Trösten wie eine Mutter Predigt zur Jahreslosung 2016 gehalten im Ökumenischen Neujahrsgottesdienst in St. Peter und Paul, Gerlingen Zum neuen Jahr Wie heimlicher Weise ein Engelein leise mit rosigen Füßen die Erde betritt, so nahte der Morgen. Jauchzt ihm, ihr Frommen, ein heilig Willkommen, ein heilig Willkommen! Herz, jauchze du mit! In Ihm sei’s begonnen, der Monde und Sonnen an blauen Gezelten des Himmels bewegt. Du, Vater, du rate, lenke du und wende! Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt. (Eduard Mörike, vertont von Hugo Wolf) Gebet Herr, schicke, was Du willt, ein Liebes oder Leides. Ich bin vergnügt, daß beides aus deinen Händen quillt. Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten! Doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden. (Eduard Mörike, vertont von Hugo Wolf) In Ihm sei’s begonnen, der Monde und Sonnen an blauen Gezelten des Himmels bewegt. Du, Vater, du rate, lenke du und wende! Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt. So endet Eduard Mörikes Gedicht „Zum neuen Jahr“, das wir vorhin in der Vertonung von Hugo Wolf hören durften. Und eine bessere Empfehlung kann man auch nicht aussprechen, als die, alles in Gottes Hände zu legen, den Anfang und das Ende. Mörike wusste das, denn er war Theologe, auch wenn er als Pfarrer nicht glücklich geworden ist, sondern seine wahre Berufung erst als Dichter gefunden hat. Er redet Gott, den Beweger der Mond und Sonnen, ganz klassisch an als den himmlischen Vater: „Du, Vater, du rate, lenke du und wende!“ Einen etwas anderen Akzent in der Anrede Gottes setzt die Jahreslosung für das Jahr 2016: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ So spricht Gott beim Propheten Jesaja. Gott spricht zu einem verzagten und verzweifelten Volk. Er spricht zu einem Volk, das meint: „Wir schaffen das nicht.“ Gott spricht das Volk auf ganz elementare Lebenserfahrungen hin an: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Es sind die Erfahrungen der frühen Kindheit. Sind diese Erfahrungen gut, dann hilft das viel fürs ganze Leben. Wenn einmal ein stabiles Grundvertrauen da ist, dann lässt sich dieses nicht mehr so leicht erschüttern. Und trotzdem erlebt auch der vertrauensvollste Mensch immer wieder Einbrüche von Traurigkeit in seinem Leben. Von solcher Traurigkeit, aber auch von ihrer Überwindung, singt das Stück das wir nun gleich hören werden. Es stammt aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms. Die Solostimme zitiert Worte Jesu aus den Abschiedsreden des Johannesevangeliums: Ihr habt nun Traurigkeit aber ich will Euch wieder sehen und Euer Herz soll sich freuen und Eure Freude soll niemand von Euch nehmen. Und wir dürfen uns den Chor dazu denken, der die Worte Jesu unterlegt mit den Worten unserer Jahreslosung: Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Die Violine übernimmt den Part des Chores. Gesang: Johannes Brahms: Ihr habt nun Traurigkeit „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Denken Sie nach, überlegen Sie: Wer oder was hat Sie zuletzt getröstet? Wer oder was bietet Ihnen Trost, wenn Sie des Trostes bedürftig sind? Der Schlaf kann trösten. Musik kann trösten. Verständnisvolle Menschen können trösten. Manches kann trösten. Und durch alles hindurch kann Gott einen trösten. Nicht zuletzt vermag Gott einen dadurch zu trösten, dass er einem ein biblisches Wort zur persönlichen Anrede werden lässt: Wir lesen oder wir hören ein Wort der Bibel und haben den Eindruck es sei gerade für uns und zu uns geschrieben und gesprochen. Was tröstet Sie? Und wie trösten Sie selber andere? Wie kann man andere trösten? Wir hatten an den Weihnachtstagen Besuch. Beide Töchter mit ihren Ehemännern waren zu Gast, und natürlich war auch Raika dabei, unsere Enkeltochter. Sie ist gerade ein Jahr alt und sie bekommt Zähne. Außerdem war sie erkältet. Eltern wissen, was das bedeutet – und Großeltern erinnern sich schnell wieder daran. Sie war oft unglücklich und hat geweint. Besonders in der Nacht. Was macht man mit solch einem unglücklichen Kind? Man versucht, es zu trösten. Man versucht alles Mögliche, aber am Ende läuft es immer auf zwei Möglichkeiten hinaus. Am besten ist es, man kombiniert diese beiden Möglichkeiten. Erste Möglichkeit: Zuwendung und Nähe. Man lässt das unglückliche Kind nicht alleine. Man nimmt es auf den Arm, man schaukelt es sachte, man geht mit ihm im Zimmer umher oder durch die Wohnung. „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Mit dem Umhergehen ist man dann auch schon bei der zweiten Möglichkeit angelangt: Ablenkung. Zuwendung und Ablenkung: Das scheinen mir die besten Strategien des Tröstens zu sein. Und zwar nicht nur bei kleinen Kindern. Den Trostbedürftigen tut es gut wenn man sich ihnen zuwendet, egal wie alt oder wie jung sie sind. Zuwendung freilich braucht Zeit. Deshalb ist es auch furchtbar traurig, wenn an den Orten, wo ganz besonders viel Trostbedürftigkeit herrscht, niemand Zeit hat und alle nur hektisch durch die Gegend rennen müssen: in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Wie gut, wenn sich dort jemand Zeit nehmen kann für ein Gespräch oder einfach nur für‘s Zuhören oder für‘s Dabeisitzen. Was ein wenig trivial klingen mag, das ist die Sache mit der Ablenkung. Aber es ist nun einmal so, dass es für die großen Problemlagen des Lebens oft keine wirklichen Lösungen gibt. Und deshalb ist‘s oft besser, man wird als Trostbedürftiger einfach auf andere Gedanken gebracht. Hauptsache, man kommt heraus aus der negativen Gedankenspirale. „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Die gute Mutter tröstet einen dadurch, dass sie Zuwendung gibt, und dass sie einen auf andere Gedanken bringt. Und jetzt nehmen wir das einfach mal ganz ernst und sagen: Genau so macht Gott es auch. Denn nichts anderes passiert an Weihnachten, an jenem Fest, dass in diesen Tagen immer noch nachklingt: Gott wendet sich uns zu. Er kommt uns nahe. Wieso sollte er es auch anders machen als es eine gute Mutter oder ein guter Vater tut? Nähe, Zuwendung, Zeit. Und auch die zweite Taktik des Tröstens befolgt er: Er bringt uns auf andere Gedanken. Er zeigt uns, dass es nicht nur unseren Schmerz und unseren Kummer auf dieser Welt gibt. Natürlich gibt es unseren Schmerz und Kummer, aber es gibt ihn eben nicht ausschließlich. Vielleicht ist das ja eines der großen Betriebsgeheimnisse des Glaubens: Der Glaube öffnet uns einen Horizont, innerhalb dessen dann die einzelnen Traurigkeiten, so belastend sie auch sein mögen, ihren alles beherrschenden Charakter verlieren. Der Glaube spannt einen großen Horizont auf, vom Anbeginn der Welt bis zu deren Vollendung. Der Glaube schaut über die Grenzen der Zeit und des Raumes hinaus, der Glaube tut uns den Himmel auf, er schenkt uns Aussichten in die Ewigkeit: Die ganz große Ablenkung. Ich weiß es wohl: Wer wirklich ganz tief drin steckt in der Trauer, dem helfen all diese Gedanken im Moment nicht. Und der kann solche Gedanken im Augenblick des Schmerzes auch kaum ertragen. Es gibt Momente in der Trauer, da ist jedes Wort zu viel, und alles was man sagen kann, wird nur als zynisch empfunden. Aber es ist gut, wenn diejenigen, die den Trauernden beizustehen versuchen, diesen weiten Horizont nicht aus den Augen verlieren. „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Wir hören noch einmal ein Gedicht von Eduard Mörike, wieder vertont von Hugo Wolf. Gesang: Hugo Wolf: Gebet Herr, schicke, was Du willst, ein Liebes oder Leides. Ich bin vergnügt, dass beides aus deinen Händen quillt. Das ist das erste, was aus Mörikes Gedicht zu lernen wäre: Alles aus Gottes Händen anzunehmen: Das Liebe und das Leide, das Leichte und das Schwere, das Fröhliche und das Traurige. Beherrschten wir diese Kunst, dann wäre das ganze Leben für uns eine einzige Offenbarung Gottes. Uns wäre dann klar, dass Gottes Wirken alles umfasst, dass es alle Polaritäten des Lebens und greift. Über solch eine seelische Spannweite verfügen wir freilich in der Regel nicht. Es geht uns höchstens gelegentlich im Nachhinein und mit Abstand auf, dass sich auch im scheinbaren Unglück ein Glück verbergen kann. Und nur manchmal erkennen wir das Gefährliche, das sich im übergroßen Glück verbirgt. Für die Extreme sind die Meisten von uns nicht geschaffen: Wir brauchen Mitte und Maß. Nicht zu viele Leiden, sonst ertragen wir sie nicht. Aber auch nicht zu viele Freuden, sonst werden wir übermütig. Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten! Doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden. Von nichts zu viel: Das ist auch das Motto einer guten Mutter. Keine Überforderung, aber auch keine Unterforderung. Keine Kälte, aber auch keine übertriebene Verwöhnung. Es ist eine bescheidene Bitte, die Mörike vorbringt: Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten! Eine Bitte, die Bescheid weiß darüber, was wir Menschen zu leisten und zu ertragen vermögen und was nicht. Was wird es uns bringen, das neue Jahr? Werden die Freuden überwiegen oder die Leiden? Werden die Leiden erträglich sein, oder werden sie uns überwältigen? Werden die Freuden uns übermütig machen, oder bleiben wir bescheiden? Niemand von uns weiß, wie sich das kommende Jahr gestalten wird. Welche Herausforderungen wird es uns bringen? Werden wir unseren Aufgaben gerecht werden? Wir dürfen uns jedenfalls vor unseren Aufgaben nicht wegducken. Wir werden Entscheidungen treffen müssen, das eine tun und das andere lassen. Wir werden uns immer wieder entscheiden müssen. Und wir werden oft entscheiden müssen, ohne den genügenden Überblick über das Ganze zu haben. Hinterher ist man immer schlauer, aber vorher eben nicht. Wir werden deshalb auch Fehler machen und wir werden deshalb auch im neuen Jahr auf Vergebung angewiesen sein. Und dennoch, wir müssen entscheiden. Leben heißt: Sich entscheiden. Wir können die Dinge zwar oft, aber eben nicht immer einfach nur laufen lassen: „Was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück.“ (F. Schiller). Werden wir es schaffen? Wir werden es auf jeden Fall leichter schaffen, wenn wir auf Gott vertrauen; auf den Gott, der so freundlich zu uns redet und uns sagt: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Amen. Pfarrer Dr. Martin Weeber
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