Strafprozessrecht II; Lehrstuhl Prof. Dr. iur Daniel Jositsch FS15 Der Grundsatz in dubio pro duriore I. Erläuterung des Grundsatzes Eine Untersuchung kann nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen erledigt werden (Erledigungsgrundsatz, Art. 2 Abs. 2 StPO1). Somit muss nach beendeter Strafuntersuchung über Einstellung des Verfahrens, allenfalls Erlass eines Strafbefehls (im Folgendem wird davon ausgegangen, dass es sich um Fälle handelt, in denen kein Strafbefehl ergehen kann) oder aber Anklageerhebung entschieden werden. Dieser Entscheid über die Weiterführung des Strafverfahrens stellt eine wichtige Weichenstellung für das Schicksal der Strafsache, den Angeschuldigten und die restlichen Verfahrensbeteiligten dar.2 Die Staatsanwaltschaft hat ihren Entscheid über Anklageerhebung oder Einstellung des Verfahrens stets nach pflichtgemässem Ermessen zu treffen.3 Nach durchgeführter Untersuchung, ist es nun ihre Aufgabe in vorweggenommener Würdigung der Beweise und der Rechtslage eine Prognose über den Ausgang eines allfälligen Verfahrens aufzustellen. Hierbei ist von Bedeutung, dass die Staatsanwaltschaft bei dieser Aufgabe nicht selbst an die Stelle des Gerichts tritt, sondern in Berücksichtigung der massgebenden Beweiswürdigungs- und Subsumtionsgrundsätze, erwägt, welche Möglichkeiten dem jeweiligen Sachgericht offenstehen.4 Der strafprozessuale Grundsatz in dubio pro duriore fordert, dass das Verfahren nur eingestellt wird, wenn kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass das Sachgericht entweder von der Unschuld des Beschuldigten überzeugt sein wird oder zumindest derartige Zweifel an dessen Schuld haben wird, dass eine Verurteilung ausgeschlossen erscheint.5 Gemäss Bundesgericht darf eine Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft „nur bei klarer Straflosigkeit bzw. offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen“ verfügt werden.6 Bestehen jedoch Zweifel, ob das Sachgericht an der Schuld zweifeln könnte, ist stets Anklage zu erheben.7 Eine Überweisung an das Gericht sei des Weiteren „insbesondere dann zu verfügen, wenn zwar eher ein Freispruch zu erwarten ist, eine Verurteilung aber nicht als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden kann“.8 Führt die vorläufige Beurteilung zum Ergebnis, dass sowohl Freispruch wie auch Verurteilung als mögliche Varianten eines 1 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (SR 312.0). SCHMID NIKLAUS: Strafprozessrecht; Eine Einführung auf der Grundlage des Strafprozessrechtes des Kantons Zürich und des Bundes, 4. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2004 (zitiert: SCHMID, Strafprozessrecht, S. ...) S. 309. 3 OBERHOLZER NIKLAUS: Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Auflage, Bern 2012 (zitiert: OBERHOLZER N ...) N 1395. 4 OBERHOLZER N 1395. 5 OBERHOLZER N 1396. 6 BGE 137 IV 219, E. 7.1. 7 OBERHOLZER N 1396. 8 BGE 137 IV 219, E. 7.1. 2 Sabrina Stoll 1 Strafprozessrecht II; Lehrstuhl Prof. Dr. iur Daniel Jositsch FS15 sachrichterlichen Entscheids in Betracht kommen, ist Anklage zu erheben.9 Das Gleiche gilt, wenn heikle Abgrenzungsfragen oder Rechtfertigungsgründe zur Diskussion stehen.10 Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Prognose der Staatsanwaltschaft und dem Urteil des Gerichts besteht somit darin, dass das Sachgericht im Zweifelsfall die beschuldigte Person nach dem Grundsatz in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten) freispricht (Art. 10 Abs. 3 StPO), während die Staatsanwaltschaft nach dem Grundsatz in dubio pro duriore (im Zweifel für eine Anklageerhebung) Anklage erhebt.11 Der in dubio pro reo-Grundsatz kommt bei der Frage der Anklageerhebung oder Einstellung im Untersuchungsverfahren gerade nicht zur Anwendung.12 II. Gesetzliche Grundlage Obwohl im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, leitet das Bundesgericht den Grundsatz in dubio pro duriore indirekt aus Art. 324 Abs. 1 i.V.m. Art. 319 Abs. 1 StPO ab.13 Auch stützt es sich dabei auf das Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV und Art. 7 Abs. 1 StPO).14 Die Staatsanwaltschaft kann mit dem Erlass einer Verfügung das Strafverfahren ganz oder auch nur teilweise einstellen und somit beendigen. Die verschiedenen Gründe, die zu einer Einstellung führen können, werden in StPO 319 I erwähnt15: • Die Untersuchung erhärtet den ursprünglich vorhandenen Tatverdacht nicht derart, dass sich eine Anklage rechtfertigen würde (lit. a) • Der Straftatbestand ist nicht erfüllt (lit. b) • Es liegen Rechtfertigungsgründe oder Schuldausschlussgründe vor (lit. c) • Eine Prozessvoraussetzung ist definitiv nicht erfüllt oder ein Prozesshindernis kann nicht beseitigt werden (lit. d) • Nach einer gesetzlichen Vorschrift kann auf eine Strafverfolgung oder Bestrafung verzichtet werden (lit. e) Mit dem Grundsatz in dubio pro duriore, gilt nun bei allen Punkten die Regel, dass das Verfahren im Zweifelsfall durchzuführen ist.16 9 GVP 2002 Nr. 97 BGE 138 IV 89. 11 OBERHOLZER N 1396. 12 Botschaft StPO, BBl 2006, 1273. 13 BGE 137 IV 219, E. 7.2. 14 BGE 138 IV 86, E. 4.2; Urteil 6B_127/2013 vom 3.9.2013, E. 4.1. 15 JOSITSCH DANIEL: Grundriss des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Auflage, Zürich/St. Gallen 2013 (zitiert: JOSITSCH, Grundriss StPO, N ...), N 485. 16 JOSITSCH, Grundriss StPO, N 497. 10 Sabrina Stoll 2 Strafprozessrecht II; Lehrstuhl Prof. Dr. iur Daniel Jositsch FS15 Art. 324 Abs. 1 StPO besagt sodann, dass die Staatsanwaltschaft beim zuständigen Gericht Anklage erhebt, „wenn sie aufgrund der Untersuchung die Verdachtsgründe als hinreichend erachtet“. III. Anwendungsbereiche des Grundsatzes in dubio pro duriore Die Anwendung des Prinzipes in dubio pro duriore ist in vielen verschiedenen Konstellationen denkbar. Es kann sich dabei einerseits um Fälle handeln, die im Bereich des rechtlichen ungeklärt oder zweifelhaft scheinen und andererseits gibt es Fälle bei denen in tatsächlicher Hinsicht Zweifel bestehen. a) Zweifelsfälle rechtlicher Natur Ob ein gewisser Straftatbestand gegeben ist, hängt oft mit schwer fassbaren Gesetzesbegriffen zusammen. Gerade bei Auslegungs- und Wertungsfragen ist die herrschende Lehre sich einig und spricht sich für eine strikte Befolgung von in dubio pro duriore aus.17 Auch bei Ermessensfragen und Streitfragen, bei denen in Literatur und Rechtsprechung Uneinigkeit besteht, gilt es stets nach dem Grundsatz in dubio pro duriore Anklage zu erheben.18 Nach der Rechtsprechung kann der Umstand, dass Präjudizien zur Anwendung des materiellen Strafrechts fehlen, auch ein Kriterium darstellen, dass im Zweifel für eine Anklageerhebung spricht.19 In Zweifelsfällen ist hier der Entscheid dem Gericht zu überlassen.20 b) Zweifelsfälle tatsächlicher Natur Nicht selten hat es die Staatsanwaltschaft mit ungeklärten, offenen Fragen bezüglich des relevanten Sachverhalts zu tun. Schwierige Fälle gestalten sich zum Beispiel bei widersprüchlichen Aussagen von Geschädigten und beschuldigter Person ohne weitere wesentliche Beweismittel. Im Falle von Aussage gegen Aussage, darf die Staatsanwaltschaft das Verfahren nur einstellen, wenn eindeutig feststeht, dass die entlastende Aussage klar 17 GRÄDEL ROLF/HEINIGER MATTHIAS in: NIGGLI MARCEL ALEXANDER/HEER MARIANNE/WIPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Basel 2011, Art. 319, N 9. 18 LANDSHUT/BOSSHARD in: DONATSCH ANDREAS/HANSJAKOB THOMAS/LIEBER VIKTOR, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2014, (zitiert: LANDSHUT/BOSSHARD, Art. ...StPO N ...), Art. 319 StPO N 20. 19 Urteil des Bundesgerichts 1B_528/2011 23. März 2012 E. 2.4 20 SCHMID, NIKLAUS: Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Auflage, Zürich/St. Gallen 2013, (zitiert: SCHMID, Handbuch StPO, N...), N 1251. Sabrina Stoll 3 Strafprozessrecht II; Lehrstuhl Prof. Dr. iur Daniel Jositsch FS15 glaubhafter ist.21 Bei mehreren, unterschiedlichen Zeugenaussagen (und auch nicht mehr Klarheit durch Untersuchung), darf das Verfahren nicht eingestellt werden, da es sich hierbei um einen Ermessensentscheid handelt, der dem Gericht vorbehalten bleibt. 22 Dies gilt noch verstärkt, wenn es sich dabei um schwere Delikte handelt.23 Die Abwägung sich widersprechender Beweise ist nicht Sache der Staatsanwaltschaft.24 Grundsätzlich sollte immer dann Anklage erhoben werden, wenn der Ausgang des Verfahrens ausschliesslich von der Beweiswürdigung abhängt.25 In dubio pro duriore gilt speziell, wenn es sich um schwere Fahrlässigkeitsdelikte handelt und Freispruch nicht zweifelsfrei zu erwarten ist (man bedenke hier auch die oft heikle Beurteilung von Kausalität bzw. Sorgfaltspflichtsverletzung).26 In Zweifelsfällen beweismässiger Art, ist somit auch Anklage zu erheben.27 IV. Befürworter und Gegner des Grundsatzes Das Schriftum teilt die Meinung des BGer überwiegend und spricht sich für den Grundsatz in dubio pro reo aus. Dennoch gibt es vereinzelt auch kritische Stimmen.28 a) Argumente für den Grundsatz Die Staatsanwaltschaft ist hier als Untersuchungs- und Anklagebehörde tätig und daher nicht dazu berufen, über Recht oder Unrecht zu richten.29 Dies ergibt sich auch aus dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft keine abschliessende Beurteilung vornimmt, sondern lediglich prüft, ob ausreichend Anhaltspunkte vorhanden sind, die die Weiterführung des Verfahrens rechtfertigen.30 Es gilt daher, nicht voreilig eine Einstellung zu verfügen, sondern den Entscheid dem Gericht zu überlassen und demgemäss Anklage zu erheben.31 Das Prinzip der Gewaltentrennung führt dazu, dass das Befinden über die Schuldfrage, Aufgabe unabhängiger Gerichte ist.32 21 LANDSHUT/BOSSHARD, Art. 319 StPO N 17. LANDSHUT/BOSSHARD, Art. 319 StPO N 18. 23 BGE 138 IV 86, E. 4.3. 24 Botschaft, 1273. 25 LANDSHUT/BOSSHARD, Art. 319 StPO N 18. 26 Urteil 1B_272/2011 vom 22.3.2012, E. 3. 27 SCHMID, Handbuch StPO, N 1251. 28 Kritisch z.B. WOHLERS in: WOHLERS WOLFGANG, „in dubio pro duriore“ – zugleich Besprechung von BGer, Urteil v. 11.7.2011, 1B_123/2011= BGE 137 IV 219, forumpoenale 06/2011, 375. 29 SCHMID, Handbuch StPO, N 1251. 30 LANDSHUT/BOSSHARD, Art. 319 StPO N 15. 31 SCHMID, Handbuch StPO, N 1253. 32 LANDSHUT/BOSSHARD, Art. 319 StPO N 3. 22 Sabrina Stoll 4 Strafprozessrecht II; Lehrstuhl Prof. Dr. iur Daniel Jositsch FS15 Ohne Geltung des Grundsatzes besteht die Gefahr zu Unrecht erfolgender Einstellungen (das Strafverfahren wird mit der Einstellungsverfügung beendigt33). Der Grundsatz gewährleistet, dass das Verfahren gegen Angeschuldigte nicht fälschlicherweise eingestellt wird, es somit nicht zu einer Anklage kommt und ein Schuldiger dadurch einer Bestrafung entgeht. Man bedenke, dass dem Beschuldigten im späteren Verfahren der Grundsatz in dubio pro reo zugute kommt. Es erscheint folglich auch sachgemäss, dass Verfahren mit schweren Tatfolgen wie z.B. tödliche Verkehrsunfälle, tendenziell zur Anklage gebracht werden sollten.34 b) Argumente gegen den Grundsatz Der wohl erste und am häufigsten geäusserte Kritikpunkt ergibt sich aus der mangelnden Rechtsgrundlage.35 So streiten Heimgartner/Niggli jegliche gesetzliche und grundrechtliche Norm als Grundlage ab.36 Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie, wäre es wünschenswert leichtfertige, vorschnelle Anklagen zu verhindern.37 Stark kritisiert wird schlussendlich noch dass die Anklagen, die wegen in dubio pro duriore, ohne ernsthafte Chance auf Verurteilung, erhoben werden zu einer unverhältnismässigen Tangierung der Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten (aufgrund der Publizität des Strafverfahrens) führen.38 V. Fazit Zusammenfassend betrachtet überzeugen die Argumente des BGer und der Befürworter, da das Interesse daran, denn Fall, in dem ein Beschuldigter fälschlicherweise nicht angeklagt wird, zu verhindern, schwerer wiegt. In Zweifelsfällen tatsächlicher und rechtlicher Art, ist folglich Anklage zu erheben und die Entscheidung dem dafür zuständigen, unabhängigen Gericht zu überlassen. 33 LANDSHUT/BOSSHARD, Art. 319 StPO N 7. BGE 138 IV 86 E. 4.1.2; BGE 138 IV 186 E. 4.1. 35 Z.B.: WOHLERS, 371. 36 HEIMGARTNER STEFAN/NIGGLI MARCEL ALEXANDER in: NIGGLI MARCEL ALEXANDER/HEER MARIANNE/WIPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Basel 2011, Art. 324, N 12. 37 LANDSHUT/BOSSHARD, Art. 319 StPO N 3. 38 Heimgartner/Niggli, BSK StPO, Art. 324 N 10. 34 Sabrina Stoll 5 Strafprozessrecht II; Lehrstuhl Prof. Dr. iur Daniel Jositsch FS15 Eigenständigkeitserklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit selbstständig und nur unter Zuhilfenahme der in den Verzeichnissen oder in den Anmerkungen genannten Quellen angefertigt habe. Ich versichere zudem, diese Arbeit nicht anderweitig als Leistungsnachweis verwendet zu haben. Eine Überprüfung der Arbeit auf Plagiate unter Einsatz entsprechender Software darf vorgenommen werden. 4. Mai 2015 Sabrina Stoll Sabrina Stoll 6
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