem
Umwelt und Entwicklung
| 2-2016
Seite 3
Seite 7
Seite 13
ISSN 1864-0982
Beziehungen und Handelspolitik. Vierteljährlich. Elektronisch oder
gedruckt.
Bestellung unter [email protected]
www.forumue.de
58
journal österreich | kirche und ökumene
mut und Ungleichheit aufzeigen
müsse, sei am AAI vorbeigegangen. Schließlich dürfe man auch
nicht übersehen, dass von den 5,7
Millionen Katholiken in Öster-
reich 500.000 einen Migrationshintergrund haben: Das AAI habe
die Differenzierung der Gesellschaft nicht genügend wahrgenommen.
„Allen ist bewusst, dass der interreligiöse Dialog wichtig ist“,
versichert Geschäftsführer Heger.
Und er sieht zumindest eine kleine Schonfrist für das Institut. Ob-
wohl die Erzdiözese den Bildungsbereich schon Mitte des Jahres an
sich ziehen will, seien die Projekte
bis Jahresende 2016 genehmigt. Ralf Leonhard
kirche und ökumene
Ein heiliges Buch sorgt für Unruhe
In Indien sind die Hindu-Nationalisten auf dem Vormarsch
Die katholischen Bischöfe in Indien
protestieren gegen die Pläne der
Regierung, den Unterricht an staatlichen Schulen zu hinduisieren. Sie
fürchten, dass das die säkularen
Prinzipien in Indien aushebelt.
Im Bundesstaat Haryana soll bereits ab dem nächsten Schuljahr
die Bhagavad Gita – das heilige
Buch der Hindus – in allen staatlichen Schulen im Unterricht
durchgenommen werden. Bibeloder Korankunde wird es dagegen nicht geben. Brauche es auch
nicht, denn mit der Bhagavad
Gita würden die Schülerinnen
und Schüler Zugang zur „höchsten und wichtigsten Quelle des
Wissens“ haben, sagte der Bildungsminister des nördlichen
Bundesstaates.
Die katholischen Bischöfe des
Landes protestieren dagegen: „Es
verletzt die säkularen Prinzipien
unseres Landes, wenn nur ein heiliges Buch im Schulunterricht vorkommen darf“, sagte Gyanprakash Topno, der Sprecher der katholischen Bischofskonferenz. In
den Schulen sollten Kenntnisse
über alle Religionen vermittelt
werden. „Dies würde die nationale
Integration, den Frieden und die
Harmonie fördern“, sagte Topno.
Alle Kinder sollten die Chance bekommen, auch andere Religionen
wie das Christentum oder den Islam kennenzulernen.
Die Hinduisierung richtet sich
vor allem gegen Muslime
Der einseitige Fokus auf das heilige Buch der Hindus im Schulunterricht ist ein weiterer Schritt in
der Politik der Hinduisierung von
Bildung und Kultur, die Hindu-
Nationalisten seit den 1980er Jahren vorantreiben. Seit der Wahl
der Bharatiya Janata Party (BJP)
zur Regierungspartei im Mai 2014
nimmt diese Politik Schritt für
Schritt Gestalt an. In dem mit 1,2
Milliarden Einwohnern zweitgrößten Land der Erde sind nur
2,3 Prozent (28 Millionen) der Bevölkerung Christen. Für das Bildungssystem nicht ganz unerheblich sind allerdings die 35.000
christlichen Bildungseinrichtungen in Indien. Keine von ihnen sei
jemals zu Beratungen über die
nationale Bildungspolitik hinzugezogen worden, beklagte Kardinal Baselios Mar Cleemis, der Vorsitzende der Bischofskonferenz.
Die Hinduisierung von Bildung und Kultur richtet sich weniger gegen die kleine christliche
Minderheit als vielmehr gegen
die Muslime im Land, die nach
dem letzten Zensus von 2011 rund
14 Prozent (127 Millionen) der Bevölkerung stellen. Viele HinduNationalisten fühlen sich von dieser Gruppe bedroht. Immer wieder wird aus ihren Reihen behauptet, die Muslime machten
bereits ein Drittel der Bevölkerung aus und würden bei ihrer angeblich sehr hohen Vermehrungsrate in nicht allzu ferner Zukunft
die Macht in Indien an sich reißen.
Bereits 2004 wurden zum Teil
Geschichtsbücher für die Sekun-
darstufe umgeschrieben, um das
islamische Erbe des Landes in ein
schlechtes Licht zu rücken. So
heißt es darin, die islamischen
Herrscher während der MogulZeit im 16. Jahrhundert seien barbarische Invasoren gewesen, die
das Erbe der Hindus ausmerzen
wollten.
Diese Art von Geschichtsklitterung macht nicht einmal vor
dem Tadsch Mahal halt, einem der
bedeutendsten Baudenkmäler islamischer Architektur in Indien.
Radikale Hindu-Nationalisten reklamieren ihn als Teil der hinduistischen Hochkultur auf dem Subkontinent.
Katja Dorothea Buck
kirche und ökumene
„Ihr habt den Nahen Osten aufgegeben“
Christen in der arabischen Welt kritisieren westliche Kirchen
Wenn ein deutscher Bischof derzeit in den Nahen Osten
fliegt, muss er sich auf kritische Fragen einstellen – auch
zur deutschen Flüchtlingspolitik. Das hat jetzt auch Ralf
Meister, der Bischof der hannoverschen Landeskirche, bei
einem Besuch im Libanon erfahren.
Es ist kein einfaches Terrain, auf das sich Meister in Beirut begeben hat. Seit Beginn des Arabischen Frühlings
vor fünf Jahren zwingen Instabilität, Gewalt und Terror
Millionen Menschen zur Flucht. „Der Massenexodus
von Christen aus dem Irak und Syrien ist irreversibel“,
sagt Paul Haidostian, der Präsident der Evangelisch-Armenischen Haigazian-Universität in Beirut. Diejenigen,
die noch ausharren oder aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen nicht gehen können, hätten zunehmend das Gefühl, auf der Verliererseite zu stehen. Und:
Die großzügige Flüchtlingspolitik Deutschlands beschleunige das Ausbluten der Region zusätzlich.
Auch Rima Nasrallah, Dozentin an der Near East School of
Theology in Beirut, wird bitter,
wenn sie auf dieses Thema zu
sprechen kommt. „Wer jung und
qualifiziert ist, überlegt sich nicht
lange, ob er noch bleiben soll. Mit
eurer Flüchtlingspolitik habt ihr
den Nahen Osten aufgegeben und
die Region den Armen, Kranken
und den Kriegstreibern überlassen.“ Natürlich könne sie denen,
die gehen, nichts vorwerfen. Doch
für die, die in ihrer Heimat an einer friedlichen Zukunft arbeiteten, werde es immer schwieriger.
Das bestätigt auch Mofid Karajili, der evangelische Pfarrer
2-2016 |
kirche und ökumene journal
von Homs. Anfang 2012 wurde
die Stadt von Rebellen eingenommen. 70.000 Christen verließen
damals die Stadt. „Als 2014 die Rebellen wieder abrückten, kamen
nur 3000 zurück“, sagt Karajili.
„Wir können nicht sagen, ob wir
eine Zukunft haben. Wir wissen
aber, was unsere Aufgabe ist.“ Er
habe in der Jugendarbeit sogenannte „Space of hope-Teams“
gegründet, in denen Jugendliche
aller Religionen zusammenkommen und in gemischten Teams
sportliche Wettkämpfe veranstalteten. „In jeder Gruppe müssen
Mädchen und Jungen, Muslime
und Christen, Schiiten und Sunniten sein. Wenn sie gewinnen, gewinnen sie gemeinsam. Und
wenn sie verlieren, verlieren sie
gemeinsam“, sagt Karajili.
Als Leitender Geistlicher der
größten evangelischen Landeskirche in Deutschland musste Bischof Meister sich aber auch in
anderer Hinsicht Kritik anhören.
Die Christen aus dem Nahen Osten fühlen sich von den westlichen Kirchen im Stich gelassen.
„Seit Beginn des Arabischen Frühlings versuchen wir Euch zu erklä-
Joseph Kassab von der Synodenkirche für Syrien und Libanon
erklärt Bischof Ralf Meister, welche
Teilungspläne für Syrien diskutiert
werden. Viele Christen lehnen die
Teilung des Landes vehement ab.
katja dorotheA buck
ren, was für uns Christen auf dem
Spiel steht. Aber ihr wolltet nie
zuhören“, sagte Michel Jalakh, der
Generalsekretär des Mittelöstlichen Kirchenrats (MECC). „Für uns
hat der Westen seine Glaubwürdigkeit verloren.“ Seit der Gründung des MECC 1974 hätten sich
die Kirchen immer wieder in Ausnahmesituationen
befunden;
jetzt drohe das Christentum nach
2000 Jahren im Nahen Osten ausgelöscht zu werden. „Wir brau-
chen nicht nur eure finanzielle
Unterstützung, wir brauchen
auch eure Fürsprache bei den Politikern eures Landes“, sagte Jalakh.
Die Gespräche zeigten Wirkung. Bei einer Vorlesung an der
Near East School of Theology zur
Flüchtlingskrise und den Kirchen
in Deutschland schlug Meister
nachdenkliche und selbstkritische Töne an. „Wir haben da bisher
einen blinden Fleck gehabt“, sagte
er und kam auch auf die Erklärung der Leitenden Geistlichen
der 20 evangelischen Landeskirchen zur Situation der Flüchtlinge
vom September 2015 zu sprechen.
Meister selbst hatte am Wortlaut
des Textes mitgearbeitet. „Nach
den vielen Gesprächen in den
letzten Tagen würde ich diese Erklärung heute anders formulieren“, sagte er vor rund hundert
Zuhörerinnen und Zuhörern. Der
Text sei zu unkonkret und gehe
mit keinem Wort auf das besondere Schicksal der christlichen
Flüchtlinge ein. Niemand habe
bisher reflektiert, was es für die
Christen des Nahen Ostens bedeutet, ihre Heimat zu verlassen.
„Wir müssen stärker darüber
nachdenken, wie wir unsere Geschwister im Nahen Osten unterstützen können, damit sie bleiben
können.“
Katja Dorothea Buck
die Rede gewesen, nachdem die
Vereinten Nationen im November
2012 Palästina einen Beobachterstatus zugebilligt hatten. Und
auch bei der Reise von Papst Franziskus im Mai 2014 ins Heilige
Land stand auf dem offiziellen
Reiseprogramm „Staat Palästina“.
In der internationalen Politik
ist dies seit langem ein Streitpunkt. Etwa ein Drittel der 193 UNMitgliedstaaten, darunter auch
Deutschland, haben Palästina bisher nicht anerkannt. Erst müsse
Frieden zwischen Israel und den
Palästinensern herrschen, bevor
Palästina ein eigener Staat werde,
lautet die Begründung. Entsprechend kritisch hat Israel den
Grundlagenvertrag kommentiert.
Man halte die Unterzeichnung für
einen übereilten Schritt, der die
Aussichten auf ein Friedensabkommen „beschädige“. Er beeinträchtige die internationalen Bemühungen, die Palästinenser zu
einer Rückkehr an den Verhandlungstisch mit Israel zu bewegen.
Wiltrud Rösch-Metzler, die
Bundesvorsitzende von Pax Christi, begrüßt den Schritt des Vatikans. „Er gibt unserer Forderung
etwa an die Bundesregierung, Palästina anzuerkennen, mehr Gewicht.“ Der Vertrag sei die logische
Konsequenz der bisherigen Nahost-Politik des Vatikans. „Wer für
eine Zwei-Staaten-Lösung eintritt,
muss sich auch zu zwei Staaten
bekennen.“ Katja Dorothea Buck
kirche und ökumene
Staatsvertrag für 20.000 Christen
Der Vatikan erkennt Palästina als Staat an
Seit Jahresanfang ist der Grundlagenvertrag zwischen dem Vatikan
und Palästina in Kraft. Praktisch
bedeutsam ist das nur für die in Palästina lebenden Katholiken. Und
deren Gemeinschaft wird immer
kleiner.
Genaue Zahlen über die Christen
in Palästina gibt es nicht. Mitte des
20. Jahrhunderts war die christliche Glaubensgemeinschaft in der
Gegend um Bethlehem und Jerusalem noch in der Mehrheit. Aktuelle Schätzungen gehen davon
aus, dass heute nur noch 50.000
(47.000 im Westjordanland und
knapp 3000 in Gaza) der insgesamt 4,5 Millionen Palästinenser
Christen sind. Etwa 20.000 von
| 2-2016
ihnen sind Mitglieder einer mit
Rom unierten Kirche.
Um deren Existenz, Handlungsfreiheit und Rechte geht es
in dem 32 Artikel umfassenden
Vertrag. Das Abkommen regelt zudem Fragen der Kirchengebäude
und der Heiligen Stätten. Ausdrücklich wird Palästina ein „Sonderstatus“ als Wiege des Christentums zugestanden – was die palästinensischen Behörden in die
Verantwortung nimmt, das Fort­
bestehen dieser Religion zu garantieren sowie die christlichen Heiligen Stätten zu schützen.
Mit der Unterzeichnung anerkennt der Vatikan Palästina offiziell als eigenständigen Staat. Inoffiziell war davon allerdings schon
59
60
journal global lokal | personalia
global lokal
Konsum alleine rettet die Welt nicht
Die Aktion Dritte Welt Saar kritisiert den fairen Handel als unpolitisch
Beim „Marsch durch die Ladenlokale“ seien die politischen Ziele
verlorengegangen, kritisieren die
Aktivisten aus dem Saarland. Wie
sich das ändern lässt, lassen sie jedoch weitgehend offen. Andere Initiativen und Kräfte des fairen
Handels halten die Kritik für überzogen.
Die vierseitige Streitschrift wurde
Ende 2015 den Tageszeitungen
„taz“ und „Neues Deutschland“ sowie der Wochenzeitung „Jungle
World“ beigelegt und gleichzeitig
an die 800 Weltläden in Deutschland geschickt. Die Aktion Dritte
Welt Saar kritisiert darin, es gehe
dem fairen Handel nur noch um
die Steigerung der Absatzzahlen,
während die politische Arbeit für
gerechtere Handelsstrukturen in
den Hintergrund getreten sei.
„Der Marsch durch die Ladenregale schleift die politische Zielrichtung des Ansatzes ab“, schreiben
die Autoren. Wie an frühere Ziele
wieder angeknüpft werden kann,
lassen sie offen.
Hintergrund der Debatte ist
der stark gestiegene Absatz fair
gehandelter Produkte mit dem
Transfair-Siegel. Mehr als eine
Milliarde Euro gaben deutsche
Verbraucherinnen und Verbraucher im Jahr 2014 dafür aus, 30
Prozent mehr als im Vorjahr. Die
Produkte mit dem Siegel sind in
mehr und mehr Supermärkten
erhältlich, während die Weltläden
Waren von Importeuren wie der
GEPA, dwp und El Puente verkaufen. Diese Importeure verwenden
das Tansfair-Siegel für viele Produkte nicht und legen Wert darauf, dass bei ihnen nicht nur einzelne Waren, sondern die gesamten Lieferketten fair seien.
Das Transfair-Siegel findet
sich hingegen auf einzelnen Produkten von Unternehmen wie
Starbucks, Lidl oder Nestlé, die wegen ihrer Missachtung von Arbeitsrechten im Norden in der
Kritik stehen. Für Wolfgang Jo-
Mit Fairtrade-Produkten lässt sich mittlerweile
ein ganzer Einkaufskorb füllen – auch im Supermarkt um die Ecke.
transfair
hann, Mitautor der Streitschrift,
ist es zum „Feigenblatt für die ausbeuterische Politik“ der Konzerne
verkommen.
Mehr Absatz bedeutet mehr
Aufmerksamkeit
Ruben Quaas, Referent Fairer
Handel bei Brot für die Welt, teilt
die Kritik aus dem Saarland nicht.
Mehr Absatz bedeute auch mehr
Aufmerksamkeit für die Anliegen
des fairen Handels wie die Transparenz entlang von Lieferketten.
„Dass solche Themen stärker dis-
kutiert werden, ist auch ein Verdienst des fairen Handels“, sagt
Quaas. Aber, räumt er ein, es sei
sinnvoll, zu überlegen, wie sich
die politische Arbeit verstärken
lässt.
Vor allem unter manchen Betreibern von Weltläden ist Unmut
über den Erfolg von Transfair anzutreffen. Sie fühlen sich zunehmend unter Druck, was aber auch
an einem veränderten Verständnis von Ehrenamt und dem anstehenden Generationenwechsel
liegt. Die Berliner Weltladen-Bera-
terin Nadine Berger hält nichts davon, die Gräben im fairen Handel
zu vertiefen. Sie sieht die unterschiedlichen Formen als „gleichwertig nebeneinander stehend“.
Zugleich schlägt sie vor, die politische Arbeit zu verstärken, etwa
durch eine bessere Vernetzung
der Akteure des fairen Handels
mit den entwicklungspolitischen
Eine-Welt-Landesnetzwerken.
Die politischen Anliegen des
fairen Handels in die öffentliche
Diskussion zu tragen, ist Aufgabe
des Forums Fairer Handel. Dem
Netzwerk gehören unter anderem
die GEPA, der Weltladen-Dachverband und die kirchlichen Hilfswerke Brot für die Welt und Misereor an; Transfair ist nicht dabei,
beteiligt sich aber an Arbeitsgruppen. Vor zwei Monaten hat es mit
einer Unterschriftenaktion an das
Auswärtige Amt verbindliche Regeln für die Einhaltung von Menschen-und Arbeitsrechten durch
deutsche Unternehmen gefordert.
In diesem Jahr will das Forum seine Kampagnenarbeit verstärken.
Geschäftsführer Manuel Blendin
ist in einem wichtigen Punkt mit
den Kritikern von der Aktion Dritte Welt Saar einer Meinung: Durch
bewussten Konsum allein lässt
sich die Welt nicht retten.
Claudia Mende
personalia
Brot für die Welt
Danuta Sacher hat am
1. No­­vember 2015 die
Leitung der Abteilung
Lateinamerika und
Karibik bei Brot für die
Welt übernommen. Nach
rund sechsjähriger
Vorstandstätigkeit beim Kinderhilfswerk
Terre des Hommes kehrte sie in die
evangelische Entwicklungszusammenarbeit zurück, der sie bereits zwischen 1990
und 2009 in verschiedenen Funktionen
unter anderem bei Brot für die Welt
angehörte. Sie löst Uwe Asseln-Keller ab, der
die passive Phase der Altersteilzeit antritt.
Reinhard Palm leitet seit November die
Abteilung Afrika bei Brot für die Welt. Palm
ist seit über 15 Jahren in der staatlichen
und nichtstaatlichen Entwicklungszusam­
menarbeit tätig, zuletzt war er im
Bundes­entwicklungsministerium für
die Weltbank und den IWF zuständig. Er
löst Karin Döhne ab, die ebenfalls in die
passive Phase der Altersteilzeit eintritt.
2-2016 |
personalia journal
Silke Pfeiffer leitet seit dem 1.
November das Referat Mexiko,
Zentralamerika, Karibik. Sie war
zuletzt Leiterin des Kolumbien/
Anden-Büros der International Crisis Group in Bogotá.
Terre des Hommes (TDH)
Jörg Angerstein ist ab März im
Vorstand des Kinderhilfswerks
TDH und dort für den Bereich
Kommunikation zuständig. Er
war zuletzt beim Deutschen
Roten Kreuz und davor Geschäftsführer des Deutschen
Kinderschutzbundes. Angerstein
folgt auf Danuta Sacher, die zu
Brot für die Welt gewechselt ist.
Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)
Neuer Stiftungsvertreter für
die Autonomen Palästinensischen Gebiete ist Mark Fings,
bisher Länderreferent im Team
Asien. Nils Wörmer leitet jetzt das
Büro für Syrien/Irak mit Sitz in
Beirut. Er war zuvor Auslandsmitarbeiter in Afghanistan.
Neuer Vertreter der KAS in
Kabul, Afghanistan, ist Matthias
Riesenkampf. Neuer Leiter des
Büros in Rio de Janeiro, Brasilien,
ist seit November Jan Woischnik,
der zuvor als Auslandsmitarbeiter in Indonesien tätig war.
gängerin Sarah Hees ist jetzt
im Inland für die FES tätig.
Bettina Luise Rürup vertritt die
Stiftung jetzt in New York unter
anderem bei den Vereinten Nationen. Ihre Vorgängerin Michèle
Auga arbeitet seither im Inland.
Beyhan Sentürk vertritt die FES
seit Januar in den Autonomen
Palästinensischen Gebieten mit
Sitz in Ost-Jerusalem. Seine Vorgängerin Ingrid Ross ist jetzt im
Inland tätig. Neuer gesellschaftspolitischer Berater in Tunesien
ist seit Januar Thomas Claes.
Zentrum für Entwicklungs­
forschung (ZEF)
Eva Youkhana ist neue Direktorin der Abteilung „Sozialer und
Kultureller Wandel“ am ZEF. Die
Sozialanthropologin mit den
Schwerpunkten Migration und
Lateinamerika war zuvor Lehrbeauftragte für Altamerikanistik
an der Bonner Universität und
Mitglied des Kompetenznetzes
Lateinamerika der Universität
zu Köln. Sie hat die Interimsdirektorin Anna-Katharina
Hornigde abgelöst, die einem
Ruf auf eine Professur an die
Universität Bremen gefolgt ist.
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)
Deutsches Institut für
Entwicklungspolitik (DIE)
Seit Herbst vergangenen Jahres
ist Patrick Rüther neuer gesellschaftspolitischer Berater in
Neu Delhi, Indien. Seine Vor-
Seit Januar ist Tanja Vogel neue
Leiterin der Stabsstelle Kommunikation beim Deutschen Institut
für Entwicklungspolitik in Bonn.
Andreas Buro ist tot
Der Friedensforscher und langjährige Aktivist
für Frieden und Menschenrechte Andreas Buro
ist am 19. Januar im Alter von 87 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Buro gehörte
zu den Mitbegründern der Ostermärsche der
1960er Jahre und blieb bis wenige Tage vor seinem Tode friedenspolitisch aktiv. Er war Mitbegründer und bis zuletzt friedenspolitischer Sprecher des Komitees
für Grundrechte und Demokratie. Große Verdienste erwarb er sich
in der Entwicklung der Zivilen Konfliktbearbeitung. Renke Brahms,
der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland, sagte, der Tod von Andreas Buro sei ein großer Verlust für die Friedensbewegung und die Zivilgesellschaft. 2008
wurde Buro der Aachener Friedenspreis verliehen, 2013 erhielt er
den Göttinger Friedenspreis.
| 2-2016
Die studierte Politikwissenschaftlerin war dort bereits seit drei
Jahren als Referentin tätig. Ihr
Vorgänger Matthias Ruchser ist
zur Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) gewechselt,
wo er als Mitglied der Geschäftsleitung verantwortlich für die
Stabsstelle Kommunikation ist.
Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ)
Karin Kortmann
leitet seit Januar
die GIZ-Repräsentanz Berlin.
Sie ist seit
November 2012
im Unternehmen, zuletzt als Teilbereichsleiterin im Fach- und Methodenbereich. Kortmann war von 2005
bis 2009 Parlamentarische
Staatssekretärin im Bundesentwicklungsministerium und von
1998-2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. In Berlin löst
sie Klaus Brückner ab, der in den
Ruhestand geht.
Arbeitsgemeinschaft für
Entwicklungshilfe (AGEH)
Angelica Bergmann ist aus der
Elternzeit zurück und jetzt im
Team Personalvermittlung wieder Ansprechpartnerin für Diözesen, Orden und Vereine. Martin
Sprenger, der sie dort vertreten
hat, arbeitet jetzt als Referent im
Team Ziviler Friedensdienst (ZFD).
UN-Flüchtlingskommissar
(UNHCR)
Katharina Lumpp ist seit Dezember 2015 Vertreterin des
des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Deutschland. Die
49-Jährige ist seit mehr als 20
Jahren für den UNHCR tätig.
UN-Umweltprogramm (Unep)
Der Staatssekretär im Bundesumweltministerium, Jochen
Flasbarth, soll
nach dem
Willen der
Bundesregierung der nächste
Leiter des UN-Umweltprogramms
werden. Er soll als Nachfolger des
amtierenden Unep-Leiters Achim
Steiner nominiert werden. Mit
einer Entscheidung des UN-Generalsekretärs ist erst in einigen
Monaten zu rechnen.
Schweiz
Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa
(OSZE)
Der deutsche Außenminister
Frank-Walter Steinmeier hat in
seiner Funktion als amtierender Vorsitzender der OSZE den
Schweizer Botschafter Günther
Bächler zum Sonderbeauftragten
für den Südkaukasus ernannt.
Bächler war bisher Schweizer
Botschafter in Georgien.
Österreich
Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz
für internationale Entwicklung
und Mission (KOO)
Nach 14 Jahren ist für Bischof
Ludwig Schwarz SDB die Amtszeit als Vorsitzender der KOO
im Januar zu Ende gegangen.
Sein Nachfolger wird von
Vollversammlung der Bischofs­
konferenz bestimmt.
Anne-Klein-Frauenpreis 2016
Der diesjährige Anne-Klein-Frauenpreis der
Heinrich-Böll-Stiftung geht an Gisela Burckhardt
von der Frauenrechtsorganisation FEMNET.
Burckhardt wird für ihr Engagement für die
Rechte von Arbeiterinnen in der globalen Textilindustrie ausgezeichnet.
Der mit 10.000 Euro dotierte Preis ist nach
der 2011 verstorbenen Juristin und Feministin Anne Klein benannt, die von 1989 bis 1990 dem Berliner Senat angehörte.
61
62
service filmkritik | rezensionen
filmkritik
Temperamentvolle Heldinnen
In ihrem Spielfilmdebüt erzählt die Regisseurin Deniz
Gamze Ergüven von fünf türkischen Waisenschwestern, die im Haus ihres Onkels eingesperrt werden, um
sie auf die Ehe vorzubereiten. Zwischen Resignation
und Revolte pendelnd, ist die Geschichte ein Ruf nach
Freiheit und weiblicher Selbstbestimmung.
Mustang
Frankreich/Deutschland/Türkei 2015,
Regie: Deniz Gamze Ergüven,
97 Minuten,
Kinostart: 25. Februar 2016
Lale und ihre vier Schwestern wachsen nach dem Tod
der Eltern bei ihrem Onkel Erol und ihrer Großmutter
in einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste
auf. Als sie nach der Schule unbeschwert mit einigen
Mitschülern am Meer herumtollen, lösen sie einen
Skandal aus. Eine Nachbarin hat sie beobachtet und
bezichtigt sie eines unzüchtigen Verhaltens. Der empörte Onkel bringt die Mädchen zum Krankenhaus,
um ihre Jungfräulichkeit überprüfen zu lassen. Um
die Heiratschancen der Halbwüchsigen zu wahren,
lassen er und die Großmutter die Fenster vergittern
und die Mauern ums Haus erhöhen. Zudem beschlagnahmt er Telefone, Computer und Make-up, die Mädchen müssen hässliche „kackbraune“ Kleider tragen.
Statt unbefangener Spiele stehen nun Lektionen in Kochen und Haushaltsführung auf dem Programm. Dennoch gelingen den Mädchen hin und
wieder Ausbrüche aus der Festung, etwa zu einem
Fußballspiel. Die Großmutter lässt derweil die Familien potenzieller Heiratskandidaten aufmarschieren.
Ein Mädchen nach dem anderen wird zwangsverheiratet, bis sich der aufgestaute Frust schließlich in einer Tragödie Bahn bricht und Lale rebelliert.
Die Autorin und Regisseurin Deniz Gamze Ergüven wurde 1978 in Ankara geboren, ist aber vor allem
in Frankreich aufgewachsen und hat an der Pariser
Filmhochschule La Fémis studiert. Sie pendelt zwischen beiden Ländern hin und her, da ihre Familie
großenteils in der Türkei lebt. Ihr erster Langfilm,
in dem sie auch autobiographische Erfahrungen
verarbeitet, spiegelt diese Bikulturalität wider: Obwohl auf Türkisch mit einheimischen Darstellern
in der Türkei gedreht, ist die erstaunlich stilsichere
Inszenierung eher französischen Autorenfilmern
verpflichtet. Das lässt sich an der unbefangenen Darstellung der erwachenden Sinnlichkeit der Mädchen,
die von unbekannten Laien- oder Nachwuchskräften
überzeugend gespielt werden, ebenso ablesen wie
am Soundtrack des Komponisten Warren Ellis mit
seinem betörenden Mix aus psychedelischen und
orientalischen Klängen.
Angesichts einer verstärkten konservativen Ausrichtung des öffentlichen Lebens in der Türkei unter
Präsident Erdogan tritt Ergüven mit einem emanzipatorischen Gegenentwurf an. Schon der Filmtitel
„Mustang“ signalisiert die Stoßrichtung. „Ein Wildpferd ist das perfekte Symbol für meine fünf Heldinnen und ihr zügelloses, ungestümes Temperament“,
sagt die Filmemacherin.
Während sie einerseits die dramaturgischen Mittel des Gefängnisfilms nutzt, greift sie andererseits
Motive des Märchens und der Mythologie wie Minotaurus und Labyrinth auf, um eine klassische Heldengeschichte zu erzählen. „Meine Heldinnen mussten am Ende gewinnen, und zwar so strahlend wie
nur möglich.“ Bei aller Schärfe der Kritik an überkommenen patriarchalischen Strukturen argumentiert
Ergüven durchaus differenziert, wie das ambivalente
Verhalten der älteren Frauen zeigt, die zwischen Willfährigkeit und Solidarität pendeln. Am Ende ist es gerade der jugendliche Elan des hoffnungsvoll-naiven
Finales, der zu Zivilcourage und Selbstbestimmung
ermutigt.
Der Film gewann etliche Preise, darunter den Prix
FIPRESCI als europäische Entdeckung beim Europäischen Filmpreis und den Art Cinema Award des Filmkunstverbands CICAE auf dem Filmfest Hamburg
2015. Nach einer Nominierung für die Golden Globes
geht er bei der Oscar-Verleihung in das Rennen um
den „besten fremdsprachigen Film“. Zudem erhielt er
den Lux-Filmpreis des Europaparlaments, mit dem
die Herstellung einer Fassung für Seh- und Hörbehinderte verbunden ist. Reinhard Kleber
rezensionen
Eine Geschichte „großer Männer“
Richard Bourne
Nigeria. A New History
of a Turbulent Century
Zed Books, London 2015, 229 Seiten,
ca. 22 Euro.
In seinem Übersichtswerk beschreibt Richard Bourne
die Geschichte Nigerias der vergangenen 100 Jahre.
Und geht der Frage nach, wie es dem Land gelang,
trotz langjähriger Militärherrschaft, ethnischer und
religiöser Konflikte als einheitlicher Staat zu bestehen.
Es ist ein waghalsiges Unterfangen, die Geschichte
Nigerias seit der Schaffung der Kolonie durch Frederick Lugard 1914 bis zum Wahlsieg Muhammadu
Buharis 2015 in einem rund 200 Seiten umfassenden Taschenbuch erzählen zu wollen. Jeder, der vorgibt, Nigeria zu verstehen, sei entweder geblendet
oder ein Lügner, so der Autor in seinem Vorwort. Zu
vielschichtig und verworren, widersprüchlich und
sprunghaft scheint die Entwicklung des Riesen in
Westafrika, als dass man sie in einem schmalen Buch
erschöpfend behandeln könnte. Doch der Journalist,
der das Land seit 1981 regelmäßig bereist, wagt sich
2-2016 |
rezensionen service
an diese Aufgabe mit großem Elan. In fünf Kapiteln
beschreibt er die späten Interventionen der englischen Kolonialherren, den Weg in die Unabhängigkeit, die Zeiten der Militärherrschaft (unterbrochen
von wenigen Jahren der zivilen Regierung) bis hin
zur Demokratisierung und Wiedereinführung eines
demokratischen Systems nach 1999. Dabei orientiert
sich Bourne vor allem an den Regierungswechseln
und den jeweiligen Machthabern während dieser
Jahre.
Deshalb ist seine Geschichte Nigerias vor allem
eine Geschichte der „großen Männer“. Generäle und
andere Militärs, Oligarchen und zivile Herrscher sind
bei Bourne diejenigen, die das Schicksal des Landes
im Laufe der vergangenen 100 Jahre geprägt haben.
Das ist zum Teil durchaus zutreffend, jedoch rückt
die Alltagsgeschichte der Nigerianerinnen und Nigerianer durch diese Schwerpunktsetzung in den Hintergrund. Gern hätte man zum Beispiel mehr über
das tägliche Leben unter den Bedingungen des Biafra-Krieges oder der Aufstände im Nigerdelta erfahren.
Die Wahlen von 2015 bewertet Bourne zutreffend als
wegweisend für das Land. Zum ersten Mal gelang der
Wechsel von einer zivilen Regierung zu einer anderen. Die Vorherrschaft der seit 1999 regierenden
Peoples Democratic Party (PDP) wurde so friedlich
beendet.
Auf die neuen Amtsinhaber warten gewaltige
Aufgaben: Der Terror der Dschihadisten von Boko
Haram wütet nach wie vor, und Politik ist und bleibt
in diesem neopatrimonialen Staat weiterhin ein Geschäftsmodell, in dem die Paten (Godfathers) der Politiker ein gehöriges Wörtchen mitzureden haben.
Abzuwarten bleibt auch, wie sich nun, unter den neuen Bedingungen, die Lage im ölreichen und von Milizen geplagten Nigerdelta entwickeln wird.
Bournes Geschichte Nigerias in einem turbulenten Jahrhundert werden jene mit Gewinn lesen, die
sich mit der wechselvollen und spannenden Historie
des Riesen in Westafrika vertraut machen wollen. Es
ist ein Grundlagenwerk, dessen Lektüre gute Voraussetzungen bietet, um vertieft in die Politik und Gesellschaft des Landes eintauchen zu können.
Ruben Eberlein
Ein Spiegel für Planer und Praktiker
Die 14 Aufsätze dieses Sammelbands analysieren Versäumnisse und ungelöste Probleme der Gender-Politik
und veranschaulichen sie anhand von Beispielen aus
verschiedenen Kontinenten.
Christine Verschuur, Isabel Guérin,
Hélène Guétat-Bernard (Hg.)
Under Development: Gender
Palgrave MacMillan, Houndsmills/
Basingstoke 2014, 325 Seiten,
ca. 89 Euro
| 2-2016
15 Jahre liegt die Verabschiedung der Millennium
Development Goals zurück, 20 Jahre die Weltfrauenkonferenz in Peking und 40 Jahre der Auftakt zur
ersten Weltfrauendekade der UNO. In allen Abschlussdokumenten dieser internationalen Großereignisse und Abkommen hat die Geschlechtergleichheit großen Stellenwert. Dennoch spricht die
weltweite Bilanz zur Gewalt gegen Frauen und zu
ihrer systematischen Diskriminierung eine andere
Sprache. Vielerorts ist die Situation von Frauen von
Ausbeutung und Rechtlosigkeit geprägt. Das schlägt
sich in schlechter Gesundheit von Müttern und Kindern nieder und hemmt Entwicklung in jeder Hinsicht.
In diese Zusammenhänge ist der vorliegende
Sammelband einzuordnen. Er hält Planern, Entscheidungsträgern und Praktikern den Spiegel vor.
Nüchtern analysieren die Autorinnen Versäumnisse
und ungelöste Probleme und belegen ihre Thesen
mit Beispielen aus verschiedenen Kontinenten. Die
Herausgeberinnen des internationalen Instituts für
Entwicklungsforschung IUED in Genf haben dabei
keineswegs nur europäische oder US-amerikanische
Autorinnen ausgewählt. Vielmehr kommen einige
afrikanische und lateinamerikanische Gender-Expertinnen zu Wort. Sie behandeln konzeptionelle
Fragen und analysieren Geschlechterhierarchien
zum Beispiel in Nigeria und Ecuador. Allen Texten
gemeinsam sind gut verständliche Erklärungen und
nachvollziehbare Kritik.
Die Autorinnen beleuchten Macht und Ungleichheit im umfassenden Sinn. Sie betrachten die
Unterschiede zwischen Frauen und Männern unterschiedlichen Status, Alters und Besitzes und berücksichtigen dabei gesellschaftliche und politische
Machtverhältnisse ebenso wie rechtliche und ökonomische Ungleichheiten.
Zentral sind die Analyse von Wirtschaftspolitik
und marktökonomischen Strukturen sowie deren
Wirkung auf die Hierarchien der Geschlechter. Damit stellen die Expertinnen Gender in den Mittelpunkt wirtschaftlicher Entwicklungsfragen. Anhand
von Fallstudien aus Peru und Argentinien erklären
sie darüber hinaus die Auswirkungen politischer
Rahmenbedingungen und das Erbe der dortigen
Diktaturen.
Auf diese Weise erhält der Empowerment-Begriff, der in der Entwicklungspraxis oft zu einer
Floskel verkommt, die Bedeutung, die er eigentlich
haben sollte. Die kenntnisreichen Autorinnen ziehen zeithistorische Längsschnitte und zeigen, wie
verschiedene Disziplinen, etwa die Entwicklungsökonomie und die Demographie, Geschlechterhierarchien erforschen – Kritik an Bevölkerungsplanung ist hier exemplarisch. Sie beziehen sich dabei
auf postkoloniale Standpunkte und kritische Reflexionen über das Nord-Süd-Verhältnis, beispielsweise auf den derzeitigen neoliberalen Kurs der Weltwirtschaft. So spannen sie aufschlussreiche Bögen
zwischen internationalen, nationalen und lokalen
Veränderungen, konkret in der Agrarproduktion in
Brasilien seit den 1980er Jahren. Wie notwendig wissenschaftlich begründete, grundlegende Neuorientierungen sind, erklärt das lesenswerte, aber leider
überteuerte Buch.
Rita Schäfer
63
64
service rezensionen
rezensionen
Ganz oben und ganz unten
Der südafrikanische Schriftsteller Niq Mhlongo begleitet seinen Antihelden durch die Zeit vor und während
der Apartheid. Herausgekommen ist ein spannender,
gesellschaftskritischer Thriller.
Niq Mhlongo
Way Back Home
Verlag Das Wunderhorn,
Heidelberg 2015, 280 Seiten
24,80 Euro
Er trägt an jedem Handgelenk eine Luxusuhr, raucht
nur die besten Zigarren und säuft ständig teuren Single-Malt-Whisky. Er kauft sich Frauen und versucht,
per Korruption Aufträge für seine Baufirma zu ergattern. Die Ehefrau hat ihn verlassen, weil er fremdgegangen ist, und für seine Tochter zahlt er keine Alimente. Kurz: Kimathi Tito, der Protagonist aus „Way
Back Home“, ist kein Sympathieträger. Dennoch ertappt man sich beim Lesen zuweilen dabei, ihm die
Daumen zu drücken und zu hoffen, dass er sein verpfuschtes Leben wieder in den Griff bekommt.
Der südafrikanische Schriftsteller Niq Mhlongo
hat mit Kimathi Tito einen Antihelden geschaffen,
dessen Versagen und Leiden man als Leser hautnah
miterlebt. Während Tito im heutigen Südafrika gegen seinen Ruin ankämpft, berichtet Mhlongo mittels kürzerer Kapitel aus der Zeit der AntiapartheidBewegung, in der auch Tito aktiv war.
In den späten 1980er Jahren trainieren und
kämpfen Apartheidgegner in Angola. In einem Straf-
camp für vermeintliche Verräter der Bewegung führen zwei Männer ein sadistisches Regime – sie quälen, erniedrigen, foltern, töten. In knappen, drastischen Sätzen beschreibt Mhlongo die vorherrschende Unmenschlichkeit und führt am Ende zwei
verschiedene Erzählstränge zusammen.
Was ist dieses Buch nun? Ein Thriller. Eine Überzeichnung des Bösen. Irgendwie auch eine Gesellschaftskritik an der schwarzen Elite im heutigen
Südafrika. Vor allem aber hat Mhlongo einen spannenden Roman geschrieben, der handwerklich einwandfrei funktioniert und überzeugt: spitz gezeichnete Charaktere, temporeiche Handlungsstränge,
absurde Momente, wie etwa ein Besuch des Protagonisten bei einem traditionellen Heiler. Südafrika
und seine Historie dienen bei alldem lediglich als
Hintergrund für eine teils groteske Geschichte.
Einzig die ständig genannten Luxusmarken nerven beim Lesen. Man fragt sich, weshalb der Autor
sie derart strapaziert, man erkennt schließlich schon
nach den ersten Markennamen, dass es um Dekadenz geht. Da Mhlongo ansonsten sehr gekonnt
schreibt, ist ihm zuzutrauen, dass er den Leser hier
einfach strapazieren will. Es sei ihm gegönnt.
Felix Ehring
Gesundheit – ein kubanischer Vorzeigesektor
Der „tropische Sozialismus“ der Castro-Brüder steht
wegen seines autoritären Einparteiensystems und seiner Menschenrechtspolitik zu Recht in der Kritik. Aber
sein Gesundheitssystem gilt im internationalen Vergleich nach wie vor als nahezu vorbildlich.
Jens Becker (Hg.)
Einblicke in das kubanische Gesundheits- und Sozialsystem
Westfälisches Dampfboot, Münster
2015, 276 Seiten, 29,90 Euro
Die kubanische Verfassung garantiert das Recht auf
Gesundheit und kostenlose medizinische Grundversorgung. Um eben sie sicherzustellen, gibt es das auf
Prävention basierende Familienarztmodell, dazu Polikliniken, Krankenhäuser und spezialisierte – beispielsweise zahnmedizinische – Zentren und Einrichtungen. Nicht zuletzt wegen geringer Ressourcen
liegt deren Schwerpunkt auf Prävention und Epidemiologie, das heißt auf einem umfassenden Monitoring des Gesundheitszustands der Bevölkerung.
Geht es um die Qualität dieses Systems, werden
meist die hohen Durchimpfungsraten gegen 13 Infektionserkrankungen, eine hohe Lebenserwartung,
eine geringe Säuglingssterblichkeit sowie die umfangreiche Betreuung von Schwangeren angeführt.
Die Autoren des Sammelbandes zeigen, wie die Verantwortlichen mit Hilfe bescheidener Investitionen
in die Infrastruktur und mit einer ausgeklügelten
Gesundheitsstrategie „einen Gesundheitszustand
der Bevölkerung vergleichbar mit dem von Indus­
trie­ländern“ gewährleisten. Und sie machen deut-
lich, dass vor allem die gute, praxisorientierte Ausbildung der kubanischen Ärzte sowie das Familienarztmodell als Bindeglied zwischen Wohngebiet und
Gesundheitssystem dafür maßgeblich sind.
Weltweit, aber vor allem in Lateinamerika, genießen kubanische Ärzte einen hervorragenden Ruf. Sie
locken – wie die Autoren darlegen – immer mehr
Ausländer nach Kuba, um sich medizinisch versorgen zu lassen. Gesundheitstourismus ist für das
Land inzwischen eine sichere und profitable Einnahmequelle. Darüber hinaus seien Ärzte durch das „Cuban Medical Internationalism“-Programm zur internationalen Verschickung von medizinischem Fachpersonal zum wichtigen Exportschlager geworden.
Daneben untersuchen die Autoren den politischen und sozialen Wandel unter Raúl Castro und
diagnostizieren wachsende soziale Ungleichheit.
Ärzte und Krankenschwestern verdienen sehr wenig,
„Geschenke der Patienten“, also Korruption, sichern
ihr Auskommen.
Bislang fehlte es an einem profunden Einblick in
dieses staatlich gelenkte Gesundheitssystem, das
sich im Umbruch befindet. Die Autoren zeigen in ihrem Buch Stärken und Schwächen dieses Systems
auf und informieren kenntnisreich über seine Eigenschaften, Besonderheiten und Probleme.
Dieter Hampel
2-2016 |
termine service
termine – veranstaltungen
Ammersbek
25. bis 28. Februar 2016
„Dragon Dreaming“ – Ansätze für ganzheitliches
Projektmanagement
Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst
Kontakt: Tel: 040-6052-559
www.brot-fuer-die-welt.de
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)
Kontakt: Tel. 0228-99515-200
www.bpb.de
Georg-von-Vollmar-Akademie
Kontakt: Tel.: 08851 – 780
www.vollmar-akademie.de
Kochel am See
22. bis 24. Februar 2016
Nachhaltiges Energiesystem.
Welche Bioenergie brauchen wir?
26. bis 28. Februar 2016
Tunesien – arabischer
Vorzeigestaat?
Tunesien nach dem arabischen Frühling.
Bonn
7. bis 8. März 2016
Big Data und informationelle Selbstbestimmung
Eine Herausforderung für
die politische Bildung
Bonner Gespräche zur politischen Bildung 2016
29. Februar bis 2. März 2016
Klimaschutz und Klimafolgen
Orte, die noch kaum ein Ausländer gesehen hat.
tv-tipps
Donnerstag, 18.Februar
18:30-20:00, Phoenix
Berlin
7. bis 8. März 2016
So anders sind wir nicht
Zeitgemäße Zugänge zum Islam
und zur Koranauslegung
Evangelische Akademie zu Berlin
Kontakt: Tel. 030-203-55-500
www.eaberlin.de
Rehburg-Loccum
radio-tipps
PHOENIX/ZDF/J. Hano
Aachen
25. bis 27. Februar 2016
Konfliktlösung auf Basis der
Gewaltfreien Kommunikation
Bischöfliche Akademie
des Bistums Aachen
Kontakt: Tel. 0241-47996-22
www.bischoeflicheakademie-ac.de
Chinas Grenzen - Abenteuer
vom Ussuri bis zum Hindukusch. Film von Johannes
Hano (ZDF/2011). Sechs Monate lang ist der Korrespondent
durch Chinas Grenzprovinzen
gereist. Dabei hat er mit seinem Team 20.000 Kilometer
auf Landstraßen, Feldwegen, Sand- und Geröllpisten
zurückgelegt. Sein Film zeigt
Impressum
Redaktion:
Bernd Ludermann (bl, verantw.),
Tillmann Elliesen (ell), Barbara Erbe (erb), Gesine Kauffmann (gka),
Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online)
Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main;
Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main
Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162
E-Mail: [email protected]
Ständig Mitarbeitende:
Kathrin Ammann (kam), Bern; Katja Dorothea Buck (kb), Tübingen; Heimo Claasen
(hc), Brüssel; Ralf Leonhard (rld), Wien; Claudia Mende (cm), München; Theodora Peter
(tp), Bern; Rebecca Vermot (ver), Bern; Marina Zapf (maz), Berlin
Ansprechpartner in Österreich:
Gottfried Mernyi, Kindernot­hilfe Österreich, 1010 Wien, Dorotheergasse 18
Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP),
Klaus Seitz (Vorsitzender), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst,
Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin
Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), Christoffel-Blindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern),
Kindernothilfe (Duisburg), Misereor (Aachen)
| 2-2016
Sonntag, 7. Februar
06:05-06:30, NDRinfo
Ökomode gerne - aber bitte
mit tiefem Ausschnitt. Die
Diskussion um Nachhaltigkeit.
Von Claudia Sarre. Wh. 17:30.
Evangelische Akademie Loccum
Kontakt: Tel. 05766-81-0
www.loccum.de
Schwerte
19. bis 20. Februar 2016
Die Agenda 2030 in
Deutschland und NRW
Evangelische Akademie Villigst
Kontakt: Tel. 02304-755-332
www.kircheundgesellschaft.de
Springe
26. bis 28. Februar 2016
Integration und Soziale Demokratie
Friedrich-Ebert-Stiftung
– Politische Akademie
Kontakt: Tel. 0228-883-0
www.fes-soziale-demokratie.de
Wuppertal
Mittwoch, 10. Februar
11. bis 13. März 2016
Entwicklungspolitische Grundlagen für zukünftige Freiwillige
Vereinte Evangelische
Mission (VEM)
Kontakt: Tel. 0202-89004-0
www.vemission.org
Weitere TV- und Hörfunktipps noch
bis Ende Februar 2016 unter www.
welt-sichten.org. Danach entfällt
dieser Service sowohl im Magazin
als auch auf der Internetseite.
29. Februar bis 4. März 2016
Die Ideologie der Gewalt – Terrorismus als politischer Wegbereiter?
Akademie Frankenwarte
Kontakt: Tel. 0931-80-464-0
www.frankenwarte.de 22:03-23:00, SWR2
Feature. Meine Firma in
Bulgarien. Griechische
Unternehmer wandern aus.
Von Marianthi Milona.
Würzburg
www.welt-sichten.org
Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der Servicestelle Kommunen in
der Einen Welt/Engagement Global gGmbH.
Anzeigenleitung: Yvonne Christoph,
m-public Medien Services GmbH,
Zimmerstraße 90, 10117 Berlin,
Telefon: 030-325321-433, www.m-public.de
Grafische Gestaltung:
Angelika Fritsch, Silke Jarick
Druck: Strube Druck&Medien OHG,
Stimmerswiesen 3, 34587 Felsberg
Verlegerischer Dienstleister:
Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH, Frankfurt am Main
Preis der Einzel-Nr.: 5,50 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten
Preis im Jahresabonnement: 49,20 Euro, ermäßigt 36,90 Euro. Preisänderungen
vorbehalten.
politik“.
ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“ und „eins Entwicklungs-
ISSN 1865-7966 „welt-sichten“
65
66
service termine
termine – kulturtipps
Bilder von Macht und Ohnmacht
Blick von der Bagram Air Base,
dem Hauptquartier der USStreitkräfte in Afghanistan, auf die
Berge von Majeed.
Edmund Clark/Reiss-Engelhorn-Museen
Bonn
bis 17. April 2016
Unter Druck! Medien und Politik
Tageszeitungen, Tagesschau oder
Twitter: Nachrichten stoßen
Diskussionen in modernen
Gesellschaften an. Mit Berichten
und Kommentaren bestimmen
Presse und Rundfunk mit, wie die
Bürger Politik und Gesellschaft
wahrnehmen. Deshalb gelten
Medien neben Parlament, Regierung und Justiz als „vierte Gewalt“. Die Ausstellung beleuchtet
mit mehr als 900 Objekten die
Rolle der Medien in Deutschland
seit 1945. Sie stellt die Medienlandschaft in der Bundesrepublik
der gesteuerten Presse der DDR
gegenüber und geht der Frage
nach, welche Rolle die sozialen
Netzwerke für die Meinungsbildung heute spielen. Anhand von
Fotos, Zeitungen aus dem Archiv
und Tonaufnahmen soll auch die
doppeldeutige Rolle der Medien
selbst kritisch beleuchtet werden.
Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Kontakt: Tel. 0228-9165-0
www.hdg.de
Der Londoner Fotograf Edmund
Clark dokumentiert mit seinen
Bildern Machtsysteme und die
die Folgen des Krieges gegen den
Terrorismus seit dem 11. September 2001. Sie erhalten mit der
Bremen
wachsendenTerrorgefahr in Europa einen aktuellen Bezug. Clark
hat Militärcamps in Afghanistan
fotografiert und war der erste, der
im Gefangenenlager von Guantanamo Bilder machte. Dort zeigte
er den Wohnbereich der Angestellten ebenso wie den Teil, in
dem die Gefangenen untergebracht sind. Aber er fotografierte
auch Wohnungen ehemaliger
Häftlinge. Die Serien sind in der
Mannheimer Ausstellung „Terror
Incognitus“ zu sehen.
In seiner neuesten Arbeit untersucht Clark das System der illegalen Entführungen durch den
US-amerikanischen
Geheimdienst und die Überführung Betroffener zu so genannten „Black
Sites“: geheime und illegale Foltercamps, die in Rumänien oder
Litauen lagen. Anhand nüchter-
München
ner Bildern geht er den psychischen Auswirkungen von Folter
und Gefangenschaft auf den
Grund. Auch in Syrien, Libyen
oder Guantanamo ließen die Geheimdienste die Entführten foltern. Viele von ihnen wurden
vom Frankfurter Flughafen ausgeflogen. Das und weitere Hintergründe zeigt Edmund Clark anhand von Dokumenten, Gerichtsprotokollen und Fotos, die
historischen
Zusammenhänge
deutlich machen sollen.
Mannheim
bis 29. März 2016
Edmund Clark
Terror Incognitus
Reiss-Engelhorn-Museen/Zephyr
Museum Bassermannhaus
Kontakt: Tel. 0621-293-3150
www.rem-mannheim.de
Schweiz
bis 24. April 2016
Faszination Wale – Mensch. Wal.
Pazifik.
Den Riesen der Meere widmet
sich das Übersee-Museum
Bremen. Modelle sollen einen
Eindruck ihrer Größe vermitteln.
Ein lebensgroßes, begehbares
Modell eines Blauwalherzens ist
ebenfalls zu sehen, während im
Hintergrund Walgesänge und
andere Meeresgeräusche zu
hören sind. Gleichzeitig wirft die
Ausstellung einen Blick auf das
Verhältnis zwischen Wal und
Mensch in verschiedenen
Kulturen wie in Japan, Amerika
und Neuseeland. Das Augenmerk
liegt dabei auf den Mythen und
Legenden um die Meeressäuger
– und auf dem Schaden, den der
Mensch ihnen durch Umweltverschmutzung zufügt. So schlucken Wale immer öfter große und
kleine Plastikteile, die in den
Ozeanen treiben, und sterben
daran.
bis 3. April 2016
Farben. Kunst. Indianer
Der Münchner Impressionist
Julius Seyler (1873–1955) verbrachte die Jahre 1913 und 1914
bei den Blackfeet-Indianern
in Nordamerika. Das Museum
Fünf Kontinente zeigt seine dort
entstandenen Skizzen und Bilder.
Sie bilden Gesichter, Reiterkrieger, Prärielandschaften oder
Büffeljagden ab. Vieles davon
idealisierte Seyler: Die Blackfeet
lebten zu dieser Zeit bereits in
Reservaten und mussten im Maleratelier posieren. Dennoch haben die Bilder den Anspruch, das
Selbstverständnis der Blackfeet
widerzuspiegeln. Die Ausstellung
kombiniert Gemälde und Fotografien Seylers mit Alltagsgegenständen der Blackfeet-Indianer
aus der Nordamerika-Sammlung
des Museums. Für Kinder ist
ein Indianer-Tipi aufgebaut;
eine Filmdokumentation gehört
ebenfalls zur Ausstellung.
bis 4. September 2016
Anders schön in Panama
Das Völkerkundemuseum der
Universität Zürich besitzt eine
Sammlung von rechteckigen
Stoffen aus Panama, die in
Zürich erstmals gezeigt wird. Die
ethnische Gruppe der Guna aus
Panama ist für diese Textilien
namens Mola bekannt. Seit
Anfang des 20. Jahrhunderts ist
das Mola dort fester Bestandteil der Alltagskleidung; viele
Guna-Frauen tragen das Mola als
Bluse, Wickelrock, Kopftuch oder
Schmuck. Die farbenfrohen Nähstücke sind aber auch auf dem
Ethno- und Kunstmarkt beliebt:
Eingespannt in Bilderrahmen
werden sie als Kunstwerke gehandelt. Neben den Stoffen zeigt die
Ausstellung weitere völkerkundliche Gegenstände der Guna und
liefert zusätzliche Informationen
zu ihrer Geschichte und Kultur.
Übersee-Museum Bremen
Kontakt: Tel. 0421-160-38-0
www.uebersee-museum.de
Museum Fünf Kontinente
Kontakt: Tel. 089-210-136-100
www.museum-fuenf-kontinente.de
Völkerkundemuseum der Uni Zürich
Kontakt: Tel. +41-44-63490-11
www.musethno.uzh.ch Zürich
2-2016 |
Verschenken Sie
Es lohnt sich!
12-2015/
5,50 €
| 7,80 sFr
ichten
www.welt-s
1-2016
Deze mbe
r/Ja nua
Maga
Unser Dankeschön:
r
.org
heiten
Dumm
n
ror, alte
ige Wahle
Neuer Ter
fragwürd e Feinde
Den iS:
len für
gegen
und sein
ber zah
Krieg
: Die Ge
sschluss
AfriKA
r Frieden
ien: De
mb
lu
Ko
5,50 € | 7,80
sFr
glo
zin für
tw ick
ba le en
uM
un d ök
lun g
en ische
zu saM
www.welt-sichten
Mena rbe
.org
it
2-2016 febru
ar
EnErgiE
für Afr
islA mismus ikA: Solarstrom auf
Raten
: Mörder zur
klim Asc
Einsicht brin
hut z: Leer
gen
e Versprec
hen aus Paris
Mag azin
ag r a r
.
für glo bale
ent wicklu
in d u st
ng und
öku Men
isch
e zus aMM
ena rbei t
r ie
er Tüte
e aus d
Vitamin
15 15:04:40
Sie machen mit einem
-Abonnement jemandem eine Freude – wir bedanken uns dafür mit einem Buch. Sie haben die
Wahl: Lernen Sie in „Das Geständnis der Löwin“ die dunklen Geheimnisse einer Dorfgemeinschaft kennen oder begeben Sie sich in
dem haitianischen Voodoo-Krimi „Schweinezeiten“ in den Kampf gegen Verbrechen,
Korruption und okkulte Mächte.
23.11.20
ag_ws12
-15.indd
Umschl
1
sachlich
kritisch
gründlich
se uc he n
unsichtbar
e killer
1602_Umsc
hlagl.indd
1
25.01.2016
13:45:48
Sie schenken Denkanstöße:
Im nächsten Heft
Flucht und
Migration
60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Nach Europa
kommen Vertriebene auf demselben Weg wie Armutsmigranten
und lösen heftige Debatten über
Obergrenzen und Integration aus.
Wie können sinnvolle Regelungen aussehen? Wie verändert der
Zuzug die deutsche Gesellschaft?
Und warum schicken Familien aus
Gambia Söhne und Töchter auf
Wanderschaft nach Norden?
Algerien
analysiert, hinterfragt, erklärt
und macht neugierig. Die Zeitschrift bietet
Reportagen, Interviews und Berichte über
die Länder des Südens und globale Fragen.
Jeden Monat direkt ins Haus.
Mia Couto
Das Geständnis der Löwin
Unionsverlag, 2016
280 Seiten
Gary Victor
Schweinezeiten
Unionsverlag, 2016
130 Seiten
Der Salafismus gewinnt in dem
nordafrikanischen Land immer
mehr Anhänger. Noch ist sein politisch ausgerichteter Flügel klein.
Wie soll er in Schach gehalten
werden?

Ihre Bestellmöglichkeiten:
Ich bezahle das Geschenkabonnement.
Telefon: 069/58098-138
Fax: 069/58098-162
E-Mail: [email protected]
Post: Einfach den Coupon ausfüllen und abschicken an:
Redaktion „welt-sichten“
Postfach 50 05 50
60394 Frankfurt/Main
Ausgabe 4-2016
Bitte schicken Sie die Zeitschrift an:
Name, Vorname
StraSSe, Hausnummer
Postleitzahl, Ort
„Das Geständnis der Löwin“ von Mia Couto
„Schweinezeiten“ von Gary Victor
An diese Adresse erhalte ich meine Buchprämie und die Rechnung:
Name, Vorname
Ja, ich verschenke ein Jahresabonnement von
(12 Ausgaben). Es beginnt mit
Ausgabe 3-2016
Es kostet 49,20 Euro inklusive Porto in Deutschland, 62,40 Euro in Europa. Das Geschenkabonnement läuft ein Jahr und verlängert sich nicht automatisch. Als Dankeschön erhalte ich, sobald das Abonnement bezahlt ist:
StraSSe, Hausnummer
Ausgabe ___-2016
Postleitzahl, Ort
Datum, Unterschrift
Sie möchten lieber online bestellen oder per Bankeinzug zahlen?
Auf unserer Website www.welt-sichten.org können Sie unter „Abonnement“ ein Abo verschenken. Dort finden Sie ein Formular für ein SepaMandat, mit dem Sie bequem per Bankeinzug bezahlen können.
Heimat los
Gestaltung: Ralf Krämer | Foto: Jakob Studnar
Helfen Sie
Flüchtlingskindern
dort, wo die Not
am größten ist.
kindernothilfe.de
Weil jeder Euro hilft.