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Auszüge aus dem Interview mit Regisseur Jayro Bustamante und den beiden
Protagonistinnen aus einem Volk der Maya in Guatemala, Maria Telón und
María Mercedes Coroy, auf der Berlinale.
Ixcanul – Volcano. Am Rande des Vulkans Ixcanul lebt die 17-jährige Maria mit ihrer
Familie vom Kaffeepflücken. Eine arrangierte Ehe mit dem besser gestellten Ignacio soll
der armen Familie wirtschaftliche Sicherheit bringen. Andererseits versuchen Mutter und
Tochter auf den Geröllhalden des Vulkans ihre Krisen durch alte Maya-Riten zu meistern.
Doch das Maya-Mädchen träumt davon mit dem Kaffeepflücker Pepe in die USA zu fliehen,
die ihr wie das Paradies erscheinen. Als sie jedoch von Pepe schwanger wird, steht nicht
nur die arrangierte Ehe auf dem Spiel, sondern auch das Ansehen der Familie...
Das außerordentliche Regiedebüt gewann sechs Filmpreise, darunter den Silbernen Bären
2015 und ist Guatemalas Einreichung für den Oscar 2016. (FW 2015).
"Ixcanul" ist der erste guatemaltekische
Wettbewerbsfilm, der jemals auf einer
Berlinale gezeigt wurde. Der Erstlingsfilm
von Regisseur Jayro Bustamante wurde in
der Maya-Sprache Cakchiquel gefilmt. Seine
Hauptdarstellerinnen María Telón und María
Mercedes Coroy stellen in ihm eine wahre
Geschichte dar. Irene Jung sprach mit ihnen
auf der Berlinale.
Richard Hübner © Berlinale 2015
Irene Jung: Jayro, ich bin sehr beeindruckt von den Frauen im Film, sie scheinen sehr
starke Frauen zu sein, besonders die Mutter; haben denn die Protagonistinnen auch beim
Schreiben des Drehbuchs, der Dialoge mitgewirkt?
Jayro Bustamante: Das Drehbuch begann mit meiner Begegnung mit María, der
wirklichen María aus der sehr isolierten Gegend von Sololá, die mir ihr Leben erzählt und
mich sehr beeindruckt hat. Sie verkörperte zugleich äußerste Verletzlichkeit, aber auch
eine besondere Weisheit, die sie diese Episode überleben ließ. Das war vor vielen Jahren.
Sie erzählte von ihrer Hilflosigkeit, aber auch der Hoffnung, dass es dem Kind, das ihr
entführt worden war, gut ginge, dass es von einer guten Familie adoptiert und nicht für
Organhandel missbraucht wurde. Ich war schockiert von der Geschichte und die Frage ließ
mich nicht los: Wie kann jemand Opfer solcher Ereignisse werden? Das Thema der Liebe
einer Mutter, das Thema der Frauen war schon da sehr stark präsent. Ich habe die
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Geschichte also aufgeschrieben, und bat um Marías Erlaubnis, sie zu erzählen. Sie meinte:
„Ja, du musst sie erzählen, denn das ist die Geschichte von vielen Frauen“. Sie wollte
jedoch nicht im Film mitspielen.
Die Geschichte verband sich dann mit meiner eigenen: Ich bin in dieser Region
aufgewachsen, wurde bis zum 14. Lebensjahr von einem Kindermädchen aus dem MayaVolk der Cakchiquel betreut. Und dennoch brauchte ich lange Zeit, bis ich wagte, die
Geschichte zu erzählen. Sie sprach über eine Kultur, die ich zwar gut kenne – schließlich
sind 80% der Bevölkerung Mayas bzw. indigene Völker, man lebt inmitten dieser Kultur –
ich wollte sie aber behutsam, ehrlich erzählen, denn ich bin Mestize. So stand meine
Rückkehr aus Europa, wo ich studierte, unter diesem Zeichen: der aufrichtigen Suche nach
der Wirklichkeit.
Und so organisierten wir Workshops mit Frauen der Cakchiquel in dieser Vulkanregion, der
„Vulkane die schlafen“ wie wir sagen – wir haben später allerdings auch an einem aktiven
Vulkan gefilmt, der manchmal ausbricht. Die Workshops begannen einfach damit, dass ich
die Frauen dazu einlud, über all das zu reden, was sie auf dem Herzen haben, was sie
dann auch ausgiebig taten. Dies war aber eigentlich eine unerhörte Situation, da Maya
Frauen normalerweise keinen Ort haben, wo sie sich frei aussprechen können. Die
Workshops sollten es uns so möglich machen, mehr in ihre Wirklichkeit einzudringen, um
eine realitätsgetreue Grundlage für das Drehbuch zu erarbeiten und vielleicht auch
Schauspielerinnen zu finden, die bereit wären, bei diesem Abenteuer mitzumachen.
Zuletzt haben wir das Drehbuch in diesen Workshops mit den Frauen zusammen
geschrieben, in ihrer Cakchiquel-Sprache, in der der Film dann auch gedreht wurde. Ich
habe alle Anstrengungen der Welt gemacht, damit der Film in der Maya Sprache, nicht in
Spanisch gefilmt oder synchronisiert wurde, denn ich war mir bewusst, dass wir ansonsten
eine wichtige Essenz der Geschichte verlieren würden.
Irene Jung: Und wie haben Sie die SchauspielerInnen gefunden?
Jayro Bustamante: Die Frauen der Workshops hatten kaum Interesse, in dem Film
mitzuspielen. Es war für sie eine schwierige Vorstellung, zu den Dreharbeiten von zu
Hause wegzugehen, ihre Familien, ihre Männer zu verlassen. So haben wir ein größeres
Casting gemacht in der Region der aktiven Vulkane. Wir haben nach Personen gesucht, die
die Leidenschaft dafür hätten, bei einem Film mitzuspielen und dabei unsere wunderbaren
beiden Hauptdarstellerinnen María Telon und María Mercedes Coroy gefunden. Das war
gar nicht so einfach mit dem Casting: Die traditionelle Art, Schauspieler zu finden war ja,
auf dem Markt eine Kamera und ein Schild mit „Casting“ aufzustellen. Da kam aber
niemand. Einen Tag später haben wir Arbeit angeboten, und da bildeten sich plötzlich
lange Schlangen. Und dann habe ich gemerkt, dass ich reif für die Geschichte bin.
María Telón habe ich gefunden, als ich sie neben einer Kirche in einem Straßentheater
auftreten sah, das militant für die Rechte der indigenen Bevölkerung und für Frauenrechte
eintritt. Ich war beeindruckt von ihrer leidenschaftlichen Darstellung. Es gab da einen
Moment, in denen die Kerzen gelöscht werden und sie zu weinen anfängt, und ich fragte
mich, ob sie dies wirklich als schauspielerische Leistung immer gleich erbrachte? Ich folgte
ihr durch viele Dörfer, in denen sie auftrat und tatsächlich: María Telón weinte immer
wieder mit derselben Intensität
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Irene Jung: Und wie entwickelten sich dann die Dreharbeiten?
Jayro Bustamante: Bei den Dreharbeiten am Rande des Vulkans waren wir nicht nur mit
den SchauspielerInnen, sondern mit den ganzen Familien, Eltern, Kindern zusammen. Es
war gar nicht so schwer, sie bei den Dreharbeiten anzuleiten, denn sie sind fabelhafte
Schauspielerinnen. Zugleich fungierten sie als Schiedsrichterinnen, die entscheiden mussten, ob das Drehbuch, an dem sie ja nicht mitgeschrieben hatten, der Wirklichkeit entsprach. Aber vielleicht noch eine Anekdote, die verbildlicht, wie intensiv und intim unsere
Zusammenarbeit war: wir sahen uns drei Monate lang jeden Tag, und nach einem Monat
sagte María Telón: „Aber Jayro, warum so viele Proben? Hast Du denn kein Vertrauen in
mich?“ Und ich sagte: „Natürlich hab ich Vertrauen in Dich, aber ich muss lernen, dich
anzuleiten.“ Und sie sagte: „Ja wenn es weiter nichts ist: ich werde es Dir beibringen“.
Und ab da begann eine unendliche Erfahrung von gegenseitigem „Sich etwas beibringen“.
Irene Jung: María Telón: Was ist denn Ihre normale Beschäftigung, und wie sind Sie
aufgewachsen? Wie leicht war es für Sie, die Rolle dieser Mutter, die Sie gespielt haben,
nachzuvollziehen?
Maria Telón: Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, meine Eltern waren Bauern,
und ich habe später angefangen, als Händlerin zu arbeiten, wofür ich viel umherreisen
muss. Und das ist nötig, ich muss für das Überleben meiner fünf Kinder sorgen, denn ich
bin Witwe. Zu meiner Rolle: Eine Mutter wird immer etwas für ihre Tochter tun, von dem
sie glaubt, es ist das Beste für sie. Manchmal kommt dabei Gutes raus, und manchmal
Schlechtes. Und für mich war das Schauspielern nicht so sehr Schauspielern, sondern ich
habe es wie Wirklichkeit erlebt.
Irene Jung: Sie hatten ja schon Erfahrungen im Straßentheater. Worum ging es in den
Stücken, die Sie zusammen mit dem Ensemble aufgeführt haben?
Maria Telón: Es ging viel um Themen wie die Diskriminierung von und Gewalt gegen
Frauen, und die Stücke haben wir zusammen, Männer und Frauen der Theatergruppe,
entwickelt. In dem Stück „La cuerda y el fuego“ (Der Strick und das Feuer) widersetzen
sich die Eltern und der Großvater einem jungen Mädchen und ihrem Freund. Sie hat sich in
diesen Jungen aus armen Verhältnissen verliebt, das gefällt ihrer Familie nicht. Sie möchte
aber ihre eigenen Entscheidungen fällen und auch weiter zur Schule gehen. Zuletzt wird
sie durch den Widerstand der Familie in eine extreme Situation getrieben.
Irene Jung: Wie sind denn heutzutage die Beziehungen zwischen den Eltern, den
Müttern und den Töchtern?
Maria Telón: Als ich groß wurde, sagte meine Mutter, wenn mir ein Junge gefiel: „Küss
ihn nicht!“ und sie erzählte mir nichts von der Möglichkeit, schwanger zu werden. Ich habe
inzwischen eine 16-jährige Tochter, und wenn sie einen „novio“, einen Freund hat, sag ich
zu ihr: „Erzähle mir davon!“ um mehr herauszufinden, z.B. ob er verheiratet ist, und damit
sie mich ins Vertrauen zieht. Und dann erzählt sie mir und wir reden weiter zusammen
darüber. Ich selbst wollte ja auch zur Schule gehen, aber meine Mama sagte: „Nein, nur
die Jungen haben das Recht dazu.“ Und so habe ich mir geschworen, als ich dann eine
kleine Tochter bekam, dass sie genauso wie ein Junge aufwachsen darf, Gott hat mir
schließlich diese Tochter geschenkt!
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Irene Jung: Wie reagieren die ZuschauerInnen auf Ihre Theaterstücke, und hat sich
denn schon was geändert in Bezug auf die Rechte der Frauen?
Maria Telón: Die Männer haben offensichtlich mehr Angst davor, über die Themen zu
reden, als die Frauen. Aber ich sehe, dass Jahr für Jahr sich die Dinge verändern in Bezug
auf die Rechte, dass die Leute mehr und mehr darüber Bescheid wissen, sowohl über die
Rechte der Frauen, als auch über die Rechte der indigenen Völker.
Irene Jung: Und wie war es für Sie, María Mercedes, in dem Film mit zu spielen?
Maria Mercedes: Es war eine sehr schöne Erfahrung. Wir haben zwar viel mit Jayro
geprobt, aber ich habe mich mit Körper und Seele diesem Film verschrieben, und deshalb
hat es auch geklappt. Als ich das Drehbuch las, fand ich das einen sehr wichtigen Film,
denn es gibt enorm viele Frauen, denen so etwas geschehen ist. So habe ich das auch als
eine Hilfe aufgefasst, die diesen Frauen zugute kommen sollte. Dass ihre Geschichte
gezeigt wird und auch die Frustration der indigenen Völker über die Rechte, die ihnen
verweigert werden – was auch meine Geschichte ist, denn auch ich habe diese Erfahrung
von Diskriminierung in anderen Aspekten gemacht. Und ich würde mir wünschen, dass
sich dies ändert, damit kommende Generationen dies nicht immer wieder erleiden müssen.
Und dieses Bewusstsein hat mir dabei geholfen, mich auf meine Rolle zu konzentrieren.
Irene Jung: Jayro, noch eine Frage zum Schluss, vielleicht die wesentlichste: was wollten
Sie in Ihrem Film den ZuschauerInnen über Ihr Land besonders nahe bringen?
Jayro Bustamante: Guatemala ist ein sehr seltsames, paradoxes Land: hier müssen sich
80% der Bevölkerung, die Mehrheit der Mayas, den Gesetzen und Verhaltensregeln der
20% anpassen, die die Macht haben zu regieren, den Mestizen und werden von diesen
diskriminiert. Seit dem Nobelpreis für Rigoberta Menchú als politischer Aktivistin für die
Rechte der indigenen Völker hat sich zwar Vieles verbessert, im ganzen Land wurden
zweisprachige Schulen eingerichtet, in denen in Spanisch und Maya-Sprachen unterrichtet
wird; aber das erreicht halt nicht alle entfernten Winkel des Landes. Zugleich leben wir
einen Friedensprozess und das Erbe eines bewaffneten Konflikts, an dessen Ende über
200.000 Tote stehen, die Mehrheit Mayas, und sehr, sehr viele Witwen. Und so gibt es
viele entlegene Gegenden wie die, in der wir gedreht haben, wo sich die Menschen
angesichts des bewaffneten Konflikts hin flüchteten, und wo sie die Vergangenheit
vergessen wollen. Jedoch meine ich, dass die Erinnerung aufrechterhalten werden muss.
Und so wollte ich diese paradoxe Situation zeigen innerhalb einer Geschichte, die die
besondere Situation der Frauen dieser indigenen Völker verkörpert.
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