Prof. Dr. Mirka Dickel Didaktik der Geographie Vorlesung Einführung in die Fachdidaktik Theorieperspektiven auf „Raum“ nach 1980 (II): Erzählte Räume 1 Was machen wir in der Geographiedidaktik? Weg- / Wendemarken (19991/1993) Geographiedidaktische Tagungen in Bensberg: „Die Geographiedidaktik neu denken. Perspektiven eines Paradigmenwechsels“ (1991) „Vielperspektivischer Geographieunterricht“ (1993) Theoriewende in den Wissenschaften: Wende in der Beschreibung von Welt, Gesellschaft und Individuum 2 Was machen wir in der Geographiedidaktik? Leitfragen dieser Vorlesung: 1. Was ist ein Paradigmenwechsel? 2. Worin besteht die Theoriewende des „cultural turns“? 3. Was bedeutet „Eurozentrismus“? 4. Welche internen und externen Gründe führten zur Theoriewende? 5. Was bedeutet „Erzählter Raum“, „Narration“ und „Diskurs“? 6. Inwiefern spielen diese Kategorien eine Rolle bei der Planung und Reflexion des Geographieunterrichts? 3 Was machen wir in Revolution der Geographiedidaktik? Wissenschaftliche (Kuhn) Jastrow: Optische Illusion 4 Was machen wir in Revolution der Geographiedidaktik? Wissenschaftliche (Kuhn) Paradigma: Bezeichnung für eine wissenschaftliche Denkweise, eine Art der Weltanschauung vorherrschendes Denkmuster der Zeit Paradigmenwechsel: Wechsel des vorherrschenden Denkmusters 5 Was machen wir in Revolution der Geographiedidaktik? Wissenschaftliche (Kuhn) T.S.Kuhn (1922-1996) (Wissenschaftstheoretiker, -historiker, -philosoph) „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ Paradigma: wissenschaftliche Lehrmeinung Satz von Vorgehensweisen: - das, was beobachtet und überprüft wird - die Art der Fragen, welche in Bezug auf ein Thema gestellt werden - wie diese Fragen gestellt werden - wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung interpretiert werden 6 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Theoriewende des „cultural turns“ • seit den 1980er Jahren • in den Geistes- und Sozialwissenschaften • an deutschen, europäischen und amerikanischen Universitäten • Kein „Paradigmenwechsel“ im Sinne Kuhns • denn: 1. Theoriewandel quer zu den Disziplinen • denn: 2. keine umfassende Kehrtwende im Fach • Resultat: Pluralisierung der Forschungsfragen und –methoden in den einzelnen Disziplinen 7 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Jean Francois Lyotard (1924-1998) • • • Abkehr von den „großen Erzählungen“ (Lyotard) „Meisterparadigmen“ (absolute, allgemeingültige Erklärungsmuster) Hinwendung zu den „kleinen Erzählungen“ (subjektive Welt- und Wirklichkeitsbeschreibungen) zur Heterogenität und Vielfalt der Weltdeutung Aushalten der Unvereinbarkeit verschiedener Positionen und Blickwinkeln 8 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende „cultural turn“ = „Wende zur Kulturgeographie“ erschienen: 2003 erschienen: 2006 9 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Beispiel: „Orient“ 10 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende 11 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende 12 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende • us-amerikanischer Literaturtheoretiker und – kritiker • Sohn palästinensischer Christen in Jerusalem • Verbrachte Kindheit und Jugend in Kairo • Professur für Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University sowie in Harvard und Yale. Edward W. Said 1935-2003 13 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende • Die abendländische Welt tendiert seit jeher dazu, den Orient als statisches Konstrukt zu konzipieren. • Vertreter eines „aufgeklärten Westens“ repräsentieren einen „mysterösen Orient“, sie präsentieren das Andere in Abgrenzung zum Eigenen aufgrund westlicher Werte, Normen, Imaginationen und Stereotype • „Othering“: Prozess, sich selbst und sein soziales Image hervorzuheben, indem man Menschen mit anderen Merkmalen als andersartig, „fremd“ klassifiziert. • Allein über die Dichotomie von Abendland und Morgenland wird die hegemoniale Praxis des Westens aufrecht erhalten (1978 erschienen) 14 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Eurozentrismus Wir vergleichen, bewerten, beurteilen andere nach den eigenen europäischen industriegesellschaftlichen Prinzipien, Maßgaben, Leitbildern, Vernunftvorstellungen und Normen. Funktion: Sicherung von Macht- und Herrschaftsinteressen. Eurozentrismus wirkt als generelle Erkenntnisschranke bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse, die nicht den eigenen entsprechen. (Schmidt-Wulffen 1982, 56 Beispiele: • „Armut wird als ein unabänderliches Schicksal hingenommen. Ein großer Kindersegen gilt als Sicherheit für das Alter“ • „Der Anteil der Analphabeten in den Entwicklungsländern ist besonders hoch… aus Unwissenheit ändern sie nicht ihre veralteten und unrentablen arbeits- und Wirtschaftsformen. Religiöse Vorstellungen hemmen den Fortschritt.“ • „Die Bantu haben einen viel zu großen Viehbestand, denn sie schätzen nur die Größe 15 ihrer Herden, nicht aber deren Qualität.“ Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Wie wird der Orient repräsentiert? Was ist der Orient? Wechsel der Forschungs perspektive In welche Diskurse ist die Rede über den Orient eingebettet? Welche feststehenden Formate des Sinnzusammenhanges strukturieren die Rede über den Orient? Wie werden so Machtstrukturen (re-)produziert? Welt wird sprachlich möglichst genau dargestellt. Sprache / Diskurse erschaffen und strukturieren Welt und Wirklichkeit 16 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Diskursives Denken heißt über „Macht“ anders nachzudenken: Macht wird als eine Struktur gedacht, die sich in gesellschaftlichen Beziehungen entfaltet. Macht ist nicht repressiv von außen „eine Instanz, die Verbote ausspricht“ (Foucault 1978). Im Gegenteil ist die Macht eine produktive Kraft. Sie unterbindet nicht, sondern bringt Dinge hervor, lässt Praktiken entstehen. 17 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Macht: „Wenn sie nur repressiv wäre, wenn sie niemals etwas anderes tun würde, als nein sagen, ja glauben sie dann wirklich, dass man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt einfach darin, dass sie nicht als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht.“ (Foucault 1978) 18 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Diskurs: Diskurs ist ein sprachlich produzierter Sinnzusammenhang, der eine bestimmte Vorstellung forciert, die wiederum bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage hat und erzeugt. Soweit „Diskurs“ in der öffentlichen Diskussion mit „Diskussion“ gleichgesetzt wird, geht ein entscheidender Bedeutungsaspekt verloren: die Eigenschaft des Diskurses, Realität zu erzeugen und zu strukturieren. In der Analyse des Diskurses zeigt sich, in welcher Weise wir über die Welt nachdenken. (Michel Foucault, 1974) 19 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Diskursives Denken heißt … • zu analysieren, innerhalb welcher Diskurse unsere Begriffe, Ordnungen und Werthalten gebildet werden. • davon auszugehen, dass die Frage nach einem grundsätzlichen wahr und falsch wird obsolet. • die Wirkungen, die davon ausgehen, dass etwas unter spezifischen Bedingungen als wahr behauptet wird, zu betrachten. • zu verstehen, dass gesellschaftliche Prozesse in einen Kampf um die Wahrheit und die Legitimität dieser Wahrheiten verstrickt sind. • zu verstehen, dass die Subjekte (also auch wir) eingebunden sind in diskursive Netze, die die Denk- und Handlungsspielräume vorstrukturieren und limitieren 20 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Verallgemeinerung des Beispiels „Orient“ Merkmale der Theoriewende: • Raum wird nicht länger als etwas betrachtet, das „an sich“ ist / existiert. • Raum wird als etwas betrachtet, das durch gesellschaftliche Bedingungen und die darin eingebundenen Subjekte Hergestelltes betrachtet wird. • Es geht nun darum diese Herstellungspraktiken und ihre (hegemonialen) Folgen zu verstehen • Abwendung vom Essentialismus (=Wie ist Raum?) und Hinwendung zum Konstruktivismus (=Wie wird Raum 21 hergestellt / konstruiert?) (Gesellschaftliche Räumlichkeit) Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Wissenschaftsexterne Gründe für die Theoriewende: • Ende des Kolonialzeitalters nach dem 2. Weltkrieg; Reflexion über Kolonialismus, Eurozentrismus, westliche Kulturhegemonie • Ende des Kalten Krieges; erneute Ethnisierung und Kulturalisierung der politischen Diskurse • Globalisierung: Zunehmende Fragmentierung von Lebensstilen, Konsumentengeschmack, Ästhetik 22 Was machen in der „culturalwir turn“ als Geographiedidaktik? Theoriewende Wissenschaftsinterne Gründe für die Theoriewende: • Cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften zuerst im angloamerikanischen Sprachraum Schnelles Wachstum der „Neuen Kulturgeographie“ im gesamten anglophonen Raum Einfluss auf die deutsche Humangeographie 23 Was machen Narrative wirGeographiedidaktik in der Geographiedidaktik? Erzählte Räume „Weltwissen als Erzählung (Narration) verstehen“ • „Der Mensch bleibt auch in der modernen Gesellschaft wesentlich ein Geschichtenerzähler“ (Viehöfer 2003) • Geschichten unterscheiden sich von literarischen Erzählungen (Märchen, Fabeln, Novellen etc.) • Erzählung ist eine „epistemologische Kategorie“: Erfahrungen und Wissen werden zu Weltsichten zusammengeführt Epistemologie = Erkenntnistheorie 24 Was machen Narrative wirGeographiedidaktik in der Geographiedidaktik? „Bei Narrationen handelt es sich um einen universellen Modus der Kommunikation und der Konstitution von Sinn und dieser ist Konstitutiv für die Produktion komplexer Deutungsmuster.“ (Viehöfer 2001) Narrationen • sind Formen der sprachlichen Auseinandersetzung mit der Welt • können nacherzählt und weitererzählt werden • erhalten dadurch soziale Wirkmächtigkeit Narratives Wissen • folgt nicht den Prämissen strenger Rationalität. Vielmehr verbindet es Erfahrungen, Empfindungen und Erinnerungen mit Rationalem 25 Geographiedidaktik WasNarrative machen wir in der Geographiedidaktik? Ziel: „es geht um eine Sichtbarmachung oft unhinterfragt naturalisierter bzw. als „taken-for-granted“ angenommener Formen und Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens, um die Dekonstruktion des vermeintlich Offensichtlichen. Machtvolle und in diesem Sinne „herrschende“ gesellschaftlichen Konventionen, Narrative oder Diskurs, die in oft subtiler Art und Weise die Strukturen der Gesellschaft rahmen, sollen in ihrem Wirken transparent gemacht werden.“ (Gebhardt et.al, 2007, 19) 26 Was machen wir in der Geographiedidaktik? Herausforderung einer narrativen Geographiedidaktik: Weltwissen als Erzählung verstehen Schulbuchbeispiel: Nigeria 27 Nigeria 28 Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: GEOS 7/8, 1999) 29 Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: GEOS 7/8, 1999) … aber zahlreiche Stammeskonflikte verdeutlichen, das es in diesem Vielvölkerstaat immer wieder Spannungen und blutige Auseinandersetzungen gibt. 70% der nigerianischen Bevölkerung setzt sich aus vier Stammesgruppen zusammen: im Norden die Haussa und Fulbe, im Südwesten die Yoruba und im Südosten die Ibo. Zwischen ihnen kam es zu heftigen Kämpfen, die die Einführung einer geordneten Staatspolitik weitgehend verhinderten. 1967 löste sich die östliche Region (Gebiet mit ergiebigen Erdölfeldern) vom nigerianischen Staat und gründete den unabhängigen Ibo-Staat Biafra. Eines der schrecklichsten Kapitel des Landes begann: der Biafra-Krieg (1967-1970), der über 1 Mio Menschen das Leben kostete. Betroffen von einer langen Dürrekatastrophe und schweren Hungersnöten mussten die Ibo den Kampf aufgeben. Neben der starken Gliederung des Landes in viele Stämme und ihre Kulturen ist aber auch die Zugehörigkeit der Bevölkerung Nigerias zu verschiedenen Religionen häufig Auslöser für regionale Spannungen, insbesondere zwischen dem islamischen Norden und dem christlichen Süden. So verbot beispielsweise die moslemische Führung im Norden die christliche Missionstätigkeit… 30 Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 1999) Aufgaben: 1. Beschreibe mit Hilfe des Atlas die geographische Lage Nigeriasund vergleiche die Nord-süd-Ausdehnung des Landes mit Deutschland. Skizziere dazu Lagekarten. 2. Beschreibe die Bevölkerungsvielfalt Nigerias und diskutiere Probleme, die sich daraus ergeben. 3. Nenne weitere Vielvölkerstaaten in Afrika und anderen Kontinenten. 31 Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 2002) 32 Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 2002) Die Schatten der Kolonialvergangenheit lasten auf dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Immer wieder brechen zum Teil blutige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Völkern aus. Bereits 1967 wäre Nigeria daran fast zerbrochen. Wie entstand der Vielvölkerstaat Nigeria und welche Ursachen haben die Konflikte? … doch erst 1960 wurde Nigeria unabhängig. Seither leben die verschiedensten Völker Nigerias in den von den Briten geschaffenen künstlichen Grenzen zusammen. Ein nigerianisches Nationalgefühl hat sich wegen der ethnischen, religiösen und kulturellen Unterschiede bis heute nicht entwickelt. … M6: Erdöl – Chance oder Fluch Die religiösen und kulturellen Konflikte zwischen den Völkern Nigerias werden durch wachsende soziale Spannungen weiter verschärft. Zwar liegen die großen Städte, Industriegebiete und Erdölfelder im Süden Nigerias, doch die Gewinne fließen entweder in den rohstoffarmen Norden oder ins Ausland. Das Öl brachte den Reichtum, der Nigeria zum mächtigsten Staat Westafrikas gemacht hat. Doch die Menschen, unter deren Feldern und Fischgründen dieser Reichtum lagert, blieben bettelarm. (nach einem Bericht der Zeitung „Rheinischer Merkur“ vom 3.10.1997) 33 Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 2002) Aufgaben: 1. Vergleiche die Grenzen der früheren afrikanischen Staaten mit denen der britischen Kolonie. (M3) Erläutere daraus entstehende Probleme. 2. Erkläre die Herkunft des Namens Nigeria. Warum ist es ein künstlicher Staatsname? (Atlas, Text)? 3. Werte die Karte M7 aus. Nenne die wichtigsten Wirtschaftszweige Nigerias und untersuche, in welchen Regionen sie sich ballen. Erkläre, warum Nigerias eigentlich ein reiches Land ist. 4. Lies M6 und gib die Kritikpunkte des Verfassers mit eigenen Worten wieder. Nenne mögliche Maßnahmen, mit denen die Missstände deiner Meinung nach verbessert werden könnten. 5. Legt gemeinsam eine Tabelle an zur Gliederung Nigerias nach Völkern, Siedlungsgebieten, Religionen und unterschiedlichen Wirtschaftsräumen (M1-M7). Diskutiert nun über Ursachen für die innerstaatlichen Konflikte in Nigeria. 34 Alternativ-Entwurf von Studierenden, Universität Jena 2002 35 Alternativ-Entwurf von Studierenden, Universität Jena 2002 Nigeria war von 1914 bis 1960 eine Kolonie Großbritanniens. Während dieser Zeit verfolgte Großbritannien einseitige wirtschaftliche Ziele, welche sie mit minimalen Kosten und Steueraufwand erreichen wollten. Trotz militärischer Überlegenheit Großbritanniens, waren sich die Briten bewusst, dass sie die Kolonie nicht ohne die native chiefs (einheimische Herrscher) regieren konnten. Die Beteiligung an der Regierung und Verwaltung bezeichnet man als indirect rule. …Die Verwirklichung des indirect rule funktionierte im Norden und im zentralen Teil der Kolonie aufgrund des Islams und im Südwesten aufgrund der Christianisierung. Die Religionen gaben den „Stämmen“ eine feste Ordnung, welche die Kolonialherren geschickt nutzten. Im Südosten, wo die Bevölkerung in zahllose Gruppen zersplittert war, scheiterte das indirect rule aufgrund der willkürlichen Zusammenfassung der Bevölkerung zum „Stamm“ der Ibo. Das zeigt, das es sich beim Begriff „Stamm“ um eine europäische Erfindung handelt, weshalb dieser Begriff vermieden und stattdessen von Ethnie gesprochen werden sollte. … Das europäische Staatenmodell einer föderal demokratischen Republik scheiterte schon nach kurzer Zeit. Die Ursachen dafür lagen in der stammesgeschichtlichen Vielfalt und in der ungleichen Aufteilung der Erdölgebiete begründet. Es folgten Korruption, Unruhen, Betrug und Gewalt. 36 Alternativ-Entwurf von Studierenden, Universität Jena 2002 Aufgaben: 1. Diskutiere in der Gruppe die Bedeutung des Begriffs „Stamm“ am Beispiel Nigerias. 2. Worin besteht der Unterschied zwischen „native chief“ und indirect rule“? 3. Für wen ist der Erdölreichtum Nigerias ein Segen und für wen ein Fluch? Begründe. 37 Was machen wir in der Geographiedidaktik? Narrative Geographiedidaktik Didaktische Dimension 1: Fokus: Verständnis über die Einbettung von Unterrichtsthemen und -materialien in vorgeordnete Sinnzusammenhänge (Diskurse) Texte und Aufgaben sind eingebunden in einen vorgeordneten kollektiven Sinnzusammenhang, einen gesellschaftlichen Diskurs, der normalerweise nicht hinterfragt wird, sondern als gegeben akzeptiert wird. Didaktische Herausforderung: Entziffere die Regeln dieses Diskurses und versuche die Setzungen und Voraussetzungen dieser Redeweisen, die implizit enthaltenen Welt- und Menschenbilder herauszuarbeiten und auf ihre Gültigkeit hin zu reflektieren! Suche nach weiteren Quellen über das Phänomen. Reichere die Schulbuchmaterialien ggf. mit weiteren Materialien an! Überprüfe, ob die Aufgaben geeignet sind, um Diskurslogiken zu durchschauen, d.h. zu verstehen, welche welche Diskurse sie wie bedienen! 38 Was machen wir in der Geographiedidaktik? Narrative Geographiedidaktik Didaktische Dimension 2: Fokus: Die Aufbereitung von Themen für den Unterricht Makroebene (Vogelperspektive oder top-down-Sicht / „große Erzählungen“): Übersicht auf das Ganze (z.B. Landesstatistiken, zusammenfassende Darstellungen, Karten), ohne direkten Kontakt zum Beobachtungsobjekt / Menschen, bloße Interpretation von Daten = eurozentrische Sicht Mikroebene (Froschperspektive oder bottom-up-Sicht, „kleine Geschichten“) kleinste Einheiten werden beobachtet (z.B. Familien, Dorfgemeinschaften, Personen), teilnehmende Beobachtung, enger Kontakt zu dem Beobachtungsobjekt. Die Ergebnisse der perspektivisch unterschiedlichen Beobachtungen sind oft divergierend und führen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Didaktische Herausforderung: Verknüpfe große Erzählungen und kleine Geschichten. Gewinne deine Erkenntnisse und neue Fragen aus der Zusammenschau zwischen Mikro- und Makroperspektive 39 Was machen wir in der Geographiedidaktik? Narrative Geographiedidaktik Didaktische Dimension 3: Fokus: Der Lehrer als Erzähler, der Unterricht als „plot“ Jeder Lehrer stellt über seinen Unterricht eine eigene Erzählung von der Welt vor. Denn: Alles, was wir von der Welt sagen können, ist „nur“ in Erzählungen sagbar. Didaktische Herausforderung: Sei dir bewusst, dass zu unterrichten bedeutet, Erzählungen zu konstituieren. Dies ist eine konstitutive Leistung, die einen plot enthält. Dieser plot erzeugt eine kohärente Realität. Der plot der Erzählung stiftet Sinnzusammenhang aus dem Chaos möglicher Daten. Wichtig ist, die eigenen Erzählweisen zu reflektieren und um blinde Flecken und Leerstellen zu wissen. Es bleibt die Verantwortung des Lehrers zu entscheiden, in welchem Netzwerk von Begriffen / in welcher Perspektivität sich der Unterrichtsplot entfaltet. 40 Was machen wirLiteratur in der Geographiedidaktik? Basisliteratur: Scharvogel, Martin (2007): Erzählte Räume. Frankfurts Hochhäuser im diskursiven Netz der Produktion des Raumes. Darin: (Kap.3 und 4), Münster, S. 45-62. Rhode-Jüchtern (2004): Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte. Zehn Werkstücke zu einer Geographiedidaktik der Unterscheidung. Darin: Kap. 4, S.62-96), Wien. Zur Vertiefung: Rhode-Jüchtern, T. (2009): Narrative Geographie – Plot, Imagination und Konstruktion von Wissen. In: Vielhaber, C. (Hrsg.): Fachdidaktik alternativ – innovativ. Materialien zur Didaktik der Geographie und Wirtschaftskunde 17. Wien, 49-61. Gebhardt, Hans u.a.: Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Gebhard, Hans, A. Mattissek, P. Reuber, G. Wolkersdorfer: Neue Kulturgeographie? Perspektiven, Potentiale, Probleme. In: GR 59, 2007, Heft 7/8, 12-19. Kuhn, T.S: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Chicago 1962. Rhode-Jüchtern, Tilman (2009): Wissenschaftliche Innovationen in den Kulturwissenschaften: „Cultural Turn“. In: Rhode-Jüchtern, T.: Eckpunkte einer modernen Geographiedidaktik. Hintergrundbegriffe und Denkfiguren. Kallmeyer, 149-152. 41
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