Geodidaktik VL 6 Theorieperspektiven_auf_Raum_nach_1980(II)

Prof. Dr. Mirka Dickel
Didaktik der Geographie
Vorlesung
Einführung in die Fachdidaktik
Theorieperspektiven auf „Raum“
nach 1980 (II):
Erzählte Räume
1
Was machen wir in der Geographiedidaktik?
Weg- / Wendemarken (19991/1993)
Geographiedidaktische Tagungen in Bensberg:
„Die Geographiedidaktik neu denken.
Perspektiven eines Paradigmenwechsels“
(1991)
„Vielperspektivischer
Geographieunterricht“ (1993)
Theoriewende in den Wissenschaften:
Wende in der Beschreibung von Welt, Gesellschaft
und Individuum
2
Was machen wir in der Geographiedidaktik?
Leitfragen dieser Vorlesung:
1. Was ist ein Paradigmenwechsel?
2. Worin besteht die Theoriewende des „cultural turns“?
3. Was bedeutet „Eurozentrismus“?
4. Welche internen und externen Gründe führten zur Theoriewende?
5. Was bedeutet „Erzählter Raum“, „Narration“ und „Diskurs“?
6. Inwiefern spielen diese Kategorien eine Rolle bei der Planung und
Reflexion des Geographieunterrichts?
3
Was
machen wir in Revolution
der Geographiedidaktik?
Wissenschaftliche
(Kuhn)
Jastrow: Optische Illusion
4
Was
machen wir in Revolution
der Geographiedidaktik?
Wissenschaftliche
(Kuhn)
Paradigma:
Bezeichnung für eine wissenschaftliche Denkweise, eine Art der Weltanschauung
vorherrschendes Denkmuster der Zeit
Paradigmenwechsel:
Wechsel des vorherrschenden Denkmusters
5
Was
machen wir in Revolution
der Geographiedidaktik?
Wissenschaftliche
(Kuhn)
T.S.Kuhn (1922-1996)
(Wissenschaftstheoretiker, -historiker, -philosoph)
„Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“
Paradigma: wissenschaftliche Lehrmeinung
Satz von Vorgehensweisen:
- das, was beobachtet und überprüft wird
- die Art der Fragen, welche in Bezug auf ein Thema gestellt werden
- wie diese Fragen gestellt werden
- wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung interpretiert werden
6
Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Theoriewende des „cultural turns“
• seit den 1980er Jahren
• in den Geistes- und Sozialwissenschaften
• an deutschen, europäischen und amerikanischen Universitäten
• Kein „Paradigmenwechsel“ im Sinne Kuhns
• denn: 1. Theoriewandel quer zu den Disziplinen
• denn: 2. keine umfassende Kehrtwende im Fach
• Resultat: Pluralisierung der Forschungsfragen und –methoden in
den einzelnen Disziplinen
7
Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Jean Francois Lyotard
(1924-1998)
•
•
•
Abkehr von den „großen Erzählungen“ (Lyotard) „Meisterparadigmen“
(absolute, allgemeingültige Erklärungsmuster)
Hinwendung zu den „kleinen Erzählungen“ (subjektive Welt- und
Wirklichkeitsbeschreibungen) zur Heterogenität und Vielfalt der Weltdeutung
Aushalten der Unvereinbarkeit verschiedener Positionen und Blickwinkeln
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
„cultural turn“
=
„Wende zur
Kulturgeographie“
erschienen: 2003
erschienen: 2006
9
Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Beispiel: „Orient“
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
• us-amerikanischer
Literaturtheoretiker und –
kritiker
• Sohn palästinensischer
Christen in Jerusalem
• Verbrachte Kindheit und
Jugend in Kairo
• Professur für Englisch und
Vergleichende
Literaturwissenschaften an
der Columbia University
sowie in Harvard und Yale.
Edward W. Said 1935-2003
13
Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
• Die abendländische Welt tendiert seit jeher
dazu, den Orient als statisches Konstrukt
zu konzipieren.
• Vertreter eines „aufgeklärten Westens“
repräsentieren einen „mysterösen Orient“,
sie präsentieren das Andere in Abgrenzung
zum Eigenen aufgrund westlicher Werte,
Normen, Imaginationen und Stereotype
• „Othering“: Prozess, sich selbst und sein
soziales Image hervorzuheben, indem man
Menschen mit anderen Merkmalen als
andersartig, „fremd“ klassifiziert.
• Allein über die Dichotomie von Abendland
und Morgenland wird die hegemoniale
Praxis des Westens aufrecht erhalten
(1978 erschienen)
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Eurozentrismus
Wir vergleichen, bewerten, beurteilen andere nach den eigenen
europäischen industriegesellschaftlichen Prinzipien, Maßgaben,
Leitbildern, Vernunftvorstellungen und Normen. Funktion: Sicherung von
Macht- und Herrschaftsinteressen. Eurozentrismus wirkt als generelle
Erkenntnisschranke bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher
Verhältnisse, die nicht den eigenen entsprechen. (Schmidt-Wulffen 1982, 56
Beispiele:
•
„Armut wird als ein unabänderliches Schicksal hingenommen. Ein großer Kindersegen
gilt als Sicherheit für das Alter“
•
„Der Anteil der Analphabeten in den Entwicklungsländern ist besonders hoch… aus
Unwissenheit ändern sie nicht ihre veralteten und unrentablen arbeits- und
Wirtschaftsformen. Religiöse Vorstellungen hemmen den Fortschritt.“
•
„Die Bantu haben einen viel zu großen Viehbestand, denn sie schätzen nur die Größe
15
ihrer Herden, nicht aber deren Qualität.“
Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Wie wird der Orient
repräsentiert?
Was ist der Orient?
Wechsel
der
Forschungs
perspektive
In welche Diskurse ist die Rede
über den Orient eingebettet?
Welche feststehenden Formate
des Sinnzusammenhanges
strukturieren die Rede über den
Orient?
Wie werden so Machtstrukturen
(re-)produziert?
Welt wird sprachlich
möglichst genau
dargestellt.
Sprache / Diskurse
erschaffen und strukturieren
Welt und Wirklichkeit
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Diskursives Denken heißt über „Macht“ anders
nachzudenken:
Macht wird als eine Struktur gedacht, die sich in gesellschaftlichen
Beziehungen entfaltet.
Macht ist nicht repressiv von außen „eine Instanz, die Verbote
ausspricht“ (Foucault 1978). Im Gegenteil ist die Macht eine
produktive Kraft. Sie unterbindet nicht, sondern bringt Dinge hervor,
lässt Praktiken entstehen.
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Macht:
„Wenn sie nur repressiv wäre, wenn sie niemals etwas anderes tun
würde, als nein sagen, ja glauben sie dann wirklich, dass man ihr
gehorchen würde? Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass
man sie akzeptiert, liegt einfach darin, dass sie nicht als neinsagende
Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt,
Dinge produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen,
das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als
negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht.“
(Foucault 1978)
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Diskurs:
Diskurs ist ein sprachlich produzierter Sinnzusammenhang, der eine
bestimmte Vorstellung forciert, die wiederum bestimmte Machtstrukturen und
Interessen gleichzeitig zur Grundlage hat und erzeugt.
Soweit „Diskurs“ in der öffentlichen Diskussion mit „Diskussion“
gleichgesetzt wird, geht ein entscheidender Bedeutungsaspekt verloren: die
Eigenschaft des Diskurses, Realität zu erzeugen und zu strukturieren. In der
Analyse des Diskurses zeigt sich, in welcher Weise wir über die Welt
nachdenken.
(Michel Foucault, 1974)
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Diskursives Denken heißt …
• zu analysieren, innerhalb welcher Diskurse unsere Begriffe, Ordnungen und
Werthalten gebildet werden.
• davon auszugehen, dass die Frage nach einem grundsätzlichen wahr und falsch
wird obsolet.
• die Wirkungen, die davon ausgehen, dass etwas unter spezifischen Bedingungen
als wahr behauptet wird, zu betrachten.
• zu verstehen, dass gesellschaftliche Prozesse in einen Kampf um die Wahrheit
und die Legitimität dieser Wahrheiten verstrickt sind.
• zu verstehen, dass die Subjekte (also auch wir) eingebunden sind in diskursive
Netze, die die Denk- und Handlungsspielräume vorstrukturieren und limitieren
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Verallgemeinerung des Beispiels „Orient“
Merkmale der Theoriewende:
• Raum wird nicht länger als etwas betrachtet, das „an sich“
ist / existiert.
• Raum wird als etwas betrachtet, das durch
gesellschaftliche Bedingungen und die darin
eingebundenen Subjekte Hergestelltes betrachtet wird.
• Es geht nun darum diese Herstellungspraktiken und ihre
(hegemonialen) Folgen zu verstehen
• Abwendung vom Essentialismus (=Wie ist Raum?) und
Hinwendung zum Konstruktivismus (=Wie wird Raum 21
hergestellt / konstruiert?) (Gesellschaftliche Räumlichkeit)
Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Wissenschaftsexterne Gründe für die Theoriewende:
• Ende des Kolonialzeitalters nach dem 2. Weltkrieg;
Reflexion über Kolonialismus, Eurozentrismus, westliche
Kulturhegemonie
• Ende des Kalten Krieges; erneute Ethnisierung und
Kulturalisierung der politischen Diskurse
• Globalisierung: Zunehmende Fragmentierung von
Lebensstilen, Konsumentengeschmack, Ästhetik
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Was machen
in der
„culturalwir
turn“
als Geographiedidaktik?
Theoriewende
Wissenschaftsinterne Gründe für die Theoriewende:
• Cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften
zuerst im angloamerikanischen Sprachraum
Schnelles Wachstum der „Neuen Kulturgeographie“ im
gesamten anglophonen Raum
Einfluss auf die deutsche Humangeographie
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Was machen
Narrative
wirGeographiedidaktik
in der Geographiedidaktik?
Erzählte Räume
„Weltwissen als Erzählung (Narration) verstehen“
• „Der Mensch bleibt auch in der modernen Gesellschaft wesentlich ein
Geschichtenerzähler“ (Viehöfer 2003)
• Geschichten unterscheiden sich von literarischen Erzählungen
(Märchen, Fabeln, Novellen etc.)
• Erzählung ist eine „epistemologische Kategorie“: Erfahrungen und
Wissen werden zu Weltsichten zusammengeführt
Epistemologie = Erkenntnistheorie
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Was machen
Narrative
wirGeographiedidaktik
in der Geographiedidaktik?
„Bei Narrationen handelt es sich um einen universellen Modus der
Kommunikation und der Konstitution von Sinn und dieser ist Konstitutiv für
die Produktion komplexer Deutungsmuster.“ (Viehöfer 2001)
Narrationen
• sind Formen der sprachlichen Auseinandersetzung mit der Welt
• können nacherzählt und weitererzählt werden
• erhalten dadurch soziale Wirkmächtigkeit
Narratives Wissen
• folgt nicht den Prämissen strenger Rationalität. Vielmehr verbindet es
Erfahrungen, Empfindungen und Erinnerungen mit Rationalem
25
Geographiedidaktik
WasNarrative
machen wir
in der Geographiedidaktik?
Ziel:
„es geht um eine Sichtbarmachung oft unhinterfragt
naturalisierter bzw. als „taken-for-granted“ angenommener
Formen und Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens, um
die Dekonstruktion des vermeintlich Offensichtlichen.
Machtvolle und in diesem Sinne „herrschende“
gesellschaftlichen Konventionen, Narrative oder Diskurs, die
in oft subtiler Art und Weise die Strukturen der Gesellschaft
rahmen, sollen in ihrem Wirken transparent gemacht
werden.“
(Gebhardt et.al, 2007, 19)
26
Was machen wir in der Geographiedidaktik?
Herausforderung einer
narrativen Geographiedidaktik:
Weltwissen als Erzählung verstehen
Schulbuchbeispiel: Nigeria
27
Nigeria
28
Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: GEOS 7/8, 1999)
29
Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: GEOS 7/8, 1999)
… aber zahlreiche Stammeskonflikte verdeutlichen, das es in diesem Vielvölkerstaat immer
wieder Spannungen und blutige Auseinandersetzungen gibt.
70% der nigerianischen Bevölkerung setzt sich aus vier Stammesgruppen zusammen: im
Norden die Haussa und Fulbe, im Südwesten die Yoruba und im Südosten die Ibo. Zwischen
ihnen kam es zu heftigen Kämpfen, die die Einführung einer geordneten Staatspolitik
weitgehend verhinderten. 1967 löste sich die östliche Region (Gebiet mit ergiebigen
Erdölfeldern) vom nigerianischen Staat und gründete den unabhängigen Ibo-Staat Biafra.
Eines der schrecklichsten Kapitel des Landes begann: der Biafra-Krieg (1967-1970), der
über 1 Mio Menschen das Leben kostete. Betroffen von einer langen Dürrekatastrophe und
schweren Hungersnöten mussten die Ibo den Kampf aufgeben.
Neben der starken Gliederung des Landes in
viele Stämme und ihre Kulturen ist aber auch die
Zugehörigkeit der Bevölkerung Nigerias zu
verschiedenen Religionen häufig Auslöser für
regionale Spannungen, insbesondere zwischen
dem islamischen Norden und dem christlichen
Süden. So verbot beispielsweise die moslemische
Führung im Norden die christliche
Missionstätigkeit…
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Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 1999)
Aufgaben:
1. Beschreibe mit Hilfe des Atlas die geographische Lage Nigeriasund
vergleiche die Nord-süd-Ausdehnung des Landes mit Deutschland.
Skizziere dazu Lagekarten.
2. Beschreibe die Bevölkerungsvielfalt Nigerias und diskutiere
Probleme, die sich daraus ergeben.
3. Nenne weitere Vielvölkerstaaten in Afrika und anderen Kontinenten.
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Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 2002)
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Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 2002)
Die Schatten der Kolonialvergangenheit lasten auf dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas.
Immer wieder brechen zum Teil blutige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen
Völkern aus. Bereits 1967 wäre Nigeria daran fast zerbrochen. Wie entstand der
Vielvölkerstaat Nigeria und welche Ursachen haben die Konflikte?
… doch erst 1960 wurde Nigeria unabhängig. Seither leben die verschiedensten Völker
Nigerias in den von den Briten geschaffenen künstlichen Grenzen zusammen. Ein
nigerianisches Nationalgefühl hat sich wegen der ethnischen, religiösen und kulturellen
Unterschiede bis heute nicht entwickelt.
…
M6: Erdöl – Chance oder Fluch
Die religiösen und kulturellen Konflikte zwischen den
Völkern Nigerias werden durch wachsende soziale
Spannungen weiter verschärft. Zwar liegen die großen
Städte, Industriegebiete und Erdölfelder im Süden
Nigerias, doch die Gewinne fließen entweder in den
rohstoffarmen Norden oder ins Ausland.
Das Öl brachte den Reichtum, der Nigeria zum
mächtigsten Staat Westafrikas gemacht hat. Doch die
Menschen, unter deren Feldern und Fischgründen
dieser Reichtum lagert, blieben bettelarm. (nach einem
Bericht der Zeitung „Rheinischer Merkur“ vom
3.10.1997)
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Nigeria – Ein Vielvölkerstaat. (in: Geografie 7/8, 2002)
Aufgaben:
1. Vergleiche die Grenzen der früheren afrikanischen Staaten mit denen der britischen
Kolonie. (M3) Erläutere daraus entstehende Probleme.
2. Erkläre die Herkunft des Namens Nigeria. Warum ist es ein künstlicher Staatsname? (Atlas,
Text)?
3. Werte die Karte M7 aus. Nenne die wichtigsten Wirtschaftszweige Nigerias und
untersuche, in welchen Regionen sie sich ballen. Erkläre, warum Nigerias eigentlich ein
reiches Land ist.
4. Lies M6 und gib die Kritikpunkte des Verfassers mit eigenen Worten wieder. Nenne
mögliche Maßnahmen, mit denen die Missstände deiner Meinung nach verbessert werden
könnten.
5. Legt gemeinsam eine Tabelle an zur Gliederung Nigerias nach Völkern, Siedlungsgebieten,
Religionen und unterschiedlichen Wirtschaftsräumen (M1-M7). Diskutiert nun über Ursachen
für die innerstaatlichen Konflikte in Nigeria.
34
Alternativ-Entwurf von Studierenden, Universität Jena 2002
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Alternativ-Entwurf von Studierenden, Universität Jena 2002
Nigeria war von 1914 bis 1960 eine Kolonie Großbritanniens. Während dieser Zeit verfolgte
Großbritannien einseitige wirtschaftliche Ziele, welche sie mit minimalen Kosten und
Steueraufwand erreichen wollten. Trotz militärischer Überlegenheit Großbritanniens, waren sich
die Briten bewusst, dass sie die Kolonie nicht ohne die native chiefs (einheimische Herrscher)
regieren konnten.
Die Beteiligung an der Regierung und Verwaltung bezeichnet man als indirect rule. …Die
Verwirklichung des indirect rule funktionierte im Norden und im zentralen Teil der Kolonie
aufgrund des Islams und im Südwesten aufgrund der Christianisierung. Die Religionen gaben den
„Stämmen“ eine feste Ordnung, welche die Kolonialherren geschickt nutzten.
Im Südosten, wo die Bevölkerung in zahllose Gruppen zersplittert war, scheiterte das indirect rule
aufgrund der willkürlichen Zusammenfassung der Bevölkerung zum „Stamm“ der Ibo.
Das zeigt, das es sich beim Begriff „Stamm“ um eine
europäische Erfindung handelt, weshalb dieser Begriff
vermieden und stattdessen von Ethnie gesprochen
werden sollte.
… Das europäische Staatenmodell einer föderal
demokratischen Republik scheiterte schon nach kurzer
Zeit. Die Ursachen dafür lagen in der
stammesgeschichtlichen Vielfalt und in der ungleichen
Aufteilung der Erdölgebiete begründet. Es folgten
Korruption, Unruhen, Betrug und Gewalt.
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Alternativ-Entwurf von Studierenden, Universität Jena 2002
Aufgaben:
1.
Diskutiere in der Gruppe die Bedeutung des Begriffs „Stamm“ am
Beispiel Nigerias.
2.
Worin besteht der Unterschied zwischen „native chief“ und indirect
rule“?
3.
Für wen ist der Erdölreichtum Nigerias ein Segen und für wen ein
Fluch? Begründe.
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Was machen
wir in der
Geographiedidaktik?
Narrative
Geographiedidaktik
Didaktische Dimension 1:
Fokus: Verständnis über die Einbettung von Unterrichtsthemen
und -materialien in vorgeordnete Sinnzusammenhänge
(Diskurse)
Texte und Aufgaben sind eingebunden in einen vorgeordneten kollektiven
Sinnzusammenhang, einen gesellschaftlichen Diskurs, der normalerweise nicht
hinterfragt wird, sondern als gegeben akzeptiert wird.
Didaktische Herausforderung:
Entziffere die Regeln dieses Diskurses und versuche die Setzungen und
Voraussetzungen dieser Redeweisen, die implizit enthaltenen Welt- und
Menschenbilder herauszuarbeiten und auf ihre Gültigkeit hin zu reflektieren!
Suche nach weiteren Quellen über das Phänomen. Reichere die
Schulbuchmaterialien ggf. mit weiteren Materialien an! Überprüfe, ob die Aufgaben
geeignet sind, um Diskurslogiken zu durchschauen, d.h. zu verstehen, welche
welche Diskurse sie wie bedienen!
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Was machen
wir in der
Geographiedidaktik?
Narrative
Geographiedidaktik
Didaktische Dimension 2:
Fokus: Die Aufbereitung von Themen für den Unterricht
Makroebene (Vogelperspektive oder top-down-Sicht / „große Erzählungen“):
Übersicht auf das Ganze (z.B. Landesstatistiken, zusammenfassende Darstellungen,
Karten), ohne direkten Kontakt zum Beobachtungsobjekt / Menschen, bloße
Interpretation von Daten = eurozentrische Sicht
Mikroebene (Froschperspektive oder bottom-up-Sicht, „kleine Geschichten“) kleinste
Einheiten werden beobachtet (z.B. Familien, Dorfgemeinschaften, Personen),
teilnehmende Beobachtung, enger Kontakt zu dem Beobachtungsobjekt.
Die Ergebnisse der perspektivisch unterschiedlichen Beobachtungen sind oft
divergierend und führen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen.
Didaktische Herausforderung:
Verknüpfe große Erzählungen und kleine Geschichten. Gewinne deine Erkenntnisse
und neue Fragen aus der Zusammenschau zwischen Mikro- und Makroperspektive
39
Was machen
wir in der
Geographiedidaktik?
Narrative
Geographiedidaktik
Didaktische Dimension 3:
Fokus: Der Lehrer als Erzähler, der Unterricht als „plot“
Jeder Lehrer stellt über seinen Unterricht eine eigene Erzählung von der Welt vor.
Denn: Alles, was wir von der Welt sagen können, ist „nur“ in Erzählungen sagbar.
Didaktische Herausforderung:
Sei dir bewusst, dass zu unterrichten bedeutet, Erzählungen zu konstituieren. Dies ist
eine konstitutive Leistung, die einen plot enthält. Dieser plot erzeugt eine kohärente
Realität. Der plot der Erzählung stiftet Sinnzusammenhang aus dem Chaos
möglicher Daten. Wichtig ist, die eigenen Erzählweisen zu reflektieren und um blinde
Flecken und Leerstellen zu wissen. Es bleibt die Verantwortung des Lehrers zu
entscheiden, in welchem Netzwerk von Begriffen / in welcher Perspektivität sich der
Unterrichtsplot entfaltet.
40
Was machen wirLiteratur
in der Geographiedidaktik?
Basisliteratur:
Scharvogel, Martin (2007): Erzählte Räume. Frankfurts Hochhäuser im diskursiven
Netz der Produktion des Raumes. Darin: (Kap.3 und 4), Münster, S. 45-62.
Rhode-Jüchtern (2004): Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte. Zehn Werkstücke zu
einer Geographiedidaktik der Unterscheidung. Darin: Kap. 4, S.62-96), Wien.
Zur Vertiefung:
Rhode-Jüchtern, T. (2009): Narrative Geographie – Plot, Imagination und Konstruktion von
Wissen. In: Vielhaber, C. (Hrsg.): Fachdidaktik alternativ – innovativ. Materialien
zur Didaktik der Geographie und Wirtschaftskunde 17. Wien, 49-61.
Gebhardt, Hans u.a.: Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen.
Gebhard, Hans, A. Mattissek, P. Reuber, G. Wolkersdorfer: Neue Kulturgeographie?
Perspektiven, Potentiale, Probleme. In: GR 59, 2007, Heft 7/8, 12-19.
Kuhn, T.S: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Chicago 1962.
Rhode-Jüchtern, Tilman (2009): Wissenschaftliche Innovationen in den
Kulturwissenschaften: „Cultural Turn“. In: Rhode-Jüchtern, T.: Eckpunkte einer
modernen Geographiedidaktik. Hintergrundbegriffe und Denkfiguren. Kallmeyer,
149-152.
41