Mehr Licht ins Dunkel!

Impulse
Das Wissenschaftsmagazin der VolkswagenStiftung
02
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Mehr Licht ins Dunkel!
Wie Sichtwechsel die
Wissenschaft voranbringen
Vorwort
Seit gut einem Jahrzehnt gibt es in Deutschland
mehr und mehr Bestrebungen, die Finanzierung
von Wissenschaft und Forschung auch über Spenden, Stiftungen und Zustiftungen zu sichern. Viele
dieser Versuche sind erfolgreich: angefangen bei
der vor gut einem Jahrzehnt angestoßenen Gründung von Stiftungsuniversitäten in Niedersachsen
über die durch eine substanzielle Zuwendung
gestützte Jacobs University in Bremen bis hin zu
der Anfang 2015 in die Trägerschaft einer Stiftung
überführte Universität Lübeck.
Anderen Hochschulen gelang es, durch groß angelegte Fundraising-Kampagnen Millionenbeträge
einzuwerben – oder in manchen Fällen auch Lehrstühle. Inzwischen ist die Gründung und Förderung von Stiftungslehrstühlen hierzulande durchaus gleichermaßen akzeptiert wie anerkannt.
Laut letzter Erhebungen arbeiten derzeit über
700 Stiftungsprofessorinnen und -professoren
an deutschen Hochschulen. Weniger als die Hälfte solcher Lehrstühle werden von Unternehmen
finanziert; der überwiegende Teil von Stiftungen
und Forschungsverbünden, aber auch von Verbänden oder Vereinen.
Mit der partiellen Aufhebung des „EndowmentVerbots“ für Stiftungen im Zuge des Gesetzes zur
Stärkung des Ehrenamtes erhielten erstmals in
Deutschland auch Stiftungen und andere zivilgesellschaftliche Institutionen die Gelegenheit, zum
Beispiel Stiftungslehrstühle mit eigener Kapitalausstattung an Universitäten zu etablieren. Die
VolkswagenStiftung war die erste Stiftung, die
diese Chance ergriffen und umgehend in ihr Förderkonzept für die seit 2002 laufenden und gut
etablierten Lichtenberg-Professuren integriert hat.
Das Beispiel „Endowed Professorships“ zeigt aber
auch, dass die Finanzierung der Hochschulen
nicht allein durch Stiftungen gesichert werden
kann. Nach wie vor bleibt die Grundfinanzierung
der Hochschulen eine öffentliche Aufgabe –
einerseits, möchte man nach gebotenem Zögern
hinzufügen. Denn andererseits sorgt selbst in der
vergleichsweise wohlhabenden Schweiz ein neues Finanzierungsmodell der Universität St. Gallen
für Furore: Die Hochschule akzeptiert bewusst
Kürzungen der staatlichen Förderung, um im
Gegenzug mehr Autonomie zu erhalten. So kann
sie zum Beispiel ihr Budget selbst festlegen und
Reserven bilden, um Schwankungen auszugleichen und den Mitteleinsatz strategisch und langfristig zu planen und auszurichten.
Das Beispiel zeigt: Nimmt der Staat sich aus seiner Verantwortung zurück, dann sollte er bereit
sein, den Hochschulen Freiräume zu gewähren.
Diese Räume lassen sich unter geeigneten Rahmenbedingungen mithilfe der Zivilgesellschaft
ausgestalten und füllen. Wie ein solches Engagement aussehen kann, enthüllt ein Blick in den
Norden Europas. In Norwegen werden nennenswerte Spenden von privaten Einrichtungen wie
etwa Stiftungen in Höhe von mehr als drei Millionen Norwegischen Kronen, rund 350.000 Euro,
um 25 Prozent von staatlicher Seite aufgestockt.
Ähnliche Anreize gibt es in Großbritannien. Und
in Finnland bietet die Regierung an, die aus der
Zivilgesellschaft für gemeinnützige Zwecke eingeworbenen Mittel sogar zu verdreifachen.
Wilhelm Krull,
Generalsekretär der
VolkswagenStiftung
Sicher ist: Die Gestaltungskraft der Zivilgesellschaft ist derzeit stark im Aufwind begriffen.
Insbesondere deshalb sollten es die entscheidenden Kräfte in diesem Land als wesentliche gesellschaftspolitische Aufgabe begreifen, die Kultur
des zivilgesellschaftlichen Engagements, des
Stiftens und Zustiftens voranzubringen. Hierfür
Ideen zu entwickeln, ist ein Anliegen der VolkswagenStiftung – denn auch auf solch mittelbare
Weise lassen sich Wissenschaft und Technik in
Forschung und Lehre substanziell fördern. Damit
gerade jene auf den ersten Blick überraschende,
vor allem aber sehr besondere Forschung Chancen auf Umsetzung hat, wie wir sie in diesem
Heft über „neue Sichtachsen und Zugänge in der
Wissenschaft“ vorstellen.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Ihr
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Mit dem Herzen bei
der Sache
Beeinflussen die eigenen
Gefühle während des
Forschungsprozesses
die Ergebnisse? Ethnologen, Psychologen und
Literaturwissenschaftler
beobachten sich bei ihrer
Arbeit gegenseitig, um
das herauszufinden.
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Heilen mit Stammzellen?
Er geht einen eigenen
Weg: Freigeist-Fellow
Dr. Volker Busskamp
will funktionsfähige
menschliche Nervenschaltkreise künstlich
herstellen. Ein junger
Forscher auf der Suche
nach therapeutischem
Potenzial für neurodegenerative Erkrankungen.
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Ungleiche Zwillinge
Sie sind Zwillinge und
doch grundverschieden:
Denn eines der Kinder
hat das Down-Syndrom,
das andere nicht. Was
bedeutet das für das
Aufwachsen der Zwillinge? Zu Besuch bei
zwei Familien in Mainz
und im Thüringischen.
Inhalt
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Was braucht ein Baum?
Wie entwickelt sich
das Ökosystem Wald
in Zeiten des Klimawandels? Forscher aus
Göttingen und Israel
entwickeln Szenarien
und Empfehlungen für
eine Waldbaustrategie
der Zukunft.
22
Mit dem Herzen bei
der Sache ...
… und vor allem mit
viel Gefühl. Ein bunt
gemixtes Forscherteam unterwegs mit
dem Ziel, am Ende
einer Reise durch
Indonesien die Wissenschaft ein bisschen
mehr über sich selbst
aufzuklären. – Über
den Einfluss von Emotionen beim Erkunden
des Fremden.
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Erinnerung, lass nach …
Viele Soldaten werden
durch Kriegserlebnisse
traumatisiert. Psychologen aus Konstanz
haben sich mit den
Posttraumatischen
Belastungsstörungen
von burundischen Soldaten der Somalia-Friedensmission befasst
und eine spezielle
Therapie entwickelt.
52
Ungleiche Zwillinge
Wie reagiert das unmittelbare Umfeld,
wie die Gesellschaft
auf Zwillinge, von
denen eines der Kinder
von Geburt an gesund
ist, das andere krank?
Ergebnisse einer einzigartigen Studie über
ein nicht alltägliches
Familienleben.
Rubriken
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62
Heilen mit
Stammzellen?
Lassen sich funktionsfähige menschliche
Nervenschaltkreise
künstlich herstellen? Einer der ersten
Freigeist-Fellows hat
sich das zur Aufgabe
gemacht. Das HeftInterview. Mit Volker
Busskamp in Dresden.
Editorial: „Neue Sichtachsen und Zugänge“
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Kompakt: zum Schwerpunktthema
46
Spektrum: zur Wissenschaftsförderung
72
Forum Förderung: Auszeichnungen / Bewilligungen
78
92
Wissenschaft unter der
Lupe der Literatur
Gibt es eine neue Form
von Wissenschaftsliteratur und – findet
die sogar neue Käuferschichten? Und welches Bild von Wissenschaft wird in diesen
Büchern vermittelt?
Forscher und Autoren
suchen gemeinsam
nach Antworten.
Publikationen
96
Veranstaltungen
100
Die Stiftung im Netz / Die Stiftung intern
102
Vorgestellt!
103
Impressum / Die Stiftung in Kürze
Broschüre zur israelisch-niedersächsischen Wissenschaftskooperation
die israelisch-deutsche
Zusammenarbeit ist.
Die auf Deutsch und
Englisch erschienene
Broschüre kann angefordert werden bei
Birgit Rosengart (rosengart@volkswagenstifWir stiften Wissen
steht zum
A tung.de)
Foundationoder
of Knowledge
Download bereit unter
https://www.volkswagenstiftung.de/publikationen.html.
VolkswagenStiftung
Kastanienallee 35
30519 Hannover
Germany
Telefon/Phone: +49 (0) 511 8381-0
Telefax:
+49 (0) 511 8381-344
[email protected]
www.volkswagenstiftung.de
Gemeinsam forschen –
Verbindung stiften
Collaborative Research Projects
Connecting Israel and Germany
Gemeinsam forschen – Connecting Israel and Germany
beider Länder unterstützt – gleich auf
der nächsten Seite
starten wir das Heft
mit einem aktuellen
Beispiel aus der Fülle
geförderter Projekte.
Zum Jubiläum hat die
Stiftung eine Publikation herausgegeben, die
anhand ausgewählter
Forschungsvorhaben
zeigt, wie ertragreich
VolkswagenStiftung
2015 feiern Deutschland und Israel den
50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer
Beziehungen. Doch
bereits 1963 hatte die
VolkswagenStiftung
Mittel für israelische
Forschungseinrichtungen bewilligt und bald
darauf auch Kooperationen und Austausche
von Wissenschaftlern
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6
Text: Jo Schilling // Fotos: Daniel Pilar
Was braucht ein Baum?
Wie entwickelt sich das Ökosystem Wald in Zeiten
des Klimawandels? Forscher aus Göttingen und
Israel analysieren die Nährstoffsituation von Gehölzen am Beispiel von Rotbuchen und Palästinaeichen.
Ihr Ziel: Szenarien und Empfehlungen formulieren
für eine globale Waldbaustrategie der Zukunft.
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O
hne Phosphor kein Leben. Das Element
transportiert Energie und ist wesentlicher Baustein vieler Biomoleküle wie beispielsweise der
DNA, dem Träger der Erbinformation. In verschiedenen chemischen Verbindungen kommt es zum
Einsatz: Menschen und Tiere benötigen es, doch
vor allem für Pflanzen ist es essenzieller Nährstoff.
So nutzen Landwirte je nach Boden unterschiedliche Phosphat-Dünger – ohne ist es zumindest
heute noch nicht möglich, die weltweit acht Milliarden Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Und ohne Phosphor wäre eben einfach alles
weitgehend kahl: Es gäbe keinen Strauch, keinen
Busch, keinen Baum. Also auch – keinen Wald.
Ina Christin Meier steuert gerade direkt auf eine
mannshohe Wetterstation zu, die in einem fast
hundert Jahre alten Buchenwald in der Lüneburger Heide steht. Unter ihren Füßen raschelt
Laub; ab und an verirrt sich ein Sonnenstrahl
durch dichte Baumwipfel. Die Luft ist frisch, fast
ein wenig klamm, und es duftet nach feuchter
Erde, Pilzen und Sommer in dieser recht eigenen,
durch spezifische Vegetation geprägten Heidelandschaft in der norddeutschen Tiefebene. Die
Station steht in einem 30 mal 30 Meter großen
Terrain – eingezäunt, damit neugierige Waldbesucher die empfindlichen Messungen nicht
stören oder die Messstation gar mitnehmen. Elf
solcher Untersuchungsflächen haben Wissenschaftler in der Lüneburger Heide abgesteckt.
Für die Dauer des Forschungsprojekts bleiben
diese Waldstücke verschont von Kettensägen
und Harvestern, den riesigen Erntemaschinen
der Holzarbeiter.
Fortsetzung auf Seite 14 …
Phosphor ist ein Mangelelement in unseren Böden. „Für das
Pflanzenwachstum ist die unzureichende Versorgung mit
einem der Nährstoffe bereits ein wesentlicher begrenzender
Faktor“, sagt Doktorandin Julia Köhler von der Universität
Göttingen; hier mit Stechzylinder und Zuwachsmaßbändchen
unterwegs in einem Wald bei Unterlüß in Niedersachsen.
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Forschung, damit der Buchenwald künftig gut gedeiht: Julia Köhler und Heiko Eichner
gewinnen mithilfe von Stechzylindern Bodenproben aus elf in den Wäldern der norddeutschen Tiefebene gelegenen Untersuchungsflächen. Die Proben werden später im
Labor des Instituts für Pflanzenwissenschaften der Universität Göttingen hinsichtlich
der vorhandenen Nährstoffe und deren spezifischer Zusammensetzung analysiert.
Gefördert wird das binationale Vorhaben zur Versorgungssituation ausgewählter
Baumarten mit dem Nährstoff Phosphor in Zeiten sich verändernden Klimas („The
phosphorus nutrition of European beech and Palestine oak under a future warmer
and drier climate: experiments and transect studies“) unter dem Dach des Niedersächsischen Vorab im Rahmen der „Forschungskooperationen Niedersachsen – Israel“.
Impulse 02_2015 11
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In der Klimakammer des
Gewächshauses im Göttinger
Botanischen Garten laufen
Tests mit jungen Buchensämlingen. Die Wissenschaftlerinnen Julia Köhler und Dr. Ina
Christin Meier (links) variieren
in unzähligen Versuchsreihen
die Düngergaben und legen
die feinen, kleinen, oft kaum
sichtbaren Wurzeln frei, um
deren Wachstum zu überprüfen. Wie verändert sich dieses
abhängig von der Zusammensetzung der Nährstofflösung?
Ina Christin Meier ist Spezialistin für eine besondere
Technik: die Messung der
Wurzelexsudation. „Dazu
extrahiere ich Teile der Wurzeln sehr vorsichtig aus dem
Boden, reinige sie und lege
sie in eine sterile Küvette.“
Mindestens eine Woche lang
fängt sie so die Substanzen
auf, die die Wurzel normalerweise an den Boden abgibt
– und wartet immer wieder
gespannt auf die Ergebnisse
und darauf, was die Veränderungen an dieser oder jener
„Stellschraube“ bewirken.
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Forschen für eine nachhaltige Waldbaustrategie der Zukunft:
Blick in die Klimakammer des Göttinger Gewächshauses.
Ziel der kooperierenden Forscher ist es, am Ende
ihrer gemeinsamen Arbeit zumindest für einen
gewissen Zeithorizont belastbare Aussagen
treffen zu können über Entwicklungsszenarien
des Ökosystems Wald. Ihre Ergebnisse sollen
nicht weniger als die Grundlage bilden für einen
ersten Schritt zu einer Waldbaustrategie der
Zukunft, um die Gehölze auch in den nächsten
Jahrhunderten erhalten und nicht zuletzt nutzen
zu können – und das möglichst weltweit.
Wo also zeichnen sich Probleme ab? Im Gegensatz zu dem Pflanzennährstoff Stickstoff, der sich
im Boden aufgrund des unerschöpflichen Vorrats in der Atmosphäre unseres Planeten stets
wieder anreichert, gibt es für Phosphor kein
solch gasförmiges Ersatzlager. Er wird während
der Bodenbildung aus verwitterndem Gestein
freigesetzt. Durch sich zersetzendes Herbstlaub
und Totholz steht er den Bäumen in einem
geschlossenen Kreislauf zur Verfügung.
Fortsetzung von Seite 9 …
„Wir untersuchen, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Nährstoffversorgung der Bäume hat“, erklärt Ina Christin Meier und beginnt
mit lebhaften und greifbaren Erläuterungen, die
Dimension der Aufgabe fassbar zu machen.
„Innerhalb dieses komplexen Themenfeldes
konzentrieren wir uns auf die Versorgung der
Bäume mit Phosphor.“ Das „Wir“, das in fast jeder
ihrer Äußerungen zu hören ist, umfasst neben
der promovierten Ökologin vom Albrecht-vonHaller-Institut für Pflanzenwissenschaften der
Universität Göttingen vor allem Kolleginnen und
Kollegen aus Israel. Seit Jahren besteht eine gute,
enge Zusammenarbeit zwischen Forschern beider
Länder: in diesem Projekt mit Dr. Shimon Rachmilevitch vom Jacob-Blaustein-Institut für Wüstenforschung der Ben-Gurion-Universität der Negev.
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„Zunehmende Stickstoffanreicherung aus der
Atmosphäre und Bodenversauerung verringern
aber die Verfügbarkeit von Phosphor. Außerdem
wird mit dem Austrag von Biomasse durch die
regelmäßige Holzernte dem Wald permanent
Phosphor entzogen“, erklärt Meier grundlegende
Zusammenhänge. „Und durch steigende klimawandelbedingte Trockenheit verschärft sich das
Problem noch.“ Eine Kompensation ist zudem
nicht möglich: Selbst alle anderen erforderlichen,
im Übermaß vorhandenen Nährstoffe helfen
nicht, wenn ein einziger fehlt oder es an ihm mangelt. Die Folge: Die Wälder werden kümmern.
Nur: Worin besteht der direkte Zusammenhang
zwischen Trockenheit und Phosphormangel?
Die erste Folge des Wassermangels ist, dass die
Lebensbedingungen für die Bakterien im Boden
schlechter werden und damit die Mineralisation
von Laub und Totholz nachlässt – damit sinkt
die für die Bäume direkt verfügbare Menge an
Phosphor. Weniger Wasser im Boden bedeutet
auch, dass der Transport der Mineralstoffe im
Boden nachlässt. Da Phosphor zu den Wurzeln
hin diffundieren muss, heißt das ganz einfach:
Den Baum erreichen weniger Nährstoffe. Und die
Trockenheit wirkt sich unmittelbar auf die Baumwurzeln aus, auf deren Gewebestruktur und die
Fähigkeit, benötigte Substanzen aufzunehmen.
Zudem leben die Baumwurzeln in Symbiose
mit Mykorrhizapilzen, die viele Nährstoffe dem
Baum erst verfügbar machen. Und Pilze mögen
keine trockenen Böden. „Es gibt Hinweise, dass
die Phosphorkonzentrationen in Waldbäumen
jetzt schon immer ungünstiger werden, und es
deutet sich an, dass sie bei Trockenheit weiter
abnehmen. Steigende Temperaturen verstärken
den Effekt“, erläutert die Projektleiterin des deutschen Parts. Ina Christin Meier wird von Doktorandin Julia Köhler unterstützt, während in Israel
Postdoktorandin Dr. Inga Dirks und Masterstudentin Hila Gil das Team um Shimon Rachmilevitch vervollständigen.
Wenn man mit Blick auf die Waldentwicklung
forscht, ist es sinnvoll, Bäume zu untersuchen, die
den Wald prägen. „Die Palästinaeiche ist eine im
mediterranen Bereich weit verbreitete Baumart
und damit ein geeigneter Modellbaum für uns“,
sagt Rachmilevitch. Die in Deutschland vorherrschende Baumart ist die Rotbuche, die aus derselben Pflanzenfamilie wie die Palästinaeiche
stammt. Damit ist sie das geeignete Gegenstück
für den deutschen Teil der Untersuchungen.
An der Universität der Negev und in Göttingen
arbeiten die Forscher parallel. Sie untersuchen den
Einfluss der Trockenheit auf die Phosphorversorgung der Bäume auf zwei Ebenen: Die in Gewächshäusern und Klimakammern gut kontrollierbaren
Umweltbedingungen ermöglichen es ihnen, sich
ein belastbares, unter definierten Bedingungen
reproduzierbares Bild von der Phosphorversorgung
junger Bäume zu machen – einschließlich der Auswirkungen von Trockenheit und Stickstoff auf das
Wachstum. Der Praxistest, der Abgleich mit den
realen Bedingungen im natürlichen Ökosystem,
erfolgt dann entlang der über große Entfernungen
verteilten Baumbestände in der Lüneburger Heide
und der Negev.
Dr. Shimon Rachmilevitch und
Dr. Inga Dirks untersuchen
auf verschiedenen Flächen in
Israel, wie es um die Phosphorversorgung der Bäume, speziell
der Palästinaeiche, steht.
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Hier laufen die Fäden
des Projekts zusammen:
der Botanische Garten
und das Albrecht-vonHaller-Institut für Pflanzenwissenschaften der
Universität Göttingen.
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„In Israel haben wir ein sehr großes Niederschlagsgefälle. Der Niederschlagsgradient reicht von 860
Millimeter bis zu weniger als 400 Millimeter Regen
pro Jahr“, erklärt der israelische Forscher. „Diese
breite Spanne ermöglicht es uns, die langfristige
Anpassung der Baumbestände an unterschiedliche
Niederschlagsmengen zu untersuchen.“
Ina Christin Meier steht inzwischen vor dem
nächsten Baum und freut sich: Diesmal ist es
gut gegangen. Diesmal haben keine neugierigen
Wildschweine nachgesehen, was das da an den
Bäumen wohl ist – und nachgegraben. Probleme
im Forscheralltag. Probleme, von denen auch die
Kollegen in Israel nicht verschont bleiben.
Zurück zu Ina Christin Meier und den Rotbuchen,
zurück in das Waldstück bei Sellhorn in der Lüneburger Heide. Auch dort gibt es nicht überall
gleich viel Niederschlag. Sellhorn ist der feuchteste Standort. Hier fallen pro Jahr etwa 820
Millimeter Regen. Die trockenste Parzelle muss
mit maximal 540 Millimeter Wasser im Jahr auskommen. Um die Interaktion der Bäume mit dem
Boden zu untersuchen, extrahiert die Ökologin
die Wurzeln. Sie ist Spezialistin für eine besondere Technik: die Messung der Wurzelexsudation.
„Dazu extrahiere ich Teile der Wurzeln vorsichtig
aus dem Boden, reinige sie und lege sie in eine sterile Küvette.“ Mindestens eine Woche lang fängt
sie so die Substanzen auf, die die Wurzel normalerweise an den Boden abgibt, denn Symbiose ist
ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Auch der
Baum gibt – und zwar Zucker, Aminosäuren und
andere organische Moleküle. Sie fließen über die
Wurzeln an die Mykorrhizapilze zurück.
Wichtiger Bestandteil der Kooperation ist der
persönliche Austausch. Geplant ist, sich mindestens zwei Mal im Jahr zu besuchen, voneinander
Techniken zu lernen und die Projektstränge zu
verknüpfen. „Eine Schnittstelle werden beispielsweise die Experimente zur Phosphoraufnahme
in Göttingen sein“, sagt Shimon Rachmilevitch.
Für das zweite Jahr ist vorgesehen, am Göttinger
Labor für Radioisotope die Aufnahme von Phosphor direkt in jungen Bäumen zu untersuchen.
Dafür werden junge Palästinaeichen aus Israel
nach Göttingen verschickt. „Wir hoffen, Bäume
identifizieren zu können, die Strategien zur effizienten Phosphoraufnahme und -nutzung zeigen“,
benennt der Israeli das gemeinsame Ziel. „Bäume,
die Förster heute pflanzen, werden in den kommenden Jahrzehnten bereits veränderten Klimaund Umweltbedingungen ausgesetzt sein. Daher
müssen sie entsprechend angepasst sein, wenn
unsere Wälder langfristig Bestand haben sollen.“
Heftschwerpunkt
Neue Sichtachsen und Zugänge
Einmal die Perspektive wechseln und etwas von einer anderen Seite betrachten; einmal
versuchen, in ungewohnter Weise Sichtkontakt aufzunehmen: mit der Welt da drinnen
und da draußen, den Menschen, dem Leben. – Ein Heft über ungewöhnliche Projekte.
Inwieweit beeinflussen die Gefühle, die Wissenschaftler während ihrer Forschung etwa dem
Gegenstand ihres Interesses entgegenbringen oder
die sie im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess
erfahren, die Ergebnisse ihrer Arbeit und damit
auch deren Darstellung? Wie kann man Soldaten,
bevor sie in einen Krieg oder eine Friedensmission
ziehen, präventiv helfen, damit sie später möglichst
nicht unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden? Was bedeutet es für das Aufwachsen und Leben von Zwillingen und den Alltag ihrer
Familien, wenn eines der beiden Kinder krank ist
– in diesem Fall: ein Down-Syndrom hat?
Wenngleich jedes Forschungsvorhaben einzigartig
ist, so zeigen die einleitenden Fragen doch: Hier
erwartet den Betrachter Besonderes. Und nicht
nur die Themen und Fragen, die sich wie eingangs
skizziert bereits kräftig abbilden, sind besonders;
auch die Wege, die die Forscher gehen und gegangen sind, um sich dem Gegenstand ihres Interesses
zu nähern, sind im besten Sinne originell, kreativ,
spannend. Es bereitet Freude zu sehen und zu
lesen, wie der Erkenntnisprozess gestaltet wurde, wie die Wissenschaftler – und damit ist das
Schwerpunktthema dieses Heftes umrissen – neue
Sichtachsen geschaffen und Zugänge zu ihrem
Forschungsansinnen und -prozess gelegt haben.
Es handelt sich also um Vorhaben mit einem
besonderen Anspruch in der Sache – auf allen
Ebenen. Mit dem besonderen Anspruch in der
Sache korrespondiert der besondere Anspruch
an die Förderbedingungen: Die meisten der hier
aufgeblätterten Projekte hat die Stiftung im Zuge
ihres Angebots „Offen – für Außergewöhnliches“
unterstützt. Mit dieser Option öffnet sie außerhalb ihrer Förderinitiativen eine Tür für herausragende Projektideen, die im besten Wortsinne
risikoreich sind und innovativ; es geht um exzellente Forschungskonzepte, die zukunftsweisenden
Fragestellungen gelten und die Grenzen der Wissenschaft und dabei vor allem die des jeweiligen
Fachgebietes auszuloten vermögen.
Dr. Christian Jung ist –
seit deren erster Ausgabe im Jahr 2000 – verantwortlicher Redakteur
des Magazins „Impulse“
und in diesem Heft
Autor und Ko-Autor
mehrerer Beiträge.
Der letzte Punkt verdeutlicht, dass es ganz wesentlich darum gehen muss, im Zuge des Projekts
der Wissenschaft durch Zusammenführung oft
unterschiedlicher Fachrichtungen und methodischer Ansätze neue Perspektiven zu eröffnen – in
der Forschung, in der Lehre und nicht zuletzt im
Zusammenspiel von Wissenschaft, Praxis und
Öffentlichkeit. Die in diesem Heft vorgestellten
Vorhaben erfüllen jenen Anspruch, und sie füllen
das Label, das mit dem Schwerpunktthema gesetzt
ist, bestens mit Leben. Es überrascht folglich nicht,
dass sie im Begutachtungsprozess als „ohne Zweifel außergewöhnlich“ eingestuft wurden. Selbst
wer also unter den aktuellen Initiativen der Stiftung keine findet, der sich ein geplantes Vorhaben
zuordnen lässt, kann dennoch bei ihr an der richtigen Adresse sein. Insofern soll dieses Heft auch
Mut machen zu versuchen, die Hürden zu nehmen.
Bleibt noch, eine Lektüre ohne jegliche Hürden
zu wünschen – hingegen viel Vergnügen und
Erkenntnisgewinn. Das hofft: Ihr
Christian Jung
Impulse 02_2015 17
Kompakt
Nachrichten
zum Schwerpunktthema
„Neue Sichtachsen und Zugänge"
Das Spiel mit dem Selbst
Theater als Mittel der Therapie und der Pädagogik – Berufung für ein besonderes Thema:
Dilthey-Fellow Dr. Céline Kaiser ist seit Anfang 2015 Professorin für Medienkulturwissenschaft und szenische Forschung an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg.
Psychisch kranke
Menschen und andere
Patienten einbinden in
szenische Spielsituationen, die den Kern ihrer
inneren Welten berühren: Mit diesem Thema
beschäftigte sich Dr.
Céline Kaiser als DiltheyFellow intensiv. Für sie ist
das nicht nur ein nüchtern
wissenschaftliches Sujet
– immerhin wird das Rollenspiel bei der Therapie
kranker Menschen heutzutage gezielt eingesetzt.
Das ist noch nicht lange
so, wie die Erforschung
der Geschichte der Theatrotherapie gezeigt hat.
Diese Facette ihres mehrjährigen Engagements
an der Universität Bonn
erforderte ein intensives
Literatur- und Quellenstudium. Entsprechend
gefüllt mit zahlreichen
einschlägigen Abhandlungen sind Céline Kaisers
Schränke inzwischen, darunter viele Preziosen. Als
frisch berufene Professorin weitet sich ihr Interessenspektrum nun erneut.
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Ist Theater auch Therapie oder Therapie in irgendeiner Form immer auch Theater? Diese Frage haben
sich Mediziner, Psychiater, Philosophen und andere kluge Köpfe schon im späten 18. Jahrhundert
gestellt. Dr. Céline Kaiser hat in den vergangenen
gut sechs Jahren die Geschichte der Theatrotherapie intensiv erforscht und sich damit einen Namen
gemacht. Dabei interessierte die engagierte Wissenschaftlerin vor allem, wie szenische Mittel in
der Psychotherapie seit dem 18. Jahrhundert zum
Einsatz kamen. Für ihre Forschung beschäftigte
sie sich gleichermaßen mit Arbeiten von Literaturund Kulturwissenschaftlern, Medizinhistorikern
und praktisch tätigen Theaterpädagogen – ein fürwahr interdisziplinärer Ansatz.
Mit ihrem ungewöhnlichen Thema konnte sie nun
überzeugen: Anfang 2015 trat Céline Kaiser eine
Professur für „Medienkulturwissenschaft und szenische Forschung“ am Institut für Kunsttherapie
und Forschung der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg an. Damit vertritt sie die kulturhistorische Erforschung künstlerischer Therapieformen und erweitert das Lehrangebot im Bereich der
Theater- und Tanztherapie an der Hochschule. Die
vielseitig interessierte Wissenschaftlerin – sie hat
Germanistik, Philosophie und Medizingeschichte in
Bonn und Düsseldorf studiert und ist zudem ausgebildete Theaterpädagogin – wird in Ottersberg
an den Schnittstellen von Szene und Szenographie,
Subjekttheorie und Wissenschaftsgeschichte forschen und lehren. Die neue Stelle wurde durch die
VolkswagenStiftung ermöglicht im Rahmen einer
erweiterten Projektförderung für Dilthey-Fellows.
„Die wissenschaftliche Fundierung des Theaters
in sozialen Kontexten ist an deutschen Hochschulen bisher noch kaum etabliert, während gleichzeitig diverse mit der Hochschule kooperierende
Praxisinstitutionen im Bereich der medizinischen
Versorgung, Gesundheitsförderung oder Heilpädagogik zunehmend nach der Umsetzung und
Evaluierung theatraler Interventionen fragen“,
freut sich Rektor Professor Peer de Smit über seinen Neuzugang. Mit ihrem medienkulturwissenschaftlichen Profil und ihrem transdisziplinären
Begriff des Szenischen passe Céline Kaiser ideal
zur Ausrichtung der Hochschule. Sie bringe nicht
nur reichlich Know-how mit im Hinblick auf die
Entwicklung entsprechender Konzepte und Praxismodelle; ihr Wissen und ihre Fähigkeiten seien
darüber hinaus wertvoll auch für die Weiterentwicklung künstlerischer Therapien generell.
Professorin Céline Kaiser konstatiert stolz, dass
sie ihre zuvor eher unkonventionelle Forschung
nun institutionell verankern kann: „Entscheidend
war dabei auch das Dilthey-Fellowship, durch das
es mir gelungen ist, ein eigenständiges Profil mit
einem für eine wissenschaftliche Karriere durchaus ‚riskanten‘ Thema zu entwickeln“, führt sie
aus. Ebenso profitiere sie davon, dass sie das interdisziplinäre Forschungsfeld in den vergangenen
Jahren durch viele Gespräche mit Ärzten, Psychiatern, Praktikern und Künstlern auf- und ausbauen
und letztlich etablieren konnte und dabei auch die
Zeit gehabt habe, andere Formate zu entwickeln
und zu erproben.
Andrea Oechtering
Impulse 01_2015 19
Kompakt
Über die deutsche Romantik, Napoleons Kunstraube
und NS-Filmpropaganda für Berliner Museen ...
… und über neue Formen des Ausstellens, Informierens und Kuratierens in Museen: Die von
der Stiftung geförderten Berliner Museumsforscherinnen Bénédicte Savoy und Susan Kamel
schaffen neue Zugänge und reüssieren mit ihren zahlreichen Projekten und Publikationen.
Sie forschen in und für Museen
und lassen die Öffentlichkeit
lebhaft daran teilhaben: Die
Berliner Professorinnen Bénédicte
Savoy (links) und Susan Kamel.
Sie ist getrieben von Neugier und der Bereitschaft,
auch und gerade dort genauer hinzuschauen, wo
der Aktendeckel im Archiv alles andere verspricht
als eine kunst- und kulturhistorische Trouvaille.
Solche glücklichen und überraschenden Funde
aber sind es, die die Berliner Kunsthistorikerin Professorin Dr. Bénédicte Savoy von der Technischen
Universität Berlin immer wieder zutage fördert;
etwa bei ihrem hochgelobten, 2003 veröffentlichten zweibändigen Werk über Napoleons Kunstraube in Deutschland. Thema und Vorgehensweise
blieb und bleibt sie nahe. Fördermittel der VolkswagenStiftung in der Initiative „Opus magnum“
haben ihr seit dem Wintersemester 2013 vier reine
Forschungssemester beschert, die sie dem Projekt
„Paris als Hauptstadt der deutschen Romantik“
widmet. Das Buch ist bereits angekündigt.
Man darf gespannt sein. Schließlich steht Bénédicte Savoy wie kaum eine andere für das Thema
dieses Heftes, sucht immer wieder neue Sichtachsen und Zugänge zu ihren Sujets und überrascht
mit Funden und Erkenntnissen. Das gelang ihr
gerade erst wieder durch ein weiteres Buch: „Vom
Faustkeil zur Handgranate. Filmpropaganda für
20
die Berliner Museen 1934-1939“, das sie im Februar
2015 im Berliner Zeughauskino vorstellte. Darin
seziert sie die Filmpropaganda der NS-Zeit insbesondere für die auf der Museumsinsel gelegenen
Bildungstempel. Savoy ist es gelungen, zum Teil
völlig disparate Einzelfunde miteinander zu verknüpfen. So kommt sie zu einer generellen Darlegung der Museumsfilme dieser Zeit.
Übrigens: Noch in ein weiteres erfolgreiches
Projekt war Bénédicte Savoy zentral eingebunden: das „Experimentierfeld Museum“ (siehe
Impulse 1_2015, S. 66f., und Impulse 1_2014, S. 80ff.).
„Museen sind die Tempel der Realität. In ihren
Sammlungen wird die Würde der wirklichen, dreidimensionalen Gegenstände gegen die Flut der
digitalisierenden Bilder verteidigt“, sagt die Kunsthistorikerin. Geleitet wurde das Projekt von Dr.
Susan Kamel. Sie hat zwischenzeitlich zum Sommersemester 2015 die Professur für Sammeln und
Ausstellen in Theorie und Praxis an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin angetreten.
Berlin darf sich wohl freuen über Forschungsideen
von Museumswissenschaftlerinnen, die neue
Sichtachsen legen und andere Zugänge anbieten.
Das GPS stets mit dabei: Nomaden in Zentralasien
künftig auch unterwegs im Dienst der Wissenschaft
Einblicke in unbekanntes Terrain: Ein Forscherteam aus Münster untersucht die traditionellen
Wanderrouten der Hirten in der Mongolei und Kirgisistan und fragt: Verändern sich diese aktuell
durch den Klimawandel? Jeweils 400 Familien in beiden Ländern mit Messgeräten ausgestattet.
Hirten unterwegs in der zentralen Mongolei – einige von
ihnen sind künftig ausgestattet
mit Messgerät und GPS.
Sollten Sie im kommenden Jahr die Mongolei
oder Kirgisistan bereisen und dort zufällig in der
Steppe einen einsamen Hirten treffen, den sie mit
einem GPS hantieren sehen, dann steckt vielleicht
die Stiftung dahinter. Oder, je nach Betrachtung,
ein Wissenschaftlerteam aus Münster. Denn das
hat Mitte Mai sowohl 400 Familien im Westen der
Mongolei – ein Gebiet etwa so groß wie die Bundesrepublik – als auch 400 Familien in Kirgisistan
entsprechend ausgestattet. Die Nomaden benötigen GPS-Geräte natürlich nicht, damit sie ihnen
den Weg für ihre Wanderungen weisen; sie sollen
aber die Wege, die sie einschlagen, aufzeichnen.
Nach einem Jahr werden die Geräte eingesammelt und die Daten ausgewertet.
Konkret wollen die Münsteraner Forscher erfassen, welche Wege die Nomaden normalerweise
nehmen und inwieweit sich diese bei extremen
Klimaschwankungen ändern. Öfter als früher
erlebt die Region sogenannte Klimaschocks,
fallen die Temperaturen dort in kurzer Zeit auf
minus 40 Grad. „Die Folgen für die Nomaden sind
katastrophal“, sagt Thomas Bartoschek von der
Universität Münster. Von der Herde eines Noma-
den können dann binnen Kurzem drei Viertel der
Tiere erfrieren oder verhungern. In solchen Phasen
ändern die Nomaden ihre althergebrachten Wanderrouten. Weichen sie zum Beispiel – und das
könnte indirekt Hinweise auf regionale Klimaänderungen geben beziehungsweise auf stärkere
Schwankungen als früher – weitaus häufiger als
zuvor von den angestammten Strecken ab?
„Wir wissen, wer zu welcher Familie gehört, wer
wie ausgebildet ist, wer wie viel Vieh im Frühjahr
besaß und jetzt noch besitzt – aber wir wissen
nicht, wie oft sie umziehen, wie weit und wohin
sie ziehen“, sagt Kati Krähnert vom Deutschen
Institut für Wirtschaftsforschung. Nomaden in
der Mongolei sind keine Freunde von Landkarten.
Sie rechnen Entfernung nicht in Kilometern, orientieren sich hingegen an Bergen, Tälern, Bäumen
und erfassen darüber Distanzen. Sie haben ein
anderes – überlebensentscheidendes – Detailverständnis von Geografie, das sich zudem nicht in
Zahlen packen lässt. Das macht es für die Wissenschaftler unmöglich, selbst die genauen Routen zu
recherchieren. Mit dem neuen Ansatz hoffen sie
nun, dass das gelingt.
Impulse 02_2015 21
22
Schwerpunktthema
Neue Sichtachsen und Zugänge
Mit dem Herzen
bei der Sache
Wirken die eigenen Gefühle im
Prozess des Forschens auf diesen
zurück und – beeinflusst das die
Ergebnisse? Diese Fragen sucht
ein Team aus Ethnologen, Psychologen und Literaturwissenschaftlern aus Berlin und Bern während
eines Aufenthalts in Indonesien
zu beantworten. Ihr Ziel: die Wissenschaft ein bisschen mehr über
sich selbst aufzuklären. Am Ende
könnte dann ein neues, angemesseneres Verständnis davon
stehen, was Objektivität in der
Forschung eigentlich bedeutet.
Der Schweizer Literaturwissenschaftler Professor Dr. Oliver Lubrich
trifft im Camp Leakey auf der indonesischen Insel Java einen OrangUtan. Die Fragezeichen im Gesicht des Forschers sind unübersehbar.
Das Interesse des Affen hingegen scheint zunächst gebremst.
Impulse 02_2015 23
Text: Isabel Fannrich und Christian Jung (Mitarbeit) // Fotos: Muhammad Fadli
W
enn acht Wissenschaftler und sieben
Mann Besatzung auf der Insel Java vier Tage lang
in einem kleinen Boot im Regenwald Indonesiens
unterwegs sind, kann das für den einen Entspannung bedeuten, für den anderen Stress. Zumal
dann, wenn diese Forscher ganz unterschiedliche fachliche Expertise mitbringen. Welche
Emotionen das Erkunden einer fremden Kultur
oder anderen Art auslöst, erlebten die Teilnehmer aus Deutschland und der Schweiz nicht nur
einmal. „Mit dem Trip durch den Urwald wollte
ich zeigen, welches Wechselbad der Gefühle
man durchlebt, wenn man tagelang als FreilandAffenforscher unterwegs ist, um den Tieren zu
begegnen, und allmählich die Hoffnung schwindet; man letztlich womöglich sogar vergebens
losgezogen ist“, erzählt Dr. Katja Liebal, Juniorprofessorin für Evolutionäre Psychologie an der
Freien Universität Berlin.
Der Ethnologe und
Anthropologe Thomas
Stodulka schreibt regelmäßig in sein EmotionsTagebuch an Bord des
Schiffes, das dem Team
eine Woche lang während des Aufenthalts in
Indonesien zur Verfügung
stand. Das Holzboot diente gleichsam als Basisstation für die Forschungsaktivitäten in dieser Zeit.
24
Der Plan der Affenforscherin ging auf: Das Kaleidoskop an Reaktionen und Empfindungen, das
sie bei den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beobachtete, habe von Euphorie über
Hoffnung, Erschöpfung, Frustration bis letztlich
zu tiefer Enttäuschung gereicht. Denn nach
kräftezehrender Bootsfahrt und den Anstrengungen einer sich anschließenden 16 Kilometer
langen Wanderung durch den Regenwald war
die Ernüchterung jedes Einzelnen in der Gruppe
groß, nachdem es zu keiner einzigen Begegnung
mit einem Orang-Utan gekommen war.
Schauplatzwechsel: Eine Bambushütte am Strand
von Java. Hier landen diejenigen, die von der
indonesischen Gesellschaft „ausgespuckt“ werden: Kinder und Jugendliche, die von zu Hause
weggelaufen sind und die Abstand brauchen
von ihrem anstrengenden Leben auf den Straßen
von Yogyakarta. Die lebendige Stadt ist einer der
touristischen Anziehungspunkte auf der bevölkerungsreichsten indonesischen Insel. Der Ethnologe Dr. Thomas Stodulka war hier in den vergangenen Jahren immer wieder, um zu forschen, zu
arbeiten, zu leben. Seine erste Emotion, erinnert
er sich an jene Zeit vor rund 15 Jahren, als er dort
seine Magisterarbeit schrieb, sei damals Überraschung gewesen. Die Jugendlichen hätten so
gar nicht dem Bild entsprochen, das man als
Europäer von Straßenkindern und Obdachlosen
hat. Sie seien stets höflich gewesen, freundlich
und interessiert, hätten ihm Tee und Süßigkeiten
angeboten, wo immer er aufgetaucht sei.
Thomas Stodulka und Katja Liebal haben als
Feldforscher an sich selbst erfahren, wie das ist,
wenn man plötzlich im Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens heftige Gefühle durchlebt, sich
dieser gewahr wird. Trotzdem gibt es – und das
überrascht eigentlich – bisher kaum Erhebungen
darüber, welche Emotionen Wissenschaftler bei
ihrer Arbeit entwickeln und, entscheidender noch,
wie sich diese auf den Prozess des Forschens und
damit womöglich auf die Erkenntnisse auswirken,
die ja auch veröffentlicht werden. „Vielleicht liegt
das einfach daran, dass Wissenschaftlern über
Generationen hinweg beigebracht wurde, sie
müssten ihre Gefühle bei der Forschung außen
vor lassen!“, sagt Stodulka, der aktuell in das
Berliner Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ eingebunden ist. Doch zumindest in manchen Fächern lasse sich der Einfluss, den solche
Gefühle wie die beschriebenen haben, nicht
mehr leugnen.
Und so wuchs bei dem Ethnologen, der auch heute noch das Leben chronisch kranker Jugendlicher
auf den Straßen Yogyakartas erforscht, und der
Primatologin, die immer wieder eine Auffangstation für Orang-Utans in Kalimantan besucht,
im Laufe ihrer längeren Auslandsreisen die Idee,
diese begleitenden Emotionen einmal selbst zum
Forschungsthema zu machen. Wenn Thomas
Stodulka zurückdenkt, dann nimmt er die heftigen, zum Teil widersprüchlichen Gefühle wahr,
die immer wieder in ihm hochsteigen: Bewunderung für die Art, wie sich die Jugendlichen ohne
Geld und Unterkunft durchschlagen, und Ärger
über die Gesellschaft, die es ihnen so schwer
macht. Anziehung und Abstoßung, Euphorie und
Erschöpfung. Einige der Jungen und Mädchen
begleitete er beim Sterben im Krankenhaus. „Von
25 Jugendlichen, mit denen ich vor vielen Jahren
zusammengearbeitet habe, leben noch acht“,
erzählt er. „Ich habe sehr viele emotionale Ausschläge nach oben und unten erlebt.“
Oliver Lubrich bespricht
mit Katja Liebal die
ersten Affensichtungen.
Fünf Tage lang war eine
rund 20-köpfige Grup-
Ob am Schreibtisch, im Labor, im Feld: Überall in
der Forschung kommen Emotionen zum Tragen
„Objektivität und Emotion wurden in der Wissenschaft lange Zeit als Gegensätze gesehen.
Das wollen wir infrage stellen“, sagen Stodulka
und Liebal. In Dr. Oliver Lubrich, Professor für
Komparatistik und Neuere deutsche Literatur an
der Universität Bern, haben sie einen wichtigen
Mitstreiter gefunden. Gemeinsam rückt das Forschertrio mit seinen jeweiligen Arbeitsgruppen
nun die Gefühle in den Blickpunkt, die sonst aus
Forschungsprozessen ausgeblendet werden. Ziel
des Projekts „Die Affekte der Forscher“ ist es, diese
für die Wissenschaft und deren eigene Verständnisprozesse greif- und nutzbar zu machen. Die
VolkswagenStiftung fördert das auf fünf Jahre
angelegte Vorhaben, in dessen Rahmen sich auch
ein halbes Dutzend Nachwuchswissenschaftler
interdisziplinär weiterqualifiziert und das kurz
vor seinem Abschluss steht, in der Reihe „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“
mit 750.000 Euro.
pe im Tanjung Puting
National Park unterwegs, um Orang-Utans
in ihrer natürlichen
Umgebung zu beobachten. Im Herbst dieses
Jahres treffen sich alle
Beteiligten des Projekts
zur Nachbetrachtung
in Berlin. Dann werden
auch die EmotionsTagebücher einer
Analyse unterzogen.
Impulse 02_2015 25
Bislang sei es in den meisten wissenschaftlichen
Disziplinen üblich gewesen, Emotionen wie die
geschilderten bei der Feldforschung und in der
wissenschaftlichen Arbeit beiseitezuschieben,
sagt der Literaturwissenschaftler Lubrich. Das
verwundere doch sehr, denn: „Ob am Schreibtisch,
im Labor oder bei der Feldforschung – überall
spielen Emotionen eigentlich eine Rolle.“ Schließlich stehe ja am Anfang jeder Forschung ein ganz
starkes Gefühl: die Neugier. „Allein die Frage,
warum ich überhaupt Interesse an bestimmten
Themen habe und an anderen nicht – schon das
ist ja zum Teil emotional, psychologisch motiviert.“ Zudem beeinflussen die Gefühle nicht nur
den Forschungsgegenstand und womöglich die
Darlegung der wissenschaftlichen Erkenntnisse,
sondern möglicherweise bereits vorab Entscheidungen, die mit Blick auf die Methodik getroffen
werden, oder gar das ganze Forschungsdesign. „All
das blieb bisher weitgehend ausgeblendet und
wurde in der wissenschaftlichen Dokumentation
nicht systematisch und überindividuell thematisiert“, fasst der Forscher zusammen.
Oliver Lubrich beschäftigt sich schon seit Längerem mit den Emotionen von Forschenden und hat
vor dieser Folie unter anderem Texte von Virginia
Woolf, Samuel Beckett und Max Frisch betrachtet,
die das nationalsozialistische Deutschland bereisten. Besonders interessiert ihn die Reiseliteratur
26
Alexander von Humboldts. „Es gibt im Bericht seiner amerikanischen Reise eine sehr schöne Szene,
die Landung in Havanna“, nennt er ein Beispiel.
Dort schreibt der Naturforscher, dass der Anblick
von Havanna bei der Einfahrt in den Hafen
einer der heitersten und malerischsten sei, derer
man sich an den Küsten Amerikas nördlich des
Äquators erfreuen kann. – Eine Seite später liest
man dann das genaue Gegenteil. „Warum diese
180-Grad-Wende?“, fragt Lubrich – und antwortet
gleich selbst: „Weil Humboldt beim Rundgang
durch Havanna beobachtet, wie Sklaven verkauft
werden. In diesem Moment findet ein Übergang
von Euphorie, von ästhetischer Exaltation statt
zu empfundenem Ekel und politisch motivierter,
emotionaler Ablehnung.“
An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr sich
der Blick auf den Gegenstand unmittelbar im
Prozess des Forschens ändern kann, wenn sich die
Gefühle wandeln. Etwas Ähnliches könne natürlich auch passieren, wenn der Forscher später
seine Berichte studiert und bewertet, konkretisiert
der Berner Linguist. „Inwiefern lese ich einen Text
anders, wenn ich ihn zum wiederholten Mal lese –
unbewusst in Erwartung bestimmter Phasen des
ästhetischen Genusses oder mit einer bestimmten
Haltung etwa der moralischen Entrüstung? Grundiert oder steuert all das nicht vielleicht sogar die
literaturwissenschaftliche Interpretation?“
Da oben sind sie, die Affen. Endlich, nach Tagen des Unterwegsseins und zur Freude der Forschungsreisenden. Einige wie (von
links) Mira Shah, Samia Dinkelaker und Fermin Suter sind auf
dem Boot geblieben und schreiben beim Dahintuckern durch den
Tanjung Puting National Park in ihren Tagebüchern, in denen sie
Beobachtungen, Eindrücke und ihre Stimmungslage erfassen.
Später werden die Schriften von anderen Forschern analysiert.
Zurück zu Forschungsgegenstand und -region
unseres Trios. „In den involvierten Disziplinen
Ethnologie, Primatologie und auch meiner eigenen wird die Funktion, die Affekten zukommt,
allzu sehr ausgeblendet“, stellt Lubrich fest. „Dabei
ist es doch naheliegend, dass die Emotionen des
Wissenschaftlers gerade in der Feldforschung, bei
der Betrachtung einer anderen Kultur oder Art
eine vermutlich sogar wesentliche Rolle spielen.“
Der individuelle Blickwinkel sei entscheidend: So
könnten Forschungsberichte jeweils ganz anders
aussehen in Abhängigkeit davon, ob man den
Affen zum Beispiel mit einer durchweg sentimentalen Haltung begegne oder ihre aus unserer
Menschensicht gewalttätigen Handlungen in den
Vordergrund rücke.
Gerade weil Primaten dem Menschen so ähnlich
sind, fließen in die Analysen ihres Verhaltens oft
menschliche Gefühle ein, die zudem bei Männern
und Frauen teils unterschiedlich sind. So beschreiben Wissenschaftlerinnen die Affen vielfach wie
Kinder, die weitgehend unverdorben ihren Impulsen folgen. Männliche Affenforscher hingegen
charakterisieren sie oft als Individuen, die Gewalt
ausüben, vergewaltigen, foltern und verstümmeln. Ist es da nicht sogar zu erwarten, dass die
Gefühle das Forschungsergebnis schon teilweise
vorwegnehmen, ohne dass die Wissenschaftler es
überhaupt merken?
„Und wenn eine so bekannte Affenforscherin wie
Biruté Galdikas sich für den Schutz von OrangUtans einsetzt und an ihrem Engagement zu
scheitern droht, fließt dann solch eine emotionale
Erfahrung, diese gefühlte, intensiv empfundene
Belastung in ihre wissenschaftlichen Texte ein?“,
schiebt Lubrich ein anders gelagertes Beispiel nach.
Neues Werkzeug für die Forscher: das EmotionsTagebuch zur Dokumentation eigener Gefühle
Die Ansätze, die das Forschertrio verfolgt, sind
eng verwoben. Sie kombinieren Methoden aus
den beteiligten Disziplinen auf jeweils eigene
Art. Dabei sollen die Emotionen der Ethnologen
und Affenforscher im Feld zum einen durch
Selbstbeobachtung der Beteiligten, aber auch
durch Erhebungen und Betrachtungen vonseiten
der anderen – unter denen gerade den Literaturwissenschaftlern qua Profession ein ganz anderer Blickwinkel allein auf die Forschung als solche zu eigen sein dürfte – empirisch-quantitativ
erfasst und in deren (wissenschaftlichen Nieder-)
Schriften analysiert werden.
„Die Forscher, die ins Feld gehen, erhalten zum Beispiel sogenannte Emotions-Tagebücher, in denen
sie ihre Gefühle dokumentieren sollen: nicht nur
im Feld, sondern auch bevor sie ins Feld fahren
Impulse 02_2015 27
und nachdem sie wiedergekommen sind“, sagt
Liebal. Später wollen sie diese Tagebücher mit den
beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auswerten, um zu erkennen, ob und wie
deren Gefühle ihre Fragestellungen und Beobachtungen vielleicht beeinflusst haben. Katja Liebal
ist sich sicher, dass es solche Einflüsse gibt – schon
aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen bei der Beobachtung von Affen.
Stodulka, Liebal und Lubrich bezeichnen das „Emotions-Tagebuch“, das sie gemeinsam konzipiert
haben, als „wichtigen Meilenstein“. Das neue Werkzeug, das die Projektgruppe während ihrer Indonesienreise im Frühjahr 2015 ausgiebig testete, soll
die emotionalen Erfahrungen von Feldforschern
sowohl quantitativ und qualitativ dokumentieren,
vergleichbar und erforschbar machen als auch zu
den im Feld erhobenen Daten in Bezug setzen. Mit
diesem Hilfsmittel könnten künftig zudem nicht
nur Forscher, sondern auch Reiseschriftsteller, Entwicklungshelfer oder Journalisten vor Ort festhalten, welche Gefühle sie oder ihn in welcher Weise
gerade im Schaffensprozess beschäftigen und was
sie bei der Arbeit bestärkt oder hindert.
Auch in der Habilitationsarbeit von Thomas
Stodulka spielt das Emotions-Tagebuch eine zentrale Rolle. Der Wissenschaftler nimmt die Gefühle anderer Forscherinnen und Forscher unter die
Lupe und steht dafür mit vierzig Ethnologen und
Primatologen auf der ganzen Welt in Kontakt.
Egal ob jemand in Moskau über Organhandel
forscht, in Paris und Mali über charismatische
religiöse Führer oder in Osttimor über die Aufarbeitung der gewalttätigen Vergangenheit – alle
nutzen das Tagebuch zur regelmäßigen Selbstbeobachtung und -reflexion. Das Interesse sei groß,
freut sich der Berliner Ethnologe: „Viele Feldforscher sind begeistert, dass sich endlich jemand
wissenschaftlich mit der Emotionalität in fremden Kontexten beschäftigt. Denn wenn ich diesen
Teil von mir, der eine Rolle spielt in der Interaktion mit dem Forschungsgegenstand, ausblende,
dann fehlt da was.“
Auch die ins Projekt integrierten Doktorandinnen
und Doktoranden arbeiten mit dem EmotionsTagebuch: Samia Dinkelaker folgt indonesischen
Arbeitsmigrantinnen auf ihrem Weg nach Hongkong. Sie hat das sechswöchige Training einer
Katja Liebal (links) spricht
gerade mit der Biologin Julia
Keil über ihre Arbeit mit Affen
und erläutert typische Verhaltensweisen und Aktionsmuster
der Primaten. Doch vor allem
teilen beide den Zauber vieler
Begegnungen mit den Tieren,
die derweil oben über den
Köpfen der Forscherinnen in
den Baumkronen turnen und
durchs Blätterdach springen.
28
„Schlängelnder Pfad ins Landesinnere“: Auch die Wege des
Urwalds bedürfen zu Land und zu Wasser erläuternder Hinweise. Fermin Suter ist Ph.D.-Student; sein Interesse gilt der
Reiseliteratur über Indonesien und Feldforschungstagebüchern.
Firma besucht, die Haushaltshilfen rekrutiert
– und analysiert über das Tagebuch ihre Gefühle
zu diesem Betrieb, der die Frauen wie Untergebene behandelt. Ihr Kollege Ferdiansyah Thajib
untersucht das Spannungsverhältnis zwischen
Homosexualität, Islam und Emotionen in der indonesischen Gesellschaft. Ein Jahr lang haben beide
nahezu täglich das Emotions-Tagebuch geführt;
entstanden sind zwölf „einzigartige kleine Bücher“,
wie Stodulka sagt. Gemeinsam mit den Aufzeichnungen der Ethnologen bilden sie ein „einzigartiges“ Text-Corpus. Für den Herbst 2015 lädt er die
beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Evaluation nach Berlin ein.
Moderne Methoden der Textanalyse machen
verborgene Emotionen in Berichten sichtbar
Die interdisziplinäre Arbeit ist im Forschungsprojekt durch das Prinzip der Rotation zwangsläufig
sehr ausgeprägt. Jeder macht einmal alles, begibt
sich in das Arbeitsgebiet des jeweiligen Gegenübers und gewinnt dadurch einen Einblick – und:
ein Gefühl. Die Teilnehmer lernen, mit welchen
Methoden die anderen Disziplinen arbeiten, wie
deren Fragestellungen lauten und mit welchen
Problemen sie zu tun haben. Oliver Lubrich etwa
steuert vonseiten der Literaturwissenschaft eine
neue, komplementäre Betrachtungsweise bei: Wie
zum Beispiel Affekte in Texten erkannt und kenntlich gemacht werden können, illustrierte er gleich
zu Beginn des Forschungsprojekts in einem mehrtägigen Workshop, bei dem es um Methoden der
Textanalyse und die Rhetorik der Affekte ging.
veränderten Satzbaus auf Nervosität schließen?
Verändert sich die Handschrift oder häufen sich
bestimmte Satzzeichen? Die Affekte können sich
auch in den Wörtern selbst verstecken. Der Computer hilft bei der Kenntlichmachung und markiert Textteile farbig oder übersetzt sie in Zahlen.
Seinen Kollegen aus den empirisch arbeitenden
Wissenschaften führte er vor, wie man mithilfe von zwei Dutzend philologischer Methoden
Reiseliteratur und Aufzeichnungen von Feldforschern zerlegt, um affektive Dynamiken sichtbar
zu machen. „Diese sind den Verfassern selbst
vielleicht gar nicht bewusst“, erläutert Lubrich. Er
prüft etwa, ob ein Autor bestimmte Sprachbilder
verwendet, die zum Beispiel Furcht andeuten.
Verändert sich der Sprachrhythmus bei der Begegnung mit einem Affen? Lässt sich aufgrund eines
Die Textanalyse zeigt, ob es Muster im zeitlichen
Ablauf der Emotionen gibt. „Diese Frage wurde
in den Literaturwissenschaften bislang nicht
untersucht“, sagt Oliver Lubrich. „Aber wenn man
fünfzig Texte auf solche Weise vergleicht, lassen
sich vielleicht Regelmäßigkeiten oder Entwicklungsprozesse in den Empfindungen der Forscher
beobachten.“ Nach den bislang gängigen Theorien des erlebten Kulturschocks folgen bei einem
Feldaufenthalt teils widerstreitende Gefühle
einander wie Anfangseuphorie, Ermüdung und
Impulse 02_2015 29
Katja Liebal brieft (von links) Mira Shah und Ferdiansyah Thajib
über deren Arbeit in dem Projekt und klärt über das neue Instrument „Emotions-Tagebuch“ auf. Die beiden jungen Nachwuchsforscher sollen während ihres Besuchs in der Aufzuchtstation
Camp Leakey Beobachtungen zum Verhalten der Affen erfassen.
Faszination, durchbrochen oder abgelöst von Langeweile, Fremdheitsekel, Rückkehrschmerz und
Abschiedsnostalgie. Thomas Stodulka hält die in
den Theorien formulierte Abfolge jedoch für nicht
hinreichend ausdifferenziert beziehungsweise
dem Einzelnen und der jeweiligen Forscher- und
Forschungssituation entsprechend: „Emotionale
Zustände sind viel kurzlebiger und viel individueller“, sagt er. „Sie sind auch nicht so ichzentriert
wie bislang angenommen, sondern extrem
abhängig vom Umfeld und von der Begegnung
mit anderen Menschen.“ Der Ethnologe möchte
den phasenhaften Ablauf von Gefühlen deshalb
mit einer detaillierteren Beschreibung verbinden.
Dazu beitragen soll das Emotions-Tagebuch – als
eine Art „Gefühlsthermometer“ im Feld.
Aufgeblättert an
einer x-beliebigen
Stelle: die EmotionsTagebücher von
Katja Liebal, Thomas
Stodulka und Samia
Dinkelaker (von links)
30
Den interdisziplinären Anspruch bekräftigen die
Arbeiten der beiden Doktoranden aus der Literaturwissenschaft und ihrer Kollegin aus der Evolutionären Psychologie, die ebenfalls in das Projekt
eingebunden sind. Sie analysieren Reisereportagen,
Feldtagebücher und Berichte der Affenforscher,
wollen die Bedeutung einzelner Gefühle entschlüsseln und Dramaturgien erkennen, die die
Emotionen von Forschern oder Reisenden während
eines Aufenthalts in der Fremde regelmäßig durchlaufen. Mira Shah untersucht die „Rhetorik der Primatologie“ daraufhin, wie der Affe literarisch und
kulturell konstruiert wird. Fermin Suter widmet
sich den „Emotionen des Reisens“ und wie diese in
den Reise- und Forschungstexten über Indonesien
inszeniert werden. Und Julia Keil analysiert das
Verhältnis von Tierforschern zu ihrem Gegenüber.
Weitere methodische Werkzeuge sind entstanden
oder in Planung: ein Interview-Leitfaden für Feldforscher, Ärzte, Kriegsreporter und Reiseschriftsteller; ein Handbuch, Trainings für angehende
Feldforscher, ein Dokumentarfilm. Auch für Experimente ist Platz. Katja Liebal und Oliver Lubrich
haben zwei Standardwerke unter die Lupe genommen: den Roman „King Kong“ von Delos W. Lovelace und den Feldforschungsbericht „Gorillas im
Nebel“ der Zoologin Dian Fossey. Beide beschreiben, wie eine westliche Frau in das Reservat der
Affen eindringt und eine emotionale Beziehung
zu ihnen aufbaut. Überraschenderweise habe sich
der wissenschaftliche Text als viel emotionaler
und sensationalistischer gezeigt als der Roman,
dieser wiederum wissenschaftlicher als erwartet,
sagen beide. „Wir lesen die Literatur wie Wissen-
schaft und die Wissenschaft wie Literatur und
kommen so zu neuen Ergebnissen“, fasst Lubrich
zusammen. „In den Naturwissenschaften geht
es immer um affektfreie Fakten“, bedauert Katja
Liebal. „Ich fand es außerordentlich befreiend, die
Texte nicht nur mit dem Blick darauf zu lesen, was
darin richtig oder falsch ist, sondern konzentriert
darauf, mit welchen Mitteln sie gestaltet sind.“
Die Wissenschaft über sich selbst aufklären: eine
Forschungslücke wird allmählich geschlossen
Auch die Reise nach Indonesien war für alle Beteiligten ein großes Experiment. In der Sultanstadt
Yogyakarta wurden die Doktoranden in einem
mehrtägigen Methodenworkshop durch die Ethnologen des Projekts auf ihre dreiwöchigen Studien vorbereitet. Auch einheimische Nachwuchsforscher profitierten davon. Danach unternahm
das Team eine Exkursion zu einer Auffangstation
für 350 Orang-Utans in Pasir Panjang auf der Insel
Borneo, in der Liebal seit 2007 das Verhalten dieser
Menschenaffen erforscht. Ziel war es, den Forscherkollegen die anspruchsvolle und schwierige
Arbeit zu zeigen, die von den Mitarbeitern dort
geleistet wird; was es heißt, Orang-Utan-Waisenkinder aufzuziehen und sie für die Auswilderung
vorzubereiten.
So manche Erfahrung, ob während der Feldforschung oder bei der Exkursion, falle in die Kategorie
„unerwartete emotional herausfordernde Situation“, sagt die Affenforscherin. Letztlich habe die
Reise alle darin bestätigt, wie komplex solch eine
Forschungssituation sei und wie viel kulturelle
Kompetenz man für Feldforschung in fremdem
Umfeld brauche. „Häufig beherrscht man eine
Sprache nicht, es fehlt das Wissen um die richtigen
Ansprechpartner vor Ort, und man ist verunsichert
durch kulturelle Unterschiede“, erzählt Liebal. Das
löse viele Emotionen aus, die neben die eigentliche
Forschung wie hier mit den Orang-Utans träten.
Die Doktorandin
Samia Dinkelaker
(rechts) wird von
Thomas Stodulka
interviewt. Er versucht
zu erfassen, was die
junge Wissenschaftlerin gefühlt hat beim
Aufeinandertreffen
mit Orang-Utans während des fünftägigen
Feldforschungsaufenthalts im Tanjung
Puting National Park.
Oliver Lubrich ist zuversichtlich, dass sich mit dem
Projekt eine Lücke schließen lässt: „Das Thema ist
gesellschaftlich relevant, weil es nicht nur um die
Wahrnehmung anderer Kulturen und Arten geht,
sondern indirekt auch um unsere eigene Identität.
Die Art und Weise, wie wir unsere nächsten Verwandten, die Affen, gerade emotional verstehen,
ist nicht zu trennen von unserem eigenen Selbstverständnis.“ Die Herausforderung bestehe nun im
Übertragungs- und Übersetzungsprozess, ergänzt
Thomas Stodulka: „Es geht darum, wissenschaftliche Daten über das Erleben, das Verhalten und
die Sprache unserer Forschungssubjekte auf der
Basis und unter Einbeziehung eigener emotionaler
Felderfahrungen besser zu interpretieren.“
Impulse 02_2015 31
Was macht uns zum Menschen, und was unterscheidet uns
vom Affen? Das große Thema der Professorin für Evolutionäre
Psychologie und Verhaltensforscherin Katja Liebal, in mehreren
Projekten von der VolkswagenStiftung bereits gefördert.
„Jeder von uns ist persönlich und wissenschaftlich
mit diesem Projekt an seine Grenzen gelangt“,
stellt Katja Liebal fest, „hat vieles an sich und seinem wissenschaftlichen Vorgehen plötzlich neu
betrachtet.“ Und das sei ja so beabsichtigt gewesen. „Da wir in einer großen Gruppe an Forschern
unterschiedlicher Disziplinen eng zusammengeschlossen miteinander reisten, waren wir ständig
gefordert und kamen schlicht nicht umhin, immer
Der Blick auf die eigene Art und die nächsten Verwandten
In den vergangenen Jahren war Professorin Katja
Liebal zentral in zwei weiteren von der Stiftung
geförderten interdisziplinären Verbundvorhaben
aktiv. Die Ergebnisse beider Projekte wurden
nicht nur in der wissenschaftlichen Community
stark beachtet, sondern fanden auch in der allgemeinen Wissenschaftsberichterstattung reichlich Widerhall.
Was macht uns Menschen zu Menschen?
Bereits in dem mit einer halben Million Euro
geförderten Projekt „The Evolutionary Roots of
Human Social Interaction“ (2008-2012) richtete
Katja Liebal gemeinsam mit Professorin Juliane
Kaminski und Dr. Daniel Haun, beide seinerzeit
am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, den Blick in überraschender
Weise auf die eigene Art und auf die nächsten
Verwandten. Das Trio begab sich auf die Suche
nach den Charakteristika menschlichen Sozialverhaltens. Welche Eigenschaften machen uns als
Mensch unverwechselbar? Wie haben sich diese
entwickelt? Und was unterscheidet uns von den
nächsten Art-Verwandten, den Menschenaffen?
Die Forscher verglichen die kommunikativen und
kognitiven Leistungen von vier Menschenaffenarten – Bonobos, Schimpansen, Gorillas und OrangUtans – mit denen von Menschen verschiedener
Altersstufen und Kulturen. Für die Studien zum
Artvergleich arbeitete das Trio mit 16 deutschen
und europäischen Zoos sowie mit der Aufzucht-
32
station für Orang-Utans auf Borneo in Indonesien
(siehe Haupttext) zusammen, profitierte andererseits bei der Suche nach Probanden direkt von
bestehenden Kooperationen des Leipziger MPIs
mit einem Leipziger Kindergartennetzwerk und
dem Leipziger Zoo.
„Die Art und Weise, wie Menschen miteinander
interagieren und kommunizieren, ist einzigartig
in der Tierwelt“, weiß Katja Liebal. Was den Menschen aus Sicht des Forschertrios insbesondere
auszeichne, sei seine Fähigkeit, sich in andere
hineinzuversetzen und die Wahrnehmungen,
Wünsche und Annahmen anderer für die eigene Strategie zu nutzen. Daniel Haun überprüfte
vor diesem Hintergrund, ob sich Menschen
unterschiedlicher kultureller Prägung und Herkunft anders verhalten oder ob sie die gleichen
Strategien entwickeln. Dazu verglich er das Verhalten deutscher Kinder und Erwachsener mit
dem zweier traditioneller Kulturen in Asien und
Afrika: den Bewohnern eines Dorfes in WestSamoa und den #Akhoe Hai||om, einer Jäger- und
Sammlergemeinschaft in Namibia. Die beiden
Völker teilen zwar eine ähnliche Lebensweise,
sind jedoch unterschiedlich kulturell sozialisiert.
„In Samoa gilt es etwa als unhöflich, Annahmen
über mentale Zustände anderer zu treffen“, sagt
der Wissenschaftler.
Katja Liebals Spezialthema ist das Verhalten und
die Interaktion von Menschenaffen, vor allem
deren gestische Kommunikation. Sie testete, wie
die Perspektive des jeweils Anderen einzunehmen.“ Dass zum Beispiel manche Teilnehmer die
Bootsfahrt durch den Regenwald tatsächlich als
Stress empfinden würden, hätte sie nicht erwartet.
Als sie jedoch während der Rückfahrt Nasenaffen
auf einem Baum entdeckten, seien alle begeistert
zur Reling gerannt. „Da dachte ich: Habe ich sie
doch angesteckt mit meiner Begeisterung für die
Affen?“ Diese Begeisterung überträgt sich ohne
Zweifel in jedem Moment, den man die engagierte
Forscherin erlebt, mit jedem Gespräch. Dabei sind
es immer wieder auch die ganz großen Fragen,
die sie umtreiben: Was macht den Menschen zu
dem, was er ist? Wie sind wir so geworden? Welche
Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede bestehen
zwischen verschiedenen Kulturen – und was zeigt
uns denn nun der Blick auf unsere nächsten tierischen Verwandten, die Menschenaffen?
weitere Projekte
die Tiere in bestimmten Standardsituationen
kommunizieren. Wie verhält sich zum Beispiel
eine Gruppe Schimpansen, wenn man nur eine
einzige Nahrungsquelle anbietet? Gebrauchen
sie dabei Gesten? Wie bauen sich die Interaktionen auf? Dabei interessierte sie der Verlauf des
kommunikativen Akts insgesamt – wie sich die
Gruppenmitglieder etwa zueinander positionieren, welche Blickkontakte sie aufnehmen oder
ob ihre kommunikativen Strategien womöglich
abhängen von der Aufmerksamkeit, die ihnen ihr
Gegenüber gewährt.
Haun, Liebal und Kaminski fanden nun – grob
zusammengefasst – heraus, dass Kinder und
Schimpansen sich der Mehrheitsmeinung
anschließen, wenn sie etwas Neues lernen. Das
ist durchaus sinnvoll, denn die Gruppe verfügt
über Wissen, das einer Einzelperson nicht notwendigerweise bekannt ist. Aber geben sie, um
sich Gleichaltrigen anzupassen, auch eigene Vorlieben auf? Ergänzende Vergleichsstudien zwischen Menschenaffen und Kindern zeigten, dass
die Bereitschaft, eigene Vorlieben zugunsten
anderer aufzugeben, beim Menschen besonders
stark ausgeprägt ist – und zwar bereits bei Kleinkindern im Alter von zwei Jahren.
Spielerische Experimente insbesondere der Forschergruppe um Daniel Haun belegen, dass konkret in mehr als der Hälfte der Fälle sich die Kleinen
selbst dann konform verhielten, wenn ihre eigene
Strategie zuvor erfolgreich gewesen war. Den Menschenaffen dagegen schien es ziemlich egal, was
ihre Artgenossen so taten. Sie blieben meist bei
ihrem eigenen Vorgehen. Zudem passten Kinder
sich vor allem dann an, wenn andere ihnen zusahen. Trafen sie ihre Entscheidung allein, blieben sie
häufiger bei ihren Strategien, auch wenn sie andere
Kinder bei Alternativen beobachtet hatten. „Konformität spielt im menschlichen Sozialverhalten eine
zentrale Rolle“, sagt Haun. „Sie grenzt verschiedene
Gruppen voneinander ab und hilft ihnen dabei,
ihre Aktivitäten zu koordinieren." Damit fördert
und stabilisiert sie Gruppen – was gut sein kann,
aber natürlich auch Gefahren birgt.
Fortsetzung auf Seite 34 ...
Begegnung mit einem erwachsenen männlichen Orang-Utan in
der Aufzuchtstation im Tanjung-Puting-Nationalpark auf Java,
Indonesien: in freier Wildbahn inzwischen ein seltenes Ereignis.
Impulse 02_2015 33
Und Thomas Stodulka, der jahrelang in Indonesien mit auf der Straße lebenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zusammengearbeitet
hat, der Freundschaften schloss, der einige dieser
Freunde hat sterben sehen und oft wütend war
auf Ärzte, die jene in den Krankenhäusern aufgrund ihres Stigmas schlecht behandelten und
der sich heute bewusst macht, dass er nie versucht hat, zumindest auch einmal die Perspektive
der Ärzte einzunehmen und zu versuchen, diese
zu verstehen; der sagt: „Man wird in der wissenschaftlichen Arbeit fast dazu gezwungen, all
die Emotionalität, die da auch stattfindet, in der
Begegnung mit dem sogenannten Forschungsobjekt auszublenden. Doch das ist nicht nur nicht
möglich, sondern sie hat auch ihre Wirkung.“ Im
August wird die Forschergruppe bei einem Workshop eine erste Bilanz ihrer Erkenntnisse ziehen.
Laut sprechen, Mimik einsetzen, Gestikulieren:
alles integrierte Bestandteile von „Sprache“?
Wenn wir reden, kommunizieren wir relevante
Inhalte auch mit den Händen. Solche Gesten sind
ein integrierter Bestandteil von Sprache und unterliegen, so die überwiegende Meinung, ebenso wie
die Lautsprache bestimmten Regeln. Das Interesse
der Forscherinnen galt nun der Frage, ob Gesten
letztlich Vorläufer der Lautsprache sind oder sich
unabhängig davon entwickelt haben. Im Fokus
der Analyse standen dabei die redebegleitenden
Gesten. Mehr als zwanzig Wissenschaftler untersuchten in neun Teilprojekten vor allem, wie
Gesten aus Handbewegungen geschaffen werden,
wenn jemand spricht, und welche Formen und
Kombinationen von Gesten wir verwenden.
Wo fängt eine Geste an? Wo hört sie auf? Welche
Formen gibt es? Wie lassen sich Gesten kombinieren, und welche Bedeutungen haben sie? Was sind
die neurologischen Grundlagen von Gesten, und
welche Vorläufer haben sie in der Evolution? Und:
Wie hängen Gesten und Lautsprache zusammen?
In einem einzigartigen, von der Stiftung mit einer
Million Euro geförderten Projekt suchten vier Forscherinnen – die Linguistin Cornelia Müller, die
Neurologin Hedda Lausberg, die Semiotik-Expertin
Ellen Fricke und die Primatologin Katja Liebal –
zwischen 2006 und 2010 nach einer umfassenden
Beschreibung, vulgo einer „Grammatik der Gesten“.
In dem Projekt „Towards a grammar of gesture:
evolution, brain, and linguistic structures“ stellten
sie das traditionelle Konzept von Sprache infrage.
Welchen Regeln unterliegen Gesten, um allgemein verstanden zu
werden? Und wie hängen Gesten und Lautsprache zusammen?
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Gut hundert Stunden Videomaterial sichteten
die Forscher – Aufnahmen von Menschen in
Ratesendungen und Talkshows, von Gesprächen
zwischen Bekannten, in Vorlesungen und bei wissenschaftlichen Vorträgen oder auch in eher experimentellen Situationen. Jede identifizierte Geste
wurde anhand von vier Parametern beschrieben:
Handform, Orientierung der Hand, ausgeführte
Bewegung und Bewegungsrichtung sowie räumliche Position in Relation zum Körper. Das Ergebnis:
Sämtliche Gesten werden nach vier Prinzipien „hergestellt“: als agierende, modellierende, zeichnende
und repräsentierende Gesten. Agierende Gesten
ahmen Bewegungen nach und erinnern damit an
Verben. So wird das Wort „schreiben“ häufig mit
einer schreibenden Bewegung des Zeigefingers
begleitet. Modellierende und zeichnende Gesten
stellen dagegen Eigenschaften dar, vergleichbar
Endlich Zeit für das Wichtigste: Es ist schon dunkel, als
Katja Liebal Muße findet, die
Eindrücke der letzten Stunden
in ihr Emotions-Tagebuch zu
schreiben. Sie sitzt auf einem
ihrer Lieblingsplätze, einem
Holzsteg im Tanjung Puting
National Park. Gerade beginnt
erster Dunst aufzuziehen,
kurze Zeit später schon wird
sie von Nebel eingehüllt sein.
weitere Projekte
Adjektiven. Manchmal steht unsere Hand aber
auch direkt für ein Objekt, zum Beispiel für ein Blatt
Papier – eine repräsentierende Geste. Aus diesen
und anderen Hinweisen schließen die Forscherinnen, dass sie es bei Gesten mit Vorformen von
sprachlichen Strukturen zu tun haben. Für sie steht
fest: „Denken manifestiert sich nicht nur über die
Lautsprache, sondern auch im Gestikulieren.“
Die Neurologin Hedda Lausberg untersuchte die
kognitiven und emotionalen Prozesse, die bei der
Gestenproduktion im menschlichen Gehirn ablaufen. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie und der Nah-Infrarotspektroskopie
zeichnete sie die zerebralen Aktivierungsmuster
bei der Produktion von Gesten auf. Welche Hirnareale sind aktiv, wenn Menschen ein Objekt
gebrauchen, etwa einen Hammer? Die Ergebnisse
verglich sie mit der zerebralen Aktivierung bei der
gleichen Bewegung als pantomimische Geste.
Sie stellte fest: Bei denjenigen Personen, die den
Hammer verwendeten, wurden beide Hirnhälften aktiviert. Die pantomimische Handlung
aktivierte jedoch zusätzlich linkshemisphärische
Areale. Bei Patienten mit linkshemisphärischen
Hirnschädigungen beobachtete sie zudem, dass
diese bei der Ausführung pantomimischer Gesten
eingeschränkt waren. Sie folgerte: Pantomimische
Gesten erfordern im Vergleich zu Objektgebrauch
die zusätzliche Kompetenz, mit der Vorstellung des
Objektes zu agieren, das heißt, die Fähigkeit zur
Abstraktion. „Diese Fähigkeit ermöglicht es, Dinge
zu kommunizieren, die nicht physisch präsent sind,
etwa von einem Hammer zu sprechen, obwohl er
nicht da ist“, sagt Lausberg. „In der Evolution könnte der Erwerb dieser Kompetenz einen entscheidenden Schritt dargestellt haben in der Entwicklung
gestisch-sprachlicher Kommunikation.“
Eine Fähigkeit, die Affen zu fehlen scheint. Katja Liebal verbrachte mehr als 700 Stunden mit
der Kamera vor Zookäfigen und im Freiland und
beobachtete, wie sich Schimpansen, Orang-Utans
und Gibbons verständigen. Dabei entdeckte sie,
dass die Tiere ausschließlich agierende Gesten
benutzten, zum Beispiel um Futter zu erbetteln.
Zeichnende, modellierende oder repräsentierende Gesten fand sie dagegen nicht. Andererseits
deutet einiges darauf hin, dass Affen ihr Kommunikationssystem flexibel anpassen können. In
Gefangenschaft kommunizieren die Tiere eher
über Gesten als im Freiland, wo sie sich oft über
große Entfernungen verständigen müssen. Auch
variieren sie die Form einer Geste je nach Kontext.
Mehrere Grundlagenwerke runden das Projekt ab:
ein Field Guide von Cornelia Müller, der erstmals
eine systematische linguistisch-strukturelle Analyse von Gesten ermöglicht, eine linguistische
Dokumentation von ihr über Formen redebegleitender Gesten – sowie Ellen Frickes Buch „Grammatik multimodal“, das die theoretischen Grundlagen für eine Integration von Gesten in die lautsprachliche Grammatik formuliert.
Christian Jung
Impulse 02_2015 35
36
Schwerpunktthema
Neue Sichtachsen und Zugänge
Erinnerung,
lass nach …
Viele Soldaten werden durch
Kriegserlebnisse traumatisiert.
Die Folgen sind zum Teil dramatisch: Depressionen, Suizid,
aggressives Verhalten bis hin
zur Ausübung von Gewalt gegen
andere. Oft finden sich die Betroffenen nur schwer wieder im
Alltag zurecht. Psychologen der
Universität Konstanz haben sich
mit den Posttraumatischen Belastungsstörungen von Soldaten
der Somalia-Friedensmission
befasst und versuchen, mit einer
neuen Therapie zu helfen.
Ein ruhiges Fleckchen am Rande von Bujumbura, der Hauptstadt
Burundis, im Herzen Afrikas. Dort beschäftigen sich Traumaforscher mit den psychischen Belastungen von Soldaten nach deren
Rückkehr aus einem Kampfeinsatz. Hier interviewt der Psychologe Herve Mugisha (rechts) den Soldaten Zacharie Barikuririza.
Impulse 02_2015 37
Text: Mareike Knoke // Fotos: Kristy J. Carlson
F
ragt man Dr. Anselm Crombach danach, was
ihn antreibt und fasziniert an seinem Projekt, das
Forschung und Therapie miteinander verbindet,
dann sprudelt es aus ihm nur so heraus. Er berichtet zum Beispiel von einer Begegnung mit einem
burundischen Soldaten, der gerade von einem Einsatz der Friedensmission der Afrikanischen Union
in Somalia (AMISOM) in seinen Heimatort zurückgekehrt war. Crombach kannte ihn bereits von
einem früheren Treffen, hatte ihn seinerzeit nach
Gesprächen auch schon einmal therapeutisch behandelt. Nun erwartete den Mann nach traumatischen Erlebnissen im Kampf gegen die Al-ShabaabMilizen zu Hause ein weiteres Schockerlebnis:
Seine Frau hatte ihn während seiner Abwesenheit
verlassen und von einem anderen Mann ein Kind
bekommen. „Ich bringe die beiden und mich um“,
drohte der Soldat gegenüber Crombach.
„Es ist mir letztlich gelungen, ihn im therapeutischen Gespräch von seinem Plan abzubringen“,
sagt der Konstanzer Psychologe, dem anzumerken ist, wie sehr ihn das Erlebte bewegt. Mit
einer Situation wie dieser sieht sich der Wissenschaftler bei seiner Arbeit mit burundischen
Soldaten immer wieder konfrontiert. Oft schon
musste er feststellen, dass viele Kämpfer nach
ihren Einsätzen in Krisengebieten an Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) litten.
Depressionen, Gedanken an Selbsttötung, aber
auch an Rache sind keine Seltenheit.
Seit drei Jahren nun engagiert sich Crombach als
Teil eines sorgsam zusammengestellten Teams
aus etablierten Wissenschaftlern, Doktoranden
und Studierenden der Universität Konstanz in
dem weltweit einzigartigen Projekt „Resilienzund Risikofaktoren für die Entwicklung von
Traumafolgestörungen durch Kriegseinsätze und
deren Zusammenhang zu appetitiver Aggression“. Ziel ist es, Abhängigkeiten von traumabedingtem Stress und Gewaltbereitschaft von
Soldaten infolge von Kampfeinsätzen zu entschlüsseln. Die Forscher haben dabei die einmalige Gelegenheit, Mitglieder der AMISOM-Friedensmission, allesamt burundische Soldaten, vor
und nach ihrem zwölfmonatigen Militäreinsatz
in Somalia zu befragen und zu betreuen.
38
Allein das zeigt schon: Es ist ein ganz außergewöhnliches Projekt, und so wird es von der VolkswagenStiftung seit Mitte 2012 auch für drei Jahre
mit 250.000 Euro unter dem Förderdach „Offen
– für Außergewöhnliches“ unterstützt. Die Messlatte, in diesem Rahmen Geld zu bekommen,
liegt sehr hoch: In der Regel sind es nur rund
eine Handvoll Vorhaben pro Jahr, denen das
gelingt. Diese Hürde zu nehmen, war jedoch kein
Problem für die Projektidee. Denn die Gutachter
waren von dem durchaus risikoreichen und in
seiner Durchführung alles andere als einfachen
Vorhaben äußerst beeindruckt: ob im Hinblick
auf die Konzeption, die Verbindung von Forschung und praktischem Nutzen oder auch angesichts einer realistischen Einschätzung dahingehend, was machbar ist. Sie lobten unisono schon
im Vorfeld „Innovationsgehalt, perspektivischen
Nutzen und Einzigartigkeit“ des Projekts.
Die richtige Therapie als Fernziel: Wie lässt sich
gewaltbereites Verhalten regulieren?
Erstmals hatten Psychologen nun mit substanzieller Unterstützung im Rücken die Chance, für
eine bestimmte Zeit Soldaten wissenschaftlichtherapeutisch zu begleiten, die zudem traumatisch bereits vorbelastet waren. Denn wie ein
Großteil der burundischen Bevölkerung hatten
sie erst wenige Jahre zuvor den langen, blutigen
Bürgerkrieg in ihrem Heimatland durchlitten.
Ein Ziel der gesamten Studie war es herauszufinden, ob passgenaue präventive Maßnahmen
vor dem Einsatz im Krisengebiet das Risiko einer
Traumafolgestörung mindern können. Auf der
Grundlage ausführlicher Interviews mit den Soldaten und – sofern erforderlich – ergänzenden
Therapiegesprächen ging es zudem darum zu
erfassen und zu begreifen, ob und inwieweit sich
die psychische Gesundheit eines Soldaten infolge
seines Kampfeinsatzes veränderte. Die eigentliche therapeutische Intervention, bei der die Soldaten zeitweilig auch Täter- und Opferrolle einnehmen, sollte dann zeigen, inwieweit Strategien
zur Aufarbeitung traumatischer Kriegserlebnisse
und anderer Gewalterfahrungen greifen.
Das Gespräch als zentrales
Instrument der Forschung.
Oben links: Die Psychologin
Alice Kanyambo lauscht aufmerksam den Erzählungen
von Mathias Nautinamangara, der als Soldat in Somalia
im Einsatz war. Oben rechts:
Die Psychologen Adeline
Nimubona und Simeon Hafashimana befragen den Soldaten Ezechiel Hakizimana
(rechts). Großes Foto: der
ebenfalls ins Projekt eingebundene Militärpsychologe
Eric Rambete in einer Supervisionsrunde mit Fachkollegin
Cynthia Nishimve. Zweite
Reihe von unten, links: Der
Psychologe Thierry Ndayikengurukiye versucht, dem
Soldaten Jean Bosco Sibomana
nach dem Gespräch in einer
Alltagssituation zu helfen.
Zweite Reihe von unten,
rechts: Der Psychologe Hervé
Mugisha ist bestürzt von den
Berichten Eric Rutegas über
dessen Erlebnisse im Kampfeinsatz. Unten links: Ebenfalls
Belastendes aus Somalia erzählt Pascal Nteziriba Thierry
Ndayikengurukiye. Unten
rechts: Manch einer durchlebt bei den Gesprächen die
Geschehnisse erneut; der Blick
in die Kamera ist dann zu viel.
Impulse 02_2015 39
Standarduntersuchungen vergleichbar einem jährlichen Gesundheitscheck, wie er bei uns schon fast Routine ist, sind ebenfalls Teil
des Forschungsprogramms: Ein paar Mediziner sind daher in das
Projekt eingebunden, beispielsweise Eliphase Ndayishimiye.
Insgesamt befragte das Team zwischen Herbst 2012
und Frühsommer 2015 knapp tausend männliche
Soldaten nach ihren Lebensumständen und Erfahrungen mit Gewalt – davon etwa 400 nicht mehr in
Krisengebieten eingesetzte Bürgerkriegsveteranen
und gut 550 AMISOM-Soldaten, die ein Jahr lang
in Somalia im Einsatz waren. Einige, aber nicht
alle Probanden zeigten deutliche Symptome einer
Posttraumatischen Belastungsstörung: vielfältige psychische Probleme, wie sie Menschen nach
Katastrophen heimsuchen können. Wird jemand
Opfer beispielsweise eines Angriffs, Zeuge eines
großen Unglücks, erleidet er einen schweren Unfall
oder einen lebensbedrohlichen Herzinfarkt – dann
schafft es das Gehirn anschließend oft nicht, das
Erlebte zu verarbeiten (siehe auch Text auf Seite 44).
Katalysator für das Projekt war ein früherer Forschungsaufenthalt Anselm Crombachs in Burundis
Hauptstadt Bujumbura. Der heute 31-Jährige hatte
dort Jahre zuvor im Rahmen seiner Doktorarbeit
über Straßenkinder geforscht. Durch Kontakte
seines Kooperationspartners Professor Manassé
Bambonye von der Université Lumière in Burundi
entstand die Idee, mit dem heimischen Militär
zusammenzuarbeiten. Crombachs Kollege Dr.
Roland Weierstall, Dozent und Psychotherapeut an
der Universität Konstanz, ergriff sofort begeistert
die einmalige Chance, die sich da bot. Er übernahm
die Koordinierung des Projekts und suchte Kontakt
zur burundischen Armee. „Zunächst mussten wir
auf die offizielle Genehmigung des dortigen Verteidigungsministeriums warten. Dann wurden plötzlich mehrere Posten in der Behörde neu besetzt,
wodurch sich die Genehmigung für das Projekt und
somit dessen Start mehrfach verzögerten.“ Doch
das Warten hat sich gelohnt – für die Konstanzer
Forscher und die burundischen Friedenskräfte.
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Ebenso ließen sich aus den Interviews Rückschlüsse
ziehen auf das Ausmaß an „appetitiver Aggression“
eines Befragten. Damit gemeint ist das Ausüben
von Gewalt oder das Zufügen von Leid mit dem
Ziel, Vergnügen zu verspüren. Die empfundene Faszination lässt sich auf erlebte und ausgeübte Reize
zurückführen. Dieses Hochgefühl, die Hemmungslosigkeit, Gewalt auszuüben, unterscheidet die
appetitive Aggression zum Beispiel von reaktivem
aggressiven Verhalten, das etwa der Selbstverteidigung in einer Gefahrensituation dient.
In diesem Zusammenhang können womöglich
die Meldungen von Human Rights Watch aus dem
vergangenen Jahr über gewalttätige burundische
Soldaten gesehen werden: Einige AMISOM-Soldaten, die eigentlich die Bevölkerung vor Ort schützen sollten, misshandelten und missbrauchten
an ihren Stützpunkten in Mogadischu somalische
Frauen und Mädchen sexuell. Und so war es,
immer eine spätere Therapie im Blick, eines der
Ziele der Projektinitiatoren, das Phänomen der
appetitiven Aggression im Zusammenspiel von
biologischen, sozialen und psychischen Prozessen
möglichst umfassend zu verstehen. Dabei muss
ein interessanter Bezug, den die Untersuchungen
zutage gefördert haben, auch genannt werden:
Ein hohes Maß an appetitiver Aggression führt
offenbar zu einer erhöhten Widerstandsfähigkeit
(Resilienz) gegenüber Traumatisierungen.
Viele Soldaten leiden nach Einsätzen in Krisengebieten an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. „Sie zeigen dann häufig ein aggressiveres
Verhalten als vorher und finden sich nur schwer
im Alltag zurecht, können oft keiner geregelten
Arbeit mehr nachgehen, geraten ins soziale
Abseits. Und wissen häufig gar nicht genau, was
mit ihnen geschieht“, sagt Professor Dr. Thomas
Elbert, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Neuropsychologie der Universität
Konstanz.
Erfolgsmodell „Narrative Expositionstherapie“ –
dauerhafte Hilfe für den Alltag nach dem Krieg?
Der Experte für Traumaforschung hat vor ein paar
Jahren die Narrative Expositionstherapie (NET),
die jetzt auch im Burundi-Projekt zum Einsatz
kam, mit entwickelt. Sie ist ein Herzstück dieses
Projekts und steht im Zentrum der therapeutischen Behandlung. Bei der Narrativen Expositionstherapie geht es um die Be- und Verarbeitung
traumatischer Erlebnisse und Gewalterfahrungen. Der traumatisierte Patient erarbeitet in den
Behandlungssitzungen im Zuge ermutigender,
mitfühlender Gespräche einen detaillierten und
in sich schlüssigen Bericht seiner Lebensereignisse – insbesondere jener Geschehnisse, die vermutlich die Traumatisierung bewirkt haben.
Was die Therapie der burundischen Soldaten
zusätzlich erschwere, sei der lange Bürgerkrieg
im eigenen Land, den alle miterlebt hätten, sagt
Elbert. Denn erst seit 2011 herrscht dort wieder
– relativer – Frieden. Demzufolge gebe es in der
Bevölkerung kaum jemanden, der nicht als junger
Bürgerkriegssoldat oder als jugendlicher Zivilist
mit Gewalt in Berührung gekommen sei; Gewalt,
die entweder selbst erlitten oder bei anderen
Menschen beobachtet wurde. „Folglich schleppen
viele unserer Probanden bereits vor dem Einsatz
als Soldat in der Fremde ein schweres Gepäck an
traumatischen Erinnerungen mit sich herum“,
ergänzt Anselm Crombach. Gerate der Soldat dann
wieder in eine ähnlich belastende Situation, sieht
er schließlich die Gefahr überall – die Bedrohung
wird zum ständigen Begleiter.
Kann es dennoch gelingen, dass eine präventive
Behandlung vor einem Kampfeinsatz einem Soldaten hilft, auftretende traumatische Situationen
besser zu bewältigen? „Unsere Überlegung war
und ist: Wie können wir Soldaten vor dem Einsatz
im Krisengebiet eine Art ‚Schutzimpfung‘ mitgeben; eine Strategie, die sie in die Lage versetzt,
lebensgefährliche und gewalttätige Erlebnisse zu
verarbeiten und diese später als Erinnerungen aus
einer anderen Zeit zu begreifen – mit dem Ziel,
eine Traumareaktivierung zu verhindern? Damit
sie sich, wieder zu Hause, erfolgreich einer neuen
Aufgabe widmen können, und nicht, zurück im
Alltagsleben, unter schweren Symptomen einer
Posttraumatischen Belastungsstörung leiden?“,
führt Thomas Elbert aus und betont, dass diese
Form der präventiven Intervention neu sei.
Die Psychologin Adeline Nimubona hilft beim Markieren der
Probensamples. Vom Konstanzer
Team längere Zeit vor Ort dabei ist
die Forscherin Anja Zeller (rechts).
Impulse 02_2015 41
Doktorandin Corina Nandi, die gemeinsam mit
Anselm Crombach hauptsächlich für die Feldforschung zuständig war und monatelang in den
burundischen Militärcamps Soldaten untersucht
und das lokale Team angeleitet hat, ergänzt: „Für
diesen Zweck haben wir ein eigenes, geeignetes
Format entwickelt. Denn da jeweils große Bataillone in den Einsatz geschickt werden, sind zeitliche
wie personelle Möglichkeiten natürlich begrenzt.
Stattdessen führten wir also mit ausgewählten Probanden zwei Gespräche von jeweils zwei- bis dreistündiger Dauer auf Grundlage einer Narrativen
Expositionstherapie.“ Von 120 ausgewählten Soldaten, die keine, wenig oder starke PTBS-Symptome
zeigten, erhielten sechzig die spezielle präventive,
also vorbeugende Intervention, die anderen nur die
bisher in der Armee übliche Einsatzvorbereitung.
Die präventive Kurzzeit-Intervention als schützende
Vorbereitung auf den Kampfeinsatz?
Erste Ergebnisse ließen bereits Ende 2014 den
Schluss zu, dass eine NET-gestützte Prävention
von erheblichem Nutzen sein kann. Denn jene
Soldaten, die eine derartige Intervention erhielten,
zeigten sich nach dem Einsatz weniger anfällig für
Traumatisierungen und Traumareaktivierungen.
Neue Ausschreibung zur Traumaforschung
Die Stiftung hat im Mai 2015 die Ausschreibung
„Gewalterfahrungen, Traumabewältigung und
Erinnerungskultur“ aufgelegt. Unter diesem
thematischen Dach vergibt sie Fördermittel für
kooperative Forschungsvorhaben im arabischen
Raum. Der Stichtag für die Einreichung von Anträgen ist der 10. September 2015.
Die Ausschreibung richtet sich an Geistes- und
Gesellschaftswissenschaftler und erwartet zumindest bilaterale Projektteams. Als Partner müssen
mindestens eine deutsche Forschungseinrichtung und eine in der sogenannten MENA-Region
(„Middle East & North Africa“) eingebunden sein:
also in Nahost oder Nordafrika. Neben einem
Bezug zu den jüngsten Transformationsprozessen
Förderangebot
in der arabischen Welt müssen die Projektanträge eben einen der drei genannten thematischen
Schwerpunkte berücksichtigen: Gewalterfahrungen, Traumabewältigung oder Erinnerungskultur.
Die VolkswagenStiftung begleitet die Entwicklungen in der arabischen Welt seit 2011: Dies ist die
inzwischen dritte Ausschreibung, die die Region
adressiert. Neben der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses liegt bei diesem Engagement ein Augenmerk auf der Netzwerkbildung
– sowohl intra-regional als auch aus anderen Ländern mit Partnern in der arabischen Welt.
Vier Jahre nach Beginn der Umbrüche befindet
sich die MENA-Region nach wie vor im Wandel,
und sowohl die politische als auch die soziale
Situation in vielen Staaten bleibt prekär. Die aktuellen Entwicklungen eröffnen eine erhebliche
Bandbreite an Forschungsfragen, zu deren Bearbeitung die Stiftung mit der Förderung bilateraler
oder multilateraler Kooperationsprojekte beiträgt.
Christian Jung
Interview über Interview zu Lebensumständen und Erfahrungen
mit Gewalt oder auch über Gewaltfantasien: Allmählich fügt
sich ein Bild zusammen und Muster werden erkennbar.
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Sie sind die tragenden Säulen des Traumaforschungsprojekts: Die
Psychologen Dr. Anselm Crombach (oben links) und Dr. Corina
Nandi (unten, Mitte) haben sich über Monate in Burundi engagiert.
„Ob dieser Effekt von Dauer ist, darüber werden
wir mehr wissen, wenn Ende 2015 unsere derzeit
noch laufenden Follow-up-Befragungen abgeschlossen sind“, sagt Corina Nandi, die in der präventiven Kurzzeit-Intervention bereits jetzt einen
guten Schutz sieht. Vorsicht ist in der Tat geboten,
denn Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung können sich durchaus zeitverzögert
zeigen. „Deshalb ist es wichtig, die Probanden
einige Monate nach ihrer Rückkehr aus Somalia
erneut zu befragen!“ Erst dann wollen die Forscher
erörtern, ob und wie sich solch eine Prävention bei
anderen Berufsgruppen anwenden ließe wie etwa
Feuerwehrleuten, die ebenfalls lebensbedrohliche
Stresssituationen auszuhalten haben. Wie sorgsam sie alles bedenken, zeigt sich an der Akribie,
mit der sie zusammengetragen haben, was irgend
auffindbar war an Studien über ebenfalls im Kontext mit Kampfeinsätzen befragte Soldaten – auch
wenn, wie Thomas Elbert sagt, immer wieder klar
wurde, dass nichts mit ihrem Ansatz wirklich zur
Deckung zu bringen sei.
Verändern extreme äußere Einflüsse wie übermäßiger Stress oder Traumatisierungen sogar die Gene?
Noch einen anderen Aspekt gilt es weiter auszuloten: die Untersuchung epigenetischer Marker von
Trauma und Aggression. Epigenetik beschreibt,
vereinfacht ausgedrückt, was um das menschliche Genom herum passiert – einschließlich der
Wirkungen äußerer Einflüsse auf unser Genom.
Epigenetische Vorgänge verbinden sozusagen
Umwelteinflüsse und Gene. Man weiß inzwischen, dass es Moleküle gibt, die sich an Gene
binden und damit „entscheiden“, ob, unter welchen Umständen und zu welchem Grad ein Gen
angeschaltet und damit „gelesen“ wird und wann
es (wieder) „stillgelegt“ und somit stumm ist.
Hier vermuten Wissenschaftler zum Beispiel eine
Erklärung dafür, warum von zwei Menschen, die
das gleiche defekte und damit krankheitsauslösende veränderte Gen haben, nur einer womöglich die Krankheit bekommt. Oder noch anders
gesagt: Die Epigenetik zeigt uns, dass der Mensch
mehr ist als die Summe seiner Gene.
Solche Prozesse können also Umwelteinflüssen
unterliegen, aber auch bedingt sein durch schwerwiegenden, lang anhaltenden Stress, wie ihn
beispielsweise Soldaten bei Kampfhandlungen
erfahren. „Es ist belegt, dass traumatische Ereignisse epigenetische Veränderungen hervorrufen
können; bei der traumatisierten Person kann das
zu einer veränderten Stressanfälligkeit führen“,
sagt Roland Weierstall. Den Konstanzer Wissenschaftlern war es wichtig, epigenetische Untersuchungen einzubeziehen. Als auf diesem Gebiet
ausgewiesene Kooperationspartner holten sie sich
Neurowissenschaftler von der Universität Basel
ins Boot. Sie werten derzeit an ihrer Hochschule
Speichelproben aus, die Soldaten eigens für die
Untersuchungen abgegeben haben.
Unterdessen liegt Corina Nandi und Anselm
Crombach noch eine andere, sehr erfolgreiche
und beglückende Seite ihres Projekts besonders
am Herzen: die Aus- und Fortbildung der einheiImpulse 02_2015 43
mischen Studierenden von der Université Lumière
in Burundi sowie jener sechs Militärpsychologen,
die sie bei ihrer Arbeit unaufhörlich unterstützt
haben. „Die intensive Arbeit mit den burundischen Studierenden und den Psychologen war fordernd, hat aber großen Spaß gemacht. Es ist uns,
glaube ich, gelungen, ihnen ein gutes berufliches
Rüstzeug mit auf den Weg zu geben“, freut sich
Nandi. „Während die Studenten anfangs bei den
Befragungen lediglich hospitierten, führten sie im
weiteren Verlauf mehr und mehr selbstständig
die Interviews und gaben später als Multiplikatoren ihr Wissen weiter. Das war ideal, weil sie
natürlich einen besseren sprachlichen und kulturellen Zugang zu den Soldaten haben als wir.“
Sehr gefreut haben sich die jungen Konstanzer
Forscher über eine kürzlich erfolgte Anfrage von
Lassen sich traumatische Erinnerungen löschen?
Menschen, die Schreckliches erlebt haben, quälen
die Gedanken daran noch lange. Doch nicht jeder
entwickelt eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Zurzeit laufen weltweit einige spannende Forschungsvorhaben, die um eben diese
zentrale Frage kreisen: Wer entwickelt nach einem
Unglück eine Traumastörung und wer nicht?
Insbesondere Forscher aus Nordamerika machen
derzeit von sich reden, etwa die Psychologin Margaret McKinnon von der Universität in Hamilton.
Sie war im Spätsommer 2001 selbst an Bord eines
Transatlantikflugs, dem auf halber Strecke zwischen den Kontinenten wegen eines unbemerkt
gebliebenen Lecks im Treibstofftank die Triebwerke ausfielen. Die bereits für eine Notwasserung
vorbereiteten Passagiere hatten Glück im Unglück,
da es dem Piloten durch den längsten Gleitflug der
Luftfahrt gelang, auf einer Azoreninsel notzulanden. Die allesamt unverletzt gebliebenen Passagiere berichteten, während der ganzen Zeit – gut 30
Minuten – Todesängste ausgestanden zu haben.
Margaret McKinnon und ihr Team konnten 15 Passagiere dazu bewegen, an einer Studie zur Posttraumatischen Belastungsstörung teilzunehmen.
Deutlich war: Nur bei einigen hatte sich eine PTBS
entwickelt. Welches aber sind nun die individuellen Unterschiede, die eben das bewirken? Was
leistet einer Traumastörung Vorschub, und was
schützt vor der belastenden Erinnerung?
Hypothese der Forscher ist, dass weniger die Art
der Belastung über das Auftreten einer PTBS entscheidet als vielmehr die Art und Weise, wie ein
Patient Informationen im Langzeitgedächtnis
abspeichert, wieder (und wieder) aufruft, sich
damit beschäftigt und schließlich erneut abspeichert. Menschen falle es leichter, traumatische
Erlebnisse zu verarbeiten, wenn sie Details ausblendeten und ihre Erinnerungen steuern könnten, erklärt der Leiter der Studie Brian Levine von
der University of Toronto in Kanada. Derzeit laufende Hirnscan-Untersuchungen bei den meisten
bislang in die Studie Einbezogenen sollen weitere
Erkenntnisse generieren.
Eine Belastungsstörung ist eine stille Krankheit.
Viele wissen nicht einmal, dass sie zu den Betroffenen gehören, und halten nach einem schlimmen Erlebnis Flashbacks, also unvermittelt und
ohne Vorwarnung ins Bewusstsein einschießende
Die Interviews sind geführt, jetzt beginnt die Auswertung der
Befragungen, die zentrales Instrument der Traumaforschung sind.
44
Die Psychologen Professor Thomas Elbert (rechts) und Dr. Roland
Weierstall von der Universität Konstanz besprechen die Interviews.
An der Wand eine Dankesgabe: das Bild eines Malers aus Uganda.
Es zeigt Szenen des Engagements der Konstanzer Wissenschaftler.
offizieller burundischer Seite, die hohe Wertschätzung ihrer Arbeit und ihrer Person gegenüber zum
Ausdruck bringt – ob sie nicht helfen wollen, als
Ausbilder eine psychotherapeutische Station im
Militärkrankenhaus von Burundi von Grund auf
mit aufzubauen. „Auch wenn dieser Plan daran
scheitert, dass das Land nicht genug Mittel dafür
hat, haben wir in den Köpfen etwas mit unserer
Arbeit in Gang gesetzt“, sagt Anselm Crombach.
Hintergrund
Schreckensbilder, jahrelang wiederkehrende Albträume, permanent erhöhte Wachheit und andauernde Schlaflosigkeit für völlig normal. Inzwischen sind Forscher und Therapeuten sicher, dass
jedes Mal, sobald ein traumatisierter Mensch das
Geschehen erinnert, eine Gelegenheit zur Einflussnahme auf die „Erinnerungen“ besteht: Bleibt der
Betroffene beim Aufrufen und Abspeichern des
Erlebten im Schrecken der Vergangenheit verhaftet, wird auch seine Erinnerung quälend bleiben.
Gelingt es jedoch, den Kreislauf zu durchbrechen,
könnte er sein Trauma überwinden.
Ende 2014 vorgestellte Ergebnisse eines Forscherteams um den Psychologen Professor Edward
Meloni von der Universität Harvard formulieren,
dass offenbar auch das Edelgas Xenon hilft, die
Erinnerung an traumatische Erlebnisse zu löschen
– zumindest bei Ratten. Die Wissenschaftler setzen explizit bei eben jenen Flashbacks an, mit
denen Traumaopfer häufig zu kämpfen haben.
Den Schlüssel zur therapeutischen Hilfe liefert der
Prozess der sogenannten Rekonsolidierung – jener
Moment des Abrufs gespeicherter Erlebnisse aus
dem Gedächtnis, in dem unsere Erinnerungen
für einen Augenblick instabil sind und kurzzeitig
beeinflussbar – bevor sie wieder in den Tiefen des
Langzeitgedächtnisses abgelegt werden.
Die Arbeitsgruppe versuchte nun, sich diesen
Effekt zunutze zu machen. Zunächst lehrte sie
Laborratten das Fürchten. Jedes Mal, wenn die
Tiere einen schrillen Ton hörten, bekamen sie
einen kurzen Elektroschock. Nach kurzer Zeit
erstarrten die Ratten daher schon, sobald das
Geräusch ertönte. Atmeten die Tiere allerdings
gleich danach eine schwache Dosis Xenon ein, linderte das die Furchtreaktion bei künftigen Begegnungen mit dem Reiz. Sie konnten den Ton dann
hören, ohne in Schockstarre zu verfallen.
Verantwortlich für diese Verhaltensänderung ist
eine spezielle Eigenschaft des Xenongases: Der
Stoff blockiert die Andockpunkte der sogenannten
NMDA-Rezeptoren, die im menschlichen Gehirn
Prozesse wie Lernen und Gedächtnis steuern.
Gerade bei der Rekonsolidierung von angstvollen
Gedächtnisinhalten spielen die Rezeptoren eine
Schlüsselrolle. Vermutlich werden die Erinnerungen an den Schmerzreiz also durch das Einatmen
von Xenon manipuliert – und anschließend in
milderer Form wieder abgespeichert.
Ob eine solche „Behandlungsmethode“ auch Menschen helfen könnte, die nach einem schlimmen
Erlebnis unter einer PTBS leiden, ist ungeklärt. Zu
bedenken ist, dass mit gedächtnisverändernden
Wirkstoffen therapiert werden würde. Befürworter plädieren jedoch für weitergehende Tests, da
ähnlich wie etwa durch Psychopharmaka dem
überschießenden Angstsystem versichert werde,
dass in der Gegenwart alles in Ordnung sei. Traumageplagten könnte so in Zukunft das Verarbeiten
leichter fallen. Und letztlich vielleicht das Vergessen – da, wo es notwendig ist.
Christian Jung
Impulse 02_2015 45
Spektrum
Nachrichten aus der
Wissenschaftsförderung
der VolkswagenStiftung
Vogelkinder älterer Eltern haben weniger Nachwuchs
– Langzeitstudie an wild lebenden Haussperlingen
Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen stößt auf generationenübergreifende Alterseffekte. Die Erkenntnisse helfen, die evolutiven Prozesse von Langlebigkeit
zu verstehen. Und sie sind von großer Bedeutung für Brutprogramme gefährdeter Arten.
Eine kleine Insel vor der
Südwestküste Englands:
Hier wies Dr. Julia Schroeder (unten rechts) vom
Max-Planck-Institut für
Ornithologie in Seewiesen erstmals bei Vögeln
den Lansing-Effekt nach,
der ansonsten bislang
nur bei Mäusen und
einigen wirbellosen
Tieren als bestätigt
und für den Menschen
als wahrscheinlich gilt.
Der besagt: Je älter die
Eltern bei der Geburt
ihrer Nachkommen
sind, umso weniger
Nachwuchs haben
wiederum diese Kinder
beziehungsweise leben
jene auch kürzer. Julia
Schroeder, die mit ihrer
Publikation gehörig
für Aufmerksamkeit
sorgte, zeigte den
Lansing-Effekt gemeinsam mit britischen und
neuseeländischen Forscherkollegen an einer
geschlossenen, über
zehn Jahre beobachteten Spatzenpopulation
von über 5.000 Tieren.
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Die Fortpflanzungsfähigkeit nimmt nicht bei allen
Tierarten mit dem Älterwerden ab. Sie kann das
ganze Leben lang konstant bleiben, wie es etwa bei
einigen Wirbellosen der Fall ist – oder sogar wie bei
manchen Reptilien mit steigendem Alter zunehmen. In der Regel können sich beide Geschlechter
bis ins hohe Alter hinein fortpflanzen, wobei das
Männchen normalerweise weitaus mehr Nachkommen zu zeugen vermag als das Weibchen. Bei
einigen Säugetieren wie uns Menschen bleiben die
männlichen Individuen länger zeugungsfähig.
Allerdings, und das weiß man schon seit geraumer
Zeit, birgt es gewisse Risiken, sich in fortgeschrittenem Alter zu vermehren: etwa eine höhere
Wahrscheinlichkeit für Kindersterblichkeit oder das
Auftreten von Chromosomenanomalien. Darüber
hinaus haben die Kinder älterer Eltern selbst weniger Nachkommen oder leben kürzer; eine Gesetzmäßigkeit, die als „Lansing-Effekt“ bezeichnet wird.
Sie wurde außer beim Menschen bereits bei Mäusen und einigen wirbellosen Tieren nachgewiesen,
nie jedoch bei wild lebenden Populationen. Jetzt
hat Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut
für Ornithologie in Seewiesen mit Kollegen der
Universität Sheffield, England, und der Universität
Otago in Neuseeland diesen Effekt in einer Population von Haussperlingen erforscht. Ihr Untersuchungsgebiet: eine kleine Insel vor der Südwestküste Englands, auf der seit über zehn Jahren
sämtliche Spatzen-Nachkommen erfasst und
beringt werden. Die Tiere verbringen ihr ganzes
Leben auf der nahezu unbewohnten, 19 Kilometer
entfernt vom Festland gelegenen Insel.
Die Forscher nahmen Blutproben von Eltern und
Jungtieren, um Verwandtschaften zu bestimmen.
Auf diese Weise entstand ein einzigartiger und
präziser genetischer Stammbaum von über 5000
Tieren: Von jedem ist das genaue Alter und die Zahl
der Nachkommen bekannt. Um herauszufinden,
ob ein möglicher Effekt genetisch oder durch die
Umwelt bedingt ist, tauschten die Forscher systematisch die Gelege zwischen den Nestern aus.
Die Analyse der Lebensdauer ergab ein eindeutiges Ergebnis: Je älter die Weibchen, umso weniger
Nachkommen hatten die Töchter. Alte Männchen
wiederum produzierten Söhne, die selbst weniger
Nachwuchs zeugten. Diesen Nachteil erfahren
besonders Nachkommen aus einem Seitensprung.
Denn Spatzenweibchen gehen durchaus fremd
– allerdings eher mit älteren Männchen. Diese
Strategie, sich langlebige und damit besonders
überlebensfähige Männchen zur Fortpflanzung
auszusuchen, erweist sich nun als offenkundig von
Nachteil. „Die gefundenen Effekte lassen sich nicht
durch Umweltfaktoren erklären, sondern durch die
Konstitution der Eltern, die sich im Laufe der Jahre
durch sogenannte epigenetische Prozesse auch
ändern kann“, sagt Julia Schroeder, von der Stiftung
über die Initiative Evolutionsbiologie gefördert.
„Unsere Erkenntnisse sind möglicherweise auch
für Brutprogramme gefährdeter Arten wichtig, bei
denen oft ältere Tiere aus verschiedenen Populationen verwendet werden, um eine genetische Variabilität aufrechtzuerhalten“, ergänzt sie.
Barbara Riegler
Impulse 02_2015 47
Spektrum
Mengenlehre für Immunzellen – Forscher finden
eine Art „lernende Zelle“ unseres Abwehrsystems
Ein Forscherteam aus Berlin um Lichtenberg-Professor Dr. Max Löhning hat entdeckt:
Immunzellen lernen, welche Menge eines Stoffes sie für eine Abwehrreaktion produzieren müssen. Damit könnten sich künftig Immunreaktionen gezielt beeinflussen lassen.
Nach der Aktivierung im Zuge
der Immunreaktion behalten
T-Helferzellen die Menge an
produziertem Zytokin stabil bei,
auch noch nach ihrer Umwandlung in Gedächtniszellen. (Links:
Bildausschnitt aus dem Cover
der Januar-Ausgabe 2015 der
Fachzeitschrift Immunity zum
Forschungsprojekt)
Lichtenberg-Professor Dr. Max Löhning, Stellvertretender Direktor des Zentrums für Immunwissenschaften der Charité – Universitätsmedizin
Berlin, erforscht die Reifung und Prägung von
T-Helferzellen. Diese Zellen steuern die Immunantworten des Körpers, indem sie Botenstoffe ausschütten, sogenannte Zytokine. Die Forscher konnten nun zeigen, dass eine T-Helferzelle bei ihrer
ersten Aktivierung – etwa im Zuge einer Infektion
– nicht nur lernt, welches Zytokin sie produzieren
soll, sondern auch in welcher Menge. Damit ließen
sich künftig möglicherweise gezielt erwünschte
Immunreaktionen verstärken und fehlgesteuerte
Immunantworten abschwächen.
Das „quantitative Zytokingedächtnis“ behalten
T-Helferzellen zudem stabil bei. Ist die Infektion
überstanden, wandeln sich einige der T-Helferzellen in langlebige Gedächtnis-T-Zellen um. Bei
einer erneuten Infektion würden diese Gedächtnis-T-Zellen aktiviert und schütteten wieder die
gleiche, vorgeprägte Menge des Botenstoffs aus,
sagt Max Löhning, der zugleich am Deutschen
Rheuma-Forschungszentrum aktiv ist.
48
Darüber hinaus konnten die Forscher einen Schlüsselfaktor identifizieren, der maßgeblich an der Aufrechterhaltung des „quantitativen Zytokingedächtnisses“ einzelner T-Zellen beteiligt ist – ein Molekül
als eine Art „schwimmende Produktionsanweisung“. Dieser Faktor liegt in jeweils spezifischen
Mengen im Zellkern vor. Ist er in großen Mengen
vorhanden, wird auch eine große Menge des Zytokins produziert und umgekehrt.
Bei einer Reaktion des Immunsystems kommen
sowohl T-Helferzellen vor, die geringe Mengen eines
bestimmten Zytokins herstellen, als auch solche,
die viel produzieren. „Wir gehen davon aus, dass auf
diese Weise eine Feinabstimmung der Immunreaktion erreicht wird. „Die nun entdeckte Ebene der
quantitativen Regulation könnte es ermöglichen, bei
manchen Erkrankungen nur schwach reagierende
Immunzellen zu fördern, um die Immunantwort insgesamt abzuschwächen. Beim Kampf gegen Krebszellen und bei vielen Infektionen hingegen würde
man die Anzahl hochaktiver Immunzellen gezielt
erhöhen“, erläutert Löhning. Die Ergebnisse wurden
in der Fachzeitschrift Immunity veröffentlicht.
Überraschende Entdeckung: Bakterien haben „Essenskanäle“.
Einige können in Zeiten des Mangels Nährstoffe austauschen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Jena, Kaiserslautern und Heidelberg gelang der Nachweis, dass manche Bakterienstämme nanometerkleine Verbindungskanäle zwischen einzelnen Zellen
ausbilden – und auch, wie der direkte Austausch von Nährstoffen über diesen Weg im Detail erfolgt.
Lisa Freund, Christian Kost,
Shraddha Shitut und Samay
Pande (Skype) konnten zeigen,
wie bestimmte Bakterien
Aminosäuren über schlauchähnliche Nanokanäle zwischen den Zellen austauschen
(hier eine elektronenmikroskopische Aufnahme gentechnisch veränderter Bakterienstämme der Arten Escherichia
coli und Acinetobacter baylyi).
Schon länger weiß man, dass Bakterien in der
Lage sind, Nährstoffe und andere Stoffwechselprodukte auszutauschen. Unklar war jedoch,
ob dies ausschließlich über das umgebende
Lebensmilieu, die Umwelt, geschieht oder dafür
womöglich direkte Verbindungen zwischen
den Zellen bestehen. Forscher um Dr. Christian
Kost vom Max-Planck-Institut für chemische
Ökologie in Jena haben nun experimentell beim
Bodenbakterium Acinetobacter baylyi und beim
Darmkeim Escherichia coli spezifisch bakterielle
Gene ausgeschaltet. In der Folge wurden manche
Aminosäuren nicht mehr produziert, andere hingegen im Übermaß.
Im Ergebnis wurde deutlich: Wuchsen die veränderten Bakterien zusammen, konnten sie sich
gegenseitig ernähren und den künstlich erzeugten Aminosäuremangel ausgleichen. Trennte man
die Bakterien allerdings durch einen Filter, der
Aminosäuren im Nährmedium zwar durchließ,
einen direkten Austausch zwischen den beiden
Bakterienstämmen jedoch verhinderte, gedeihte
keiner der Stämme.
Im Elektronenmikroskop beobachteten die Wissenschaftler nun, dass sich zwischen beiden
Bakterienarten Nanoröhren bildeten, die den Austausch von Nährstoffen ermöglichten. Dabei fiel
auf, dass nur das Darmbakterium Escherichia coli
solche Strukturen nutzte, um sich mit Acinetobacter baylyi-Zellen zu verbinden.
„Die spannendste Frage bleibt für mich, ob es sich
bei Bakterien tatsächlich um einzellige, relativ
einfach strukturierte Organismen handelt, oder ob
wir es mit einer anderen Form der Vielzelligkeit
zu tun haben. Bakterien könnten beispielsweise
ihre Komplexität dadurch steigern, dass sie sich
mit anderen Bakterien verbinden und so ihre
Fähigkeiten kombinieren“, sagt Christian Kost, der
in Jena im Zuge der Initiative Evolutionsbiologie
die Forschergruppe Experimentelle Ökologie und
Evolution leitet. Seine Arbeitsgruppe erforscht,
warum Lebewesen miteinander kooperieren. Bakterielle Lebensgemeinschaften als Modellsysteme
sollen dabei helfen zu verstehen, warum sich bei
den meisten Lebewesen im Laufe der Evolution
ein kooperativer Lebensstil durchgesetzt hat.
Impulse 02_2015 49
Spektrum
Wie giftiges Kohlenmonoxid verbrennt: erstmals
Detailaufnahmen zu Zwischenstufen des Prozesses
Forschen für den Umweltschutz: Ewald-Fellow Dr. Martin Beye vom Helmholtz-Zentrum
Berlin (HZB) trägt mit ausgefeilten Experimenten am SLAC National Accelerator Laboratory
zu einem erweiterten Verständnis der Reaktionen bei, die an Katalysatoren ablaufen.
Die Abbildung illustriert als
Momentaufnahme eine Zwischenstufe der Reaktion von
CO zu CO2 auf einer heißen
Katalysatoroberfläche. Dieser
Prozess konnte nun erstmals
gezeigt werden.
Einem internationalen Forscherteam ist es erstmals gelungen, die flüchtigen Zwischenstufen zu
beobachten, die sich bei der Oxidation von Kohlenmonoxid auf einer heißen Katalysatoroberfläche
bilden. Die Wissenschaftler um Ewald-Fellow Dr.
Martin Beye nutzten dafür ultrakurze Röntgenblitze und Laserpulse. Martin Beye hatte durch
sein von der Stiftung finanziertes Fellowship die
einmalige Chance, monatelang am SLAC National
Accelerator Laboratory im Menlo-Park, Kalifornien,
arbeiten zu können.
Das Team ging bei seinen Versuchen wie folgt vor:
Zunächst erhitzte ein Laserblitz die Ruthenium-,
also die Katalysatoroberfläche und aktivierte
damit die absorbierten Kohlenmonoxidmoleküle
und Sauerstoffatome. Über Röntgenabsorptionsspektroskopie beobachtete das Team, wie sich
die elektronische Struktur der Sauerstoffatome
veränderte, während sich mit Kohlenstoffatomen
allmählich Bindungen anbahnten. Die Forscher
stellten fest, dass die dokumentierten Übergangszustände mit quantenchemischen Berechnungen
gut übereinstimmten.
50
Hingegen überraschte sie zweierlei: zum einen,
wie viele Reaktionspartner in einem Übergangszustand aktiviert werden, zum anderen, dass nur ein
Bruchteil davon anschließend stabile CO2-Moleküle
bildet. „Es ist so, als wenn man Murmeln einen Berg
hochschießt und die meisten, die es bis ganz oben
geschafft haben, rollen dennoch einfach wieder auf
der gleichen Seite herunter“, sagt Professor Anders
Nilsson von der Universität Stockholm. Er hat am
SLAC/Stanford SUNCAT Center for Interface Science
and Catalysis das an Details reiche Forschungsprojekt geleitet, in das zahlreiche Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aus verschiedenen Nationen
eingebunden waren.
„Die Ergebnisse helfen, eine entscheidende Reaktion
an einem Katalysator zu verstehen, die nicht zuletzt
für den Umweltschutz sehr wichtig ist“, erklärt
Physiker Dr. Martin Beye, der mit seinem Team vom
Institut für Methoden und Instrumentierung für
Forschung mit Synchrotronstrahlung am Berliner
Helmholtz-Zentrum in das Vorhaben zentral eingebunden war. Diese Forschung, fügt er hinzu, wäre
ohne das Ewald-Fellowship nicht möglich gewesen.
Licht schaltet Anziehungskräfte ein und aus:
Unterwasserexperimente mit dem Rasterkraftmikroskop
Forscherteams aus Saarbrücken und Münster zeigen, wie sich durch abwechselnde Bestrahlung
mit ultraviolettem und sichtbarem Licht Reibung verringern oder verstärken lässt. Synthese von
speziellen lichtempfindlichen Molekülen gelungen.
Für ihre Forschung haben
die Wissenschaftler mit der
enorm dünnen Spitze eines
Rasterkraftmikroskops, die
nur einen Millionstel Millimeter Platz einnimmt, und einer
Glasoberfläche experimentiert, um die Anziehungskraft
zwischen den Komponenten
kurzzeitig zu verändern.
Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Neue
Materialien (INM), der Universität des Saarlandes
und der Universität Münster haben herausgefunden, dass sich sowohl Reibung als auch Adhäsion
durch bestimmte Moleküle erzeugen und per
Lichtsignal steuern lassen. Ihre Erkenntnisse beruhen auf Unterwasser-Experimenten mit der nur
ein Millionstel Millimeter feinen Messspitze eines
Rasterkraftmikroskops und einer Glasoberfläche.
Bei den Versuchen wurden die Oberflächen von
Messspitze und Glas mit sogenannten Wirtsmolekülen ausgestattet – großen Molekülen, die eine
Art Hohlraum bilden. Ins Wasser wurden Gastmoleküle gegeben: Diese haben eine längliche Form
und tragen an beiden Enden eine molekulare
Gruppe, die in den Hohlraum der Wirtsmoleküle
passt. „Somit kann ein Gastmolekül zwei gegenüberliegende Wirtsmoleküle aneinander binden.
Wenn sehr viele Verbindungen zwischen Wirten
und Gästen aufgebaut werden, dann entstehen
Adhäsion und Reibung: Messspitze und Glasoberfläche kleben aneinander“, erläutert Professor
Gerhard Wenz von der Universität des Saarlandes.
Während Wenz mit seinem Team die Gast-WirtVerbindungen erforscht hat, wurden die länglichen Gastmoleküle von den Kollegen aus Münster
als spezielle lichtempfindliche Moleküle synthetisiert. „Die Moleküle beinhalten eine reaktive Gruppe, die bei Bestrahlung mit ultraviolettem Licht
die Molekülenden abknickt. Diese passen dann
nicht mehr in die Wirtsmoleküle, und die Verbindung zwischen den Oberflächen wird gelöst, die
Reibung nimmt ab“, erklärt INM-Professor Roland
Bennewitz den Trick mit dem Licht. Werden die
Moleküle dagegen mit sichtbarem Licht bestrahlt,
richten sie sich wieder gerade, und die Gast-WirtVerbindungen entstehen erneut.
„Durch abwechselnde Bestrahlung mit ultraviolettem und sichtbarem Licht kann man die Reibung
also verringern oder verstärken“, sagt Bennewitz,
der die mikroskopischen Prozesse vornahm. Publiziert wurden die Ergebnisse Anfang 2015 im Fachblatt „Chemical Communications“. Die Stiftung
förderte das Vorhaben im Rahmen ihrer Initiative
zu den funktionalen makroskopischen Systemen
mit gut einer halben Million Euro.
Impulse 02_2015 51
52
Schwerpunktthema
Neue Sichtachsen und Zugänge
Ungleiche
Zwillinge
Sie sind Zwillinge und doch grundverschieden: Denn eines der Kinder hat das Down-Syndrom, eines
nicht. Wie beeinflussen die Zwillinge in dieser besonderen Situation
einander? Wie reagiert das unmittelbare Umfeld, wie die Gesellschaft darauf? Was bedeutet das
für die Familien, deren Alltag?
Fragen, mit denen sich in einer
weltweit einzigartigen Studie Wissenschaftler von der Universität
des Saarlandes beschäftigt haben.
Lieben das Springen und Toben auf dem Trampolin wie die meisten
anderen Kinder ihres Alters: die elfjährigen Zwillinge Tim und LisaJane im Garten des elterlichen Hauses in Mainz.
Impulse 02_2015 53
Text: Mareike Knoke und Christian Jung (Mitarbeit) // Fotos: Daniel Pilar
T
im und Lisa-Jane sind elf Jahre alt und leben
mit ihren Eltern Susanne und Michael in der Nähe
von Mainz. Wie andere Geschwister auch lieben
sie sich, streiten; sind manchmal genervt voneinander. Und anderen Zwillingen gleich fühlen sie
sich ihrem am selben Tag geborenen Geschwister
eng verbunden, sind in Gedanken nahe beieinander, erspüren oft intuitiv des Anderen Stimmung.
Tim ist zehn Zentimeter größer als seine Schwester und wirkt körperlich viel robuster als die zarte
Lisa-Jane. Dennoch war er es, der in den ersten
Lebensjahren das Sorgenkind war. Denn Tim hat
das Down-Syndrom, Lisa-Jane nicht.
Zweieiige Zwillingsgeschwister wie Tim und
Lisa-Jane, von denen eines der Kinder eine gravierende Behinderung hat, sind sehr selten: Wissenschaftler sprechen von diskordanten Zwillingen.
Hört man deren Eltern zu, wie sie über Familienleben und Alltag mit ihren Kindern erzählen,
dann erwachsen aus den individuellen Berichten
generelle Fragen: Profitieren eigentlich bei solchen Zwillingen die Geschwister in besonderer
Weise voneinander – etwa das behinderte Kind
von den kognitiven Fähigkeiten des gesunden
Bruders oder der Schwester? Lernt wiederum das
nicht behinderte Geschwister leichter soziale
und emotionale Kompetenz? Andererseits: Wenn
Menschen – Behinderte erleben das immer wieder
– unsicher oder gar Distanz haltend den Kindern
gegenübertreten: Hat ein solches Verhalten bleibenden Einfluss auch auf den nicht behinderten
Zwilling? Und: Verläuft dessen Entwicklung
womöglich ebenfalls verzögert? Fragen, die sich
auch der Humangenetiker Professor Dr. Wolfram
Henn stellte, als er erstmals mit dem Thema in
Berührung kam.
Wolfram Henn ist Leiter der humangenetischen
Beratungsstelle an der Universität des Saarlandes.
Seine ruhige Art und die freundlichen, dunklen
Augen hinter dem dezenten Brillengestell wecken
Vertrauen. Viele Elternpaare wenden sich an ihn;
in den meisten Fällen geht es um die Vererbbarkeit von Erkrankungen wie etwa Brustkrebs. Eines
Tages eröffnete sich dem Humangenetiker jedoch
ein neues Forschungsthema: Zwei schwangere
Frauen, die zweieiige Zwillinge gebären würden,
gaben in der Beratungsstelle ihre Fruchtwasserproben ab – soweit erst einmal nichts Ungewöhnliches. Allerdings ergab die Untersuchung der Proben für beide Schwangerschaften den Hinweis auf
eine Trisomie 21 bei jeweils einer von zwei Proben.
Beide Frauen würden also zweieiige Zwillinge zur
Welt bringen, von denen eines der Geschwister
ein Down-Syndrom hat, das andere nicht.
„Die Befunde brachten mich trotz aller Erfahrung
schlagartig ins Grübeln“, sagt der Pränataldiagnostiker Henn, der sich seit etwa 15 Jahren mit
Familien beschäftigt, die Kinder mit einem DownSyndrom haben. „Uns dämmerte die Erkenntnis:
Es sind vermutlich mehr Familien als gedacht,
in denen Zwillinge heranwachsen, von denen
eines eine Trisomie 21 aufweist.“ Rein statistisch
betrachtet müsste deren Zahl in der Tat zunehmen: Zum einen gibt es immer mehr künstliche
Befruchtungen, und bei In-vitro-Fertilisationen
Tim und seine Mutter Susanne
beim Kräftemessen im Wohnzimmer. Durchaus spielerisch
ging’s auch zu bei den Tests, die
Katarzyna Chwiedacz von der
Universität des Saarlandes mit
den Zwillingen machte.
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Tim liebt Puzzeln. Wenngleich
er wann immer möglich Zeit
mit seiner Schwester Lisa
oder den Eltern verbringt,
beschäftigt er sich damit gern
und ausgiebig auch allein. Ein
waches Auge auf ihn hat ab
und an ein weiteres Familienmitglied: Siamkater Leo.
kommt es häufiger zu zweieiigen Zwillingsschwangerschaften als bei einer natürlichen
Zeugung; ebenso bedingt das im Durchschnitt
steigende Alter der Gebärenden immer mehr Zwillingsgeburten über die Jahre. Zum anderen steigt
mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit,
ein Kind mit Trisomie 21 zur Welt zu bringen.
Überraschung für die Forscher: Es gibt weit mehr
betroffene Familien als erwartet
Er sei nach kurzer Zeit wie elektrisiert gewesen,
sagt Wolfram Henn heute im Blick zurück. Immer
mehr Fragen seien ihm in den Kopf geschossen:
Was bedeutet es für eine Familie und die heranwachsenden Zwillinge, wenn eines dieser Kinder
eine Trisomie 21 hat und damit entwicklungsverzögert ist? Was heißt das für Geschwister, die
zumeist alles gemeinsam und zur gleichen Zeit
machen und lernen würden: laufen, sprechen,
lesen, schreiben, rechnen, mit Messer und Gabel
essen, Wünsche und Bedürfnisse ihrer Umwelt
erkennen und vieles mehr? Oder welche Auswirkungen hat es zum Beispiel, wenn die Nachbarskinder auch mit dem nicht behinderten Geschwister weniger spielen als das womöglich sonst der
Fall wäre – andererseits: Ist das überhaupt so? Welche Szenarien spielen sich zwischen diesen Zwillingen und in beider Leben ab, die sich bei „gleich
gesunden“ Zwillingen so nicht beobachten lassen?
Tim beispielsweise ist offensichtlich ganz klar
der kleine Entertainer im Zwillingsteam: laut,
zappelig, sehr präsent und für seine Mitmenschen nicht immer einfach im Umgang. „Oft gibt
es bei Zwillingen eine Rollenteilung: Einer ist
der zurückhaltende ‚Innenminister‘, der andere
übernimmt als eine Art ‚Sprecher‘ des Paares den
Part des extrovertierten ‚Außenministers‘“, meint
Wolfram Henn, selbst – „13 Minuten jünger als
mein Bruder“ – zweieiiger Zwilling. „Es ist jedoch
keineswegs so, dass bei diskordanten DownSyndrom-Zwillingen automatisch der gesunde
Zwilling diese Sprecher-Rolle übernimmt und sein
Geschwister mehr oder weniger mitzieht.“ Bei
Lisa-Jane und Tim kann man das gut beobachten.
Kinder mit Trisomie 21 wie Tim entwickeln sich
körperlich, mental und kognitiv in der Regel halb
so schnell wie ihre Geschwister. Schätzungen
zufolge leben in Deutschland etwa 50.000 Menschen mit Down-Syndrom; etwa eines von 700
Kindern kommt mit 47 anstelle der üblichen 46
Chromosomen zur Welt: das Chromosom Nr. 21
liegt dreifach statt doppelt vor. Die körperliche
und geistige Entwicklung dieser Kinder ist beeinträchtigt, häufig aber nicht so schwer wie gemeinhin angenommen. Allerdings treten oft schon
früh begleitende Komplikationen auf, so auch bei
Tim, der wie viele Trisomie-21-Kinder mit einem
lebensbedrohlichen Herzfehler zur Welt kam.
„Dafür machte er, zum Beispiel beim Sprechen
Impulse 02_2015 55
verhältnismäßig früh sehr gute Fortschritte; Kinder mit Down-Syndrom haben da oftmals große
Schwierigkeiten“, berichtet seine Mutter, Susanne
Pohl-Zucker. „Wir denken, das liegt daran, dass
Lisa-Jane bereits als Kleinkind gern und viel geredet hat, gerade auch mit ihm.“
Solche Erzählungen weniger Eltern vor Augen,
suchte Wolfram Henn in Pubmed, der Datenbank
für medizinische Veröffentlichungen aus aller
Welt, nach Studien zu „Diskordanten DownSyndrom-Zwillingen“ (kurz: DDS-Zwillinge). Doch
abgesehen von ein paar weiteren Einzelfallbeschreibungen fand er – nichts. Dieses Nichts war
gleichsam die Initialzündung für die Idee zu dem
ungewöhnlichen Feldforschungsprojekt „DownSyndrom bei diskordanten Zwillingen“: weltweit
das erste Vorhaben, das sich mit den psychosozialen und ethischen Aspekten der Entwicklung
solcher Geschwisterpaare beschäftigt.
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Eingebunden letztlich in alle Phasen der Studie:
46 Familien mit Kindern fast aller Altersstufen
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Tim und Lisa-Jane machen am Esstisch ihre Hausaufgaben. Dabei
bekommt Tim die Unterstützung von Mama Susanne, derweil mit
Papa Michael zwischendurch gern mal getobt wird. Und wann
immer Zeit ist, tauchen die Geschwister ein in andere Welten
– und spielen Kasperletheater. Als kleine Manege dient der Türrahmen von Tims Zimmer. Die Geschichte, die heute aufgeführt
wird, haben sie sich wie jede ihrer Inszenierungen ausgedacht.
56
Wegen fehlender vergleichbarer Forschung, aufgrund der Besonderheiten der Studie und wegen
erwarteter Schwierigkeiten – würden überhaupt
genug Familien teilnehmen – hielt Henn es für so
gut wie unmöglich, staatliche Förderinstitutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft
als Mittelgeber zu gewinnen. „Es ist ein exploratives Projekt; es gab beim Start keine Literatur, auf
die wir uns berufen konnten, keine Hypothese,
die sich auf vorliegende Erkenntnisse und Ergebnisse gestützt verfolgen ließ.“ Die VolkswagenStiftung erkannte das Potenzial der Ideenskizze
und stellte schließlich 160.000 Euro bereit für
die außergewöhnliche Studie, die Wolfram Henn
2009 gemeinsam mit der Entwicklungspsychologin Professor Gisa Aschersleben startete. Ende
2014 legte das Team Ergebnisse vor.
Die Tatsache, dass es sich um Zwillinge handelte und nicht um gewöhnliche Geschwister mit
mehrjährigem Altersunterschied, barg für Henn
und Aschersleben jede Menge spannendes For-
schungspotenzial. Sie stellten ein Team zusammen
aus drei Medizinern, drei Psychologen und noch
einmal ebenso vielen studentischen Mitarbeitern.
Es gelang ihnen zunächst, rund sechzig Familien
für das Projekt zu begeistern, von denen zu guter
Letzt insgesamt 46 Familien in Deutschland und
Österreich an sämtlichen Phasen der mehrstufigen
Studie teilnahmen. Kinder fast aller Altersgruppen
sind dabei, angefangen bei Vierjährigen bis zu
jungen Erwachsenen im Alter von 18 Jahren. Nicht
zu jung, als dass sie sich nicht schon artikulieren
konnten, und zudem alt genug, um Empathie zu
zeigen; noch jung genug andererseits, um bei ihren
Eltern zu leben. Zugleich suchten und fanden die
Forscher die notwendige Kontrollgruppe.
Die Familien füllten in drei Erhebungsphasen
mehrere Testbogen aus, unter anderem mit Fragen
zu persönlichen Lebensumständen, Schwangerschaftsverlauf, Partnerbeziehung, Alltagsbelastungen, zur gesellschaftlichen Integration und
gesundheitlichen wie sozialen Entwicklung der
Zwillinge. Dann folgte ein persönlicher Besuch der
Wissenschaftler bei ihnen. Oft einen ganzen Tag
lang wurden die Familienmitglieder unabhängig
voneinander befragt. Außerdem machten die Forscher Videoaufnahmen und verschiedene Tests mit
den Kindern. „Dabei wollten wir vor allem sehen,
wie die Zwillinge miteinander umgehen“, sagt
Entwicklungspsychologin Gisa Aschersleben. Die
Wissenschaftler erhofften sich detaillierte Aufschlüsse darüber, wie die Kinder sich entwickeln
und wie sich das familiäre Zusammenleben darstellt – zumal es ja da und dort auch noch weitere
Geschwister gibt. Bis in die Einzelheiten interessierte sie etwa, auf wen und worauf im Tagesrhythmus
Zeit entfällt; desgleichen, wie das gesellschaftliche
Umfeld auf das ungleiche Zwillingspaar reagiert.
Einige der zuvor skizzierten Fragen kann das
Team nun beantworten, etwa die nach der
kognitiven Entwicklung jenes Zwillingskindes,
das nicht vom Down-Syndrom betroffen ist: Im
Vergleich mit den „Kontrollgruppenfamilien“, in
denen also Zwillinge ohne Down-Syndrom leben,
ließen sich keine nennenswerten Unterschiede
in der kognitiven Entwicklung feststellen. Die
Eltern der DDS-Zwillinge erklärten zudem mehrheitlich, das Kind ohne Down-Syndrom habe
vom Zusammenleben mit einem Geschwister,
das sich langsamer entwickle und eben „etwas
anders“ sei als andere Kinder, profitiert und starke soziale Kompetenzen aufgebaut.
Konfliktfeld Schule: Der Besuch einer integrativen
Einrichtung muss oft hart erkämpft werden
Die Kinder mit Down-Syndrom wiederum schauten sich vieles im Alltag von ihrem Zwilling ab,
ahmten ihn nach, orientierten sich an ihm überaus stark. Das wurde immer wieder mit Nachdruck betont, so auch vom Ehepaar Pohl-Zucker,
den Eltern von Tim und Lisa-Jane. Auch zeigten
die Gespräche mit den Familien ganz deutlich:
Fing das Kind ohne Down-Syndrom früh mit
dem Sprechen an, wirkte sich dies meist positiv
auf das sprachliche Artikulationsvermögen des
Zwillings mit Down-Syndrom aus.
Mehrheitlich berichteten die Familien mit DDSZwillingen zudem, sich aufgrund ihrer besonderen Situation nicht sozial isoliert zu fühlen.
Weitaus problematischer hingegen waren für
etliche von ihnen die Auseinandersetzungen mit
Institutionen. Einige Eltern schulpflichtiger Kinder beklagten zum Beispiel, sehr hart kämpfen zu
müssen, um geeignete integrative Schulen für ihre
Kinder zu finden: Sie mussten auf die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen pochen,
damit ihre Zwillinge zumindest die Grundschulzeit an derselben Schule verbringen durften.
Die beiden Leiter des
Forschungsprojekts: Gisa
Aschersleben und Wolfram Henn von der Universität des Saarlandes
Auch Katharina und Frank Gräf aus der Nähe von
Saalfeld in Thüringen haben entsprechende Erfahrungen gemacht. Sie sind Eltern der dreizehnjährigen Zwillingstöchter Victoria und Elisabeth.
Elisabeth, die Tochter mit Down-Syndrom, besucht
heute eine Regelschule, an der sie lerndifferenziert
unterrichtet wird. Um eine für ihr behindertes Kind
adäquate Grundschulzeit mussten Katharina
und Frank Gräf hart kämpfen. Der Ärger darüber,
die Wut, die Bitterkeit auch, die hochkommen bei
dem Thema, sind spürbar.
Impulse 02_2015 57
Inzwischen wüssten sie aus Kontakten zu anderen Eltern, die sie gerade auch über das Projekt
kennengelernt hätten, dass die Situation diesbezüglich in Deutschland sehr unterschiedlich sei.
Jenseits größerer Städte wie Erfurt oder Jena hätten sie ihr Bundesland hinsichtlich notwendiger
und angemessener Möglichkeiten als sehr rückständig erfahren: Die (integrative) Beschulung
behinderter Kinder sei vielerorts katastrophal
oder kaum gegeben, sagt Frank Gräf. Etwa 75 Prozent der so Heranwachsenden würden einfach in
Förderschulen weggesperrt.
Victoria und Elisabeth
(oben links) Gräf aus
der Nähe von Saalfeld
in Thüringen beim
gemeinsamen wöchentlichen Turntraining.
Der elfjährige Tim, den wir eingangs bereits
kennengelernt haben, besucht mittlerweile eine
integrierte Gesamtschule, braucht aber nach wie
vor sehr viel Betreuung und Beaufsichtigung. Das
fordert die ganze Familie, „weil wir oft nicht wis-
sen, was er als Nächstes anstellt“, sagt Susanne
Pohl-Zucker lächelnd. Sie fügt hinzu: „Lisa-Jane hat
inzwischen gelernt, sich gegen ihren dominanten
Bruder abzugrenzen.“ Ansonsten achte ihre Tochter aber immer sehr darauf, Tim zu integrieren.
Die Fünftklässlerin, die ein Gymnasium besucht,
sei sehr gut darin, Spiele oder Bastelaufgaben so
anzupassen, dass auch Tim daran teilhaben könne. Auch im Umgang mit ihren Freundinnen zeige
sie ein ähnliches Verhalten: Sie versuche oft, allen
gerecht zu werden. „Uns ist aber wichtig, und das
sagen wir ihr auch, dass sie dies nicht auf Kosten
ihrer eigenen Bedürfnisse und Meinungen tun
sollte“, sagt Vater Michael Zucker.
Die Studie zeigt: Es lässt sich wenig verallgemeinern
– einige Probleme haben jedoch fast alle Familien
In der letzten Erhebungsphase besuchte Doktorandin Katarzyna Chwiedacz, die auch zuvor schon
die skizzierten Tests und Gespräche mit den Kindern durchgeführt hatte, die Familien zu Hause
und interviewte sie ausführlich. Es wurden offene,
individuell auf jede Familie zugeschnittene Fragen
gestellt. „Eltern wie Kinder sollten frei berichten:
etwa von ihrem Alltag, ihrem Verhältnis zu Familienmitgliedern und Freunden und über positive
wie negative Erfahrungen“, erläutert die junge
Wissenschaftlerin. Dabei habe sich letztlich herausgestellt, dass es schwierig sei, allgemeingültige
Aussagen zur Entwicklung der DDS-Zwillinge zu
treffen, fasst die Psychologin zusammen. „Nur
eines steht fest: dass es große Unterschiede gibt
zwischen den Familien!“ Die individuelle Ausprägung des Down-Syndroms, das Vorhandensein
weiterer Geschwister und sogar deren Geschlecht,
der Wohnort – all das und anderes mehr beeinflusse Entwicklung und Verhalten der Zwillinge
und somit auch das Alltagsleben.
Jede Familie mit DDS-Zwillingen erfährt ihre
Lebenssituation anders. Elisabeth, die Tochter
mit Down-Syndrom der Thüringer Familie Gräf,
benötigt zum Beispiel deutlich weniger Begleitung als Tim Zucker. Sie fährt nach der Schule
allein mit dem Bus nach Hause und geht dann
58
mit dem Hund spazieren. Das entspannt den
Alltag, denn beide Eltern arbeiten Vollzeit als
Gymnasiallehrer. „Elisabeth ist sehr selbstständig, darüber müssen wir uns keine Gedanken
machen“, sagt Frank Gräf. Victoria sei nach wie
vor ein Vorbild für Elisabeth, vereint gehen sie
zum Geräteturnen, zum Klavierunterricht, spielen mit gemeinsamen Freunden. Dass die beiden
Mädchen nach der miteinander verbrachten
Grundschulzeit nun auf verschiedene Schulen
gewechselt sind, habe Elisabeths Entwicklung
jedoch sehr gut getan: „Dort hat sie ihren eigenen
Freundeskreis aufgebaut“, freuen sich die Eltern.
Doch Elisabeth profitiert nicht nur von ihrem
Vorbild Victoria. Umgekehrt sei sie in anderen
Dingen eine Stütze für die nicht behinderte
Schwester, erzählen die Eltern Gräf. So sind beide Mädchen in unbekannten Situationen eher
vorsichtig und zurückhaltend, Victoria könne
sich dann fast immer auf das gute Gespür ihrer
behinderten Schwester für fremde Menschen
verlassen. „Elisabeth spürt genau, wie ihr jemand
gegenübertritt und gesonnen ist – und ignoriert
die richtigen Leute“, beschreibt es der Vater.
Katarzyna Chwiedacz hat viele Stunden mit den
Projektfamilien verbracht: „Deren große Bereitschaft, mitzuwirken und offen alle Fragen zu
beantworten, hat uns positiv überrascht.“ Für ihre
Hausbesuche hat die junge Forscherin so viele Kilometer kreuz und quer durch Deutschland zurückgelegt, dass sie damit den Erdball hätte halb umrun-
den können, meint sie. Doch die Fahrten hätten
sich mehr als gelohnt: „Die Begegnungen mit den
Familien, ihre Offenheit, ihre Art, die Herausforderungen anzunehmen, die das Leben und der Alltag
mit den Zwillingen bereithalten: Das waren intensive Erfahrungen, die ich nicht missen möchte.“
Jeden Morgen bürstet
Victoria ihrer Zwillingsschwester Elisabeth vor
der Schule die Haare und
flechtet sie zu Zöpfen.
Bevor’s dann losgeht,
bekommt Vater Frank
von Elisabeth noch
Effekt jenseits der wissenschaftlichen Begleitung:
Die Familien kennen sich und sind vernetzt
Inzwischen sind über hundert „DDS-Zwillingsfamilien“ aus Deutschland und Österreich in der
Projektdatenbank erfasst, Tendenz: steigend.
Wolfram Henn und Gisa Aschersleben machen
seit Beginn immer wieder über Fachzeitschriften
und Meldungen, die sie versuchen in den Medien zu platzieren, ihr Thema, das inzwischen ein
Anliegen ist, publik – eben so, wie sie einst gezielt
nach Elternpaaren für die Studie gesucht hatten.
Diese Familien und weitere Interessierte können
über die Datenbank miteinander in Verbindung
treten. Zudem haben die Saarbrücker Forscher
die Website www.downsyndrom-zwillinge.de eingerichtet. Entsprechend rege ist mittlerweile der
Austausch: über Schwangerschaftsverläufe, die
Herausforderungen des Alltags, wie sich die Kinder entwickeln; vieles mehr.
schnell einen Kuss; Mutter Katharina ist schon
versorgt. Nachmittags
steht dann gemeinsames
Klavierspielen auf dem
Programm.
Beide Kernziele des Projekts wurden nach Meinung der beteiligten Wissenschaftler klar erreicht:
„Jenseits der Beantwortung entwicklungspsychologischer Fragen hat das Unterfangen einen starImpulse 02_2015 59
ken anwendungsbezogenen Nutzen“, betonen sie
immer wieder. „Für die Familien war von Anfang
an deutlich sicht- und erlebbar, dass wir nicht nur
über DDS-Zwillinge forschen wollen; sie haben
gespürt, dass es uns auch darum geht, sie etwa
bei der Vernetzung zu unterstützen“, bringt es
Gisa Aschersleben auf den Punkt. „So haben sie es
leichter, sich gegenseitig zu helfen, ihre Situation,
falls nötig, zu verbessern!“
Das Highlight für Forscher wie Familien sei das
große Wochenendtreffen für alle an der Studie Beteiligten gen Abschluss des Vorhabens
gewesen. „Die Resonanz darauf war überwältigend. Viele der Eltern sagten, dass sie durch den
persönlichen Austausch mit den anderen zum
ersten Mal das Gefühl bekommen hätten: Wir
sind nicht allein, es gibt noch andere Familien
wie uns“, sagt Henn.
„Ohrenkuss: da rein, da raus“ – das etwas andere Magazin
Die Idee zu „Ohrenkuss“ kam Gründerin Katja
de Bragança während eines „langweiligen
Forschungsvortrages“, sagt sie. Plötzlich sei sie
wieder hellwach gewesen, fährt sie in ihren Erinnerungen kramend lachend fort, „als vorn im Saal
jemand berichtet hat, wie ein Mann mit DownSyndrom die Geschichte von Robin Hood erzählt“.
Jener Wissenschaftler habe zeigen wollen, dass
die Betroffenen durchaus lesen und schreiben
können. Von diesem Gedanken war de Bragança
so ergriffen, dass sie beschloss, eine eigene Zeitschrift zu gründen. Mithilfe der Universität Bonn
und der VolkswagenStiftung, die das Projekt von
Beginn an als außergewöhnliches, für sie eigentlich ganz und gar untypisches förderte, wurde die
Idee 1998 Wirklichkeit.
Heute, 17 Jahre später, hat sich die Zeitschrift
längst am Markt etabliert und weder etwas vom
Enthusiasmus der Anfangszeit verloren noch
bietet sie Stillstand. Über alles Mögliche ist in
den Jahr für Jahr regelmäßig erscheinenden zwei
Ausgaben bereits berichtet worden – von gesellschaftspolitisch wichtigen Themen wie der Frage
„Warum Buchenwald?“ über die Lust an Luxusgegenständen bis hin zu Reisen in ferne Länder
wie die Mongolei. Inzwischen liefern sogar vierzig
Außenkorrespondenten regelmäßig Texte zu: von
der Schweiz bis in die USA.
Einmal alle zwei Wochen trifft sich gut ein Dutzend Redakteure, um die Ereignisse der vergangenen Tage zu besprechen und neue, mögliche
Themen für Beiträge zu diskutieren. In den 14
Tagen zwischen den Sitzungen wird recherchiert,
getextet, man geht auch gemeinsam auf Exkursion. Die Autoren tippen, schreiben von Hand oder
diktieren Assistenzkräften ihre Zeilen.
Rechtschreibung und Grammatik sind dabei in
diesem Magazin egal; die Texte werden so veröffentlicht, wie sie geschrieben sind – ohne Korrekturen oder Verbesserungen. Schließlich werden
die Artikel im „Ohrenkuss“ nur von Autoren mit
Down-Syndrom verfasst, und es gehört mit zum
Konzept, dass das sichtbar bleibt. Dem Leser
begegnen daher immer wieder „krumme“ Sätze
oder ungewöhnliche Wortschöpfungen, doch
gerade das schafft auch den ganz eigenen Zauber, den die Sprache der Autorinnen und Autoren
Katja de Bragança mit dem langjährigen Redaktionsmitglied
Achim Priester von der Zeitschrift „Ohrenkuss"
60
Victoria (links) und Elisabeth, die Tochter mit Down-Syndrom, bei
einem Spaziergang mit Hündin Leni. Die ganze Familie ist stolz,
dass Elisabeth sehr eigenständig ihren Alltag zu bewältigen weiß
– auch wenn die Mädels viel gemeinsam unternehmen. Elisabeth
habe sich an ihrer neuen Schule sogar einen eigenen Freundeskreis aufgebaut, freuen sich die Eltern. Nach wie vor sei es aber
so, dass die Mädchen durch viel Nähe voneinander profitierten.
Weitere Projekte
auf jeder Seite entfaltet. Egal welches Thema:
Immer wieder berühren diese oft so ungewöhnliche Sprache und die Sicht auf die Dinge; man
staunt häufig ob der Formulierungen – ob es um
Liebe geht, Glück oder Krieg.
Oder zum Beispiel um Musik. „Heißer Mann mit
viele Ketten. Und ist Rapper.“ So würde wohl sonst
niemand schreiben über das Machogehabe eines
US-Popstars: „Sehr, sehr groß sein und cool sein.
Mann sagt yo-yo, ich liebe Frauen.“ Und später:
„Mann zu sein ist nicht einfach. Denn sie wollen
immer den Boss oder den Chef zeigen und über
sinnlose Sachen zu diskutieren und müssen
immer Recht haben aber das wollen sie ja nicht
zugeben und geraden öfters außer Kontrolle über
sich selber.“
Es ist fürwahr ein etwas anderes Magazin, das alle
Menschen gleichermaßen bewegt, ob mit oder
ohne Handicap. Dabei klingt das Thema DownSyndrom zwar auf natürliche, manchmal nachdenkliche, oft auch humorvolle Weise immer mit,
doch die Redakteure und freien Schreiber fokussieren nicht darauf. „Stattdessen zeigen die Ohrenkuss-Beiträge, dass Menschen mit Down-Syndrom
ganz normale Menschen sind“, sagt Projektleiterin
de Bragança. „Behindert war gestern!“
Zu dem unkonventionellen Stil passt auch der
Name des Magazins. Während einer der ersten
Redaktionssitzungen küsste einer der Teilnehmer
Katja de Bragança unvermittelt aufs Ohr. „Und von
da an stand der Titel eigentlich fest“, erinnert sich
die Humangenetikerin. Motto der Redaktion: „Man
hört und sieht ganz vieles – das meiste davon geht
zum einen Ohr hinein und zum anderen sofort
wieder hinaus. Aber manches ist wichtig und
bleibt im Kopf: Das ist dann ein Ohrenkuss.“
Von diesen Ohrenküssen finden sich in den
bislang über dreißig Ausgaben des Magazins
unzählige. Für viele Berichte, auch den über den
US-Rapper, wurde Ohrenkuss inzwischen ausgezeichnet: Im Jahr 2010 etwa mit dem Designpreis
der Bundesrepublik Deutschland, zuvor schon
unter anderem mit dem Jugendkulturpreis NRW,
dem Deutschen PR-Preis oder dem Förderpreis des
Deutschen Bundestags. Und Ohrenkuss-Chefredakteurin Katja de Bragança erhielt 2010 für ihr
Engagement das Bundesverdienstkreuz.
Lassen wir sie zum Schluss noch einmal zu Wort
kommen: „Das Down-Syndrom ist schon hart“,
sagt sie. „Aber das gemeinsame Reden bei den
Treffen und das Schreiben machen Mut und
machen stark.“ Die Arbeit für das Magazin bereitet Freude, sind sich alle Redakteure einig. „Ich
bin da, weil ich schreiben kann“, wirft einer in die
Runde. „Das bedeutet für mich Glück, und Glück
bedeutet für mich Hoffnung und Vertrauen. Ich
war schon sehr glücklich von ganzem Herzen.
Wenn ich lache, dann bin ich glücklich. Ich bin
hier sehr mit meiner Glücklichkeit zufrieden.“
Christian Jung
Impulse 02_2015 61
62
Schwerpunktthema
Neue Sichtachsen und Zugänge
Heilen mit
Stammzellen?
Den Weg, den er geht, ist bisher
wohl niemand gegangen: FreigeistFellow Dr. Volker Busskamp kombiniert in einem neuen Ansatz Bioingenieur- und Neurowissenschaften
sowie Stammzellforschung. Sein
Ziel ist es, funktionsfähige menschliche Nervenschaltkreise künstlich
herzustellen: zum einen, um mehr
über bestimmte Eigenschaften
unseres Nervengewebes zu erfahren; zum anderen in der Hoffnung,
dass die Erkenntnisse therapeutisches Potenzial etwa für neurodegenerative Erkrankungen haben.
Dr. Volker Busskamp entwickelt eine Technik, mit der sich Stammzellen schnell und passgenau zu Nervenzellen ausdifferenzieren
lassen. Das Ziel: neue Behandlungsoptionen für verschiedene
Erkrankungen. Der Bildschirm zeigt den Ausschnitt einer Netzhaut; die Erforschung des Sehverlusts ist eines seiner Themen.
Impulse 02_2015 63
Text: Christian Jung // Fotos: Sven Döring
A
usgestattet mit einem FreigeistFellowship der VolkswagenStiftung, arbeitet
Dr. Volker Busskamp seit Herbst 2014 im DFGForschungszentrum für Regenerative Therapien
Dresden (CRTD) der Technischen Universität
Dresden an der Entwicklung einer Technik, mit
der sich Stammzellen schnell und zielgerichtet zu
Nervenzellen ausdifferenzieren lassen sollen. Nun
sind Stammzellen nicht gleich Stammzellen: Man
unterscheidet zunächst grundsätzlich nach Art
des Zelltyps und deren Potenzial. So haben einige
Stammzellen die Fähigkeit, sich in jegliches Gewebe zu entwickeln (embryonale Stammzellen),
andere können nur noch in bestimmte festgelegte
Gewebetypen ausdifferenzieren (adulte Stammzellen). Darüber hinaus gibt es die sogenannten
induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS)
sowie multipotente Stammzellen.
Als pluripotent werden Zellen bezeichnet, die
schon einmal ausdifferenziert waren, sich nach
ihrer „Rückversetzung“ in ein früheres Stadium
aber wieder in sämtliche Körpergewebe umwandeln können; multipotente vermögen das zumindest in einige Zelltypen. Die künstliche Reprogrammierung ausdifferenzierter Zellen des Körpers, die
wie beschrieben zu den iPS-Zellen führt, lässt sich
inzwischen durch verschiedene Techniken anregen. Im Jahr 2012 wurde für die Entdeckung der iPSZellen der Nobelpreis für Medizin vergeben.
Induzierte pluripotente Stammzellen, deren Verwendung weniger ethische Probleme und gesetzliche Vorschriften mit sich bringt als die Arbeit
mit embryonalen Stammzellen, bergen unzählige
Möglichkeiten für die medizinische Forschung.
Sie sind wandlungsfähige Alleskönner, die sich
prinzipiell zu jeder beliebigen spezialisierten Zelle
weiterentwickeln können beziehungsweise züchten lassen: zum Beispiel zu Haut-, Herzmuskeloder Leberzellen, weißen Blutkörperchen – oder
eben Nervenzellen. Wenngleich iPS-Zellen natürlichen Stammzellen in vielen Eigenschaften stark
ähneln, ist ungeklärt, ob sie in allen Merkmalen
mit natürlichen Stammzellen übereinstimmen.
Einige gerade in jüngster Zeit vorgelegte Studien
sprechen eher dagegen.
iPS-Zellen kommt vermutlich auch (hohes) therapeutisches Potenzial zu. Sie gelten aus medizinischer Sicht als Ausgangspunkt, um erkrankte oder
abgestorbene Zellen des Körpers zu ersetzen. Dies
ist umso mehr von Bedeutung, als sich im Prinzip
für jeden Menschen individuell zugeschnittene,
also passende iPS-Zellen erzeugen lassen, die im
Falle einer Transplantation vom Körper nicht
abgestoßen werden.
Freigeist-Fellow Volker Busskamp plant nun, mit
von ihm zunächst aus Stammzellen generierten
künstlichen Nervenzellen in einem weiteren
Schritt funktionale menschliche Nervenschaltkreise herzustellen, um so Rückschlüsse auf die
Eigenschaften menschlichen Nervengewebes ziehen zu können sowie neurodegenerative Erkrankungen zu modellieren. Sein Vorgehen ist dabei
überraschend anders. Inwiefern und was er genau
vorhat und damit perspektivisch erreichen will:
Darüber sprach er mit Christian Jung.
Die Weitergabe seines Wissens ist ihm wichtig. Regelmäßig lädt
Volker Busskamp die am Forschungszentrum für Regenerative
Therapien Dresden (CRTD) in einer Vielzahl von Arbeitsgruppen
beschäftigten Nachwuchswissenschaftler zu Seminaren ein.
64
Volker Busskamp studierte zunächst Biotechnologie an der
Technischen Universität Braunschweig. Im Anschluss erwarb er
an der Universität Genf ein Postgraduiertendiplom in Biologie
und promovierte 2010 in Neurobiologie am Friedrich Miescher
Institut für Biomedizinische Forschung der Universität Basel.
2011 folgte der Sprung in die USA an die Harvard Medical School
in Boston. Seit Ende 2014 leitet er die Forschungsgruppe zur
„Entwicklung synthetischer menschlicher Nervenschaltkreise“
am Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden.
Der erst 34-Jährige hat bereits zahlreiche Fellowships und
Auszeichnungen erhalten. Er ist einer der elf „Freigeist-FellowPioniere“, die 2014 – gefördert mit insgesamt 8,2 Millionen Euro
– als Gewinner der ersten Wettbewerbsrunde der neuen Förderinitiative der VolkswagenStiftung mit ihren Projekten starten
konnten. Das fachoffene Freigeist-Angebot richtet sich an exzellente Postdoktorandinnen und Postdoktoranden, die risikobehaftete, unkonventionelle Forschung an deutschen Hochschulen
und Forschungseinrichtungen betreiben möchten. Es soll dem
wissenschaftlichen Nachwuchs neue Wege im Wissenschaftssystem eröffnen und Karriereperspektiven bieten. Davon profitieren inzwischen weitere acht Fellows, die im Frühjahr 2015
erfolgreich aus der zweiten Wettbewerbsrunde hervorgingen
und im Laufe des Jahres 2015 mit ihren Projekten beginnen.
Herr Busskamp, Sie wollen eine neue Technik
entwickeln, um eines der komplexesten biologischen Systeme besser erforschen zu können – das
Gehirn. Können Sie kurz detaillieren, was Sie konkret vorhaben und inwiefern Stammzellen dabei
eine Rolle spielen?
In der Tat ist das menschliche Gehirn äußerst
komplex. Man schätzt, dass es 100 Milliarden Nervenzellen gibt, und eine einzelne Nervenzelle kann
bis zu 30.000 Verknüpfungen mit anderen Zellen
eingehen. Nun ist Nervenzelle nicht gleich Nervenzelle; es gibt nach derzeitigem Wissensstand schätzungsweise rund 320 verschiedene Zellklassen mit
einen unbekannten Zahl an Subtypen. Um dieser
Komplexität entgegenzutreten, konzentrieren sich
viele Forscher in ihrer Arbeit traditionell auf spezielle Hirnareale. Mein Ansatz zielt nun nicht auf
eine Fragmentierung des menschlichen Gehirns,
sondern ich möchte einzelne Nervenschaltkreise
kreieren – also letztlich ebenfalls Teile des Gehirns,
aber ich sehe mehr den übergreifenden Vernetzungsaspekt als die Anatomie.
Entscheidend ist, dass es mir zu Beginn gelingt,
aus bestimmten Stammzellen Nervenzellen zu
züchten, die dann später gezielt verknüpft werden
können. Ich verwende adulte menschliche, genauer: induzierte pluripotente Stammzellen – wir
nennen sie kurz iPS-Zellen (nähere Erklärung siehe
Einleitungstext). Sie sind ethisch unbedenklich
und haben das Potenzial, in Nervenzellen zu differenzieren; sie sind einfach zu handhaben und
zu modifizieren. Eine unserer Zwischenetappen
ist es, unmittelbar in Stammzellen genetische
Faktoren so kontrollieren zu können, dass eben
jene Stammzellen sich verlässlich in verschiedene
Typen von Nervenzellen programmieren lassen.
Sobald ich eine Palette unterschiedlicher Nervenzellen stabil vorliegen habe, wird die nächste
Herausforderung sein, einzelne davon gezielt zu
verbinden. Dazu werden wir auf Objektträgern
bioaktive Polymere in Form von Schaltkreisen aufbringen und anschließend die Zellen hinzugeben.
Die Nervenfortsätze können nur an den PolymeImpulse 02_2015 65
Blick in die Tierhaltung
im Keller des Forschungszentrums für Regenerative Therapien in Dresden
(CRTD). Hier tummeln
sich, bestens betreut von
Anja Wagner (links) und
Beate Gruhl, Krallenfrösche, Zebrafische und
ein großer Bestand an
Axolotln, einer in Mexiko
in unterirdischen Höhlen
lebenden Salamanderart.
66
ren haften und entlangwachsen. Auf diese Weise
sollte es uns gelingen, verschiedene Zellen gezielt
zusammenzuführen. An definierten Knotenpunkten werden wir versuchen, eine kontrollierte
Synaptogenese zu induzieren, das heißt: zelluläre Verbindungen zu schaffen. Auf diese Weise
erhalten wir funktionale Nervenschaltkreise aus
menschlichen Zellen.
Zusammengefasst: Bei Ihrem Projekt geht es darum, synthetische Nervenschaltkreise zu kreieren.
So wie Sie das erläutern, hört sich das ebenso
logisch nachvollziehbar wie zugleich schwierig in der Umsetzung an. Beherrschen Sie denn
bereits das nötige Handwerk dafür – und welches
womöglich therapeutische Ziel wollen Sie genau
erreichen?
Um mit dem Ende Ihrer Frage zu beginnen: Letztlich geht es darum, auf der Basis meines Ansatzes
herauszufinden, wie das menschliche Gehirn
Informationen verarbeitet. Spannend wird es
auch, wenn es uns – deshalb verwenden wir Zellen vom Menschen – gelingt, krankheitsrelevante
Mutationen einzufügen, um biomedizinische
Anwendungen für bestimmte neurodegenerative
Erkrankungen zu erforschen. Denken Sie allein
einmal an das mögliche therapeutische Potenzial
bei Parkinson, hier weiß man ja inzwischen, dass
zumindest bei einem nicht unerheblichen Anteil
der Betroffenen ein oder mehrere Gendefekte der
Krankheit zugrunde liegen können.
Was die Technik und die Handhabbarkeit angeht:
Grundzüge der von meiner Arbeitsgruppe jetzt
eingesetzten Technik, Stammzellen besonders
schnell in Nervenzellen umzuwandeln, habe ich in
den USA mit entwickelt. Beim Menschen können
wir die Informationsverarbeitung im Gehirn bisher kaum unmittelbar überprüfen – aus ethischen
Gründen, aber auch, da immer gleich unzählige
Nervenzellen beteiligt sind und komplex zusammenwirken. Mein Verfahren ermöglicht es nun,
zwei oder künftig einmal auch mehrere Neuronen
gezielt und reproduzierbar zusammenzuschalten
und damit in der Petrischale zu überprüfen, wie
menschliche Nervenzellen Informationen verarbeiten: wie letztlich also unser Gehirn in dieser
Hinsicht funktioniert.
Alles in allem ist es also Ihr Ziel, Zusammenhänge
zu erkennen, die bestehen bei Prozessen wie etwa
der Zellentwicklung, der Zellmorphologie, der
Kommunikation zwischen Zellen mittels Botenstoffen und anderen Molekülen – bis hin zu der
Frage, was sich daraus für die eine oder andere
Erkrankung ableiten lässt …
Ja. Denken Sie allein einmal daran, dass sich bislang – etwa bei vielen Hirnerkrankungen – zahllose wechselseitige Abhängigkeiten auf biomolekularer oder anderen Ebenen mangels geeigneter
Techniken und Methoden und wegen der enormen Menge beteiligter Nervenzellen längst noch
nicht lückenlos erforschen oder sicher beschreiben
lassen. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: Bei
einer neurodegenerativen Erkrankung wie Alzheimer oder auch der Netzhautdegeneration sterben
bestimmte Zellen ab. Doch es nützt nichts, nur
diese Zellen zu betrachten, denn man weiß mittlerweile, dass sich eine einzelne Nervenzelle nicht
als geschlossene Einheit begreifen lässt. Jede Zelle
bekommt Inputsignale, verarbeitet diese und sendet sie weiter zu unter Umständen gleich mehreren postsynaptisch gelegenen Zellen. Daher wäre
es erstrebenswert, überschaubare multizelluläre
menschliche Nervenschaltkreise als Modell zu
haben. Zum einen, um von der Betrachtungsebene
der einzelnen Nervenzelle wegzukommen; zum
anderen, um neuen Therapieansätzen losgelöst
von Tiermodellen nachgehen zu können. Eben in
diese Lücke stößt mein Ansatz.
Sie sagen, Sie wollen sich nicht auf ein bestimmtes
Hirnareal beschränken. Aber wäre das nicht doch
der einfachere Weg – gerade im Hinblick darauf,
dann schneller ein wissenschaftlich belastbares
Modell an der Hand zu haben?
Eine solche Fokussierung erscheint in der Tat
zunächst einmal plausibel, jedoch können wir
zurzeit nur eine sehr geringe Anzahl von Nervenzellen herstellen. Bisher haben wir zu wenige Zell-
typen, die ein Hirnareal sinnvoll repräsentieren
könnten. Daher ist der erste Schritt, so viele Bauteile wie möglich zu erzeugen – das heißt, möglichst viele verschiedene Nervenzellen für unsere
Verknüpfungsversuche zu bekommen.
Sie sind von Haus aus Biotechnologe; das was Sie
tun, könnte man als neurobiologisch inspirierte
Bioingenieurwissenschaften bezeichnen … – ein
neues Forschungsfeld?
Man könnte meine Arbeit in der Tat so deklarieren. In jedem Fall eröffnet eine solche Zusammenführung etablierter Disziplinen neue
Forschungsräume, aber ob sich da am Ende ein
neues Forschungsfeld auftut, wird die Zukunft
zeigen. Den Weg, den ich gehe, ist noch kaum
jemand gegangen: Bioingenieurwissenschaften,
Stammzellforschung und Neurowissenschaften
zu kombinieren, um mit künstlich hergestellten,
funktionsfähigen menschlichen Nervenschaltkreisen eine neue Methode zu etablieren, die
dann therapeutisches Potenzial entfalten soll.
Für die fernere Zukunft denken Sie sogar an „biologische Computer“. Was meinen Sie damit?
Zunächst einmal ist mir wirklich daran gelegen,
dass die neue Methode funktioniert und dazu
beiträgt, neuronale Krankheiten wie Alzheimer
oder Netzhautdegeneration besser zu erforschen
und zu verstehen. Davon ab: Wir gehen ja generell
davon aus, dass Nervengewebe eine Art biologischen Computer darstellt. Jedoch ist es in den
vergangenen hundert Jahren trotz intensiver
Forschung nicht gelungen, den neuronalen Code
Ein Transilluminator macht
deutlich, was zuvor geschah:
Zunächst wurde die Erbsubstanz DNA in einem Gel
aufgereinigt. Dann werden
bestimmte, mithilfe des
Illuminators identifizierte
DNA-Fragmente aus dem Gel
ausgeschnitten, um diese
anschließend mithilfe von
Vektoren klonieren zu können.
Impulse 02_2015 67
zu knacken, also jene Sprache in Form von Aktionspotenzialen zu entschlüsseln, mit der Nervenzellen
kommunizieren. Die definierten und isolierten
synthetischen Schaltkreise unter konstanten Bedingungen, die ich schaffen will, könnten dazu beitragen, dieses Rätsel zu lösen. Im Umkehrschluss kann
man die synthetischen Schaltkreise auch als biologische Computer verstehen, die bestimmte Informationen verarbeiten können. Die ersten technischen Computer konnten am Anfang auch nur eins
plus eins rechnen. Mal sehen, was wir in Zukunft
durch Nervenzellen berechnen lassen können …
Sie haben für das Freigeist-Fellowship die Harvard
Medical School in Boston hinter sich gelassen. Nun
ist Dresden Ihr neuer Wirkungsort. Warum haben
Sie gerade das Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) ausgewählt, es gibt
doch sicher einige mindestens ebenso renommierte Einrichtungen in Deutschland, an die man bei
Ihrem Forschungsthema sofort denkt …
Vermutlich käme im ersten Moment niemand auf
die Idee, die Gesamtsituation in Harvard und Dresden zu vergleichen. Betrachtet man allerdings den
biomedizinischen Campus der Technischen Univer-
Young Investigator Award für Volker Busskamp
Im November 2014 erhielt Dr. Volker Busskamp
den Young Investigator Award der „European Society of Gene & Cell Therapy“. Ausgezeichnet wurde
seine Forschung zum Erhalt der Lichtempfindlichkeit von Fotorezeptoren in der Netzhaut. „Die
Ergebnisse ermöglichen es nun, bestimmte Formen der Blindheit weitaus besser zu erforschen
und sich einer Therapie zu nähern“, sagt er.
Säugetiere besitzen in der Netzhaut Lichtsinneszellen, die für das Sehen verantwortlich sind.
Dabei unterscheidet man Stäbchen-Fotorezeptoren, die das Sehen in der Dämmerung und bei
Nacht gewährleisten, und Zapfen-Fotorezeptoren
für das Tageslicht- und Farbsehen. Bei vielen
Augenkrankheiten, die wie beispielsweise die
Retinitis Pigmentosa erblich sind und zur Blindheit
führen, sterben die Stäbchen-Rezeptoren ab. Im
Auszeichnung
weiteren Verlauf verlieren die Zapfen-Rezeptoren
aus unbekannten Gründen ihre lichtsensitiven
„Antennen“, obwohl diese eigentlich nicht von
den jeweiligen Mutationen betroffen sind.
In den vergangenen Jahren haben die therapeutischen Möglichkeiten dazu geführt, diese Zapfen zu reaktivieren – was jedoch eine sehr hohe
Lichtintensität erfordert. Um nun aber das Sehen
bei Raumlicht sicherzustellen, wäre der Erhalt
oder die Regeneration der natürlichen „Antennen“
der Zapfen auch bei anderen Zapfenerkrankungen
wie zum Beispiel der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) vonnöten.
Volker Busskamp entdeckte mit seinem Team bei
Mäusen zwei kleine RNA-Sequenzen (sogenannte
microRNAs), denen eine Schlüsselrolle zukommt
beim Erhalt der lichtempfindlichen „Antennen“
der Fotorezeptoren in der Retina. Mit diesem
Wissen konnte er die Struktur lichtempfindlicher
Fotorezeptoren bei Mäusen bewahren, die sonst
erblindet wären. Gleichzeitig gelang es ihm, mit
diesen microRNAs lichtempfindliche „Antennen“
zu induzieren in Fotorezeptoren von Netzhäuten,
die aus Stammzellen erzeugt wurden.
Christian Jung
Lisa Kutschke und Evelyn Sauter aus der Arbeitsgruppe von
Volker Busskamp legen Zellkulturen an.
68
Doktorandin Aida Rodrigo Albors ist eine von vielen jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die es nach Dresden
ins Forschungszentrum für Regenerative Therapien zieht.
Auf den Fluren scheint man alle Sprachen dieser Erde zu hören.
sität Dresden in Johannstadt und hier insbesondere
das CRTD mit seinem Fokus auf neurodegenerative
Erkrankungen, so stellt man schnell fest, dass ich
für mein Projekt kein besseres Umfeld hätte finden
können. Die Infrastruktur des DFG-Forschungszentrums für Regenerative Therapien und die dort seit
Jahren geleistete Wissenschaft sind einfach hervorragend. Nicht ohne Grund wurde das CRTD bereits
drei Mal erfolgreich evaluiert und wird als DFG-Forschungszentrum und als „Exzellenzcluster“ fortgeführt. Ein laufendes Qualitätskriterium ist zudem
der umfangreiche Output an qualitativ hochwertigen Ergebnissen, die namhaft publiziert sind und
international von der Community wahrgenommen
werden. Übrigens: 2014 fand am CRTD der 5. Internationale Stammzellkongress statt, und im Februar
2016 folgt die Tagung der großen internationalen
Gesellschaft für Stammzellforschung ISSCR.
Fazit also: Es gibt in Deutschland kaum ein zweites wissenschaftliches Umfeld, in das Sie mit Ihrer
interdisziplinären fachlichen Expertise so gut passen wie in das Dresdner?
Vermutlich ja. Zumindest, alle Details zusammengenommen. Ich habe hier für meine Fragestellung
ein einzigartiges Umfeld gefunden. Viele Kollegen
des Biocampus arbeiten an exakt jener Schnittstelle von Stammzellforschung, Neurobiologie
und Bioingenieurwissenschaften, an der auch
ich meine Arbeit platziere. Daraus werden sich
zweifelsohne zahlreiche neue Impulse und Kooperationen ergeben – erste Gespräche gab es schon
kurz nach meinem Start im September 2014. Nicht
weniger entscheidend war und ist für mich auch,
dass ich meine Ideen am CRTD in großer Eigenständigkeit vorantreiben kann – bei sowohl guten
und engen Kontakten zu den Arbeitsgruppen hier
im Haus als auch zu den großen Flaggschiffprojekten im Bereich der Gehirnforschung in Europa
und darüber hinaus.
Das CRTD ist ja neben den Forschungsfeldern, zu
denen Ihr Vorhaben, wie Sie gerade beschrieben
haben, gut passt, auch bekannt für besondere
Tiermodelle: etwa den großen Bestand an Axolotln. Sind diese Tiere – oder andere wie Zebrafische – relevant für Ihre Arbeit?
Axolotl und Zebrafische sind Weltmeister in der
Regeneration von Körperteilen, auch von Nervengewebe. Ich verspreche mir in der Tat aufgrund
der besonderen Gegebenheiten hier, die Sie gerade angerissen haben, interessante Kooperationen
mit Arbeitsgruppen vom CRTD selbst und dadurch
weitere Projektideen. Wie beispielsweise lassen
sich neu gebildete Nervenzellen in vorhandene
Nervenschaltkreise einbringen? Das ist doch eine
spannende Forschungsfrage, die sich bruchlos in
meine Arbeit einbinden lässt.
Warum haben Sie sich gerade für ein FreigeistFellowship der VolkswagenStiftung entschieden?
Forschungsgelder sind grundsätzlich rar. Damit
einher geht in Deutschland zumeist ein hohes
Sicherheitsdenken bezüglich der Förderung
von Projekten, und so wird interdisziplinäre
und vor allem risikoreiche Forschung nur selten
unterstützt – zumal wenn auch noch einiges an
Impulse 02_2015 69
Fördermitteln benötigt wird. Viele Forschungsförderer betonen zwar, sie suchten „riskante“
Projekte. Doch was gefördert wird, ist oft totaler
Mainstream und arg konventionell angelegt. Die
VolkswagenStiftung ist da eine große Ausnahme
und dafür auch über die Maßen bekannt; sie hält
immer wieder entsprechende interessante Angebote für die Wissenschaft bereit. Und mit den
Freigeist-Fellowships hat sie ja letztlich ohne Zweifel eine Lücke geschlossen – für mich ist das die
notwendige finanzielle Unterstützung, eine kleine
Forschungsgruppe aufbauen zu können. Vor allem
habe ich einen längeren Zeitraum vor mir, in dem
ich ruhig und gesichert arbeiten und damit die
neue Technik entwickeln kann. Die Stiftung unterstützt mich dabei mit rund einer Million Euro
über einen Zeitraum von fünf Jahren: Das ist doch
wirklich beachtlich, und das gibt einem schon
eine recht lange Planungssicherheit.
Herr Busskamp, herzlichen Dank für das Gespräch
und viel Erfolg bei Ihrer Forschung.
Das Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD)
Die weit über hundert in Dresden am CRTD arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
verbindet ein grundlegender Gedanke: Sie interessieren sich in allen denkbaren Facetten für das
Selbstheilungspotenzial des menschlichen Körpers.
Mit ihrer Forschung und Suche nach den Schlüsseln
für die Mechanismen der Selbstheilungsprozesse
bereiten sie mittelfristig neuartigen regenerativen
Therapien den Boden. Am Ende, hofft man dort
über alle Arbeitsgruppen hinweg, stehen Behandlungsoptionen für möglichst viele bislang unheilbare Krankheiten wie Diabetes, Augenerkrankungen, Parkinson oder Alzheimer. Dabei setzen die
Forscher bei den zellulären und molekularen Ursachen von Krankheiten an; im Mittelpunkt der regenerativen Ansätze steht die Stammzellforschung.
Die Aktivitäten am CRTD sind gebündelt in die
Bereiche Hämatologie und Immunologie, Diabe-
tes, Neurodegeneration und Degeneration der
Retina sowie Knochenregeneration. Überall versuchen die Forscher dabei von der Natur zu erfahren
und ihr womöglich abzuschauen, wie Regeneration und Plastizität lebenslang erfolgen. Denn viele
Tiere sind dem Menschen in solchen Leistungen
weit überlegen – etwa der in Mexiko lebende
Lurch Axolotl, dessen Gliedmaßen und Schwanz
sich nach Verlust wieder regenerieren können.
Auch der Zebrafisch hat die erstaunliche Fähigkeit,
Teile des Herzens, des Gehirns oder der Netzhaut
wieder nachwachsen zu lassen.
Ein Schwerpunkt am CRTD ist die Erforschung von
Demenzen wie Alzheimer sowie von neurodegenerativen Erkrankungen. Insbesondere die Grundlagenforschung in zugleich enger Ausrichtung auf
mögliche therapeutische Optionen vor allem bei
Parkinson und ALS (Amyotrophe Lateralsklerose)
hat am CRTD jüngst eine kräftige Verankerung
und Verstärkung erfahren. So ist es dort bereits
gelungen, bestimmte iPS-Zelllinien zu entwickeln,
aus denen sich theoretisch zahlreiche verschiedene, von Morbus Parkinson oder Amyotropher
Zwei von mehreren hundert Axolotln im CRTD. Die Tiere sind
erstaunlich regenerationsfähig und dienen als Modellorganismus
zur Erforschung von Selbstheilungs- und Alterungsprozessen.
70
Zwischendrin ist auch mal
Zeit für die Familie: Kurzbesuch von Volker Busskamps
Frau Susanne und den Söhnen
Lukas und Julius (auf dem
Schoß) in seinem Büro. Die
Familie sei schnell heimisch
geworden in Dresden und
habe vonseiten des Instituts
viel Unterstützung erfahren,
betonen beide Eltern.
Hintergrund
Lateralsklerose „betroffene“ Nervenzellen differenzieren lassen. Diese Nervenzellen können Wissenschaftler dann im Labor als Modell nutzen, um die
molekularen Mechanismen zu untersuchen, die
bei diesen Erkrankungen eine Rolle spielen. Gleichzeitig stellen iPS-Zelllinien eine fast unerschöpfliche Quelle dar, um unmittelbar an menschlichen
Nervenzellen neue Medikamente gegen Parkinson
und ALS zu testen und zu identifizieren.
Eine Arbeitsgruppe um Professor Dr. Gerd Kempermann, vor Jahren von der VolkswagenStiftung
im begehrten „Nachwuchsgruppenprogramm“
gefördert, untersucht schon länger äußerst erfolgreich am CRTD die Funktion von Stammzellen im
erwachsenen und alternden Gehirn und beschäftigt sich mit der Neubildung von Nervenzellen,
der sogenannten adulten Neurogenese. Welchen
Beitrag leisten Stammzellen im erwachsenen
Gehirn für die lebenslange Anpassungsfähigkeit des Gehirns? Sicher scheint inzwischen: Die
neuen Nervenzellen stehen in einem engen und
bedeutsamen Zusammenhang mit Lern- und
Gedächtnisvorgängen. „Aktivität“, sei sie geistig
oder körperlich, steigert die adulte Neurogenese
und trägt zu „erfolgreichem Altern“ bei. Ziel der
Forschung in der Arbeitsgruppe ist es, die komplexen genetischen Grundlagen aufzuklären, wie
„Aktivität“ gleich welcher Art auf jene Stammzellen des Gehirns wirkt, aus denen dann die neuen
Nervenzellen entstehen.
Geforscht wird aber nicht nur an neuen Strategien
zur Prävention und Therapie chronischer neuropsychiatrischer Erkrankungen. Ebenso im Fokus:
das erfolgreiche „normale“ Altern des Gehirns.
So interessieren sich mehrere Wissenschaftlerteams am CRTD insbesondere dafür, warum
die Zellen des mexikanischen Schwanzlurches
Axolotl das Potenzial haben, ganze Gliedmaßen
oder den Schwanz nachwachsen zu lassen. Daraus resultieren die Fragen: In welchem Ausmaß
können die für die Regeneration verantwortlichen
Zellen neue Stammzellen bilden? Und wie wird
die erneute Zellteilung ausdifferenzierter Zellen
gesteuert und kontrolliert? Wie also erlangen sie
die Fähigkeit zurück, sich in nahezu jeden Zelltyp
eines Organismus zu differenzieren?
Wird man einst wissen, wie Salamander die Regeneration des Rückenmarks und von Gliedmaßen
bewerkstelligen, könnte dies helfen, entsprechende Regenerationsprozesse beim Menschen zu
stimulieren. Auch beim Zebrafisch ist man forsch
dabei, die der erstaunlichen Regenerationsfähigkeit des Fischgehirns zugrunde liegenden genetischen und molekularen Prinzipien nach und
nach erfolgreich zu entschlüsseln. Für das CRTD
bleibt es spannend – so und so: Denn 2017 endet
zunächst die Förderung aus dem Exzellenzprogramm von Bund und Ländern.
Christian Jung
Impulse 02_2015 71
Forum
Aus der Wissenschaftsförderung
der Stiftung: Auszeichnungen
und neue Bewilligungen
Symbiosen, die auf Antibiotika beruhen: Forscher
findet Allianz zwischen Insekten und Bakterien
Dr. Martin Kaltenpoth vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena erhält den
Forschungspreis 2014 des Landes Thüringen für herausragende wissenschaftliche Leistungen.
Ruf an die Universität Mainz auf die Professur für Evolutionäre Ökologie zum April 2015.
Dr. Martin Kaltenpoth
(unten links) und sein
Team (rechts) haben sich
mit der Symbiose zwischen dem Europäischen
Bienenwolf, einer Grabwespenart, und Antibiotika produzierenden Bakterien beschäftigt. Oben
rechts: ein männlicher
Bienenwolf. Mitte links:
ein Bienenwolfweibchen
bringt eine gefangene
Biene in ihre Bruthöhle;
mehrere Monate überwintert die Bienenwolflarve
im Kokon, bevor das ausgewachsene Tier schlüpft.
Von Symbionten produzierte Antibiotika auf der
Kokonoberfläche bieten
Schutz vor mikrobiellen
Schädlingen (die Menge
der Antibiotika ist durch
Massenspektrometrie
sichtbar gemacht). Oben
links: Querschnitt durch die
Antenne eines Bienenwolfweibchens; gut zu erkennen: die symbiontischen
Streptomyces-Bakterien
(hellblau angefärbt). Unten
rechts: StreptomycesBakterien (angefärbt).
72
Symbiosen bezeichnen eine Form des Zusammenlebens verschiedener Arten von Lebewesen.
Sie sind in der Natur allgegenwärtig und für das
Überleben von Tieren und Pflanzen wichtig. Auch
wir Menschen leben in Symbiose mit einer Vielzahl von Mikroorganismen. Diese spezialisierten
Bakterien helfen uns unter anderem, Krankheitserreger abzuwehren, Schadstoffe zu entgiften und
Nahrung zu verdauen. Bei Insekten finden sich
ebenfalls solche Bündnisse mit Bakterien. Mit einer
besonders faszinierenden Symbiose – zwischen
dem Europäischen Bienenwolf Philanthus triangulum, einer Grabwespenart, und mit ihnen in Symbiose lebenden Bakterien, die antibiotisch wirksame Substanzen produzieren – beschäftigt sich
Dr. Martin Kaltenpoth, seit 2009 Leiter der MaxPlanck-Forschungsgruppe Insektensymbiosen.
Bienenwölfe jagen Honigbienen, lähmen diese
mit einem Stich und bringen sie als Futter für
ihren Nachwuchs in ihre Bruthöhlen. Die Larven,
die in unterirdischen Höhlen aus den abgelegten
Eiern schlüpfen, sind bedroht durch zahlreiche
Bodenpathogene wie etwa Schimmelpilze und
Bakterien. Dass die Brut trotzdem überlebt, verdankt sie der erstaunlichen Allianz mit symbiontischen Bakterien, die die Bienenwolfweibchen
in ihren Antennen kultivieren. Die Symbionten
sind in einer weißen Substanz enthalten, die die
Insekten aus ihren Antennen absondern und mit
der sie die Decke ihrer Brutzellen bestreichen. Die
Larve nimmt die Symbionten auf und spinnt sie
bei der Verpuppung in ihren Kokon mit ein. Dort
produzieren die Bakterien einen Cocktail aus über
zwanzig verschiedenen Antibiotika. Der Kokon –
und damit der Insektennachwuchs – ist also quasi
mit Breitband-Wirkstoffen gegen eine große Zahl
an Pilzen und bakteriellen Erregern geschützt.
Martin Kaltenpoth wies die antibiotisch wirksamen Substanzen mit seinem Team zum einen als
Erster nach, zum anderen hat er inzwischen seine
Analysen so vorangetrieben, dass die Wissenschaft
in kurzer Zeit immer wieder Neues über das Verständnis der Evolution solcher „Schutzsymbiosen“
in der Natur erfährt. Der Nutzen liegt auf der Hand:
Angesichts zunehmender Resistenzen gegen herkömmliche Antibiotika ist die Entdeckung und
Identifizierung neuer antibiotischer Wirkstoffe
in der Natur sowohl für die Humanmedizin von
Bedeutung als auch interessant für Forscher, die
etwas über die evolutiven Prozesse lernen wollen,
die solch einer Symbiose zugrunde liegen.
„Mich fasziniert, dass durch die Evolution einer
Symbiose sprunghaft eine Anpassung des Wirtes
an bestimmte ökologische Nischen stattfinden
kann, die sonst nicht verfügbar wären. Wie zwei
derart verschiedene Organismen eine solche
beiderseitig vorteilhafte Symbiose eingehen und
über lange Zeiträume beibehalten, ist für mich
ein erstaunliches Phänomen“, begeistert sich
Kaltenpoth. Sein Forschungsprojekt wurde von
der VolkswagenStiftung fünf Jahre lang im Rahmen der Initiative Evolutionsbiologie gefördert.
Zum Sommersemester 2015 folgte er dem Ruf auf
den Lehrstuhl für Evolutionäre Ökologie an der
Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.
Impulse 01_2015 73
Forum Förderung
Auf der Langstrecke unterwegs zu neuen Medikamenten gegen Leberkrebs – und weitere Projekte
Medizin, Mathematik, Life Sciences: Die VolkswagenStiftung stellt insgesamt gut
3,5 Millionen Euro bereit für drei neue Lichtenberg-Professuren an den Universitäten
Mainz und Potsdam und an der Technischen Universität München.
Diese drei Lichtenberg-Professoren haben sich 2015 bereits
durchgesetzt und können nun
durchstarten (von links): Dr.
Jens Marquardt, Dr. Markus
Gühr und Dr. Christian Kühn.
Welche Faktoren begünstigen die Entstehung von
Leberkrebs? Dieser zentralen Frage geht künftig an
der Universität Mainz Dr. Jens Marquardt nach.
Zunächst will er den mehrstufigen Entstehungsprozess dieser Tumorerkrankung verstehen. Daraus
könnten sich neue vorbeugende Strategien und
therapeutische Ansätze ergeben. Ferner möchte er das Spektrum genetischer Veränderungen
im Tumorgewebe ergründen. Mittels eigens auf
erkannte Erbgutdefekte zugeschnittener Chemotherapie könnte sich das Zellwachstum spezifisch
hemmen lassen. „Besonders dieses Gebiet der
individualisierten Präzisionsmedizin verheißt
Potenzial“, erklärt der Mediziner. „Trotz intensiver
Forschung ist seit sieben Jahren kein Medikament
gegen Leberzellkarzinome auf den Markt gekommen. Hier besteht dringend Handlungsbedarf!“
An der Universität Potsdam analysiert Dr. Markus
Gühr Wechselwirkungen zwischen Molekülen und
Licht. Solche Prozesse laufen überall in der Natur
ab – etwa bei der Photosynthese. Gühr interessiert,
wie Licht in Molekülen in andere Formen von
Energie umgebaut wird – und warum dies oft sehr
74
selektiv geschieht. Beispielsweise wird in den Netzhautzellen des menschlichen Auges bei Lichteinfall
innerhalb von wenigen hundert Femtosekunden
eine chemische Bindung in bestimmten Proteinen
umgebaut. Dadurch entsteht ein elektrochemisches
Signal, das über den Sehnerv ins Gehirn gelangt
und dort wahrgenommen wird. Physikalisch könnte die Energie des Lichts aber auch zu Hitze führen
– was nicht geschieht. Gühr: „Sind die Prozesse einmal verstanden, könnte man Moleküle künstlich so
gestalten, dass sie zum Beispiel Solarzellen zu höherer Effizienz oder längerer Lebensdauer verhelfen.“
Warum verliert ein Ökosystem plötzlich sein
stabiles Gleichgewicht? Oder warum verhalten
sich Nervenzellen im Gehirn bei neurologischen
Erkrankungen auf einmal ganz anders als zuvor?
An der Technischen Universität München möchte
Dr. Christian Kühn neue mathematische Methoden entwickeln, um Vorgänge in solch komplexen
Systemen besser vorhersagbar zu machen. Insbesondere will der Forscher die mathematischen Fundierungen zur Abbildung solcher Prozesse anhand
verschiedener Zeit- und Raumskalen verbessern.
Wie lassen sich Jugendliche in Aserbaidschan, Georgien
und Tadschikistan in den Arbeitsmarkt integrieren?
Die Stiftung stellt 3,3 Millionen Euro bereit für sieben neue Forschungsprojekte zu institutionellem
Wandel und sozialer Praxis in den beiden Regionen Mittelasien und dem Kaukasus. Die Projekte rücken
zum Beispiel die staatliche Wirtschaftspolitik oder eben die Jugendarbeitslosigkeit in den Fokus.
Landnutzung in Mittelasien
– ein gleichermaßen gesellschaftspolitisches wie ein
Umwelt- und Ressourcenthema: hier Weizenfelder nahe
Kökschetau in Kasachstan.
Über drei Millionen Euro für sieben neue Projekte zu den Regionen Mittelasien und Kaukasus:
Davon profitieren vor allem zahlreiche junge
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an
Institutionen vor Ort, die die jeweilige Forschung
entscheidend mitgestalten sollen. Den Rahmen
für die im Frühsommer 2015 von der Stiftung
auf den Weg gebrachten Vorhaben setzt die Ausschreibung „Institutioneller Wandel und soziale
Praxis. Forschungen zu Staat, Wirtschaft und
Gesellschaft in Mittelasien und im Kaukasus“
aus dem Vorjahr.
Eine weitere Ausschreibung in der Förderinitiative
„Zwischen Europa und Orient – Mittelasien/Kaukasus im Fokus der Wissenschaft“ adressierte die
Umwelt- und Ressourcenproblematiken der Region.
Hier hatte die Stiftung vornehmlich Natur- und
Ingenieurwissenschaftler aufgerufen, zum Thema
„Umwelt, natürliche Ressourcen und erneuerbare
Energien – interdisziplinäre grenzüberschreitende Forschung zu Mensch-Umwelt-Beziehungen“
Projektideen zu entwickeln. Im Ergebnis wurden
ebenfalls sieben neue Projekte bewilligt und dafür
knapp drei Millionen Euro bereitgestellt.
Das Spektrum der interdisziplinär auf die Sozialund Gesellschaftswissenschaften ausgerichteten
Forschungsprojekte reicht von der vergleichenden
Analyse staatlicher Wirtschaftspolitik in Kasachstan und Georgien bis hin zu Untersuchungen
darüber, wie Jugendliche in die Arbeitsmärkte von
Aserbaidschan, Georgien und Tadschikistan bestmöglich integriert werden können. Diese sieben
Vorhaben sind dabei das Ergebnis nur einer der
beiden themenzentrierten Ausschreibungen des
Jahres 2014.
Bei diesen Vorhaben dominieren die Themen Landnutzung, Agrarproduktion und Beweidung sowie
Wassermanagement. An fünf der zumeist trilateral
aufgestellten Kooperationen sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Zentralasien
beteiligt, vor allem aus Kasachstan und Kirgisistan.
Die beiden anderen Projekte beziehen sich auf den
Kaukasus und sehen Forscherkollegen aus Georgien
und Aserbaidschan eingebunden. Auch Einrichtungen in Xinjiang, China, und in der Mongolei profitieren von den Förderungen.
Impulse 02_2015 75
Forum Förderung
Zum Beispiel Meeressäuger: Wie Wissenschaft und
Öffentlichkeit von Museumsbeständen profitieren
Grünes Licht für sechs neue Vorhaben und eine Sommerschule in der Förderinitiative
„Forschung in Museen“. Kleine und mittelgroße Museen erhalten insgesamt 2,5 Millionen
Euro zur Erforschung ihrer Bestände – mit der Chance auf exzeptionelle Ausstellungen.
Tot aufgefundener Schweinswal, einzige heimische Walart;
ausgestellt im Deutschen
Meeresmuseum in Stralsund
76
Schweinswale, Seehunde und Kegelrobben leben
in der Nord- und Ostsee. Alle drei Arten sind
zunehmend gefährdet. Verschiedene Faktoren wie
der teils ungebremste Schadstoffeintrag, todbringende Fischereimethoden oder die Erwärmung
der Meere, die den Sauerstoffgehalt sinken lässt,
können die Säugetiere beeinträchtigen – mit ernsten Folgen für deren Gesundheit. Ein Thema für
Museen? Ja! Wissenschaftler der Tierärztlichen
Hochschule Hannover (TiHo) und vom Zoologischen Museum Hamburg werden jetzt mit Kollegen von Universitäten und Museen in Dänemark
und Schweden die Veränderungen im Gesundheitszustand der marinen Säugetiere über die vergangenen Jahrzehnte untersuchen – auch anhand
von Sammlungsbeständen. Die in das Projekt
eingebundenen Museen der Nord- und OstseeAnrainerstaaten konzipieren auf der Grundlage
des Projekts zudem eine Wanderausstellung.
bronzezeitliche Siedlungen zu rekonstruieren,
wollen Mitarbeiter des Braunschweigischen
Landesmuseums und der Universität Göttingen
jetzt Keramiken, menschliche Skelette und Pferdezähne aus einer Fundstätte nahe Helmstedt archäologisch und naturwissenschaftlich analysieren.
Befestigte Herrschaftssitze spielten bereits in der
Bronzezeit eine wichtige Rolle als Knotenpunkte der Kommunikation. Um diese europaweit
vernetzten Lebenswelten zu analysieren und
Schnittformen, Nahtverläufe und Stoffe der Kleidung aus der Sammlung des Historischen Museums Frankfurt am Main aus den Jahren 1850 bis
1930 sollen Aufschluss geben über die Bewegung,
Das Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim
und die Universität München engagieren sich
künftig bei der Aufarbeitung unveröffentlichter
Objekte aus Hermopolis Magna, der Hauptstadt
eines Verwaltungsbezirks im alten Ägypten, sowie
Funden des zugehörigen Menschen- und Tierfriedhofs. Im Zentrum steht die Frage, ob sich die
altägyptische Lehre von der Entstehung der Welt
mithilfe der archäologischen Fundstücke beschreiben lassen könnte. Erforscht werden sollen die
genaue Funktion der Objekte und die damit verbundenen Rituale.
Die Ringelrobbe lebt im Eisund Polarmeer, eine kleine
Population in der nördlichen
Ostsee. Sie ist daher ein ausgesprochen seltener Gast an
der deutschen Küste dieses
Meeres. Hier ein ausgestopftes Exemplar, das ebenfalls im
Deutschen Meeresmuseum
in Stralsund zu sehen ist.
Geschwindigkeit und Mobilität des menschlichen
Körpers in dieser Epoche. Zum Beispiel reduzierten
sich in den 1920er Jahren die Kleiderschichten
der weiblichen Kleidung und – die Beine wurden
sichtbar. Anhand der Kleidung lassen sich also
Rückschlüsse über Bewegungsspielräume und
Bewegungsformen ziehen. Zudem bildet das Projekt, in das als Partner die Universität Paderborn
eingebunden ist, eine Grundlage für neue Präsentationsformen von Textilien in Museen.
Sammlungen der afrikanischen Moderne, die vor
allem aus Gemälden, Skulpturen und Grafiken der
frühen 1940er Jahre bis in die späten 1980er Jahre
bestehen und aus Nigeria und Uganda stammen,
sind Gegenstand des gemeinsamen Vorhabens
der Universität Bayreuth (Iwalewahaus) und vom
Museum der Weltkulturen Frankfurt am Main. Die
Forscher interessiert, ob verschiedene Narrationen
der afrikanischen Kunstgeschichte in den Sammlungen eingebettet sind, nämlich einerseits jene der
Künstler und Künstlerinnen, andererseits die der
Sammler. Lässt sich so womöglich die afrikanische
Kunstgeschichte in Deutschland besser erschließen?
Experten vom Stadtmuseum Penzberg, von der
Bayerischen Staatsgemäldesammlung sowie der
Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung untersuchen die Kunst der Hinterglasmalerei,
also das rückwärtige Bemalen von Glas mit einem
seitenverkehrt angelegten Bild. Diese Technik ist
vor allem aus der Volkskunst bekannt. Ihr wurde lange Zeit vonseiten der Wissenschaft mit
Unkenntnis, Verständnislosigkeit und Geringschätzung begegnet, sagen Forscher – dabei war sie keineswegs ein Randphänomen. Die Künstlergruppe
„Blaue Reiter“ griff sie Anfang des 20. Jahrhunderts
auf, danach verbreitete sie sich. In dem Projekt werden Hinterglasbilder interdisziplinär untersucht.
i
Sommerschule „im Feld“
Auch ein besonderes Ausbildungsprogramm hat grünes Licht erhalten – eine Sommerschule mit Aufenthalt „im Feld“, das heißt in diesem Fall: an Stätten archäologischer Forschung. Sie wird gemeinsam
getragen von den Universitäten Hildesheim und Minya in Mittelägypten sowie dem Landesmuseum Hannover. Junge Wissenschaftler
sollen sich weiterqualifizieren können und Techniken, die von Bedeutung sind bei Ausgrabungen oder bei der Konservierung und RestauImpulse 02_2015 77
rierung von Kulturgut, sowohl erlernen als auch gleich vertiefen.
78
Schwerpunktthema
Neue Sichtachsen und Zugänge
Wissenschaft
unter der Lupe
der Literatur
Man bringt Autoren und Forscher
an einem Ort zusammen und beide
profitieren voneinander. Hier und
da entwickelt sich etwas anders als
geplant; da und dort entsteht Neues: mal ein Text, mal entfaltet sich
eine wissenschaftliche Idee. Dann
und wann formulieren sich Erkenntnisse, scheinen Zusammenhänge
auf. Klingt nach einem guten Projekt? Ist ein gutes Projekt! Auf nach
Oldenburg, Bremen, Delmenhorst –
oder eigentlich: in die weite Welt.
Januar 2015: Treffen der am Projekt „Fiction Meets Science“ Beteiligten
in der Universitätsbibliothek Bremen; hier das Leitungsteam (von links):
Norbert Schaffeld (Universität Bremen), Anton Kirchhofer (Universität
Oldenburg), Uwe Schimank (Universität Bremen), Peter Weingart
(Universität Bielefeld) sowie Susan M. Gaines (Universität Bremen).
Impulse 02_2015 79
Text: Christian Jung
Fotos: Michael Löwa (Interview) und Helge Krueckeberg (Bremen) // Illustrationen: Dorota Gorski
D
er Evolutionsbiologe Frank Moebus ist
ein Star seines Forschungsgebiets. Urzellen in der
Tiefsee hat er entdeckt, eine bis dato unbekannte
Lebensform. In seinem Kieler Universitätslabor
wird eines Abends zwischen zersplitterten Aquarien und auf dem Boden zappelnden Fischen einer
seiner Assistenten mit aufgeschlitzter Kehle aufgefunden. Ein weiterer Mitarbeiter des Forscherteams hat sich augenscheinlich aus dem Fenster
gestürzt. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Ist dies
der bittere Ausgang eines Streits unter Kollegen?
Als mehrere prominente Forscher Moebus öffentlich vorwerfen, ihren Labors trotz mehrfacher
Bitten zwecks Überprüfung seiner wissenschaftlichen Entdeckung keine der spektakulär in der
Tiefsee gefundenen Zellen zu überlassen, drängt
sich jedoch mindestens noch eine ganz andere
Vermutung auf …
Bereits mit seinen Romanen „Wenzels Pilz“ und
„Der Rote“ und auch seinen populären Sachbüchern wie „Die Ameise als Tramp“ oder „Epigenetik.
Wie Erfahrungen vererbt werden“ feierte der Autor
Bernhard Kegel große Erfolge. Gekonnt meistert
der promovierte Biologe in beiden Genres – Fiktion
hier, populärwissenschaftliches Sachbuch dort
– auf jeweils passende Weise den Brückenschlag
zwischen der publikumsfreundlichen Vermittlung fundierten Fachwissens und dem sorgsamen
Gebrauch selbst komplexer, stets wissenschaftlich
valider Fakten. All das verbindet er mit talentvollem Schreibstil. In seinem bislang letzten Wissenschaftskrimi um den Biologen Frank Moebus nun
taucht er ein in den akademischen Mikrokosmos.
„Ein tiefer Fall“ erzählt von den Schattenseiten
der Forschungswelt, in der Konkurrenzdruck und
Ruhmsucht selbst die Angesehensten jegliche
wissenschaftliche Korrektheit und Fairness vergessen lassen. Nun gut, man kennt das. Aber ist es
ein reales Problem, dessen tatsächliches Ausmaß
oftmals doch deutlich unterschätzt wird? Kegel
vermittelt über die Geschichte in diesem Buch, dass
das wohl tatsächlich der Fall ist.
Bernhard Kegel ist nur einer von in jüngerer Vergangenheit zahlreichen Autoren, die Wissenschaft
auf andere Weise zum Gegenstand von Literatur
80
machen. Ein wenig scheint es, als sei hier ein
Markt entstanden, der (s)ein – neues? – Publikum
gefunden hat. Und ein Blick auf die Bestsellerlisten bestätigt, dass es offenkundig eine „junge“,
frische, eigene Art von Wissenschaftsromanen
gibt, die gut ankommt: ob Daniel Kehlmanns „Die
Vermessung der Welt“ oder Ann Patchetts „Fluss
der Wunder“; ob Judith Schalanskys „Der Hals der
Giraffe“ oder Barbara Kingsolvers „Das Flugverhalten der Schmetterlinge“; ob Frank Schätzings
„Der Schwarm“ oder Susan M. Gaines’ „Carbon
Dreams“. Doch warum sind solche Werke jüngst
so erfolgreich, insbesondere im angelsächsischen
Raum? Wie treffen Wissenschaft und Gesellschaft im Roman aufeinander? Welches Bild von
Naturwissenschaft wird in der modernen Wissenschaftsliteratur vermittelt? Und wie im Detail
werden in der aktuellen Romanliteratur naturwissenschaftliche Erkenntnisprozesse zum Thema
gemacht? Helfen solche Romane gar, die Welt und
wie sie funktioniert, besser zu verstehen?
Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich
ein 16-köpfiges, interdisziplinär aufgestelltes
Forscherteam in Bremen, Oldenburg und am
Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) in Delmenhorst in dem von der VolkswagenStiftung mit
770.000 Euro geförderten Projekt „Fiction Meets
Science. The World of Science under the Literary
Microscope“. Das Team untersucht Romane wie
die eingangs genannten und deren Wirkung aus
literaturwissenschaftlicher und soziologischer
Perspektive und legt dabei die literarische Aufarbeitung des Wissenschaftsbetriebes in diesen
Büchern unter das Brennglas, um dort in aller
gebotenen Ruhe zu sezieren.
Mitte 2015 nun befindet sich das auf drei Jahre
angelegte Vorhaben, das untergliedert ist in ein
Dutzend Teilprojekte, auf seinem Zenit und biegt
allmählich auf die Zielgerade ein. Es gilt, am Ende
wohl zumindest der Beantwortung einer zentralen Frage nahezukommen: „In welcher Form, auf
welche Weisen kann das Bild von Wissenschaft,
das die Romane entwerfen, auf die Gesellschaft
wirken – beziehungsweise auch in die Wissenschaft zurückwirken?“, fasst Projektkoordinatorin
„Der Fuchs hatte mit gesträubten Nackenhaaren ausgeharrt, doch als sich der große Fensterflügel endlich mit einem lauten Quietschen nach innen bewegte, reichte es ihm. Sein
Weg würde ihn dicht am Ort des Geschehens vorbeiführen. Er fiel in leichten Trab und lief,
immer schneller werdend, auf dem Schwarzen Weg zum Mensaparkplatz und weiter bis
zum Biologiezentrum. Das helle Licht brannte noch immer, er vermied es aber, nach oben
zu schauen. Das Fahrrad, das an einem der vielen, den Weg zum Eingang säumenden
Stahlbögen angeschlossen war, beachtete er nicht, genauso wenig wie die beiden PKWs, die
hinter dem Biologiezentrum parkten. Er wollte nur noch weg von hier. Und da alles, was
nach dem Öffnen des Fensters geschah, völlig geräuschlos vor sich ging, sah er auch den in
diesem Moment aus dem zwölften Stock herabstürzenden menschlichen Körper nicht. Er
hörte nur den dumpfen Laut, als etwas hinter ihm auf ein Dach des Flachbaus aufschlug,
zuckte zusammen, schoss ein paar Meter nach vorne, wandte sich schließlich mit zitternden Flanken um und blickte nach oben zur Dachkante. Das Fenster, an dem die Gestalt
gestanden hatte, war offen, der dazugehörige Raum nach wie vor hell erleuchtet. Davon
abgesehen war nichts Ungewöhnliches zu erkennen.“
(aus: Bernhard Kegel „Ein tiefer Fall“)
Susan Gaines zusammen. Und darüber hinaus:
Welches Bild von Wissenschaft, sofern diese Frage
überhaupt verallgemeinerbar zu beantworten ist,
lasse sich aus den Romanen extrahieren?
Vom „absonderlichen Forscher“ hin zum möglichst
genauen Abbild des Wissenschaftsbetriebes
„Am Beginn des 21. Jahrhunderts bestehen viele
hochkomplexe Schnittflächen und wechselseitige
Abhängigkeiten zwischen den Naturwissenschaften einerseits und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zum anderen“, nennt Professor Dr. Uwe
Schimank vom Institut für empirische und angewandte Soziologie der Universität Bremen einen
Aspekt, der zugleich eine dem Forschungsvorha-
ben zugrunde liegende Motivation spiegelt und
bereits zu einem möglichen Argument hinleitet,
warum Werke wie die eingangs genannten ein
Publikum finden und reüssieren. „In diesen neuen
Wissenschaftsromanen wird meist unmittelbar
auf naturwissenschaftliche Vorgänge, Prozesse
und Ideen abgestellt sowie auf die komplexen
Beziehungen zwischen Wissen und den Menschen, die es erschaffen oder die davon betroffen
sind“, ergänzt Susan Gaines, deren Buch Carbon
Dreams ein frühes Beispiel für diese neue Art von
Wissenschaftsliteratur ist. Die Meeresforscherin,
die seit Langem Romane schreibt, arbeitet zurzeit
an der Universität Bremen im Fachbereich Sprachund Literaturwissenschaften und bildet in dem
Projekt eine Brücke zwischen der Vielzahl eingebundener Autoren und Naturwissenschaftler.
Impulse 02_2015 81
Im Gespräch mit ihr und ihren Projektkollegen wird
wie im Zeitraffer noch einmal die Entwicklung
deutlich, die diese Literaturgattung durchlaufen
hat: Während im 19. und weit ins 20. Jahrhundert
hinein Naturwissenschaft in entsprechend populären Werken oft oberflächlich behandelt und in stereotypen und klischeehaften Charakteren wie dem
„absonderlichen Wissenschaftler“ repräsentiert
wurde, gehen die neuen Romane den Verstrickungen und Wirkungen der Naturwissenschaft in der
Welt nach, in der wir heute leben. „Sie nehmen ihre
Leser mitten hinein in die naturwissenschaftliche
Wissensproduktion“, meinen Schimank und Gaines
unisono. Die Autorin und Wissenschaftlerin ist sich
sicher: „Wir leben in einer Zeit des Umbruchs in
der literarischen Beschäftigung mit Naturwissenschaft“, betont sie mehrfach. „Die anspruchsvolle
zeitgenössische Belletristik zielt zunehmend auf
den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess
und seinen gesellschaftlichen Ort.“ Deshalb sei es
zwingend geboten, die literarischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieses kulturellen
Trends auszuloten.
in Delmenhorst und in Bremen. Sie diskutierten
über eben diese literarische Entwicklung – und
gleichzeitig darüber, was ihre Forschungen lehren
über die naturwissenschaftliche Praxis und deren
gesellschaftliche Einrichtungen, über die Natur
wissenschaftlicher Erkenntnis und über unsere
„Wissens“-Gesellschaften, die den Ausbau vorantreiben dieses Wissens, das zugleich ihr innerer
Antrieb ist. Bei dieser Veranstaltung wurde sofort
die breite Basis sichtbar, auf der das Vorhaben
steht und von der es profitiert. So ist eines der
Standbeine ein gleich zu Beginn des Kooperationsprojekts geknüpftes Netzwerk internationaler
Autoren, die in standardisierten Erhebungen und
Interviews im Laufe des Projekts danach befragt
werden, wie und auf welche Weise die Wissenschaft in die Fiktion kommt. Dieses Netz spülte
nun viele in ihm Verwobene, neugierig Gewordene für drei Tage in die niedersächsische Provinz.
Reichlich Gelegenheit dazu hatten Mitte November 2014 etwa sechzig Geistes- und Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Naturwissenschaftler
aus Europa, Nordamerika und Australien während
einer gut dreitägigen Veranstaltung am HWK
Die Tagung öffnete gleich mit einem Paukenschlag. Die vielfach preisgekrönte Philosophin
und Autorin von Romanen und Sachbüchern
Rebecca Goldstein stellte in der weit über den letzten Sitzplatz hinaus gefüllten Bremer Stadtwaage
„Ist es nicht pure Alchemie, aus Physik Fiktion
zu machen …?“
„Wäre es nicht verlockend, als Pflanze zu
existieren? Man hätte Blätter, die mit ihrem
Chlorophyll Photosynthese betreiben. Die
Energieversorgung wäre dauerhaft gesichert.
Sorgen gäbe es keine mehr, man müsste nicht
einmal mehr einkaufen gehen, sondern nur
noch in der Sonne liegen. Den Rest besorgt
das Blattgrün.“
(aus: Judith Schalansky „Der Hals der Giraffe“)
82
Sie segeln in ihrer Branche äußerst hart am Wind: DECIUSGeschäftsführer Walter Treppmacher und die Leiterin Belletristik
der hannoverschen Buchhandlung, Marlis Treder.
ihr Buch „Properties of Light: a Novel of Love, Betrayal, and Quantum Physics“ der Öffentlichkeit vor.
„Rebecca Goldstein did so successfully in her highly
praised first novel …“, hatte immerhin die New
York Times die Wissenschaftsautorin früh entdeckt. Sie selbst machte deutlich, dass ihr Handwerk durchaus hartes Ringen ist; umso mehr,
wenn das Ergebnis funkeln und faszinieren soll:
„It's one kind of trick to turn philosophy into fiction,
… it's another, perhaps even headier alchemy, to
make fiction out of physics ...“
„Wir sehen eindeutig mehr Veränderungen beim Sachbuch ...“
An diesem Statement knüpfte manch Zuhörer
an. So auch Professor Dr. Norbert Schaffeld, der
neben Gaines und Schimank ein weiterer Initiator
des Forschungsvorhabens ist. „Mich interessiert
explizit die Frage, mit welchen literarischen Mitteln Naturwissenschaft dargestellt wird: Gibt es,
wie Hans Magnus Enzensberger behauptet, eine
‚poetics of knowledge‘?“, fragt der Forscher vom
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften,
English-Speaking Cultures, der Universität Bremen. Und was bedeute es, fährt er fort, „wenn der
erzählerische Aufbau eines Wissenschaftsromans,
also dessen Form, eine naturwissenschaftliche
Entdeckung spiegelt, wie dies etwa im Romanwerk von John Banville der Fall ist“?
Der Praxischeck: Marlis Treder und Walter Treppmacher
von der Buchhandlung DECIUS im Interview
Die Forscher und Autoren können inzwischen
jeder dieser Fragen und manch anderer Idee, die
sich im Laufe des Gesprächs erhebt, zügig nachgehen – sozusagen zunächst einmal per Knopfdruck,
der dann natürlich intensive Lektüre nach sich
zieht. Denn in einer im Zuge des Projekts aufgebauten Online-Datenbank haben die Beteiligten
bereits über zweihundert einschlägige Werke
englischsprachiger und hiesiger Autoren erfasst
– etwa zehn Prozent des insgesamt gespeicherten
Materials ist in deutscher Sprache geschrieben.
Die Datenbankinhalte sind notwendige Arbeitsgrundlage für das Team um Professor Dr. Anton
Kirchhofer vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Oldenburg, Vierter im Bunde
der Projektinitiatoren. Eines seiner Ziele ist es,
Rezensionen von Wissenschaftsromanen in einem
breiten Spektrum an Medien einer systematischen
Erhebung zu unterziehen. „Wir untersuchen zum
Frau Treder, Herr Treppmacher, Forscher reden von einer Wissenschaftsliteratur, die sich in der jüngeren Vergangenheit
anders ausformt, für die es einen veränderten Markt gibt, die
offenbar eine andere – neue? – Leserschaft anspricht. Wie stellt
sich das aus Sicht Ihrer Buchhandlung dar? Und: Lesen Sie selbst
beispielsweise gern solche Bücher?
Erobert sich die moderne Wissenschaftsliteratur neue, weitere Räume? Gibt es eine neue Form von Wissenschaftsromanen, die dazu beitragen, die Welt und wie sie funktioniert,
besser zu verstehen? Und was lässt sich über das Genre populärwissenschaftliches Sachbuch sagen? Es liegt nahe, diese
Fragen, die das Forschungsprojekt „Fiction Meets Science“
grundieren, einer Betrachtung vonseiten der Praxis zu unterziehen. Christian Jung im Gespräch mit dem Geschäftsführer
von Niedersachsens großer inhabergeführter Buchhandlungskette DECIUS Walter Treppmacher und der Leiterin
Belletristik Marlis Treder.
Treder: Ich würde jedenfalls nicht von einem Trend sprechen.
Vielleicht hat es sich in den letzten Jahren einfach gefügt, dass
da ein paar Wissenschaftsromane eben in erster Linie gute
Romane waren, die als solche beim Publikum prima ankommen,
weil sie literarisch gut funktionieren … Es hängt letztlich immer
davon ab, wie gut das einzelne Buch ist. Ich selbst lese solche
Romane durchaus gern – wenn ich den Eindruck habe, Wissen
dabei auch wirklich fundiert und korrekt vermittelt zu bekommen. Für mich sind die Bücher von Bernhard Kegel ein treffendes Beispiel: „Der Rote“ und „Ein tiefer Fall“ bieten Einblicke in
biologische Phänomene (Der Rote) und behandeln ebenfalls
(Ein tiefer Fall) Probleme des Wissenschaftsbetriebes.
Impulse 02_2015 83
„Expansion ist ein Merkmal des Lebens. Überall und zu jeder Zeit versuchen sich
Pflanzen und Tiere in neuen Lebensumständen. Sie tasten sich über die Grenzen ihrer
bisherigen Existenz hinaus, scheitern und beginnen wieder von Neuem. Die Vielfalt
der Anpassungen, die sich die Lebewesen zu diesem Zweck haben einfallen lassen, ist
unüberschaubar. Sie laufen, schwimmen, fliegen, segeln, lassen sich treiben oder nutzen
die Körper anderer Lebewesen als Taxiservice. Viele haben in ihrem Lebenszyklus spezielle Verbreitungsstadien entwickelt, Samen mit Fallschirmen oder Hafteinrichtungen,
federleichte Sporen, mobile Larven. Sie gewährleisten, daß die zahlreichen Nachkommen über ein möglichst großes Gebiet verteilt werden. Verluste sind einkalkuliert. Die
Entdeckung und Besiedlung neuer Lebensräume war und ist für Tiere und Pflanzen
eine Überlebensfrage. Stillstand kann den Tod bedeuten. Tümpel trocknen aus, Seen verlanden, Wälder brennen ab, ganze Kontinente vereisen.“
(aus: Bernhard Kegel „Die Ameise als Tramp")
einen, in welchem Ausmaß Naturwissenschaften
im zeitgenössischen englischsprachigen Roman
thematisiert werden, und vermessen zugleich
die öffentlichen Diskurse, die in literarischen wie
in naturwissenschaftlichen Medien über diese
Romane geführt werden“, gibt er ein Beispiel – und
präsentiert immerhin ein erstes quantitatives
Ergebnis: „Bereits jetzt wird deutlich, dass die tatsächliche Zahl einschlägiger Romane, die entsprechend Widerhall gefunden haben, noch deutlich
über unseren Erwartungen liegt.“
Das „Writers in Residence“-Angebot: eines der
Aushängeschilder des Projekts
Das vielschichtige Vorhaben erlebt zahlreiche
und ganz unterschiedliche Momente, in denen
der Prozess der Annäherung der beiden Sphären
Wissenschaft und Kultur haut- und lebensnah
84
wird: zu beobachten etwa beim Entstehen eines
Romans im Labor der Wissenschaft – einer jener
kristallinen Augenblicke, in denen sich beide
Welten treffen, in denen eine Analyse des Schaffensprozesses möglich wird. Als ein Katalysator
dient vor allem das eingebettete „Writers in
Residence“-Angebot. Unter dem Motto „novelists writing science novels“ leben und arbeiten
am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst
Autoren gemeinsam mit Forschern aus aller
Welt. Susan Gaines – sie selbst webt gerade an
den letzten Zeilen ihres Roman „The Last Naturalist and the Terrorist’s Daughter“ – sucht und
wirbt hierfür Autorinnen und Autoren ein. Als
nunmehr dritte „Residierende“ am HWK folgte
ihr mit Anne von Canal im Februar 2015 eine
deutsche Autorin, die – auch dies ein Experiment
– keinen Hintergrund als Wissenschaftlerin und
bislang auch kein Buch des betrachteten Genres
Wissenschaftsroman geschrieben hat.
Vorgänger von Susan Gaines als erster Writer in
Residence war Bernhard Kegel. Er fand am HWK
reichlich Kristallisationskerne für seine Arbeit –
doch nicht nur dort. Er nutzte eine weitere Option,
die das „Fiction-Meets-Science“-Projekt für ausgewählte Schriftsteller aus aller Welt bereithält: die
Möglichkeit, als „teilnehmende Beobachter“ an
einer wissenschaftlichen Einrichtung Eindrücke
aus dem Forschungs- und Forscheralltag zu sammeln. Für alle Beteiligten dürfte es – auch unter
unmittelbar projektbezogenen wissenschaftlichen Aspekten – spannend sein zu sehen, wie das
gewonnene Wissen, wie Eindrücke und Erfahrungen in das literarische Werk eingeflossen sind.
Bernhard Kegel nun begleitete im Jahr 2013 als
„embedded writer“ für seinen neuen Roman ein
Forscherteam des Bremer Leibniz-Zentrums für
Marine Tropenökologie (ZMT) zu Expeditionen
ans Rote Meer nach Aqaba in Jordanien und zu
den Galapagos-Inseln. Um sein Credo vorwegzunehmen: „Die Expedition war essenziell für meine
Arbeit“, sagt er, der solche Fahrten generell für
notwendig hält. Denn: „Zu häufig wird Forschung
in der Literatur oberflächlich behandelt und
immer wieder falsch beschrieben.“ Besonders eindrucksvoll sei die erste Woche auf den GalapagosInseln gewesen, lässt sich heute noch in dem Blog
nachlesen, den er – auch das mittelbarer Ausfluss
des Forschungsvorhabens – parallel zur Reise fütterte. Mit einem kleinen Forschungsschiff wurden
die südlichen Inseln des Archipels abgeklappert.
Die Wissenschaftler nahmen Sedimentproben
und untersuchten die Fischpopulation, um mehr
über die Versauerung der Ozeane zu erfahren. Und
Bernhard Kegel immer mit dabei.
Der promovierte Biologe kann sich richtig in
Schwung reden bei dem Thema, wie spannend
sich Naturwissenschaft auch für Nicht-Forscher
aufbereiten lässt. „Das war meine ursprüngliche
Intention, die mich zum Schreiben brachte. Mein
Bauch sagte mir, dass Romane das ideale Medium
sind, um Wissenschaft unter die Leute zu bringen.
Spannung liegt in der Natur der Forschung!“ Noch
dazu seien Wissenschaftler interessante Charaktere, nicht nur Geistesgrößen, sondern Menschen
Treppmacher: Es ist schwer zu sagen, ob ein Markt entstanden
ist für eine „junge“, frische, eigene Art von Wissenschaftsromanen, die gut ankommen. Noch schwerer, welches Publikum sie
finden. Unsere Verkaufszahlen lassen da keine generalisierbaren Aussagen zu. Nur soweit: Frank Schätzings „Der Schwarm“
war ein Renner, aber auch wiederum alles andere als ein typischer Wissenschaftsroman. Wenn ich selbst mal ein solches
Buch lese, muss es wie jeder Roman vor allem gut geschrieben
sein, sonst halte ich nicht bis zum Ende durch. Da können die
Inhalte selbst noch so spannend oder relevant oder wichtig
sein. Ein Beispiel für ein Buch, das mir sehr gut gefallen hat, ist
Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Davon ab würde
ich ebenfalls verneinen, dass es sich hier um einen Trend handelt. Wissenschaftliche Themen haben auf die Art und Weise,
wie sie jetzt aufbereitet werden, meines Erachtens auch früher
schon vergleichbar Einzug in die Literatur gefunden, ich denke
da zum Beispiel an den gerade verstorbenen Carl Djerassi, den
Erfinder der Antibabypille, und seine gelungenen Romane
„Cantors Dilemma“ und „Das Bourbaki-Gambit“.
Also kein Trend, da stimmen Sie beide ja deutlich überein! Was
hat sich denn dann verändert?
Treppmacher: Die wissenschaftlichen Themen werden leichter, lockerer aufbereitet in der Wissenschaftsliteratur – eine
Entwicklung, die vermutlich durch die elektronischen Medien
getrieben ist, die einen schnellen Zugriff auf Informationen
bieten und etwa über Blogs auch die unmittelbare Teilhabe an
Wissensverbreitung ermöglichen.
Treder: Um es noch einmal zu betonen: Im Kern hat sich wenig
verändert. Ein erfolgreiches Buch besticht durch seine Story, ist
spannend, trifft den Nerv der Zeit – eigentlich ist es das nach
wie vor. Dazu kommt dann noch das richtige Marketing. Bei
Frank Schätzing zum Beispiel schlägt die Natur zurück, ist der
Klimawandel spannend und mitreißend Thema, an anderer
Stelle geht es um die Müll produzierende Gesellschaft – und
immer wieder um die Bedrohung unserer Umwelt, ja: unserer
Welt, von der wir eben nur eine haben. Themen, die uns alle
beschäftigen. Frank Schätzing entwickelt in einer Mischung
aus vielen wissenschaftsgestützten Fakten und SciencefictionElementen ein Szenario, das bedrohlich real erscheint und dann
auch plötzlich manifest wird. Was uns heute zunächst noch
weit entfernt erscheint, könnte morgen wie selbstverständlich
unser Untergang sein. Schätzing ist ein grandioser Performer,
das merkt man den Büchern an; es ist die Frage, ob man das
schätzt. Mir ist die Art zu schreiben, zu erzählen und damit auch
Impulse 02_2015 85
mit reichlich Schwächen neben ihren Stärken. Als
gelungenes Beispiel für den populärwissenschaftlichen Transfer aktueller Forschung nennt er Frank
Schätzings Buch „Der Schwarm“, das sich dadurch
auszeichne, dass die darin verwobenen wissenschaftlichen Hintergründe gut recherchiert und
aufbereitet seien. Um auf solche Weise ausreichend
in die Tiefe gehen zu können – das werde deutlich
– bräuchten nicht nur Forscher Zeit für ihr Tun, sondern ebenso ihre Gegenüber im Literaturbetrieb.
Bernhard Kegel gehört auch zu jenen, die unmissverständlich sagen: Wer über Wissenschaft schreiben will, sollte zumindest eine Zeit lang selbst
handfest wissenschaftlich gearbeitet und wissenschaftliches Denken verinnerlicht haben. „Für Menschen, die einen anderen Hintergrund haben, ist es
sehr schwer, sich in das Leben und die inhaltlichen
Probleme vor allem eines Naturwissenschaftlers
hineinzudenken und dies treffend zu schildern.“ Da
darf man dann umso gespannter sein auf den Aufenthalt von Fellowship-Kollegin Anne von Canal,
die inzwischen einen Besuch in den Labors des
Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven auf der Agenda hat, dem
sich eine Reise anschließen soll zu der auf Spitzbergen gelegenen AWIPEV Arctic Research Base
der Forschungseinrichtung. Dort will die Autorin
für ihr geplantes Buch „atmosphärische Eindrücke
und wissenschaftliche Hintergrundinformation”
sammeln sowie „Einblicke in die Arbeitspraxis der
Forscher“ gewinnen.
Auch Rebecca Goldstein macht deutlich, wie
spürbar die Kluft zwischen der Wissenschaft und
dem Literaturbetrieb sein kann und wie schwer
oft deren Überwindung selbst für den wissenschaftlich vorgeprägten Autor: „Die Menschen
beider Welten können häufig kaum miteinander
sprechen, sich verständigen. Es gibt keine Sprache
zwischen ihnen. Weil eine Seite es nur rational
versteht. Das, was der Schriftsteller mit seinem
Herzen aufnimmt, passt nicht unbedingt in jeden
Kopf, der glaubt, jedes Problem habe eine logischwissenschaftliche Lösung.“
Vielleicht widmet sich aus eben diesem Grund
die „große Literatur“ der Naturwissenschaft viel
zu wenig, ist eine zentrale Erkenntnis einschlägiger Autoren wie Kegel und Goldstein in der
Rückschau auf inzwischen gut zwanzig Jahre im
Literaturbetrieb. Die Leser von Wissenschaftsromanen seien zudem oft selbst in der Forschung
tätig, entsprechend empfindlich. Stießen sie gleich
auf den ersten Seiten eines Buches auf fachliche
Fehler, legten sie es meist schnell beiseite, ist
„Am Ende steht eine idealisierte Welt,
in der Millionen Frauen versuchen, wie
zehn Supermodels auszusehen, Familien
eins Komma zwei Kinder haben und ein
Chinese im Schnitt 63 Jahre alt und 1
Meter 70 groß wird. Vor lauter Versessenheit auf Normen übersehen wir, dass die
Normalität im Abnormalen liegt, in der
Abweichung ...“
(aus: Frank Schätzing „Der Schwarm“)
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„Die Autoren von Wissenschaftsromanen dürfen dem Leser
durchaus noch mehr Wissenschaft zumuten“, wünscht sich
Marlis Treder, die Wissenschaft zu oft zur Fassade degradiert sieht.
Kegel sicher. In jedem Fall sollte man bei einem
fiktionalen Buch über einen Wissenschaftler
bedenken, wie schwierig es häufig sei, komplexe
wissenschaftliche Sachverhalte einfach darzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch an
einen Seufzer des Physikers Richard Feynman zu
erinnern, der einmal, als man ihn gebeten hatte,
seine Forschungen für das Radio in drei Minuten
zusammenzufassen, entgegnete: Er hätte sicher
keinen Nobelpreis erhalten, wäre dies möglich.
Fiktionale Literatur und populärwissenschaftliche
Sachbücher: zwei Genres auf Erfolgsspur?
Zurück zu Bernhard Kegel und Galapagos. Das
Archipel habe er bewusst ausgewählt mit Blick auf
sein nächstes Buch, das erneut den Kieler Meeresbiologen Hermann Pauli ins Zentrum der Handlung
stellt. Noch während seines Fellowship-Aufenthalts
am HWK schrieb er die ersten Kapitel; erscheinen
soll der Roman im Herbst 2016. Im Kern dreht sich
darin alles um Korallen und die Tatsache, dass ihnen
wegen des Klimawandels eine düstere Zukunft
prophezeit wird. „Das Buch handelt davon, was es
für Meeresforscher und Riffökologen bedeutet, sich
einem todgeweihten Ökosystem zu widmen“, spult
er vor den Zuhörern der Konferenz eine Preview ab.
Hinter seinem Aufenthalt an Bord als „embedded
writer“ habe zunächst bei allen dort wohl ein großes
Fragezeichen gestanden, sagt er im Rückblick, und
ein Grinsen schwingt in seiner Stimme mit.
„Niemand auf dem Schiff kannte meine Bücher.“
So hätten sie schließlich auch nicht einordnen
können, ob er die Expeditionsteilnehmer einzeln
porträtieren oder jedes Wort, jeden Konflikt haarklein in seinem Roman wiedergeben würde. „Was
mir durch den Kopf geht und was ich da gerade
aufschreibe, konnten sie nicht wissen.“ Man darf
also sicher sein, dass alle Expeditionsteilnehmer
interessiert nachlesen werden, wie sich die Reise
im Buch niedergeschlagen hat! Und während
man auch diesen Gedanken weiterverfolgt, wird
langsam klar, welche Dimensionen das von der
Stiftung als ein „Schlüsselthema“ geförderte
Kooperationsvorhaben eigentlich hat.
wissenschaftliche Inhalte populärwissenschaftlich, literarisch
zu transportieren von Bernhard Kegel lieber. Da spüre und höre
ich den Wissenschaftler dahinter. Nicht nur in der Vermittlung
der Fakten; auch in der Art zu schreiben …
Ihrer Meinung nach helfen also solche Romane, die Welt und wie
sie funktioniert, besser zu verstehen – eine wichtige Funktion
also, zumal diese Bücher ja eben ein Publikum erreichen, das in
der Regel keine wissenschaftliche Originalliteratur liest …
Treder: Unbedingt! Wichtig ist meines Erachtens dabei, dass der
Leser immer die Fiktion von den Fakten unterscheiden kann.
Vielleicht sollte man, wie Enzensberger vorschlägt, eine „Poetics of Knowledge“ entwickeln, die sich damit auseinandersetzt,
wie man mit literarischen Mitteln Naturwissenschaft darstellt.
Denn in der Fiktion geht es darum, wie aus Erfahrung und
Erlebtem etwas Drittes entsteht: der Text, die Erzählung.
Treppmacher: Sicherlich stellt sich beim Leser da oft ein AhaErlebnis ein. Aber meines Erachtens kauft sich nur eine Minderheit Wissenschaftsliteratur, weil sie sich konkret Wissen zu
einem Thema aneignen will, um es mal so zu formulieren. Eher
ist es die spannende Lektüre, die jemand sucht. Frank Schätzings
„Der Schwarm“ und „Limit“ beispielsweise haben sich jedenfalls
bei uns – und ich meine generell – weit besser verkauft als seine Krimis und historischen Romane. Das Gleiche gilt für Daniel
Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, dessen literarische Qualitäten auch Leser anlocken, die sich nicht für Gauß und Humboldt interessieren. Es wäre aber mal spannend zu untersuchen,
ob beispielsweise ein Schätzing-Leser dessen Bücher kauft, weil
er sich „weiterbilden“ will – meines Erachtens allenfalls eine Minderheit – oder weil er spannende Lektüre sucht.
Fiktionale Literatur und populäre Sachbücher: Zwei Genres;
Letztere sind nicht Gegenstand des stiftungsgeförderten ProImpulse 02_2015 87
„Abgesehen von dem Besuch der Fischereitagung in Auckland (...) hatte er für die
letzten zwei Wochen seiner langen Forschungsreise keine konkreten Pläne. (...) ‚Glaub
mir', hatte John gesagt. ‚Raymond ist genau der Richtige, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Du wirst sehen, ihr geht irgendwo am Strand spazieren, und ehe du
dich versiehst, stolpert ihr über einen Riesenkalmar.' “
(aus: Bernhard Kegel „Der Rote“)
Kegel trifft mit seinen Werken und Themen, die
ein recht umfangreiches und disperses Publikum
adressieren, mitten in Herz und Verstand. Eher
Letzteres wird – Achtung: Genrewechsel – ein
Sachbuch über Mikrobiologie ansprechen, zu dem
ihn die Expedition ans Rote Meer angeregt hat
und das in diesem Frühjahr erschienen ist: „Die
Herrscher der Welt“. Und wenn somit das Folgende
auch kurz wegführt von der fiktionalen Literatur
hin zu populärwissenschaftlich aufbereiteten
Werken eher der Kategorie Sachbuch, so muss
doch ebenso erwähnt werden, dass es hierzulande brandaktuell immerhin eine ganze Buchreihe
schafft, Werk für Werk ihr Publikum zu finden und
von sich reden zu machen: „Naturkunden“. Inzwischen sind 19 Preziosen im Berliner Verlag Matthes
& Seitz erschienen. Dessen Mut zum Risiko, gleich
eine ganze Reihe aufzulegen, ist umso mehr zu
loben, als der Akteur nun keiner der wirklich großen seiner Branche ist.
88
Die 19 Schmuckstücke erzählen von Tieren und
Pflanzen, Pilzen und Menschen, von Landschaften,
Steinen und Himmelskörpern, von belebter und
unbelebter, fremder und vertrauter Natur. Der
Name der Reihe ist Programm. Hier wird keine
bloße Wissenschaft betrieben, sondern die leidenschaftliche Erforschung der Welt: kundig, sorgsam,
liebevoll und anschaulich sowie im Bewusstsein,
dass sie dabei vor allem vom Menschen erzählt –
und von dessen Blick auf eine Natur, die ihn selbst
einschließt. Jedes Buch in dieser Reihe formuliert,
ungeachtet seiner Gattung, eine eigene Kunde
von der Natur und ist dabei so aufwendig, vielgestaltig und schön gemacht, wie das Wesen seiner
Gegenstände es fordert: bebildert, in historischen
Formaten gebunden, fadengeheftet, versehen mit
Frontispiz und farbigem Kopfschnitt. So feiern die
Naturkunden nicht zuletzt die unnachahmlichen
und mannigfaltigen Möglichkeiten einer lebendigen Buchkultur.
„Ich sehe mehr Veränderungen beim Sachbuch“, konstatiert Walter Treppmacher.
Doch zurück zur Fiktion. „Ich fühle mich getrie-
ben, über Wissenschaft in literarischer Form zu
schreiben“, sagt auch die britische Autorin Pippa
Goldsmith, die sich in der zweiten Jahreshälfte 2014
als „Writer in Residence“ am Hanse-Wissenschaftskolleg aufhielt. „Es ist doch spannend, sich mit den
Anstrengungen, mit der Forschung zu befassen,
derer es bedarf, um all das zu verstehen, was uns
umgibt und was uns ausmacht“, detailliert sie ihre
Motivation. Im Übrigen seien auch viele Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler tolle Geschichtenerzähler, allein – sie wüssten es oft nicht.
Gleich Bernhard Kegel, Rebecca Goldstein und
Susan Gaines hat Pippa Goldsmith intime Kennt-
nisse des Wissenschaftsbetriebs: Die Absolventin
der Astronomie hat eine Zeit lang in ihrem Fach
geforscht, bevor sie einen Abschluss in kreativem
Schreiben erwarb. Sie weiß, wovon sie erzählt. Ihr
erster Roman „The Falling Sky”, der in deutscher
Übersetzung seit Frühjahr 2015 vorliegt, handelt
von einem jungen Astronomen, der zufällig über
eine Erkenntnis stolpert, die das Fundament des
Wissens über den Aufbau des Universums grundlegend infrage stellt. Dass der Konflikt mit dem Establishment seiner wissenschaftlichen Community
nicht ausbleibt, dürfte niemanden überraschen.
Wohl aber, wie die Geschichte sich entwickelt …
Das „Fiction-Meets-Science“-Projekt: zur Halbzeit
mit ersten Ergebnissen
Goldsmith betont, wie sehr sie von ihrer Zeit
am HWK profitiert hat. Die Unterstützung aus
dem Projekt heraus ermöglichte es ihr, etliche
Interviews mit Wissenschaftlern unmittelbar
in Bremen und Oldenburg zu führen und einige
Labore und Forschungsstätten zu besuchen. Dort
sammelte sie auch Ideen für eine geplante Sammlung an Kurzgeschichten aus der Wissenschaft.
Und sie habe eine erste Idee entwickelt für einen
neuen Wissenschaftsroman, der in der Welt der
Quantenphysik und ihrer Protagonisten spielt.
„Wahrscheinlich hätte sich dieser Gedanke nie
bei mir eingepflanzt ohne den durch das Projekt
ermöglichten Aufenthalt“, gibt sie zu Protokoll.
jekts „Fiction Meets Science“.
Daher als Frage an Sie: Ganz
unterschiedliche Leserschaft –
oder gibt es Überschneidungen?
Und gibt es vielleicht in der Kategorie des populärwissenschaftlichen Sachbuchs Veränderungen
in den vergangenen Jahren?
Treder: Es gibt schon innerhalb beider Genres ganz unterschiedliche Typen von Lesern, wie ich aus meiner täglichen Beratung
weiß. Bei jenen, die Wissenschaftsromane kaufen, also eher
zur Literatur neigen, würde ich eine kleinere Gruppe beschreiben als die, die sich gern herausfordern lassen, die unbequeme
Erkenntnisse zulassen und geduldig in ihrem Leseverhalten
sind. Diese Gruppe hat an den Inhalt eines populärwissenschaftlichen Buches einen hohen Anspruch – gerade auch was
die wissenschaftlichen Inhalte angeht. Dann gibt es die sehr
große Gruppe, die vor allem unterhalten werden will, in welcher
Form auch immer. Auch diese Leser sind durchaus anspruchsvoll, wollen nicht „verdummt“ werden und wichtige Themen in
ihrem Lesestoff, in der Geschichte vorfinden. Aber denen geht es
vor allem um gute, anregende Lektüre.
Was Sachbücher angeht, ist das Interesse gezielter. Vor allem aber
scheint mir die Qualität populärwissenschaftlicher Sachbücher –
zugegeben: Das ist stark verallgemeinert – deutlich besser geworden zu sein. Sie sind anspruchsvoller, sachgerechter, durchaus
auch unbequem in ihren Aussagen und bieten nicht nur leicht
verdauliche Informationen. Übrigens leistet hier das Fernsehen
gute Vorarbeit für uns Buchhändler. Ein Hinweis auf ein Buch, das
eine spezifische Problematik punktgenau behandelt, die uns alle
beschäftigt: Das wird oft ein Renner.
Treppmacher: Der Markt hat sich hier meines Erachtens weitaus stärker verändert als bei der Wissenschaftsliteratur. Ich
meine, dass für das populäre Sachbuch Autoren wie Stephen
Hawking, die es verstehen, schwierige Themen unterhaltsam
und verständlich zu vermitteln und die sich oft durchaus an
der Grenze von Wissenschaftsliteratur und Sachbuch bewegen,
das Feld bereitet haben für deutsche Autoren wie Harald Lesch
und Gerald Hüther. Was mir immer auffällt ist zudem, dass die
Hauptzielgruppe des populären Sachbuchs eher männliche
Leser sind. Besonders die älteren unter ihnen bevorzugen wiederum wissenschaftshistorische Themen, während ein Autor
wie Irving Yalom mit seinen psychologischen Themen eher von
Frauen gelesen wird.
Impulse 02_2015 89
Und während peu à peu eine Autorin nach
dem nächsten Autor das kleine, abgeschiedene
Delmenhorst kennenlernt, häufen sich allmählich Eindrücke und Erkenntnisse bei den in das
„Fiction-Meets-Science“-Projekt eingebundenen
Forschern und Schriftstellern. Obwohl noch ein
Stück des Weges vor ihnen liegt, haben sie bereits
eine Menge an Resultaten destilliert. So hat sich
der Oldenburger Wissenschaftler Anton Kirchhofer längst schon intensiv damit auseinandergesetzt, auf welche Weise Naturwissenschaftler als
Romanfiguren dargestellt werden: „Bereits jetzt
lässt sich sagen, dass die Darstellung von Wissenschaftlern als Figuren im zeitgenössischen Roman
um ein Vielfaches komplexer ist, als die traditionellen Stereotypen vermuten lassen, und dass
Leser so in bislang ungekannter Weise Einblicke
gewinnen – nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die Motivationen und die besondere
Situation von Wissenschaftlern.“
Jedes der insgesamt zwölf Teilprojekte des Kooperationsvorhabens, von denen einige noch gar nicht zur
Sprache gekommen sind, wird Interessantes zutage
fördern, sind sich die Beteiligten sicher – zum Beispiel jenes, das die Diskussionen naturwissenschaftlicher Romane in Buchklubs und Lesezirkeln einer
wissenschaftlichen Betrachtung unterzieht.
90
Andere Teilprojekte fokussieren auf Genderaspekte
und Fragen der Ethik in literarischen Beschreibungen von Wissenschaft. Und das Vorhaben zieht
noch weitere Kreise als ursprünglich geplant: So
hat sich ein Lesezirkel zusammengefunden von
Wissenschaftlern mit ganz unterschiedlichem
fachlichen Hintergrund. Die Teilnehmer dieses
„Buchdebattierklubs“ treffen sich drei bis vier Mal
im Jahr, um einen zuvor vereinbarten Kanon an
Wissenschaftsromanen zu diskutieren.
Ein ganz spannender Aspekt gleichsam zum Ausklang der analytischen Möglichkeiten dieses Vorhabens: Lassen sich womöglich Passagen in den
Romanen finden, in denen das Dargelegte über
das aktuell gesicherte Wissen im jeweiligen Feld
der Wissenschaft hinausgeht – und damit wiederum das kulturelle Umfeld bildet, in dem die Naturwissenschaften ihrerseits weiter vorangetrieben
werden? Ein Wissensfluss in die umgekehrte Richtung sozusagen? Dem Genre und Sujet angemessen, wäre dies beinahe schon der Cliffhanger für
ein Folgeprojekt, fangen die Projektinitiatoren den
Gedanken begeistert auf.
Und während all die Dimensionen, nach denen das
voluminöse Vorhaben greift, ob ihrer Ausdehnung
bald gar nicht mehr fassbar scheinen, schafft es das
„Es war ein Feuermeer, etwas viel Gewaltigeres und Wundervolleres, als jedes der
beiden Elemente für sich genommen. Es war
das Unmögliche. Es waren Tausende und
Abertausende von Schmetterlingen.“
(aus: Barbara Kingsolver
„Das Flugverhalten der Schmetterlinge“)
Ihr Fazit zu dem Thema?
Treder: Ich bleibe dabei. Im Segment Wissenschaftsliteratur hat
sich nicht viel verändert: Was zählt, ist die gute, spannende, vielleicht irritierende Story – und wenn die mit Wissenschaft unterlegt ist und das Buch noch ein Renner wird, umso besser. Das
wird dann unter „Gleichgesinnten“ wunderbar sozial kommunizierbar, man gehört kurzfristig einer Gemeinschaft an, die an
diesem Leseereignis teilnimmt, das verbindet ungemein. Ich bin
davon überzeugt, dass Wissenschaftsromane eine noch größere
Chance auf ein breiteres Publikum hätten, wenn die Autoren dem
Leser – auch über eine wirklich gute Vermittlung der Fakten und
des oft „harten Stoffs“ – einfach noch mehr wissenschaftliches
Wissen und dessen Rezeption zutrauen und nicht Naturwissenschaft zu einer Fassade degradieren, aus der man sich nach Belieben für eine spannende Geschichte bedient. Leider ist das oft so.
Herzlichen Dank Ihnen beiden für das Gespräch.
„Fiction-Meets-Science“-Projektteam – zu dessen
Kern neben den Protagonisten aus Bremen, Oldenburg und Delmenhorst auch Wissenschaftler in
Hamburg, Bielefeld und Australien gehören – mit
seinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Literaturbetrieb in diesem gleichsam leisen wie feinen
Projekt die Bretter auszulegen für eine teils sehr
öffentliche, teils aber auch angemessen intime
Bühne für Wissenschaft und Literatur: zwei Welten,
die sich in jüngerer Zeit offenbar neu, aber immer
noch zu selten begegnen, die einander heute schon
viel geben, aber sicher noch mehr zu geben hätten.
Die inhabergeführte Buchhandlung DECIUS GmbH ist mit einem
Dutzend Filialen und rund 170 Mitarbeitern in ganz Niedersachsen
vertreten – darunter die großen Stammhäuser in Hildesheim und Hannover. Allein hier bietet sie rund einhundert qualifizierte Arbeitsplätze;
zugleich bildet sie in mehreren Berufen aus. Darüber hinaus unterstützt
DECIUS zahlreiche regionale Kulturinitiativen am jeweiligen Ort.
Das „Fiction-Meets-Science”-Forscherteam Anfang 2015 beim Projekttreffen
in Bremen. Die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zeigten
sich begeistert von ihrer Einbindung in das ungewöhnliche Vorhaben.
Oder um mit einem Zitat eines unbekannten
Verfassers aus einem ganz anderen Kontext zu
enden: „Wenn es darum geht, den Unterschied
zwischen Land und Wasser zu erklären, kann man
verschiedene Küstenformen beschreiben und den
Unterschied zwischen Land und Wasser entsprechend darstellen. Wer die Aussage ‚Land ist grundsätzlich verschieden von Wasser’ belegen will,
wird das Beispiel der Felsklippe im Meer wählen,
wer aber zeigen will, dass Land und Wasser sich
gegenseitig ergänzen und befruchten können und
dass sie oft als Kombination die erstaunlichsten
Eigenschaften entwickeln, der wird von Sümpfen,
Mooren und Gletschern reden und von dem Zauber, den sie bei richtiger Betrachtung entfalten.“
Impulse 02_2015 91
Publikationen
Ist die Würde des Menschen unantastbar? Forscher
auf der Suche nach Spuren von Wahrheit und Gewalt
Seit einigen Jahren wird die Würde des Menschen neu verhandelt. Kommt die Wiederkehr
der Folter? Stehen wir vor einer neuen Form von Gewalt, die als zweckmäßig betrachtet
wird? Mehrere Publikationen eines stiftungsgeförderten Projekts sorgen für Aufsehen.
Die am Projekt beteiligten Forscher Professor
Dr. Reinhold Görling
(links), Professor Dr.
Johannes Kruse (hier
fotografiert im Museum
Insel Hombroich während einer Ausstellung
vor Jahresfrist zum
Thema „Gewalt und Folter“) sowie Professor Dr.
Karsten Altenhain (nicht
im Bild) haben reichlich
publiziert. Zunächst
veröffentlichten sie
gemeinsam den Band
„Wiederkehr der Folter“
(Göttingen: V&R Press
2013); anschließend
legte Reinhold Görling
noch zwei weitere
Werke vor: „Die Verletzbarkeit des Menschen.
Folter und Politik der
Affekte“ (München: Fink
2011) und „Folterbilder
und -narrationen. Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit“
(gemeinsam mit Julia
Bee, Johannes Kruse und
Elke Mühlheimer, Göttingen: V&R Press 2013).
92
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Auf
diesen feierlichen Satz beruft sich der freie Westen
gern, wenn er sich gegen die Diktaturen und Tyrannen dieser Welt stellt. Der Satz aus dem ersten
Artikel des deutschen Grundgesetzes bestimmt
das moralische und rechtliche Fundament unseres
Verständnisses von Gemeinschaft und Staat. Erst
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in den deutschen Landen die Folter abgeschafft, kehrte unter
den Nazis dann zurück; seit mehr als sechs Jahrzehnten gilt Foltern hierzulande als Tabu.
Seit Längerem also scheint Konsens, dass die Menschenwürde kein Gut ist, das man gegen andere
aufrechnen kann: Sie markiert eine normative,
nicht zu überschreitende Grenze. Formal gilt der
Satz aus dem Grundgesetz uneingeschränkt. Doch
seit Jahren schwelt eine Debatte, ob sich womöglich Würde gegen Würde aufrechnen lässt. Der
Hintergrund ist handfest: Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde folgte bisher, dass man
Menschen nicht foltern darf; etwa um – Stichwort
Rettungsfolter – ein Geständnis zu erzwingen
oder um nützliche Informationen zu erhalten.
Mit „Szenen der Gewalt“ legt Reinhold Görling,
Professor für Medienwissenschaft mit kulturwissenschaftlicher Orientierung an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, nun auf kompakten
zweihundert Seiten eine Monografie speziell zum
Verhältnis von Film und Folter vor (Reinhold Görling: „Szenen der Gewalt“. transcript 2014, Bielefeld.
ISBN 978-3-8376-2654-4. 216 S. Preis: 29,99 Euro).
Darin zieht er ein Resümee über ein Thema, das
er selbst gemeinsam jahrelang im Verbund in
umfangreicher Weise befragt hat. Es ist eine von
inzwischen zahlreichen Publikationen aus dem
von der Stiftung seit 2009 geförderten „Schlüsselthemen-Projekt“ zur „Wiederkehr der Folter“.
Weitere Pfeiler im Forschungsverbund waren der
Düsseldorfer Straf- und Medienrechtler Karsten
Altenhain und der Psychiater und Psychotherapeut Johannes Kruse von der Universität Gießen.
Der Folter-Begriff, den Görling aus seinem speziellen thematischen Blickwinkel entwirft, erschließt
sich vor allem vor dem Hintergrund dieser interdisziplinären Zusammenarbeit. Erneut nähern
sich die Forscher dem Begriff von dessen Rändern
her, ausgehend von den Szenarien, in denen Folter
stattfindet: Krieg, Handlungen staatlicher Gewaltregimes, Terrorismus, Gefängnis, Konzentrationslager. Doch Folter als Handlung entspringt nicht nur
diesen Kontexten, sie selbst zersetzt und generiert
Verhältnisse neu, indem sie in eine Wechselwirkung mit ihrem Schauplatz tritt. Opfer sind jene,
denen der Platz in der Gesellschaft entzogen werden soll. Folter, das wird deutlich, schafft demnach
ein Setting, das auf Entortung angelegt ist, das in
der extremen Nähe der körperlichen Verletzung
für eine größtmögliche Distanzierung Sorge trägt.
Mit „Szenen der Gewalt“ macht Görling dieses Verständnis der Folter als Akt der Repräsentation nun
noch mal speziell am Beispiel des Films deutlich.
Christian Jung
Impulse 02_2015 93
Publikationen
aus geförderten Projekten
der VolkswagenStiftung
„generation mix“: Die Jugend kreiert Europas neue Stadtkultur
In Europas Städten vollzieht sich eine demografische Revolution – das Ende der „Mehrheitsgesellschaft“ ist eingeläutet. In Amsterdam, London und
Brüssel ist das bereits vollzogen, in Deutschland
werden Frankfurt, Augsburg und Stuttgart als
Erste folgen. Damit einher geht, dass klare ethnische Zuordnungen immer schwieriger sind,
Mehrdeutigkeiten und Mehrfachidentitäten
gewinnen an Bedeutung. Superdiversity lautet der
Fachbegriff dafür. Diesen Übergang zur „Einwanderungsgesellschaft“ haben die meisten (Stadt-)
Gesellschaften allenfalls verbal, nicht jedoch
mental vollzogen. Wie aber kann die „superdiverse
Stadt“ als Gemeinwesen funktionieren und sich
ein neues Fundament geben, das gleichberechtigte Teilhabe und Freiheit ermöglicht? Wo findet
sich die gemeinsame Basis in einer Stadt, deren
übergroße Mehrheit nur noch aus Minderheiten
besteht? In ihrem Buch zeigen die Autoren, dass
wir gerade an einer entscheidenden Weggabelung
stehen: Nur die Städte, die all ihren Talenten einen
gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Jobs und
Zugehörigkeit bieten, werden erfolgreich bestehen
können. Die Protagonisten des Gelingens sind
schon jetzt jene jungen Leute, die die neue urbane
Wirklichkeit bereits leben. Die „generation mix“
ist mehrsprachig und interkulturell, sie pflegt das
kulturelle Erbe der Eltern und kreiert gleichzeitig
die neue Stadtkultur.
Jens Schneider, Maurice Crul, Frank Lelie: „generation mix. Die superdiverse Zukunft unserer Städte
und was wir daraus machen.“ Münster: Waxmann
Verlag, 2015. ISBN 978-3-8309-3182-9
Bewegte Jugend: Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt
Es beginnt mit einzelnen Protesten und wird
zum Lauffeuer: Anfang 2011 blickt die Welt
wie gebannt auf die Ereignisse im arabischen
Raum, wo mit unbändiger Wucht die Rufe nach
mehr Freiheit und Demokratie laut werden. Vor
allem die westliche Welt zeigte sich überrascht;
man hatte nicht für möglich gehalten, dass solche – im Kern zivilgesellschaftlichen – Prozesse
derart schnell an Fahrt gewinnen könnten. Die
Großstädte Arabiens waren und sind jene prominenten Orte, an denen sich Widerstand und
Protest gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Armut
und Ausgrenzung artikulieren und öffentlich
sichtbar werden. Jugendliche, die Hauptinitiatoren des Arabischen Frühlings, stehen dabei im
Mittelpunkt. Die Autoren Jörg Gertel und Rachid
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Ouaissa betrachten deren alltägliche Handlungsspielräume im Kontext wirtschaftlicher Zwänge,
staatlicher Kontrolle und politischer Ordnungen.
Die Beiträge zeigen, wie Widerstand und neue
Initiativen die aktuellen Gesellschaftsentwürfe
verändern und wie neue Vorstellungen von Heimat verhandelt werden. Die intensiven Studien
vor Ort bieten einen differenzierten Blick auf
das breite Spektrum des Jugendlichseins und
Erwachsenwerdens in den Städten der arabischen Welt.
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hrsg.): „Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche
in der arabischen Welt.“ Bielefeld: transcript Verlag, 2014. ISBN 978-3-8376-2130-3
Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt
Computer vermögen heute ebenso wie der
Mensch zu lesen und zu schreiben. Nach Jahrtausenden des Monopols über die Schrift mussten
wir diese Bastion im 21. Jahrhundert räumen: eine
Entwicklung, die schon Douglas Engelbart, der
Erfinder der Computermaus, 1968 vorhergesehen
hat. Henning Lobin beschreibt, wie sich Lesen
und Schreiben ändern, wenn der Computer uns
diese Kulturtechniken immer mehr abnimmt.
Wie wirkt sich dies auf Bücher, Bibliotheken und
Verlage aus, auf Schule und Universität, Presse
und Zensur? Welche Veränderungen auf dem Weg
hin zu einer „Digitalkultur“ lassen sich voraussagen? Wie können wir verhindern, zum Spielball
der technischen Evolution zu werden? Engelbarts
Traum muss heute neu gedeutet werden, soll er
sich nicht in einen Albtraum verwandeln.
Henning Lobin: „Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt.“ Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2014. ISBN 978-3593-50183-3
Kulturen der Würde. Anerkennung, Sterben, Tod
Das Ende des menschlichen Lebens ist in modernen westlichen Gesellschaften zu einer zentralen
bioethischen Frage geworden. Menschen möchten
„in Würde“ sterben, heißt es in Europa und Nordamerika. Doch ist Berufung auf die „Menschenwürde“ nicht so einheitlich und so eindeutig, wie
dieser universale Begriff glauben machen möchte.
Den Autoren ist es mit diesem Buch zum einen
gelungen, Nuancen und Unterschiede deutlich
zu machen, die der Begriffskategorie „Würde“ in
verschiedenen Sprachen, Kulturen und Traditionen zukommt. Zum anderen dokumentieren sie
Überzeugungen, die sich im Begriff der „Würde“
verdichten. Ein Schwerpunkt liegt auf dem frankokanadischen Raum, wo die Forderung „Mourir dans
la dignité“ heißt – mit all den Widersprüchen und
Konflikten, die sich dahinter verbergen. So gelingt
es den Autoren, den Bedeutungen dieses Begriffs
beidseits des Atlantiks Konturen zu verleihen.
Christine Baumbach-Knopf, Peter Kunzmann,
Nikolaus Knoepffler (Hrsg.): „Kulturen der Würde.
Anerkennung, Sterben, Tod. München: Herbert Utz
Verlag, 2014. ISBN 978-3-8316-4287-8
Vergessene Texte des Mittelalters
Dantes „Göttliche Komödie“ oder die Minnelieder
von Walther von der Vogelweide – nur zwei der
klangvollen Namen mittelalterlicher Literatur.
Manches davon kennt man vom Hörensagen, aus
Nacherzählungen, Verfilmungen, aus der WagnerOper oder durch eigene Lektüre. Aber das Mittelalter hat mehr zu bieten als diese wenigen Klassiker.
Solche unbekannten Texte dem Vergessen entreißen, wollen die beiden Herausgeber. Unterstützt
von zwanzig Experten für mittelalterliche Literatur
stellen sie ihre Lieblingstexte verständlich und liebevoll bebildert einer breiten Leserschaft vor. Und
da ist einiges versammelt: irische Sagen, ein Loblied
auf das Hausschwein und die Erzählung vom Sün-
denfall aus der Sicht Evas ebenso wie der Bericht
von der Brautfahrt Isabellas von Aragon, die Erzählung vom Ritter mit dem Adler oder eine enzyklopädische Sammlung berühmter Männer und Frauen.
Bevölkert sind diese Texte mit ganz wunderlichen
Wesen – etwa dem gräulichen Meermönch oder
Dämonen, die in ihrer Freizeit die Tora studieren. So
ist eine Art Blütenlese an seltsamen, wunderbaren,
skurrilen und oft genug höchst erstaunlichen wie
vergnüglichen Texten entstanden.
Nathanael Busch, Björn Reich (Hrsg.): „Vergessene
Texte des Mittelalters.“ Stuttgart: S. Hirzel Verlag,
2014. ISBN 978-3-7776-2248-4
Impulse 02_2015 95
Veranstaltungen
Gemeinsam forschen – Verbindung stiften:
fünfzig Jahre deutsch-israelische Beziehung
In der guten, langen Tradition der israelisch-deutschen Wissenschaftskooperation spielen
die VolkswagenStiftung und das Land Niedersachsen eine besondere Rolle – sogar schon
etwas länger als fünf Jahrzehnte. Ein Festakt im Schloss Herrenhausen in Hannover.
Schlaglichter auf die
Israel-NiedersachsenFörderung. Oben: Sebastian Kadener von der
Hebrew University of
Jerusalem möchte die
Funktionsweise der Synapsen von Nervenzellen
besser verstehen. Mitte,
links: Dr. Dirk Dorfs von
der Universität Hannover
am Lichtmikroskop. Er ist
Spezialist für Solarzellen
und mit Sonnenkraft
betriebene Laser. Seine
Kooperationspartner
vom Technion in Haifa
sind (Mitte, rechts) Professorin Efrat Lifshitz
und Doktorand Jenya
Tilchin; sie arbeiten daran, Nanopartikel für die
Energiewandlung nutzbar zu machen. Zu dieser
Arbeitsgruppe gehören
(unten links) Dafna Granot und Nimrod Kruger,
die Laserexperimente im
optischen Labor machen.
Unten rechts: Professor
Silvio O. Rizzoli von der
Universität Göttingen ist
Kooperationspartner von
Sebastian Kadener.
96
Vor fünfzig Jahren, im Mai 1965, nahmen Israel
und Deutschland diplomatische Beziehungen auf
und tauschten erstmals Botschafter aus. Doch
schon einige Jahre zuvor hatten Forscher aus
Israel und Deutschland den Dialog gestartet und
so eine Annäherung zwischen beiden Ländern
eingeleitet. In einem Festakt würdigten rund 150
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und
weitere Gäste aus beiden Ländern im März 2015
diese Zusammenarbeit. Die Aufgeschlossenheit
der Forscher habe den Weg für die Diplomatie
bereitet, sagte Niedersachsens Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajić bei der Veranstaltung im Schloss Herrenhausen.
„In Verantwortung für die Gräueltaten des
Faschismus und den Völkermord an den europäischen Juden werden die deutsch-israelischen
Beziehungen für uns immer einen besonderen
Charakter haben“, betonte die Ministerin. Israels
Botschafter in Deutschland, Yakov HadasHandelsman, hob hervor, welch entscheidende
Rolle die Wissenschaft für den Verständigungsprozess gespielt habe und spiele. Inzwischen
arbeite jede Universität in Israel mit deutschen
Partnern zusammen; in der Forschung sei
Deutschland zweitwichtigster Partner nach den
USA. „Vor siebzig Jahren konnte sich niemand
vorstellen, dass es nach dem Horror des Holocaust
eines Tages Beziehungen zwischen Israel und
Deutschland geben würde“, sagte der Botschafter.
Auch der Generalsekretär der VolkswagenStiftung,
Wilhelm Krull, erinnerte an das schwierige politi-
sche Klima vor rund fünfzig Jahren, in dem sich
Verbindungen zwischen Israel und Deutschland
nur mit großem Einsatz hätten realisieren lassen.
Die Stiftung hatte bereits 1963 – unmittelbar nach
ihrem Start – Mittel für israelische Forschungseinrichtungen bewilligt und bald darauf auch den
Austausch von Wissenschaftlern gefördert. Diesem Start folgte ein dauerhaftes, vielgestaltiges
Engagement für Israels Wissenschaft vonseiten
der Stiftung.
Seit 1977 existiert zudem unter dem Dach des
„Niedersächsischen Vorab“ ein Programm von
Stiftung und Land Niedersachsen zur Förderung
von Gemeinschaftsvorhaben zwischen israelischen und niedersächsischen Forscherinnen und
Forschern. Seitdem wurden knapp 400 Projekte
mit insgesamt rund fünfzig Millionen Euro gefördert. Über 1500 Wissenschaftler sind oder waren
daran beteiligt. Aus vielen dieser Projekte erwuchsen interessante Perspektiven, nachhaltige Netzwerke und weiterführende Arbeiten, an denen oft
auch Nachwuchsforscher beteiligt waren.
Zum Jubiläum ist die Broschüre „Gemeinsam
forschen – Verbindung stiften“ erschienen, die
Projekte aus dieser besonderen Wissenschaftsförderung vorstellt. Die nebenstehenden Bilder
stammen aus israelisch-niedersächsischen
Kooperationsvorhaben, über die in dem Magazin
auf Deutsch und Englisch berichtet wird und
die einen Einblick in Breite und Vielfalt der Forschungsaktivitäten geben.
Beate Reinhold
Impulse 01_2015 97
Veranstaltungen
Mit ihren derzeit fünf Veranstaltungsreihen im Schloss Herrenhausen in Hannover verfolgt die
Stiftung das Ziel, Wissen in die Gesellschaft zu tragen, Forschern ein Forum für ihren fachlichen
Austausch zu geben und die Verbindung von Wissenschaft und diversen Zielgruppen zu intensivieren. Eine Übersicht aller Veranstaltungen sowie Anmeldemodalitäten sind zu finden unter
www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen. Einzelne Programmpunkte der – ansonsten als
Fachveranstaltungen geschlossenen – Herrenhäuser Konferenzen und Herrenhäuser Symposien
können für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Hier ausgewählte Termine der nächsten Monate.
Juli
1.7.Herrenhäuser Zukunftsdialog: „Wahlen sind bald – die Jugend lässt's kalt? Politische
Beteiligung im 21. Jahrhundert“
3.7.Herrenhäuser Symposium: „Madonna in Kunst und Musik“
6.7.-7.7.
Symposium „25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung“
16.7.Herrenhäuser Gespräch: „Stunde Null ? Über radikale Neuanfänge in Musik, Kunst und Literatur“
30.7.-31.7. Workshop „Governing the Anthropocene“
September
1.9.-3.9.
Symposium „Let’s Walk Urban Landscapes”
3.9.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Mobilität: von der Zukunft eines
Lebensgefühls“
16.9.-18.9. Tagung „Philologie und Gesellschaft“
24.9.
Herrenhäuser Gespräch
25.9.
Neu gefördert! Die neuen Freigeist-Fellows der VolkswagenStiftung stellen sich vor
25.9.-26.9. Forschungs- und hochschulpolitisches Werkstattgespräch
28.9.Leopoldina Lecture: „Burnout, Angst und Depressionen: Wie können wir psychischen
Störungen am Arbeitsplatz begegnen?“
29.9.-1.10. Nature Herrenhausen Symposium: „Ageing – Cellular Mechanisms and Therapeutic Opportunities”
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Herrenhäuser Konferenzen
Die Herrenhäuser Konferenzen
sind Fachveranstaltungen. Sie
fokussieren mit besonderem
Aktualitäts- und Zukunftsbezug
wissenschaftliche Themen von
hoher gesellschaftlicher Relevanz
und öffnen neue Forschungsfelder.
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Herrenhäuser Symposien
Die Herrenhäuser Symposien –
ebenfalls geschlossene Fachveranstaltungen – bieten Forschern eine
Plattform, Ideen zu entwickeln und
neue Forschungsansätze zu diskutieren. Die Stiftung veranstaltet
auch eigene Symposien.
Oktober
5.10.-6.10. Workshop Wissenschaftskommunikation: „Handlungsmöglichkeiten unter dem Druck der PR“
5.10.-7.10. Fortbildungsreihe des ZWM Speyer: „Professionals in Science“
8.10.
Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Auf den Spuren guter Ernährung“
10.10.
Hannah Arendt Tag 2015
13.10.
Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: „ ‚… und dann ein bißchen baedekern‘ – zur Entwicklung von Reiseliteratur und Massentourismus“
13.10.-14.10. Workshop „Koordination und Kooperation in der Hochschul- und Wissenschaftsforschung“
19.10.-20.10.Öffentliche Gutachtersitzung zur Auswahl der Projekte in der gemeinsam vom Land
Niedersachsen und von der VolkswagenStiftung im Rahmen des Niedersächsischen Vorab getragenen Ausschreibung „Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung“
20.10.
Herrenhausen Late: „Heute schon gelernt? – Wissensvermittlung von Seminar bis Science Slam“
November
2.11.
Herrenhäuser Zukunftsdialog
2.11.-3.11.
Workshop „Governance of Science“
9.11.-11.11. Tagung „Genome Editing” (Arbeitstitel)
17.11.
Herrenhäuser Forum Politik – Wirtschaft – Gesellschaft: „Zwischen Wohlstand und Widerstand – was erreicht Entwicklungszusammenarbeit?“
17.11.-19.11. Fortbildungsreihe des ZWM Speyer: „Professionals in Science“
19.11.
Herrenhäuser Gespräch: „Tischlein deck' dich: Rituale und Essenskultur in einer digitalen Welt“
20.11.-21.11. Herrenhäuser Konferenz: „Long-term Processes of Socio-Economic Development: Stagnation, Growth, Divergence and Crises”
23.11.-24.11. Statussymposium „Forum Experiment!“
24.11.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Zwischen Schulbrot und Smartphone –
alles gut bei unseren Kindern?“
24.11.-25.11. Internationale Konferenz: „Lernen von Anderen und seine Grenzen – Migrationsmanagement und Integrationsförderung im internationalen Vergleich“
25.11.Verleihung Förderpreis Opus primum der VolkswagenStiftung
Dezember
1.12.-4.12.
8.12.-9.12.
errenhäuser Symposium „Didactics of Mathematics”
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Herrenhäuser Symposium „Sustainable Development Goals”
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Herrenhäuser Gespräche
Mit den Herrenhäuser Gesprächen
präsentieren die Stiftung und NDR
Kultur aktuelle Themen aus Wissenschaft und Kultur von Bedeutung
für die Gesellschaft. Adressat ist hier
zuvorderst die wissenschaftsinteressierte Öffentlichkeit.
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Herrenhäuser Forum
Mit verschiedenen Schwerpunkten
begeistert das Herrenhäuser Forum
ein breites Publikum für wissenschaftliche Fragen: zu Themen des
Zeitgeschehens und Aktuellem aus
„Politik – Wirtschaft – Gesellschaft“
und „Mensch – Natur – Technik“.
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Herrenhausen Late
„Herrenhausen Late – ScienceMusicFriends“ zielt auf ein junges Publikum. Experten unterhalten aus
überraschender Perspektive originell
über Wissensthemen. Der Festsaal
im Schloss verwandelt sich in eine
Lounge mit kleiner Bühne, DJ und Bar.
volkswagenstiftung.de
Veranstaltungen
Herrenhäuser Gespräche, Foren, Konferenzen …
hier finden Sie Informationen über die Vielzahl
unserer Veranstaltungen.
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Aktuelle Nachrichten aus der VolkswagenStiftung, zum Beispiel zu laufenden
Forschungsprojekten, neuen Ausschreibungen
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In unserer Mediathek finden Sie Fotos und
Bildergalerien, Videos und Audios.
sciencemovies
In unserem Videoblog sciencemovies.de
präsentieren sich acht von der VolkswagenStiftung geförderte Projekte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen. Film ab!
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Unsere Audio-Angebote
Sie haben eine Veranstaltung verpasst? In unseren
Podcasts „ListenToScience“ und „ScienceUncut“
stellen wir Ihnen Audio-Mitschnitte unserer
Veranstaltungen zum Nachhören zur Verfügung.
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und Veröffentlichungen. Abonnieren können Sie
ihn ganz einfach online durch die Angabe Ihrer
E-Mail-Adresse unter www.volkswagenstiftung.de/
newsletter-anmeldung. Selbstverständlich können
Sie das Abonnement jederzeit über einen entsprechenden Link in der Fußzeile jeder NewsletterAusgabe oder über die Homepage der VolkswagenStiftung wieder beenden – auch wenn wir
natürlich hoffen, dass Sie dranbleiben …
Wilhelm Krull zum
Ehrenmitglied gewählt
Der Bundesverband Deutscher Stiftungen wählt den
Generalsekretär der VolkswagenStiftung Anfang Mai 2015
beim Deutschen Stiftungstag zu seinem Ehrenmitglied
Das Votum der Mitgliederversammlung des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen fiel einstimmig aus. Die
Mitglieder des Verbandes würdigten beim deutschen
Stiftungstag, dem alljährlichen Zusammentreffen
vieler Akteure aus dem Stiftungswesen, die zahlreichen
Verdienste des Stiftungsexperten Dr. Wilhelm Krull:
Seit 1996 – also fast zwanzig Jahren – ist er Generalsekretär der VolkswagenStiftung, einer der größten
Stiftungen hierzulande.
„Wilhelm Krull hat mit seinem Engagement in der Wissenschaftspolitik in Deutschland viele neue Akzente
gesetzt. Und er hat sich zugleich nie allein auf dieses
Feld zurückgezogen, sondern sich für die Stiftungslandschaft in Deutschland und Europa persönlich sehr
engagiert", begründete der Vorstandsvorsitzende Professor Dr. Michael Göring die Auszeichnung.
Sie möchten regelmäßig über das Veranstaltungsprogramm der VolkswagenStiftung informiert werden? Dann können Sie sich unter
https://veranstaltungen.volkswagenstiftung.de/
in unserem Anmeldeportal registrieren.
Der studierte Germanist, Philosoph, Pädagoge und Politikwissenschaftler nimmt neben seinen beruflichen
Tätigkeiten in der Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung seit über zwei Jahrzehnten zahlreiche Funktionen in nationalen, ausländischen und internationalen
Gremien wahr. In verschiedenen Funktionen engagierte
und engagiert sich Wilhelm Krull national und international für das Stiftungswesen: So war er von 2003 bis
2005 Chairman des Hague Club, der Vereinigung der
größten europäischen Stiftungen. Den Vorsitz im Vorstand des European Foundation Centre hatte er von 2006
bis 2008 inne. Von 2008 bis 2014 war er Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen.
Gegenwärtig ist Krull Vorsitzender des Stiftungsrats der
Universität Göttingen, Mitglied der Wissenschaftlichen
Kommission des Landes Niedersachsen und der Kuratorien des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie
in Göttingen, des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in
München, des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Potsdam und Hannover sowie weiterer Max-PlanckInstitute in Potsdam und Radolfzell.
Impulse 02_2015 101
Vorgestellt!
Eigentlich wollte sie Tierärztin werden, dann Schauspielerin.
Mareike Knoke blieb aber zum Glück bei dem, was ihr immer
schon am meisten Spaß gemacht hat: dem Schreiben. Reportagen, Features, Porträts, Interviews. Nach dem Germanistikstudium arbeitete sie zunächst als Reporterin einer Lokalredaktion.
Weitere Stationen: Redakteurin bei der Berliner Morgenpost,
Redakteurin für Hochschulpolitik und Wissenschaft bei der duz
(Deutsche Universitätszeitung), seit 2004 freie Journalistin für
Wissenschaft und Bildung und Moderatorin von Fachtagungen.
Das Thema Forschung und Lehre mit dem weiten Blick auf das
Wissenschaftssystem hat sie seitdem nicht mehr losgelassen: Es ist wie eine große Wundertüte, die immer wieder neu
gefüllt wird und in der es noch viel zu entdecken gibt. Über ihre
Entdeckungen schreibt sie für Printmedien wie Spektrum der
Wissenschaft und arbeitet für verschiedene Stiftungen; zugleich
produziert sie für den Hörfunk, vor allem für Deutschlandradio.
Ina-Jasmin Kossatz arbeitet seit 2013 als freie Fotoredakteurin für
das Magazin Impulse. Dem Studium an der Hochschule Hannover
mit dem Schwerpunkt Visuelle Kommunikation folgte ein Volontariat zur Bildredakteurin und der Job als Gestalterin für Online
und Print bei der renommierten Agentur für Fotos und Reportagen
„laif“, wo sie auch die Marketing- und Geschäftsleitung unterstützte. Zurück in Hannover, lehrt Ina Kossatz seit 2012 an der Hochschule Hannover Grundlagen der Fotografie im Studiengang Visuelle
Kommunikation. An der Fachhochschule Dortmund unterrichtet sie
ebenfalls angehende Fotografen: etwa darin, wie eine Fotoredaktion funktioniert oder wie man sich am freien Markt behauptet.
Gelegentlich assistiert sie professionellen Fotografen, um in der Praxis zu bleiben. Wenn Sie hier nun die vierfache Ina K. sehen, dann
heißt das nicht, dass die Stiftung das Ad-hoc-Klonen erfunden hat;
hingegen handelt es sich um eine Photoshop-Montage mehrerer
Lichttests für ein Fotoshooting in der Bremer Uni-Bibliothek.
Dr. Vera Szöllösi-Brenig machte nach dem Studienabschluss in
Romanistik und Germanistik ein Volontariat beim Bayerischen
Rundfunk. Dort und beim Deutschlandfunk in Köln arbeitete sie
anschließend als politische Redakteurin. In dieser Zeit promovierte sie über den französischen Romancier Claude Simon. Seit
1999 ist sie bei der Stiftung beschäftigt, betreute dort die jüngst
erst beendeten langjährigen Initiativen „Schlüsselthemen der
Geisteswissenschaften“ und „Dokumentation bedrohter Sprachen“. Derzeit verantwortet sie das Small Grants-Programm
„Originalitätsverdacht?“ und bereitet aktuell das mögliche künftige Förderfeld „‘Mixed Methods‘ in den Geisteswissenschaften“
vor. Den Geisteswissenschaften und der Wissenschaftspolitik
gilt ihr tiefgehendes Interesse, sagt sie von sich. Entsprechend
breit ist auch das Spektrum an Disziplinen, das sie in der Stiftung
betreut: Sprachwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie Kunst, Theater- und Musikwissenschaften.
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Impressum
Die Stiftung in Kürze
Herausgeber
VolkswagenStiftung
Kastanienallee 35
30519 Hannover
Telefon: +49 511 8381-0
Telefax: +49 511 8381-344
E-Mail: [email protected]
www.volkswagenstiftung.de
Die VolkswagenStiftung ist eine eigenständige, gemeinnützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover.
Mit einem Fördervolumen von insgesamt etwa 150 Millionen Euro pro Jahr ist sie die größte private deutsche
wissenschaftsfördernde Stiftung und eine der größten
Stiftungen hierzulande überhaupt. In den mehr als fünfzig Jahren ihres Bestehens hat sie über 30.000 Projekte
mit insgesamt mehr als 4,2 Milliarden Euro gefördert.
Auch gemessen daran zählt sie zu den größten gemeinnützigen Stiftungen privaten Rechts in Deutschland.
Vertreten durch
Kuratorium VolkswagenStiftung, vertreten durch
den Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull
Redaktion (Text und Schlussredaktion)
Dr. Christian Jung (cj)
Bildredaktion
Ina-Jasmin Kossatz
Kommunikation VolkswagenStiftung
Jens Rehländer (Leitung)
Gestaltung
Medienteam-Samieske, Hannover
Korrektorat
Cornelia Groterjahn, Hannover
Druck
gutenberg beuys feindruckerei gmbh
Hans-Böckler-Str. 52
30851 Hannover/Langenhagen
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Die Fotos und Abbildungen wurden – soweit unten nicht anders
angegeben – dankenswerterweise von den jeweiligen Instituten
beziehungsweise Hochschulpressestellen zur Verfügung gestellt.
Seiten 1, 4 (oben), 22-33, 35: Muhammad Fadli/Jakarta
Seite 3: Dennis Börsch, Hannover
Seiten 4 (Mitte), 62-71: Sven Döring, Dresden
Seiten 4 (unten), 6-14, 16, 52-56, 58, 59, 61: Daniel Pilar, Hannover
Seite 15: Inga Dirks, Israel
Seite 17: Lukas Gruenke, Hannover/Osnabrück
Seiten 19, 93: David Klammer, Köln
Seite 20 (links): Ulrich Dahl, Pressestelle TU Berlin
Seite 20 (rechts): Ina Zimmermann, HTW Berlin
Seite 21: www.ingimage.com/Joyt
Seiten 36-44: Kristy Carlson, Bujumbura/Burundi
Seite 45: Cira Moro, Konstanz
Seite 47: von/über Julia Schroeder, Seewiesen
Seite 48: Max Löhning, Berlin
Seite 49: Martin Westermann / Christian Kost, Universitätsklinikum Jena
Seite 50: SLAC National Accelerator Laboratory, Kalifornien, USA
Seite 51: Uwe Bellhäuser, das bilderwerk
Seite 57 (oben): Pütz / Seite 57 (unten): Rüdiger Koop, Saarbrücken
Seite 60: Britt Schilling, Bonn
Seite 73: Martin Kaltenpoth, MPI für chemische Ökologie, Jena
Seite 74: privat
Seite 75: Breshuk via Wikimedia Commons CC
Seite 76: Christopher Honnef, Deutsches Meeresmuseum Stralsund
Seite 77: Antje Dittmann, Deutsches Meeresmuseum Stralsund
Seiten 78, 91, 102 (Mitte): Helge Krückeberg, Hannover
Seiten 81, 82, 84, 86, 88, 90 (Illustrationen): Dorota Gorski, Hannover
Seiten 83, 87, 89: Michael Löwa, Hannover
Seite 97 (oben, Mitte rechts, unten links): Jonas Opperskalski, Tel Aviv, Israel
Seite 97 (Mitte links): Fabian Fiechter, Hannover
Seite 97 (unten rechts): Franz Bischof, Hannover
Seite 101: Marc Darchinger, Bundesverband Deutscher Stiftungen, Berlin
Seite 102 (oben): Christian Dohrmann, Berlin
Seite 102 (unten): Ina-Jasmin Kossatz, Hannover
Das Gründungskapital der Stiftung wurde von Bund und
Land Niedersachsen im Rahmen des Privatisierungsprozesses der heutigen Volkswagen AG bereitgestellt.
Es handelt sich bei der VolkswagenStiftung jedoch nicht
um eine Unternehmensstiftung. Die Stiftungsgremien
sind autonom und unabhängig in ihren Entscheidungen.
Erwirtschaftet werden die Fördermittel der Stiftung einerseits – größtenteils zugunsten der „Allgemeinen Förderung“ – aus ihrem Kapital, derzeit circa 2,9 Milliarden Euro.
Andererseits stammen sie aus den vom Land Niedersachsen gehaltenen und mit einem Vermögensanspruch der
Stiftung versehenen gut 30 Millionen Volkswagenaktien
samt ihrer Dividende (Teil des „Niedersächsischen Vorab“).
Die VolkswagenStiftung fördert gemäß ihrer Satzung
Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre
und setzt durch die von ihr bewilligten Mittel gezielte
Impulse. Sie entwickelt mit Blick auf zukunftsweisende
Forschungsgebiete eigene Förderinitiativen. Diese bilden den Rahmen ihrer Förderaktivitäten und werden im
Weiteren als Teil des eigenen Veranstaltungsangebots
thematisch aufgegriffen. Mit der Konzentration auf eine
begrenzte Zahl von Initiativen sorgt die Stiftung dafür,
dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden.
Besondere Aufmerksamkeit widmet die Stiftung dem wissenschaftlichen Nachwuchs sowie jenen Forscherinnen
und Forschern, die im Zuge ihrer Arbeit und wissenschaftlicher Kooperationen inhaltliche, kulturelle und staatliche
Grenzen hinter sich lassen. Ein Hauptaugenmerk gilt
desgleichen der Verbesserung der Ausbildungs- und Forschungsstrukturen in Deutschland. Die Umsetzung der
Ziele erfolgt oft im Austausch mit anderen Stiftungen und
öffentlichen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung.
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Wir stiften Wissen
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Telefax 05 11/83 81-344
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