Prof. Christiane Thalgott 80796 München Belgradstr. 1 Am 25.3.2016 REDE ZUR ERÖFFNUNG DER AUSSTELLUNG KEINE ANGST VOR PARTIZIPATION! WOHNEN HEUTE Am 16.3.2016 19.00 h im Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne Anrede (Herr Lepik, Frau Strobl, aber auch Frau Hollerbach, Frau Skok u.a. Bauherrinnen und – herren ) Keine Angst vor Partizipation! Oder auch: gemeinsam statt einsam 1. Die politischen, sozialen, wissenschaftlichen und technischen Umwälzungen im 18./19. Jahrhundert haben unsere festgefügten Gesellschaften verändert und die familialen und arbeitsbezogenen hierarchischen Lebensgemeinschaften aufgelöst. 2. Wenn wir Romane und Märchen aus der Zeit kritisch lesen, war diese „gute“ alte Zeit für die meisten Menschen nicht so gut. Die gesellschaftlichen Zwänge von Staat und Kirche, Hungersnöte, Seuchen, Kriege und Armut haben im 19. Jh. Millionen Menschen in die Flucht getrieben, allein ca. 5,4 Millionen Menschen aus Deutschland nach Amerika. Hänsel und Gretel erzählen deutlich von der Erosion der Familie. Ich lese Ihnen dazu ein kurzes Märchen vor: DER ALTE GROSSVATER UND DER ENKEL aus den Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch und die Augen wurden ihm naß. Einmal auch konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus mußte er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. "Was machst du da?" fragte der Vater. "Ich mache ein Tröglein," antwortete das Kind, "daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin." Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete. Gemeinsam war nicht selbstverständlich! 1 Waren vielleicht die 7 Zwerge bereits eine funktionierende Wohngemeinschaft, mit und ohne Schneewittchen? 3. Schon im 17.und 18. Jh. wurden immer wieder neue kleinere und größere Lebensgemeinschaften gegründet, religiöse wie die Herrenhuter Brüdergemeinden oder arbeitsbezogene wie Robert Owens „New Lanmark“, die ein neues Zusammenleben jenseits der Familie zum Ziel hatten. 4. Mit der Genossenschaftsidee und ihren Regeln schufen Raiffeisen und Schulze-Delitzsch Mitte des 19.Jh. einen offeneren allgemein nutzbaren Rahmen für gemeinschaftliches Handeln mit gegenseitiger Hilfe und Unterstützung. Nach den ersten Handels-und Konsumgenossenschaften entstanden bald auch Wohnungsbaugenossenschaften. Die Sehnsucht und die Kraft der vielen Einzelnen wurde gebündelt zu gemeinsamen Handeln: Genossenschaft ist Nachbarschaft mit Hilfe und Unterstützung. 5. Heute sind es weniger ökonomische Zwänge und gefühlte Machtlosigkeit der Einzelnen in der Arbeitswelt, die uns bewegen neue Lebensbedingungen und Gemeinschaften zu suchen. Es ist vielmehr die Erkenntnis, dass wir zwar alleine leben können solange wir fit sind und uns zum Drachenfliegen oder Surfen, zum Essen im angesagten Restaurant verabreden können, aber sobald wir stolzen Helden uns ein Bein oder Arm brechen, sind wir auf mannigfaltige Hilfe von Freunden oder Familie angewiesen. Die professionelle medizinische Hilfe reicht nicht weit, auch Hund und Katze, die Schmusetiere helfen da nicht, wir haben „Dienstleistungsbedarf“, müssen darum bitten oder auf dem grau-schwarzen Markt kaufendas ist teuer und oft unzuverlässig. Das gilt auch für die Sorge um Angehörige, Kinder oder Eltern, wenn sie krank, bettlägerig oder dement sind. 6. Noch vor 20 Jahren hat die Familie, natürlich in erster Linie die Frauen, Großmütter, Tanten, Töchter, die allfällige Familienarbeit, den Dienstleistungsbedarf, übernommen, Kinder, Alte, Kranke versorgt. Noch heute werden 90% der Hochbetagten, auch der Dementen, zu Hause von Angehörigen, versorgt. Aber wer wird uns versorgen, soweit wir kinderlos, geschwisterlos und alleine leben? Wie sieht unsere Zukunft aus? Wir müssen uns neue und andere Gemeinschaften suchen, um gemeinsam statt einsam zu leben. 7. Ein paar Zahlen: Die durchschnittliche Haushaltsgröße in Städten beträgt 1,9 Personen, bundesweit 2,1 Personen Mehr als 50% der Haushalte in den Großstädten sind 1 Personen Haushalte Nur in 30% der Haushalte leben Kinder, nur in 15% davon mehr als 1 Kind Die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben überwiegend keine Cousinen oder Cousins, keine Onkel und Tanten. Selten sind Großeltern vor Ort, dafür fordert der Arbeitsmarkt zu viel Flexibilität und Ortswechsel. 8. Zu Recht beschleicht uns das Gefühl der Einsamkeit heute schon; und noch mehr wenn wir an die Zukunft denken. Gesundheitstraining, Surfen und Drachenfliegen sind nicht genug, tragen nicht so weit. Wir erleben eine ansteigende Welle von Menschen im Aufbruch zu neuen Wohnformen. Sie wollen gemeinsam Handeln um gemeinsam mit Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft, aber ähnlichen sozialen Erkenntnissen und Wünschen zu leben. 2 Warum jetzt? Viele Jahre haben die Frauen alleine neben kranken Eltern oder einem fieberndem Kind sitzend, gewusst, wenn sie mehr oder weniger erfolgreich zur Entlastung Allianzen auf Zeit geschmiedet haben, dass das weder für den notwendigen Dienstleistungsbedarf noch für den Zuwendungs- und Liebesbedarf, reicht. Aber wie dann? Sich opfern? 9. Unsere Singlegesellschaft verschont heute auch die Männer nicht vor den Zumutungen der Alltagssorgen, auch für Kinder und Eltern. Mit den Männern kam neuer gesellschaftspolitischer Schub in die Szene, neue Organisationsideen und fast vergessene WG- Erfahrungen. Die alten Wohngemeinschaftserfahrungen helfen die erforderliche Geduld für die neue Gemeinschaft aufzubringen, für das Austarieren von Nähe und Distanz, Ökonomie und Freundschaft. Auch Protagonisten wie der ehemalige Regierende Bürgermeister von Bremen, Henning Scherf, holten die WG aus der etwas verstaubten Ecke und sprachen laut von den Potentialen: Gemeinsam statt einsam. Manche der alt-ehrwürdigen Wohnungsbaugenossenschaften erwachten schon zu neuen Aktivitäten und staunen, wie erneuerungs- und zukunftsfähig ihr altes Modell ist. Neue Genossenschaften sind gegründet und zeigen wie viel soziales Kapital in dieser Idee stecken kann. 10. Was in den 80er Jahren nur einige wenige erkannten und umsetzten, wie z.B. Michael Andritzky mit der Werkbundausstellung: „Weiter wohnen wie gewohnt“ oder Ottokar Uhl u.a. in Wien Floridsdorf mit „Wohnen mit Kindern“ aber auch die Hausbesetzerszene in Berlin erfolgreich praktizierte, liegt heute, mehr als 30 Jahren später, als breiter Erfahrungsschatz vor. Die Schwierigkeiten, der Zeitaufwand und die notwendigen Lernprozesse sind bekannt, aber auch das Glück des Erfolges. GEMEINSAM STATT EINSAM! KEINE ANGST VOR PARTIZIPATION! Die gebauten Beispiele in der Ausstellung zeigen, es geht, so kann der selbst geschaffene Familienersatz gut gelebt werden. Man findet zusammen, wählt eine Form. Die Welt, das Projekt, geht nicht unter wenn der eine oder die andere wieder geht und sich Veränderungen ergeben, denn auch Familie ist nicht ewig. ( Ottokar Uhl erzählte mir 1994, dass von den Jugendlichen in seiner WG keiner dort als Erwachsener bleiben wolle, also Erneuerung zwingend anstand.) Sehen Sie sich die Beispiele an und überlegen Sie rechtzeitig wie und wo Sie in Zukunft leben wollen und was Sie dafür tun müssen! Die Gattinnen, Mütter, Töchter oder Enkelinnen stehen für die Familienarbeit und Dienstleistungen nur selten und ausnahmsweise zur Verfügung meine Herren - und Damen. Also: Keine Angst vor Partizipation! Gemeinsam statt einsam leben. München am 25.3.2016 Prof. Christiane Thalgott 3
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