Ganzes Geleitwort April 2016 von Andreas Spöcker

Geleitwort April 2016
Liebe Pfarreiangehörige
Es gibt immer wieder Momente in meinem Leben, in denen ich jemandem
gerne ein Lob aussprechen möchte und damit zögere. Und gerade dann, wenn
ich diesen Menschen vermutlich sehr lange oder gar nicht mehr wiedersehen
werde, motiviert es mich am meisten, tatsächlich auf diesen Menschen
zuzugehen und ihm meine Anerkennung zu offenbaren. Weil ich weiss, dass
sie diesem Menschen gut tun wird. Wir alle kennen es vielleicht, dass wir so
manche Kritik bald wieder vergessen, ein Lob sich aber meist tief in unserer
Erinnerung verankert.
Für Kardinal Walter Kasper, in einem Interview von ZEIT Online, schaut
Barmherzigkeit auf die Person und gibt ihr immer wieder eine Chance. Und:
Barmherzigkeit bedeutet, Geduld zu haben.
Meine Verlobte und ich waren 2013 zum ersten Mal Gäste in einem Landhotel
im Allgäu. Die komplette Woche hindurch wurden wir von Franziska, einer
jungen und sehr engagierten Mitarbeiterin, die sich damals noch in Ausbildung
befand, sehr freundlich und zuvorkommend bedient. Es hatte schon eine
exzellente Note für eine junge Frau im zweiten Lehrjahr. Mit der Zeit erzählte
sie dann auch immer mehr über sich und ihr Leben. So freundeten wir uns
etwas an, aber wie es dann eben kommt, nahte der Abschied. So steckten wir
Franziska ein wohlverdientes Trinkgeld in einen Umschlag und schrieben ihr –
eher unüberlegt und spontan – einen wertschätzenden Gruss auf eine unserer
Visitenkarten. Nun waren wir vor einigen Wochen erneut in diesem Hotel und
entdeckten Franziska, wie sie wieder fleissig und überaus freundlich ihre Gäste
bediente. Am letzten Nachmittag unseres Aufenthalts kamen wir endlich mit
Franziska ins Gespräch. Ihr geht es gut, sie hat ihre Ausbildung mit Bravour
abgeschlossen und nach wie vor grosse Freude an ihrem Beruf. Kurz bevor wir
das Restaurant verliessen, kam Franziska gedankenversunken an unseren
Tisch und zeigte uns schweigend die Visitenkarte, die wir ihr 28 Monate zuvor
auf unserem Tisch hinterlassen haben.
Alexandra und ich starrten diese Visitenkarte an, als würden wir sie nicht
kennen – und tatsächlich, wir erinnerten uns auch nicht mehr daran, sie
Franziska gegeben zu haben. Aber Franziska hat diese Karte nicht mehr aus
der Hand gegeben. Sie erzählte uns, dass sie die Karte seit unserer Abreise in
ihrem Portmonee bei sich trägt und, wenn sie gestresst ist oder der Tag
schlecht gelaufen ist, sie diese Worte liest und sich daran erfreut. «Man gibt
aus Freude. Man gibt über Gebühr. Nicht nur Geld, auch Liebenswürdigkeit»,
so Kardinal Kasper über Barmherzigkeit.
Es vergingen einige Minuten, bis wir begriffen haben, was wir damals
Franziska Gutes getan haben. Und wenn wir uns bewusst machen, wie viele
Gäste seither in diesem Hotel ein- und ausgegangen sind und von Franziska
bedient wurden, verschlägt es uns noch mehr die Sprache, dass sie diese
Karte so treu bei sich trägt.
«Barmherzigkeit» – ein antiquierter und verstaubter Begriff: «Ein Herz für die
Armen haben» (Duden), bzw. «Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz
fremder Not und nimmt sich ihrer mildtätig an» (Wikipedia). Beschreibungen,
die nicht mehr so Recht in unsere Zeit zu passen scheinen.
Und tatsächlich begegnen wir in unserem Alltag immer wieder Situationen, die
unsere Geduld fordern: Wenn die junge Restaurant Aushilfe den Wein vor dem
Wasser bringt oder sich nochmals bei uns nach Details der Bestellung
erkundigt. Manche würden dann schon reklamieren und sich beschweren, weil
sie in der Vergangenheit schneller, besser und perfekter bedient wurden.
Walter Kasper fasst das mit den Worten zusammen: Ein barmherziger Mensch
ist geduldig und demütig.
Für das Pastoralteam, Andreas Spöcker