Fred Busch (Boston) Lebendige Psychoanalyse

Fred Busch (Boston)
Lebendige Psychoanalyse*
Our vital profession
Hin und wieder sollten wir uns daran erinnern, welch entscheidende und
dynamische Rolle die Psychoanalyse spielt, die unseren Patienten hilft, die
Grundlagen ihres Menschseins wiederzugewinnen. Die Wandlungsfähigkeit
der Psychoanalyse ist auch an den Paradigmenwechseln der letzten 40 Jahre
abzulesen. Das soll uns jedoch nicht dazu verleiten, die bedeutsamen Unterschiede, die zwischen den psychoanalytischen Schulen existieren, zu unterschätzen. Eine grundlegende Herausforderung für unser individuelles und
kollektives Wachstum ist die Schwierigkeit, mit dem expandierenden Wissen
umzugehen, das die verschiedenen Perspektiven bereitstellen.
Wir alle kennen die depressive Sicht auf unseren Beruf: den unmöglichen
Beruf; den aussterbenden Beruf; den Schmerz, ein Analytiker zu sein; den
gefährlichen Beruf usw. Heute möchte ich Ihnen diesen Beruf in einem anderen Licht vorstellen: den lebendigen Beruf. Ich möchte nicht naiv erscheinen,
denn immer wieder ist unsere Arbeit tatsächlich schmerzhaft, und manchmal
sieht es so aus, als wäre sie unmöglich. Dennoch – wenn wir die vitale Natur
unserer Tätigkeit vergessen, kann sich das manchmal noch schmerzhafter,
unmöglicher, gefährlicher und hoffnungsloser anfühlen – und wir vergessen
dabei auch die unendlichen geistig-seelischen Möglichkeiten des Menschen.
Von Anbeginn bis heute haben Psychoanalytiker daran gearbeitet, ihren
Patienten zu helfen, den Kern dessen zu finden, was es bedeutet, lebendig,
menschlich usw. zu sein, d. h. ihr eigenes Seelenleben zu entdecken. Unabhängig davon, welchem theoretischen Ansatz wir folgen, versuchen wir alle, unseren Patienten einen psychischen Raum zu eröffnen, der ihnen vorher nicht zur
Verfügung stand, und auf diese Weise helfen wir ihnen, mit ihrer Psyche wieder in Kontakt zu kommen. Unsere Kollegin Marilia Aisenstein brachte diesen
äußerst wichtigen, vitalen Vorgang auf den Punkt, als sie feststellte:
Verglichen mit anderen Therapien ist die Analyse kompromißlos, denn sie allein zielt
darauf ab, unsere Patienten (wieder) zu Handelnden zu machen, zu den Hauptakteuren
ihrer Geschichte und ihres Denkens. Ist es allzu dreist, zu behaupten, daß dies die einzige unveräußerliche Freiheit ist, die der Mensch besitzt? (Aisenstein, 2007, 149)
Eine von Freuds großen Leistungen bestand darin – auch wenn er es nicht so
formuliert –, uns zu helfen, zu erkennen, daß wir alle in einem Film leben,
dessen Drehbuchautor, Hauptdarsteller und Regisseur wir selbst sind, ange*
Vortrag, gehalten auf dem 49. IPA Kongreß, Boston, 22.-25. Juli 2015. Bei der Redaktion
eingegangen am 3. Februar 2015
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trieben von unbewußten Kräften und den zahlreichen gegen sie gerichteten
Abwehrstrategien. Wie in Woody Allens The Purple Rose of Cairo, wo eine
Filmfigur die Leinwand verläßt, um ihr Leben zu ändern und in Angriff
zu nehmen, helfen wir unseren Patienten, zu erkennen, in welchem Film sie
bisher spielten, von welchen Kräfte sie dort gelenkt wurden, welche Gefahren der Veränderung sie dort fürchten, um ihnen zu ermöglichen, in einer
selbstgewählten Geschichte mitzuspielen. Eines der wichtigsten Ziele der
Psychoanalyse ist es, den Patienten zu helfen, die Fähigkeit des Geschichtenerzählens zu gewinnen, für einen Moment herauszutreten und die Geschichte als ihre eigene zu betrachten. Den Prozeß, der diese Veränderung in Gang
setzt, habe ich als »Entwicklung der Fähigkeit, psychoanalytisch zu denken«
(Creating a psychoanalytic mind; Busch, 2013b) bezeichnet – ein Prozeß,
der einzigartig und der Psychoanalyse vorbehalten ist. Wir versuchen einen
kreativen Prozeß in Gang zu setzen, den nur der Patient vollenden kann, und
auf diese Weise von der Unausweichlichkeit von Handlungen zur Möglichkeit der Reflexion zu gelangen. Welch bedeutender Gewinn!
Ich glaube, die meisten von uns kennen das, was ich hier beschreiben will,
aus eigener Erfahrung: Noch relativ am Beginn meiner Analyse ging mir
immer wieder ein Lied durch den Kopf. Es war der Beatles-Song Here comes
the sun. In den Worten, der Musik und der den Beatles eigenen Fähigkeit,
Lebensfreude zu vermitteln, war dieses Lied ein Zeichen für das Nachlassen meiner Depression – für das Auftauchen von Erinnerungen, die für viele
Jahre unzugänglich gewesen waren, und für die Freude, die damit verbunden war. Diese Gedanken und Gefühle hätte ich zu jener Zeit bewußt nicht
in Worte fassen können. Über die Jahre hinweg tauchte das Lied in meiner
Analyse immer wieder auf. Was ich damit sagen möchte, ist, daß mir im Zuge
der Analyse, als ich dazu bereit war, ebenso ungebeten wie beharrlich ein
Lied einfiel, das mir half, einen Teil meiner Psyche wiederzufinden, einen
Teil meiner Erlebnisse und Empfindungen, die mir verloren gegangen waren.
Mir war jener Teil meiner selbst verschlossen gewesen, der mein Wesen ausmachte, der den Kern dessen bildete, was ich war, was ich werden konnte und
was ich dann tatsächlich wurde. Das ist der Grund, warum ich die Psychoanalyse als lebendig ansehe. Wir versuchen, unseren Patienten eine unverzichtbare Komponente des Menschseins zurückzugeben … ihren Geist …
und die Freiheit und Kreativität, die damit einhergehen.
Also: Ja – gerade weil die Psychoanalyse von Zeit zu Zeit ein unmöglicher, schmerzhafter und gefährlicher Beruf ist, dürfen wir ihre Vitalität
nicht vergessen.1 Sie schenkt unseren Patienten neue Lebenskraft.
1
In einer vielgelesenen amerikanischen Zeitschrift schreibt Pickert (2014), daß in Reaktion auf das Aufmerksamkeit heischende, webbasierte Kommunikationssystem, in dem
wir leben, wo wir immer mit Menschen und Orten in Verbindung stehen, und zwar auf
eine Art und Weise, die unseren Geist beherrscht – daß in Reaktion darauf also eine
Industrie entstand, die auf die buddhistische Praxis der Achtsamkeit fokussiert, welche
manche Analytiker mit der freien Assoziation und der gleichschwebenden Aufmerk-
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Die Vitalität unserer Methode
Unabhängig davon, welcher Lesart Freuds wir folgen, ungeachtet der unterschiedlichen Modelle der Psyche, denen wir anhängen, und ungeachtet
gewisser technischer Verschiedenheiten gab es fundamentale Veränderungen in der Art und Weise, wie wir unseren Patienten begegnen – Veränderungen, die angesichts scheinbar unterschiedlicher Standpunkte eine neue
gemeinsame Übereinkunft darstellen (Busch, 2013a).2 Diese Veränderungen
beruhen auf den Einsichten, die Kollegen aus unterschiedlichen Perspektiven
heraus im Lauf der letzten 40 Jahre gewonnen haben. Jedoch scheint man
die Tragweite dieses Umbruchs kaum wahrgenommen zu haben. Ich glaube, das hängt damit zusammen, daß diese Veränderungen eher das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sind, der zu ihrer schrittweisen Integration
in die klinische Praxis geführt hat, und weniger das Ergebnis revolutionärer Methoden, wie manche der neueren Theorien verkünden.3 Was wir hier
sehen, sind Veränderungen, die auf einer klinischen Praxis beruhen, der ein
weites Verständnis des Freud’schen Modells zugrunde liegt4 – einer Praxis,
die durch andere Sichtweisen psychoanalytischer Technik angereichert wurde. Lassen Sie mich dies durch eine Geschichte erläutern.
Das Mädchen am Strand. – An einem Strand bemerke ich ein kleines
Mädchen, das etwa vier bis fünf Meter vom Meer entfernt nach Muscheln
sucht – an einem Ort also, wo es nur sehr wenige Muscheln gibt. Nach einer
Weile sagt die Mutter, die ihr schweigend geholfen hat: »Möchtest du nicht
näher am Wasser suchen? Da sind vielleicht mehr Muscheln.« Das Mädchen
sagt: »Ja«, sucht aber noch eine Zeitlang an derselben Stelle weiter. Nach
einer Weile geht es näher ans Wasser und beginnt zahlreiche Muscheln einzusammeln.
2
3
4
samkeit verglichen haben, wobei sie meinten, daß Achtsamkeit die Fähigkeit fördere, mit
sich selbst in Kontakt zu bleiben. Daran kann man den Wunsch der Menschen erkennen,
mit sich selbst wieder in Kontakt zu kommen. Als spielte sie mitten in ihrem Leben in
einem absurden Theater mit, hat Pickert einen Achtsamkeitskurs gemacht, weil sie, wie
so viele andere auch, mit einem iPhone, einem BlackBerry für die Arbeit, gleichzeitig
mit einem Stand-PC im Büro, einem Laptop und einem iPad zu Hause »überverbunden«
war. Sie berichtete später allen Ernstes, daß Hunderte von Achtsamkeits-Apps von iTunes erhältlich wären.
Hier folge ich den Arbeiten von Wallerstein (1988) und Kernberg (1993), die darauf
beruhen, daß »den eigentlichen Grundsätzen der psychoanalytischen Technik [wachsende Aufmerksamkeit] geschenkt wird. Diese leiten sich – im Gegensatz zu den ›klinischen
Theorien‹ aus verschiedenen psychoanalytischen Theorien ab« (Kernberg, 1994, S. 296;
Hervorh.: F. B.).
Wenn einer von uns eine neue Sichtweise entwickelt, wird dies interessanterweise so
präsentiert, als würde nun eine Theorie eine andere ablösen, und nicht so, als müsste
eine ergänzende Perspektive in unser bestehendes Wissen integriert werden.
Ich beziehe mich auf jene Modelle der internationalen Gemeinschaft, die mit Freud das
Verständnis des unbewußten Seelenlebens des Analysanden für die Grundlage, wenngleich nicht für den einzigen Faktor der Behandlung halten.
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Diese Beobachtung könnte als Modell für die derzeitige psychoanalytische Technik dienen. Zunächst wollen wir die Szene näher betrachten: Das
Mädchen sucht an einem Ort, wo es schwierig ist, das Gesuchte zu finden.
Wie unsere Patienten ist es in einem unbewußten Konflikt gefangen und
sucht fortwährend nach einer Lösung für seine Schwierigkeiten, tut dies
aber immer an der gleichen Stelle und findet sich daher immer in derselben
Situation wieder. Die Mutter sagt ihrer Tochter nicht, sie solle aufhören zu
suchen, und wird auch nicht ärgerlich, sondern fragt sich und das Mädchen,
ob es nicht hilfreich wäre, nach dem, was es sucht, woanders Ausschau zu
halten. Diese Frage der Mutter möchte ich im Hinblick auf das folgende hervorheben. Sie sagt dem kleinen Mädchen nicht, was es tun soll, zwingt es
nicht, woanders zu suchen, sagt ihm nicht, daß es an der falschen Stelle sucht,
sondern sie eröffnet ihm die Möglichkeit, zu wählen: woanders zu suchen,
an einem Ort, an den es noch nicht gedacht hat oder auf den es von selbst
nie gekommen wäre. Auf diese Weise wird es ermächtigt, seine eigene Entscheidung zu treffen. Das Mädchen findet die Idee offenbar gut, sucht aber
zunächst an der Stelle weiter, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt
hat. Es widerstrebt ihm also, seine Position zu verlassen. Die Mutter bringt
keine weiteren Vorschläge oder Einfälle, aber nach einer Weile entscheidet
das kleine Mädchen selbst, sich auf fruchtbaren Boden zu begeben, und
gelangt zur Erfüllung seiner Wünsche.
Ein alltägliches klinisches Ereignis
Der Patient, ein fünfzigjähriger Professor für Literatur, begann die Sitzung,
indem er über die Schwierigkeiten erzählte, die er an diesem Morgen dabei
gehabt hatte, seine Vorhaben einer Finanzierungskommission vorzustellen
und mit seinen fortgeschrittenen Studenten in Kontakt zu treten. Als er beispielsweise mit den Ausschußmitgliedern sprach, bemerkte er, daß er zu allgemein blieb, und als er die Arbeiten seiner Studenten durchging, bemerkte
er, daß sie auf ihrem Gebiet viel mehr über Literatur wußten als er selbst. Er
rationalisierte das zunächst, indem er sagte, er könne natürlich nicht jeden
Themenbereich der Literatur so gründlich kennen, bemerkte dann aber, daß
dies eines seiner grundsätzlichen Probleme war … z. B. sich in die Literatur
zu vertiefen. Dann erzählte er von seiner Sekretärin, die in sein Büro kam,
um ihn über gewisse Veränderungen bei der Pensionsvorsorge der Universität zu informieren, und er wurde ärgerlich, weil sie ihn damit belästigte.
Er hatte das Gefühl, daß es etwas gab, das all diese Begebenheiten verband,
konnte aber nicht dahinterkommen.
Die Schwierigkeit, seine Assoziationen zu verbinden, war eine Zeitlang
ein wichtiges Thema der Analyse gewesen. Der Analytiker sagte schließlich
zum Patienten: »Ich habe den Eindruck, es hat damit zu tun, daß Sie in diesen Situationen ins Detail gehen müßten, aber das widerstrebt Ihnen.« Der
Patient antwortete: »Ich wußte, daß es so etwas war, aber ich konnte einfach
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nicht … (er hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort) … ins Detail
gehen!« (Er lachte.) Dann sagte er: »Ich hab mich gerade an ein Stück von
einem Traum erinnert. Das ist mir peinlich. In dem Traum hatte ich Stuhlgang und konnte mich nicht sauber machen. Ich kann mich an nichts weiter
erinnern. Ich will immer so sauber sein.« Der Analytiker meinte: »Vielleicht
sagt uns der Traum, warum das so ist.«
Wie die Mutter des Mädchens am Strand gibt der Analytiker dem Patienten mithilfe der Deutung keine Anweisungen, wo er suchen soll, sondern
hilft ihm zunächst, das Problem, das sich in seinen Assoziationen darstellt,
zu begreifen, indem er es auf eine neue Weise in Worte faßt (in diesem Fall das
Problem mit den Details). Der Patient erinnert sich dann an einen Traum, der
darauf hinweist, daß er, indem er nicht ins Detail geht, die Phantasie inszeniert, eine Schweinerei zu machen. Er verteidigt sich dann dagegen, indem
er betont, wie sauber er sein müsse, so wie das kleine Mädchen, das sich Zeit
läßt, ehe es näher ans Wasser herangeht. Der Analytiker versucht nicht, ihn
dazu zu zwingen, sich mit der Schweinerei zu befassen, sondern er hilft dem
Patienten, zu erkennen, daß seine defensive Reinlichkeit mit dem Wunsch
verbunden ist, eine Schweinerei zu machen.
Es gibt bei dieser klinischen Vignette zwei weitere, miteinander in
Zusammenhang stehende Faktoren, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit lenken
möchte. Der erste besteht darin, daß es vermutlich vielen schwer fallen würde, die theoretische Ausrichtung des Analytikers zu erraten, und der zweite
darin, daß der Ansatz des Analytikers gewisse Veränderungen im Verständnis unserer Technik integriert, was in den nächsten Abschnitten herausgearbeitet werden soll. Vorweg ein Hinweis: in seiner ersten Intervention
folgt der Analytiker den Assoziationen des Patienten, um eine ungesättigte
(Ferro, 2002), analytikerzentrierte (Steiner, 1994) Klärung (Bibring, 1954) im
Hier und Jetzt (Gray, 1994; Joseph, 1985) vorzunehmen, um eine vorbewußte (Green, 1974) Abwehr nach Anna Freud (1936) aufzuzeigen. Sie führt zu
einem Traum, der die unbewußte Bedeutung der Abwehr erläutert, gefolgt
von einem Ungeschehenmachen, auf welches der Analysand durch eine weitere ungesättigte, analytikerzentrierte Deutung aufmerksam gemacht wird.
Die Veränderung unserer Methoden
Die beiden bedeutendsten Paradigmenwechsel der klinischen Psychoanalyse
gingen damit einher, daß sich der Fokus von der direkten Arbeit mit dem
Unbewußten bzw. der Suche nach dem Verdrängten verlagerte: zum einen
hin zu einer quer durch alle theoretischen Ansätze reichenden Anerkennung
der Tatsache, daß es wichtig ist, näher am Vorbewußten zu bleiben und mit
diesem zu arbeiten, und zum anderen dahin, dem Aufbau von Repräsentanzen des zuvor Undenkbaren oder wenig Repräsentierten ebenso viel Bedeutung beizumessen wie dem Verdrängten. Diese Veränderungen dienen dazu,
dem Patienten das Verständnis und die emotionale Bedeutung unserer InterFred Busch Lebendige Psychoanalyse
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ventionen zu erleichtern; sie werden durch unser wachsendes psychoanalytisches Verständnis ermöglicht, das den verschiedenen theoretischen Ansätzen entspringt. Zu lange haben wir unserer Arbeit die Annahme zugrunde
gelegt, daß wir in einer Art und Weise deuten müßten, die unsere Patienten
das Unbewußte direkt erleben läßt (Strachey, 1934), ohne all das zu berücksichtigen, was sich ereignen muß, ehe unbewußte Gedanken oder Gefühle in
bedeutungsvoller Weise ins Bewußtsein eingelassen werden können.5
Vorbewußtes Denken
Ausgehend von der anfänglichen Konfrontation des Patienten mit dem, was
der Analytiker von seinem Unbewußten verstanden zu haben glaubt, sind
wir zu einer Arbeitsweise übergegangen, die näher an dem bleibt, was der
Patient zu hören, zu verstehen und potenziell zu integrieren in der Lage ist.
Dadurch haben wir erkannt, daß wir dem Patienten Phänomene wie unbewußte Phantasien, innere Verfassungen, Konflikte etc. zuallererst verstehbar
machen müssen, damit er begreift, wie er davon geleitet wird.6
Abgesehen von der französischen Schule führt das Konzept des vorbewußten Denkens ein »Schattendasein« (»shadow concept«; Busch, 2006),
falls es überhaupt zur Kenntnis genommen wird. 1915 versuchte Freud, zwischen unbewußtem und vorbewußtem Denken strikt zu unterscheiden, und
zwar auf der Grundlage von Wort- und Sachvorstellungen. Jedenfalls ist in
dieser Arbeit sein Erstaunen darüber verborgen, daß »Ein sehr großer Anteil
dieses Vorbewußten (…) aus dem Unbewußten [stammt], (…) den Charakter der Abkömmlinge desselben [hat] und (…) einer Zensur [unterliegt], ehe
er bewußt werden kann« (Freud, 1915e, S. 290; Hervorh. F. B.), und daß es
dort Gedanken gibt, deren Merkmale sämtlich darauf hindeuten, daß ihr
Ursprung im Unbewußten zu finden ist, die aber »einerseits hochorganisiert,
widerspruchsfrei [sind], (…) allen Erwerb des Systems Bw verwertet [haben]
und (…) sich für unser Urteil von den Bildungen dieses Systems kaum unterscheiden [würden]« (a.a.O., S. 289; Hervorh. F. B.). Im Gegensatz zu allen
anderen Gedanken, die er in dieser Arbeit ausführt, entwickelt Freud hier
5
6
In der gleichen Zeitschrift hat Sterba (1934) dargestellt, wie das Unbewußte über die
Analyse der Widerstände erreicht werden könne, wobei er hier Freuds zweiter Angsttheorie folgte, wo gefährliche Gedanken oder Gefühle, die bewußt zu werden drohen,
im unbewußten Teil des Ichs Angst auslösen. Dies ist ein Verfahren, das auf der Analyse
der unbewußten Angst beruht und auf diese Weise dazu beiträgt, Unbewußtes bewußt
zu machen.
Green (1974) war einer der ersten Verfechter der Wichtigkeit des Vorbewußten in unserer
Deutungsarbeit. Er hat dies in einer prägnanten Formulierung zum Ausdruck gebracht:
»Es hat keinen Sinn, dass der Analytiker, schnell wie ein Hase ist, wenn der Analysand
sich wie eine Schildkröte vorwärtsbewegt“ (Green, 1974, 421; Hervorh.: F. B.). Wie ich
schon früher angemerkt habe (Busch, 2013b), kann man ähnliche Äußerungen in den
Arbeiten von Paul Gray, Betty Joseph, Antonino Ferro und den Barangers finden.
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auf knappem Raum die Vorstellung einer komplexen vorbewußten Denk­
tätigkeit, der unbewußte Elemente beigemengt sind. Sich immer noch im
Rahmen des topographischen Modells bewegend, konzipiert er in wenigen
Sätzen das vorbewußte Denken als eines, das von der durchlässigen Grenze am Übergang zum System Ubw bis hin zur durchlässigen Grenze des
Systems Bw reicht.7
Wenn wir es so verstehen, arbeiten wir gleichzeitig auf verschiedenen
Ebenen des vorbewußten Denkens, was unsere Aufgabe verkompliziert.
Beispielsweise würde man mit sexuellen Triebabkömmlingen, die früh in
der Behandlung eines hysterischen Patienten auftreten, anders umgehen als
mit ähnlichen Triebabkömmlingen, die in den späten Behandlungsphasen
eines Zwangspatienten auftauchen. Während die sexuell gefärbten Assoziationen der Hysterikerin den Eindruck erwecken mögen, sie seien bewußtseinsnahe, liegen sie tatsächlich oft näher an der Grenze zum Unbewußten
und sind dem Patienten dadurch auch schwieriger bewußt zu machen. Die
sexuellen Triebabkömmlinge in den Assoziationen des Zwangsneurotikers
sind eher das Ergebnis harter analytischer Arbeit (Widerstandsanalyse) und
daher leichter zu deuten.8 Da wir es mit zwei verschiedenen Niveauebenen
psychischer Organisation zu tun haben, passen wir unsere Deutungen dem
Funktionsniveau des Ichs an. In Bions Terminologie: Wir verdauen für den
Patienten, was er dann weiterverdauen kann.
Der Aufbau von Repräsentanzen
Wie Lecours (2007) und viele andere bemerkt haben, kann das, was repräsentiert ist, zur Strukturbildung verwendet werden, und es kann die Fähigkeit
verbessern, psychische Energien zu binden. Green (1975) nannte dies »das
Unorganisierte binden« (S. 9) und containen, um dem Inhalt des Patienten
einen Container und »dem Container einen Inhalt und Gehalt« zu geben
(»content to his container«; Green, S. 7).
Jedesmal, wenn wir etwas bis dahin Unbestimmtes benennen, das vorher
keinen Namen hatte, versuchen wir, es mithilfe eines Wortes zu repräsentieren. Jedesmal, wenn wir eine Bedeutung entdecken und hervorheben, die
zuvor verborgen gewesen war, oder wenn wir dem Patienten Bedeutung und
Sinn vermitteln – eine Bedeutung, die dem Analytiker zugänglich ist, dem
Patienten zu diesem Zeitpunkt aber nicht –, arbeiten wir daran, eine Repräsentanz aufzubauen. Diese Repräsentanz kann fest umrissen wie ein Wort,
komplex wie eine Metapher oder flüchtig wie ein Wachtraum bei Ogden sein.
Ob daraus für den Analysanden eine Repräsentanz entsteht, hängt von vielen Faktoren ab – auch davon, wie sehr es sich der Grenze dessen nähert,
7
8
Hinsichtlich der Ablösung des topographischen Modells und der ersten Angsttheorie
durch das Strukturmodell und die zweite Angsttheorie blieb Freud, was die klinische
Arbeit betraf, ambivalent (Busch, 1992, 1993; Gray, 1994; Paniagua, 2001, 2008).
Sie können aber auch eine psychotische Episode ankündigen.
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was der Analysand in genau diesem klinischen Moment zu tolerieren imstande ist (d. h. es hängt von der Fähigkeit des Patienten ab, Bestandteile seines
gewohnten Denkens in eine neue Gestalt zu transformieren). Nach jeder
Intervention können wir sehen, was der Patient im Moment daraus machen
kann. Wir können dies die Arbeit der Alpha-Funktion oder der Ich-Funktion des Patienten nennen. Entscheidend ist, ob der Patient es zulassen kann,
daß seine Interventionen einen Einfluß auf ihn haben.9
Repräsentationen sind nicht entweder vorhanden oder nicht vorhanden,
sondern sie liegen in verschiedenen Formen vor. Wenn wir vom Aufbau
von Repräsentanzen sprechen, handeln wir also, grob gesprochen, von verschiedenen, aber miteinander in Zusammenhang stehenden Dingen. Erstens
geht es darum, aus einer einfachen, gesättigten Repräsentanz eine solche mit
komplexerer Bedeutung zu entwickeln, zweitens darum, eine im Entstehen
begriffene Repräsentanz aus ihren primitiven, nicht symbolisierten Anfängen
heraus zu entfalten. Des weiteren können Repräsentanzen mehrere Dimensionen haben: sie können von tief unbewußt bis hin zu beinahe vorbewußt
reichen (Busch, 2006), von einfach bis hin zu komplex mit verschiedenen Sättigungsgraden.10 Nach diesem Modell bedeutet Aufbau von Repräsentanzen,
zu versuchen, sie komplexer, bewußtseinsnäher und weniger gesättigt (bzw.
differenzierter, mit mehr Bedeutungsnuancen versehen) zu machen. Wir versuchen beispielsweise manchmal, eine Repräsentanz aus einer (strukturell)
primitiven (z. B. somatischen) Repräsentanz zu bilden. Aus einer rigiden,
hochgesättigten, einfachen Repräsentanz, die sehr bewußtseinsnah ist (z. B.
»Alle Menschen sind Tiere«, »Die Ich-Psychologie ist oberflächlich«), versuchen wir eine komplexere, weniger gesättigte Repräsentanz zu entwickeln
(z. B. »Manche Menschen sind nachdenklich und sensibel«, »Vielleicht kann
die zeitgenössische Ich-Psychologie zur Psychoanalyse etwas Wertvolles beitragen«). Eine komplexere Repräsentanz dagegen, die unbewußt ist, würden
wir auf eine höhere vorbewußte Ebene zu bringen versuchen.
Klinische Implikationen
Der oben skizzierte Paradigmenwechsel hat Veränderungen in unserer
Arbeitsweise mit sich gebracht. Sie alle entspringen der Frage, wie wir den
Patienten dazu bringen können, neue Repräsentanzen zu bilden und zuzulassen, und wie wir all das, was abgewehrt und wenig repräsentiert worden
ist, dem Vorbewußten zugänglich machen können. Wir haben uns vermehrt
der Frage zugewandt, auf welche Weise wir dem Patienten unsere Beobach9
Aus einem anderen Blickwinkel heraus ist es natürlich wichtig, zu verstehen, wie der
Patient mit unseren Interventionen umgeht.
10 So wie ich Ferro verstehe, hat ein mit Bedeutung gesättigter Gedanke bzw. ein gesättigtes Gefühl eine emotional hochbesetzte spezifische Bedeutung. Im Gegensatz dazu
ist ein weniger gesättigter Gedanke nicht durch eine ganz spezifische Bedeutung eingeschränkt, sondern gewährt größere Freiheit, um mit ihm zu spielen.
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ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXX, 2015, 2
tungen und Deutungen nahebringen und welche Auswirkungen das auf die
Fähigkeit des Patienten hat, das von uns Gesagte zu nutzen. Wir gewinnen
damit eine neue Perspektive auf die Zwei-Personen-Psychologie, während
wir daran festhalten, daß es darum geht, die innere Welt des Patienten zu
verändern. Was ich nun beschreiben will, soll die innovativen Ideen der
Psychoanalytiker sichtbar machen, die aus verschiedenen Perspektiven zur
Lebendigkeit der aktuellen Psychoanalyse beigetragen haben.
Deuten »in der Nähe« (Busch, 1993). Freud hat dieses Prinzip erstmals
formuliert, als er einen jungen Arzt vor der Nutzlosigkeit wilden Deutens
warnte, wobei er darunter Deutungen verstand, für die der Patient noch
nicht bereit war.
Wäre das Wissen des Unbewußten für den Kranken so wichtig wie der in der Psychoanalyse Unerfahrene glaubt, so müßte es zur Heilung hinreichen, wenn der Kranke Vorlesungen anhört oder Bücher liest. Diese Maßnahmen haben aber ebensoviel Einfluß
auf die nervösen Leidenssymptome wie die Verteilung von Menukarten zur Zeit einer
Hungersnot auf den Hunger. (…) Da die Psychoanalyse aber eine solche Mitteilung
nicht entbehren kann, schreibt sie vor, daß sie nicht eher zu erfolgen habe, als bis zwei
Bedingungen erfüllt sind. Erstens bis der Kranke durch Vorbereitung selbst in die Nähe
des von ihm Verdrängten gekommen ist (…) (Freud, 1910k, S. 123 f.; Herv. F. B.)
Mit dem Prinzip, demzufolge der Analysand von selbst »in die Nähe des von
ihm Verdrängten« gekommen sein muß, vermerkt Freud neben all den anderen technischen Vorschriften auch die zentrale Bedeutung des Vorbewußten. Wie glänzend auch immer der Analytiker das Unbewußte des Patienten
lesen und verstehen mag – es ist nutzlos, solange es nicht mit einem Gedanken verbunden werden kann, der vom Vorbewußten aus die Aufmerksamkeit
des Patienten zu erregen imstande ist.11
Wenn man den Diskussionen über den klinischen Prozeß lauscht, ist man
beeindruckt davon, wie viele Deutungen weniger auf dem beruhen, was der
Patient zu hören imstande ist, als vielmehr auf dem, was der Analytiker zu
verstehen vermag. Vielleicht liegt es nur daran, daß der Analytiker die Zuhörer nicht in die Nähe dessen bringen konnte, was er tat, aber vielleicht liegt
es auch daran, daß wir zu oft unsere Fähigkeit, das Unbewußte zu lesen, mit
der Fähigkeit des Patienten verwechseln, es zu verstehen. Wir können oft
nicht klar genug unterscheiden zwischen unbewußter Kommunikation und
unserer Fähigkeit, mit dem Unbewußten des Patienten zu kommunizieren.
Was der Patient hören, verstehen und effektiv nutzen kann – von den Vorteilen eines solchen Vorgehens ganz zu schweigen – rückt erst allmählich in den
Vordergrund unserer klinischen Diskussionen.
Green (1974) hat dies folgendermaßen dargelegt:
11 Gleichwohl hat Freud, wie ich schon anderswo festgestellt habe, reichlich Mühe gehabt,
selbst diesem Prinzip zu folgen (Busch, 1992; 1993).
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Ich unterstütze Freuds Konzept des Ich, das die Freiheit des Patienten respektiert und
das es erlaubt, Fortschritte zu machen in Abhängigkeit davon, was von unseren Worten
der Patient zu diesem Zeitpunkt der Behandlung verstehen kann, d. h. das es dem Patienten ermöglicht, in einem Prozeß von Regression und Progression etwas herauszuarbeiten und zu integrieren und auf diese Weise von der oberflächlichsten bis zur tiefsten
Ebene voranzuschreiten« (Green, 1974, S. 421)
Wie ich an anderer Stelle bemerkt habe (Busch, 2013a), ist es jedoch tatsächlich so, daß Analytiker der verschiedensten theoretischen Schulen (Ferro,
2003, S. 189f.; Baranger, 1993, S. 23; Ikonen, 2003, S. 5; Bion, 1962, S. 87) mehr
und mehr darauf achten, wie sie über diese »Nähe« denken, die ein Hinweis
ist auf die Fähigkeit des Patienten, unsere Interventionen in emotional und
kognitiv bedeutsamer Weise zu nutzen, und daß sie darüber nachdenken, auf
welche Weise der Analytiker den Prozeß fördern oder behindern kann.
Klärung. – Die Klärung, ein Begriff, der auf Edward Bibring (1954)
zurückgeht, erreichte nie den Status eines ausgearbeiteten Konzepts psychoanalytischer Technik. Ich glaube, das rührt daher, daß Bibring in seinen Schriften den Gebrauch der Klärung auf bewußtseinsnahes Material
beschränkte. Aus den von ihm verwendeten Beispielen geht jedoch hervor,
daß er tatsächlich eine Klärung von Abkömmlingen des unbewußten Denkens beschreibt, die vorbewußt organisiert sind. Dies ist eine wichtige Möglichkeit, von der Klärung Gebrauch zu machen, ebenso wie es wichtig ist,
zu klären, auf welche Weise der Patient Worte unbewußt als Handlungen
verwendet (Handlungssprache). Die Klärung unterscheidet sich von der
Deutung, mit deren Hilfe wir versuchen, Unbewußtes bewußt zu machen.
Betty Joseph rückt einen ganz ähnlichen Vorgang ins Zentrum, wenn sie
vorschlägt, die Art und Weise zu erhellen, wie der Patient z. B. eine Atmosphäre schafft, die Verstehen fördert oder hemmt. Erst wenn das geklärt ist,
so argumentiert sie, ist es hilfreich, sich dem Verstehen der Gründe oder
Motive für ein solches Verhalten zuzuwenden.
Die Gründe für die Notwendigkeit der Klärung sind einfach – auf der
Höhe eines psychischen Konflikts ist das Denken des Patienten konkretistisch (Busch, 1995; 2009).12 Er kann nur über das nachdenken13, was unmittelbar präsent ist. Lange Zeit – sogar wenn er frei assoziiert – ist der Patient
nicht in der Lage, dem Fluß seiner eigenen Gedanken zu folgen, während
er spricht. Es braucht viel Zeit, ehe wir eine Deutung geben können – das
kann auch nur ein Wort oder eine Metapher sein –, die in aller Kürze etwas
Wesentliches einfängt und von der wir hoffen können, daß der Patient sie
auf einer nichtintellektuellen Ebene versteht. Was in der Anfangszeit der
Behandlung fehlt, ist die Fähigkeit des Patienten, seinen Gedankengängen
12 So wie ich es verstehe, hat Marty (Aisenstein & Smadja, 2010) bei psychosomatischen
Patienten eine ganz ähnliche Art zu denken entdeckt, was eine Veränderung in der
Behandlungsmethode nach sich zog.
13 Der Einfachheit halber verwende ich das Wort »denken« für »denken und fühlen«.
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ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXX, 2015, 2
zu folgen und sie auf einem höheren Abstraktionsniveau zu integrieren.14 Die
meisten Analytiker würden darin übereinstimmen, daß dies die Ebene ist,
auf der ein Analysand über weite Strecken seiner Analyse funktioniert – er
denkt, aber er kann über dieses Denken nicht nachdenken. Um voranzukommen, muß der Patient daher eine Deutung erfahren, aber dazu müssen
wir erst klären, was er tat oder sagte, das zu unserer Deutung geführt hat.
Gegenübertragung. – Die Entdeckung der Wichtigkeit von Gegenübertragungsgedanken und -gefühlen als entscheidende Informationsquelle über
die psychoanalytische Situation ist einer unserer bedeutsamsten Fortschritte.
Beginnend mit der Pionierarbeit der Kleinianer über die projektive Identifizierung, die so viele Nachfolger gefunden hat, haben wir erkannt, daß die
Gegenübertragung an einem gewissen Punkt der Analyse eines jeden Patienten Bedeutung hat, ebenso wie sie für das Verstehen anderer Patienten von
dem Moment an, da sie das Behandlungszimmer betreten, wichtig ist. Nach
einer Phase hitziger Auseinandersetzungen hat ein Wandel stattgefunden, und
heute weiß ich von keiner psychoanalytischen Schule, die die Wichtigkeit der
Gegenübertragungsgefühle für das Verständnis unserer Patienten bestreitet.
Dennoch müssen wir auch Hanna Segals (Hunter, 1993) Warnung Gehör
schenken, daß die Gegenübertragung unsere beste Dienerin und schlimmste
Herrin ist. So wesentlich sie als Werkzeug unserer analytischen Arbeit auch
ist, sie liefert Daten, die schwierig zu ordnen und zu übersetzen sind. Als Antwort auf den Patienten können wir ängstlich oder ungeduldig werden oder
uns zurückziehen. Wenn wir ein psychoanalytisches Verständnis entwickelt
haben, können wir diese Phänomene registrieren und darüber nachdenken,
ohne zu agieren, während wir gleichzeitig zur Kenntnis nehmen müssen,
daß ein gewisses Ausmaß an Gegenübertragungsagieren unvermeidlich (und
dem Verstehen manchmal nützlich) ist.
Ein spezielles Problem, mit dem wir Analytiker uns auseinandersetzen
müssen, ist, daß wir die Empfindung haben, vom Patienten in eine Position
hineingezwungen zu werden, die uns fremd erscheint, was uns dazu verleiten
kann, den Patienten zurückzustoßen und ihn zu zwingen, sein eigenes Unbewußtes anzunehmen. In solchen Fällen scheint eine Gegenübertragungsdeutung dem Wunsch zu entspringen, das, was übertragen wird, auszustoßen
und in den Patienten zurückzuzwingen. »Du fühlst so, nicht ich«, scheinen
wir zu sagen, während wir meinen, etwas zu erklären oder zu deuten. Das ist
eine Methode, wie der Analytiker etwas Unangenehmes loswerden kann, das
in seinem eigenen Unbewußten aufgestört wurde.15 Einem anderen Problem
begegnen wir, wenn wir unsere Gegenübertragungsreaktionen so behandeln,
als würden sie das Verhalten der Patienten unfehlbar erklären. – Ich nenne
14 Diese Art zu denken wird als präsymbolisch (Basch, 1981), präkonzeptionell (Frosch,
1995), konkret (Bass, 1997; Busch, 1995, 2009; Frosch, 2012) und präoperational (Busch,
1995; 2009) beschrieben.
15 Das mag vor allem in Fällen wie jenen zutreffen, die Grinberg (1962) »projektive Gegenidentifizierung« genannt hat.
Fred Busch Lebendige Psychoanalyse
167
das den Descartes’schen Salto (»Ich denke, also bist du!«). Darüber hinaus
kann das eine schematische Abwehr tiefer, konflikthafter Gefühle16 sein,
was verständlich ist, wenn man bedenkt, daß Gegenübertragungsreaktionen
zunächst unbewußt registriert werden.
Angesichts einer Gegenübertragungsreaktion braucht es beträchtliche
Beherrschung, narzißtische Ausgeglichenheit und permanente Selbstanalyse,
um die Rolle des empathischen und reflektierten teilnehmenden Beobachters
aufrechtzuerhalten und dem Sog, zu agieren, nicht nachzugeben. Ohne die
Fähigkeit, diese Gegenübertragungsgefühle durch Introspektion und Selbstbefragung zu erforschen, ist es schwierig, diese speziellen Phänomene, die
von beiden Gesprächsteilnehmern geschaffen werden, zu verstehen.
Interpsychische Kommunikation. – Bolognini (2011) kreierte den
Begriff interpsychisch, um den bewußten und den unbewußten Dialog
zweier Menschen, die einander beeinflussen – Patient und Analytiker –,
zu erfassen – »ein Gebiet, für das Worte zu finden wir kaum in der Lage
sind – trotz all der Worte, die dafür verwendet werden« (Schmidt-Hellerau,
2011, S. 447). Diamond (2014) zeigt, wie weitverbreitet dieses Konzept in
den verschiedenen psychoanalytischen Schulen ist (obwohl nicht mit diesem Begriff benannt) und welche Beiträge es leistet. Der Terminus interpsychisch erweitert das Feld für den Analytiker und erlaubt ihm, zahlreiche
psychische Zustände zu berücksichtigen, die oft als voneinander getrennt
angesehen werden, die aber ein Verstehen des Patienten erlauben und die
auch, ohne zu belehren, zeigen, wie der Analytiker denkt. Bei der Arbeit
mit dem eigenen Erleben als Antwort auf den Patienten sind jedoch einige wichtige ethische und klinische Überlegungen zu bedenken, die nicht
immer Beachtung finden.
Diamond warnt:
Wie bei jeder technischen Innovation, so gibt es insbesondere auch beim derzeitigen
Trend, das psychische Empfinden des Analytikers heranzuziehen, die immerwährende Gefahr eines Mißbrauchs ebenso wie die Gefahr ethischer Überschreitungen. In
Extremfällen kann das vom Patienten wegführen und den Analytiker oder den dyadischen Prozeß als solchen ins Zentrum rücken. (Diamond, a.a.O., 531)
Wir sollten nicht vergessen, daß diese Methode nur ein Teil unserer analytischen Methode ist. Wir müssen unseren Analysanden und uns selbst mehrstimmig zuhören, um herauszufinden, wie wir am besten zuhören können.
Und schließlich: Wie wir unsere Gedanken in nutzbringende Deutungen
umwandeln können, ist ein Phänomen, das sich einem vollen Verständnis
immer noch entzieht.
16 Es ist wichtig, Schwabens Worte im Kopf zu behalten: »Wir müssen unsere Sichtweise,
unsere Erfahrungen – mit allem Nachdruck, wenn es sein muß – einsetzen, um herauszufinden, welches die Sichtweise und Erfahrungen des Patienten sind – unter der Voraussetzung, daß wir unsere Erfahrungen als das erkennen, was sie sind – wie es von unserem
Standpunkt aussieht – und mit dieser Erkenntnis zuhören« (Schwaben, 1998, S. 659).
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ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXX, 2015, 2
Analytikerzentrierte Deutungen. – Steiner (1994) führte für die Arbeit
mit schwer gestörten Patienten einen wichtigen klinischen Terminus ein –
»analytikerzentrierte Deutungen«. »Vorrangig möchte er unerwünschte
Inhalte loswerden, die er in den Analytiker projiziert. In diesem Zustand
kann er nur sehr wenig in sich selbst zurücknehmen.« (Steiner, 1994, S. 191 f.)
Der Patient, so Steiner weiter, fühlt sich bedroht, wenn der Analytiker fortfährt, ihm zu sagen, was er denkt oder fühlt, weil er genau das in den Analytiker hineinprojiziert, um es loszuwerden. Ich würde meinen, das entspricht
einer soliden ichpsychologischen Position, wobei die Regression der paranoid-schizoiden Ich-Funktionen des Patienten berücksichtigt wird.
Ich würde hinzufügen, daß analytikerzentrierte Deutungen bei der
Analyse aller Pathologien nützlich sind, vor allem in den frühen Phasen der
Behandlung sowie immer dann, wenn im Lauf der Analyse erneut Regressionen auftreten, denn alle unsere Patienten ringen mit furchteinflößenden
unbewußten Gedanken und Gefühlen, die im Unbewußten des Patienten
mit den entsetzlichsten Schrecken der Menschheit assoziiert sind. Dem Patienten wird daher alles helfen, was dazu geeignet ist, die Schrecken zu mindern, die während seiner Analyse auftauchen.
Basierend auf Steiners Gedanken und in Modifikation seiner Arbeit mit
Borderline- und psychotischen Patienten im Rahmen der kleinianischen Tradition habe ich oft folgenden Ansatz hilfreich gefunden, um der Patienten zu
ermöglichen, sich zu öffnen und in neuer Weise über sich nachzudenken: Die
Grundprämisse dieses Ansatzes besteht darin, sich gemeinsam mit der Patientin eher über die Eindrücke des Analytikers zu wundern als diese zu präsentieren, als seien sie etwas besonders Bedeutsames oder etwas, das die Patientin
denkt oder fühlt. Letzteres kommt in der klinischen Praxis nicht so selten vor,
etwa wenn der Analytiker sagt: »Sie sind böse auf mich und können das nicht
aushalten, also stellen Sie sich vor, daß ich böse bin.« Ein analytikerzentrierter
Ansatz dagegen scheint der Patientin zu helfen, etwas außerhalb ihrer selbst
zu beobachten, ohne daß sie den Eindruck gewinnen muß, jemand sage ihr,
wie sie ist, was in einer frühen Phase der Behandlung schwieriger zu verinnerlichen ist und schwere Über-Ich-Reaktionen zur Folge haben kann. Das
trifft insbesondere für Vorgänge zu, die zweifellos sehr wichtig sind, von der
Patientin aber nur schwer erfaßt werden können, weil man sie verbal schlecht
ausdrücken kann. In späteren Behandlungsphasen ist die analytikerzentrierte
Deutung nützlich, wenn etwas Unbewußtes aufzutauchen beginnt, das wieder in die Verdrängung geriete, würde es zu direkt angesprochen.
Handlungssprache. – Erstmals von Freud (1914) eingeführt, meint dieser
Begriff eine bestimmte Art zu reden, die die unbewußte Funktion hat, etwas
zu tun. In diesen Fällen werden die Worte zu Versuchen, den Analytiker zu
langweilen, zu verführen, zu ärgern oder aufzuregen. Das hat McLaughlin
anschaulich beschrieben, als er feststellte, Worte würden zu »Handlungen,
zu Dingen wie Stöcke und Steine, Umarmungen und Zärtlichkeiten« (S. 598).
Während es aussieht, als würde der Patient einen Traum oder ein aufregendes
Fred Busch Lebendige Psychoanalyse
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Ereignis beschreiben oder als würde er sich über seinen Ehegatten ärgern,
fühlt sich der Analytiker für sein Interesse an Träumen verspottet, für das
Pech des Patienten verantwortlich gemacht oder mit dem Verlangen nach
bedingungsloser Liebe konfrontiert.17
Wir sind auf die Konsequenzen der Handlungssprache aufmerksam
geworden, weil sie oft zu einer Gegenübertragungsreaktion des Analytikers
führen.18 Wie wichtig es ist, zu klären, auf welche Weise diese Handlungssprache Ausdruck findet, ehe man ihre Auswirkungen oder ihre unbewußte
Bedeutung bestimmen kann, ist dennoch erst in jüngerer Zeit deutlich geworden (Busch, 2009; 2013b; Joseph, 1985). Wir können diesen Ansatz bei Feldman (2004) finden, der Josephs Arbeit beschreibt und meint, ihre Annahme
laute, »daß echte psychische Veränderung eher gefördert werde, wenn die
Analytikerin detailliert beschreibe, wie der Patient sie benutze – ihre Deutungen, ihre Psyche –, und sich erst dann der Art und Weise zuwende, wie
sich seine Geschichte, seine unbewußten Phantasien in der Unmittelbarkeit
des Prozesses und des gegenseitigen Miteinander in der Sitzung ausdrücken«
(Feldman, 2004, S. 28).
Das heißt, wir versuchen zu verstehen, was die Patientin mithilfe ihrer
Worte, ihres Tonfalls, ihrer Ausdrucksweise und ihrer Einfälle mit uns
macht. Wenn wir aber unsere Gegenübertragungsreaktionen als auf die
Handlungssprache bezogen erkennen und darüber nachdenken, hat diese
Handlung bereits begonnen sich zu verwandeln, d. h. sie hat angefangen, im
Analytiker eine Repräsentanz zu bilden. Von hier aus kann der Analytiker
die Handlungssprache in Worte übersetzen, was den Patienten im Denken
und im Fühlen größere Freiheit gibt.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß die gesamte Bandbreite psychischer Zustände in der Handlungssprache ausgedrückt werden kann. Ich
habe den Eindruck, daß wir mit unseren (Gegenübertragungs-)Reaktionen
auf die Handlungssprache zu sehr betont haben, was der Patient mit dem
Analytiker macht, und weniger, was er möglicherweise mit sich selbst macht
(z. B. ein fragiles Selbst reparieren).
Arbeiten im Hier und Jetzt. – 1914 bemerkte Freud, »daß wir seine [des
Patienten; F. B.] Krankheit nicht als eine historische Angelegenheit, sondern als eine aktuelle Macht zu behandeln haben« (Freud, 1914g, S. 131).
Wie oft von dieser Einsicht Gebrauch gemacht wurde, ebenso wie die Art
und Weise, in der dies geschah, wechselte im Verlauf der Zeit. Heute jedoch
sehen viele Analytiker die psychoanalytische Sitzung in erster Linie als eine
Aneinanderreihung von psychischen Ereignissen an, die sich vor den Augen
des Patienten und des Analytikers abspielen, weswegen dies der ideale Zeitpunkt ist, um zu intervenieren (siehe z. B. Joseph, 1985). Da der Patient in
17 Rizzuto (2002) hat das Wort »Sprachhandlung« (speech act) verwendet, das ein ähnliches Phänomen beschreibt.
18 Für einen Erklärungsansatz, warum das so ist, siehe Busch (2009).
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ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXX, 2015, 2
den meisten Fällen in der sehr konkreten, augenscheinlichen Realität denkt
(Busch, 1995; 2009; 2013b), ist es für ihn am leichtesten, sich selbst in der
Unmittelbarkeit dessen zu beobachten, was gerade in der Stunde passiert
(d. h. in Übereinstimmung mit der Ebene seiner Ich-Funktionen). Vieles von dem, womit wir arbeiten (z. B. Assoziationen, Handlungssprache,
Wechsel der Gefühle etc.) ist für den Patienten am besten so zugänglich,
wie es in der Sitzung auftaucht. Wenn der Patient dann über mehr inneren
Raum verfügt und sich selbst besser beobachten kann, kann sich der Analytiker freier und bequemer zwischen der gegenwärtigen und vergangenen
Sitzungen hin- und herbewegen, während die Deutungen metaphorischer
oder mehrdeutiger werden.
Ich möchte betonen, daß ich nicht vorschlage, die psychoanalytische
Arbeit auf die Dynamik dessen zu beschränken, was in der analytischen Sitzung gerade vor sich geht. Die Vergangenheit in der Gegenwart zu verstehen,
ist entscheidend, um in unseren Patienten ein Gefühl dafür zu wecken, wer
sie waren und wer sie sind. Die Vergangenheit in der Gegenwart zu verstehen,
hilft, differenziertere Repräsentanzen aufzubauen. Darüber hinaus können
wir oft beobachten, wie die Arbeit im Hier und Jetzt zu einer Erinnerung
an die Vergangenheit führt, die Licht auf die Gegenwart wirft, während das,
was in der Gegenwart vor sich geht, die Erkenntnis dessen vertieft, wie die
Vergangenheit die Gegenwart beeinflußt und wie sich das, was ist, von dem
unterscheidet, was war. Schließlich muß noch Bells (2014) passende Warnung
hinsichtlich dieser Frage angemerkt werden: »Die psychische Realität zu verstehen, kann einmal der Vertiefung des Verständnisses dienen, während es
ein andermal auf subtile Weise zu einem Enactment werden kann, das die
Illusion erzeugt, daß Geschichte und Leben außerhalb des Behandlungszimmers nicht so wichtig sind.«
Unterschiede
Trotz unserer wachsenden Gemeinsamkeiten gibt es natürlich signifikante
Unterschiede hinsichtlich dessen, wie Psychoanalytiker aus verschiedenen
Kulturen arbeiten. Im günstigsten Fall bestätigen wir Schafers (1990) Beobachtung, daß »unsere Unterschiedlichkeiten uns all das zeigen, was Psychoanalyse sein kann, obwohl sie für niemanden zu einem bestimmten Zeitpunkt
alles sein kann« (S. 52). Ich werde in aller Kürze nur einige Bereiche erwähnen (nämlich Übertragung, Gegenübertragung und Widerstandsanalyse)
und dann auf die Probleme eingehen, die sichtbar werden, wenn wir miteinander sprechen.
Übertragung. – Die Hauptunterschiede kreisen um folgende Punkte:
Wie gewinnbringend ist es, die Übertragung, die auf einer unbewußten
Ebene immer vorhanden sein mag, auf eben dieser Ebene zu deuten, während
der Analysand dagegen einen Widerstand entwickelt?
Wie wichtig ist es, die Übertragung anzusprechen, und wann?
Fred Busch Lebendige Psychoanalyse
171
Inwieweit kann man innerhalb der Verschiebung arbeiten? (d. h. soll
man die Verschiebung deuten oder kann man innerhalb derselben arbeiten?;
Anm. d. Ü.)
Gegenübertragung. – Ein wichtiger Unterschied zwischen den psychoanalytischen Schulen besteht im Ausmaß, in dem wir die Gegenübertragungsreaktionen als Ergebnis der projektiven Identifizierung des Patienten oder anderer möglicher Ursachen auffassen. Auch gibt es verschiedene
Möglichkeiten, auf welche Weise wir unsere Gegenübertragungsreaktionen
nutzen. Manche benutzen sie, um direkt mit Bezug auf die Übertragung zu
deuten, während andere ihre Reaktionen als Teil des Deutungsprozesses
mitteilen oder den Patienten konfrontieren etc. Ich neige dazu, Jacobs recht
zu geben, daß »unser Verständnis der Gegenübertragung, eines komplexen,
vielfach determinierten Phänomens, das vielerlei komplexe Auswirkungen
auf unsere Patienten hat, noch ziemlich unvollständig ist« (S. 24). Darüber
hinaus kann sich ein Verständnis unserer Gegenübertragungsreaktionen,
da sie vorwiegend unbewußt vor sich gehen, nur mit der Zeit einstellen.
Widerstandsanalyse. – Bedeutsame Unterschiede bestehen zwischen
jenen, die meinen, daß Gefühle oder Phantasien, die Abwehr hervorrufen,
direkt gedeutet werden können, und jenen, die finden, daß zuerst die der
Abwehr zugrunde liegenden Ängste verstanden werden müssen, bevor die
entsprechenden Gefühle und Phantasien ans Licht gebracht werden können.
Wiewohl in den allermeisten Fällen nicht näher ausgeführt, sind die Unterschiede, die diesen Auffassungen zugrunde liegen, darauf zurückzuführen,
ob der Analytiker der ersten oder der zweiten Freud’schen Angsttheorie
anhängt (Busch, 1993).
Konfrontation mit dem Anderen19
Wir haben in der jüngsten Zeit engagiert daran gearbeitet, regionale Einseitigkeiten zu überwinden, beispielsweise durch die CAPSA-Programme, die
von Claudio Eizirik initiiert worden waren und von Stefano Bolognini wiedereingeführt wurden, oder durch die Einladung von Kollegen, um in lokalen
oder regionalen Treffen unser klinisches Material aus anderen Perspektiven
diskutieren zu können. Bei diesem Versuch, andere Ansichten miteinzube19 In dieser Arbeit habe ich mich nur mit jenen Theorien der Freud’schen Tradition
beschäftigt, in denen es primär darum geht, etwas Unbewußtes in eine Form zu bringen,
in der Repräsentation möglich ist. Obwohl andere Ansätze wie die Selbstpsychologie
und die relationale Psychoanalyse viel zum Verständnis der psychoanalytischen Situation beigetragen haben, hat die Tatsache, daß sie sich als eigenständige Theorien etabliert
haben, es erschwert, sie in die Diskussion einzubeziehen. Ich glaube mit Rangell (2004),
daß Reformen es manchmal »vermeiden, sich anzupassen, und sich stattdessen einem
anderen Extrem zuwenden unter Vernachlässigung dessen, was in der Vergangenheit
gewonnen wurde, und unter Geringschätzung vieler ursprünglicher Annahmen und
Ziele der Psychoanalyse« (S. 6).
172
ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXX, 2015, 2
ziehen, haben wir viel darüber gelernt, wie andere denken, und wir haben
den Wert dessen schätzen gelernt, was andere Sichtweisen uns nahebringen.
Dennoch haben wir noch eine beträchtliche Strecke zurückzulegen. Wie oft
mußten wir erleben, daß im Rahmen einer Tagung ein Panel stattfand, wo
klinisches Material aus einer anderen Perspektive gebracht wurde, und der
erste Diskutant interpretierte das Material aus seiner eigenen Perspektive
neu, der zweite tat das gleiche, und nach ein paar Wortmeldungen aus dem
Publikum war das Panel vorbei. Oftmals bleibt das Auditorium verwirrt
zurück, weil es nur wenige Versuche gibt, zu erörtern, warum die eine oder
die andere Sicht auf das Material aus diesem oder jenem Grund gewinnbringend sein könnte, zu diesem oder einem anderen Zeitpunkt in der Analyse,
der ja diskutiert werden könnte. Je nach den eigenen Vorlieben begeistern
wir uns für die eine oder für die andere Sichtweise. Ich habe den Eindruck,
daß die einzelnen Schulen zu lange versucht haben, die Reinheit und Wirkmächtigkeit der eigenen Position zu hüten. Wir zitieren nur Kollegen unserer eigenen Richtung und besuchen Tagungen, wo diejenigen vortragen, die
unsere Sichtweise teilen. Aus praktischen und Übertragungsgründen finden
wir es schwierig, unsere Heimat zu verlassen, und ein solcher Versuch wird
manchmal als Angriff aufgefaßt. Die Gefahr, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, wird in einem bekannten Experiment demonstriert: Der
unsichtbare Gorilla (Chabris & Simms, 2010). Den Teilnehmern wird ein
kurzes Video vorgespielt, wo sechs Personen – drei in weißen und drei in
schwarzen T-Shirts – einander Basketball-Pässe zuspielen. Während sie das
Video betrachten, sollten sie still für sich zählen, wie viele Pässe die Spieler
in den weißen T-Shirts machen. Irgendwann während des Videos schlendert
jemand in einem Gorillakostüm mitten aufs Spielfeld, blickt in die Kamera,
trommelt sich auf die Brust und geht dann wieder; er ist neun Sekunden lang
zu sehen. Mehr als fünfzig Prozent der Teilnehmer übersehen den Gorilla.
Mit anderen Worten: Wenn wir zu nah an unseren Theorien bleiben, übersehen wir möglicherweise die vielen Gorillas im Zimmer.
So müssen wir schließlich anerkennen, daß selbst für uns gut analysierte
Psychoanalytiker Veränderungen schwierig sein können. Nach jahrelangen
Versuchen, im Rahmen eines spezifischen Ansatzes über die Psychoanalyse nachzudenken, können wir uns in unserer Komfortzone bedroht fühlen,
wenn wir anderen Sichtweisen begegnen. Ich glaube, es ist immer noch selten der Fall, daß jemand, der einer bestimmten Gruppe angehört, von den
Ansichten eines Mitglieds aus einer anderen Gruppierung beeinflußt wird.
Ich bin mir meiner eigenen Widerstände dagegen, mich mit (für mich) neuen
Denkern einzulassen, sehr wohl bewußt – obwohl ich das Glück hatte, von
jemandem angeleitet zu werden, der sanft und nachdenklich und in Europa
ausgebildet war – und meine Frau wurde. Meine jüngsten Arbeiten zeugen
von diesem fortgesetzten Austausch.
Ich glaube, die vielversprechendsten Veränderungen auf unserem Gebiet
kommen zustande, wenn wir versuchen, unsere Ängste zu überwinden und
Fred Busch Lebendige Psychoanalyse
173
uns auf dem alltäglichen Boden der klinischen Arbeit auszutauschen. Das
würde erfordern, daß wir, wie unser begabter Kollege und Präsident sagte,
aus unserer »Schattenzone« heraustreten, wo wir auf theoretischem Gebiet
zu übermäßigen Vereinfachungen neigen. »Das Symptom dieser Schattenzone ist genau diese Unfähigkeit, sich mit einem Nicht-Selbst auszutauschen,
der unbewußt als gefährlich und allzu beunruhigend gefürchtet wird« (Bolognini, 2010, S. 11). Um der Gefahr der Versteinerung zu entgehen, täten wir
gut daran, der weisen Aussage von Eizirik (2010) Gehör zu schenken, »daß
unsere Ausbildung niemals endet und daß – neben anderen weisen Ratgebern
– Freud uns den Rat hinterlassen hat, von Zeit zu Zeit auf die Couch zurückzukehren, um die Nähe zu unserem eigenen Unbewußten wiederzufinden«
(S. 375).
Hier finden wir Psychoanalytiker aus aller Welt uns also wieder, versuchen miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen und versuchen
außerdem, zu lernen, wie man miteinander spricht und einander zuhört.
Aber ich frage mich: Warum setzen wir diese Versuche fort, obwohl sie
offenbar so schwierig sind? Ich glaube, wir tun das aufgrund dessen, was uns
alle miteinander verbindet: unsere Leidenschaft für die Psychoanalyse. Wir
haben erfahren, was sie für uns und unsere Patienten zu leisten vermag, und
trotz all dieser Gegensätze liegt uns das Freud’sche Vermächtnis am Herzen,
ebenso wie unsere manchmal gefährliche Reise, wenn wir auf diesem Kongreß einen Blick in die Zukunft werfen.
Übersetzt von Sabine Schlüter (Wien) und
Ursula Ehmer (Freiburg im Breisgau)
Zusammenfassung
Zunächst erinnert der Autor an die transformative Kraft der Psychoanalyse, die den Patienten die Vitalität menschlicher Entwicklung erschließt, aus
der sie ihre Lebenskraft schöpfen. Die Lebendigkeit der Psychoanalyse zeigt
sich aber auch in den Paradigmenwechseln, die im Laufe der letzten 40 Jahre
stattgefunden haben. Der Autor erörtert, in welcher Hinsicht sich die Technik der Psychoanalyse verändert hat und faßt dabei vor allem die Verlagerung
des Schwerpunkts von der Arbeit am Unbewußten bzw. am Verdrängten hin
zur verstärkten Arbeit am Vorbewußten ins Auge, die allen Schulen gemeinsam ist. Die Konzepte des Vorbewußten und der Repräsentanzen dienen ihm
dabei als theoretischer Referenzrahmen. Anhand zentraler klinischer Begriffe wie »Deuten in der Nähe des Verdrängten«, »Klärung«, »Gegenübertragung«, »interpsychische Kommunikation«, »analytikerzentrierte Deutungen«, »Handlungssprache« und »Arbeiten im Hier und Jetzt« zeichnet er die
technischen Entwicklungen in den verschiedenen Schulen nach und arbeitet
Parallelentwicklungen und – anhand der Begriffe »Übertragung«, »Gegen-
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ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXX, 2015, 2
übertragung« und »Widerstandsanalyse« – Differenzen heraus. Ein Plädoyer für die Auseinandersetzung mit den verschiedenen psychoanalytischen
Schulen beschließt die Arbeit.
Summary
The author reminds us of the vital role psychoanalysis plays in helping our
patients regain what is basic to their humanity. At the same time the vitality of psychoanalytic methods can be seen in important paradigm changes in the psychoanalytic method in the last forty years, although there are
significant differences amongst schools of thought. The two most significant
paradigm shifts in clinical psychoanalysis came about with a change in focus
from working directly with the unconscious, and searching for what has
been repressed, to the general recognition across theoretical perspectives
that it is important to work more closely with what is preconscious, and the
emphasis on building representations of what was previously un-thought,
or under-represented, as well as what was repressed. The innovative ideas
of psychoanalysts, that have contributed to the vitality of contemporary psychoanalysis, are described from different perspectives: »interpreting
›in the neighborhood‹«, »clarification«, »contertransference« »interpsychic
communication«, »analyst-centered interpretations«, »language action«, and
»working in the here and now«. Significant differences are pointed put in the
areas of transference, countertransference, and defense analysis. The author
ends with a plea for engaging the other: A key challenge to the individual
and collective growth of psychoanalysts is the difficulty in engaging with the
ever-expanding knowledge posed by different perspectives.
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Sterba, R. (1934): The Fate of the Ego in Analytic Therapy. Int. J. Psycho-Anal., 15, 117-126
Strachey, J. (1934): The Nature of the Therapeutic Action of Psycho-Analysis. Int. J. Psychoanal., 15, 127-159
Wallerstein, R. S. (1988): One Psychoanalysis or Many? Int. J. Psycho-Anal., 69, 5-21
Adresse des Autors
Fred Busch Ph.D., 246 Eliot Street, Chestnut Hill, MA 02467
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Fred Busch Lebendige Psychoanalyse
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