Impulse Das Wissenschaftsmagazin der VolkswagenStiftung 02 15 Mehr Licht ins Dunkel! Wie Sichtwechsel die Wissenschaft voranbringen Vorwort Seit gut einem Jahrzehnt gibt es in Deutschland mehr und mehr Bestrebungen, die Finanzierung von Wissenschaft und Forschung auch über Spenden, Stiftungen und Zustiftungen zu sichern. Viele dieser Versuche sind erfolgreich: angefangen bei der vor gut einem Jahrzehnt angestoßenen Gründung von Stiftungsuniversitäten in Niedersachsen über die durch eine substanzielle Zuwendung gestützte Jacobs University in Bremen bis hin zu der Anfang 2015 in die Trägerschaft einer Stiftung überführte Universität Lübeck. Anderen Hochschulen gelang es, durch groß angelegte Fundraising-Kampagnen Millionenbeträge einzuwerben – oder in manchen Fällen auch Lehrstühle. Inzwischen ist die Gründung und Förderung von Stiftungslehrstühlen hierzulande durchaus gleichermaßen akzeptiert wie anerkannt. Laut letzter Erhebungen arbeiten derzeit über 700 Stiftungsprofessorinnen und -professoren an deutschen Hochschulen. Weniger als die Hälfte solcher Lehrstühle werden von Unternehmen finanziert; der überwiegende Teil von Stiftungen und Forschungsverbünden, aber auch von Verbänden oder Vereinen. Mit der partiellen Aufhebung des „EndowmentVerbots“ für Stiftungen im Zuge des Gesetzes zur Stärkung des Ehrenamtes erhielten erstmals in Deutschland auch Stiftungen und andere zivilgesellschaftliche Institutionen die Gelegenheit, zum Beispiel Stiftungslehrstühle mit eigener Kapitalausstattung an Universitäten zu etablieren. Die VolkswagenStiftung war die erste Stiftung, die diese Chance ergriffen und umgehend in ihr Förderkonzept für die seit 2002 laufenden und gut etablierten Lichtenberg-Professuren integriert hat. Das Beispiel „Endowed Professorships“ zeigt aber auch, dass die Finanzierung der Hochschulen nicht allein durch Stiftungen gesichert werden kann. Nach wie vor bleibt die Grundfinanzierung der Hochschulen eine öffentliche Aufgabe – einerseits, möchte man nach gebotenem Zögern hinzufügen. Denn andererseits sorgt selbst in der vergleichsweise wohlhabenden Schweiz ein neues Finanzierungsmodell der Universität St. Gallen für Furore: Die Hochschule akzeptiert bewusst Kürzungen der staatlichen Förderung, um im Gegenzug mehr Autonomie zu erhalten. So kann sie zum Beispiel ihr Budget selbst festlegen und Reserven bilden, um Schwankungen auszugleichen und den Mitteleinsatz strategisch und langfristig zu planen und auszurichten. Das Beispiel zeigt: Nimmt der Staat sich aus seiner Verantwortung zurück, dann sollte er bereit sein, den Hochschulen Freiräume zu gewähren. Diese Räume lassen sich unter geeigneten Rahmenbedingungen mithilfe der Zivilgesellschaft ausgestalten und füllen. Wie ein solches Engagement aussehen kann, enthüllt ein Blick in den Norden Europas. In Norwegen werden nennenswerte Spenden von privaten Einrichtungen wie etwa Stiftungen in Höhe von mehr als drei Millionen Norwegischen Kronen, rund 350.000 Euro, um 25 Prozent von staatlicher Seite aufgestockt. Ähnliche Anreize gibt es in Großbritannien. Und in Finnland bietet die Regierung an, die aus der Zivilgesellschaft für gemeinnützige Zwecke eingeworbenen Mittel sogar zu verdreifachen. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung Sicher ist: Die Gestaltungskraft der Zivilgesellschaft ist derzeit stark im Aufwind begriffen. Insbesondere deshalb sollten es die entscheidenden Kräfte in diesem Land als wesentliche gesellschaftspolitische Aufgabe begreifen, die Kultur des zivilgesellschaftlichen Engagements, des Stiftens und Zustiftens voranzubringen. Hierfür Ideen zu entwickeln, ist ein Anliegen der VolkswagenStiftung – denn auch auf solch mittelbare Weise lassen sich Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre substanziell fördern. Damit gerade jene auf den ersten Blick überraschende, vor allem aber sehr besondere Forschung Chancen auf Umsetzung hat, wie wir sie in diesem Heft über „neue Sichtachsen und Zugänge in der Wissenschaft“ vorstellen. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihr Impulse 02_2015 3 22 Mit dem Herzen bei der Sache Beeinflussen die eigenen Gefühle während des Forschungsprozesses die Ergebnisse? Ethnologen, Psychologen und Literaturwissenschaftler beobachten sich bei ihrer Arbeit gegenseitig, um das herauszufinden. 62 Heilen mit Stammzellen? Er geht einen eigenen Weg: Freigeist-Fellow Dr. Volker Busskamp will funktionsfähige menschliche Nervenschaltkreise künstlich herstellen. Ein junger Forscher auf der Suche nach therapeutischem Potenzial für neurodegenerative Erkrankungen. 52 Ungleiche Zwillinge Sie sind Zwillinge und doch grundverschieden: Denn eines der Kinder hat das Down-Syndrom, das andere nicht. Was bedeutet das für das Aufwachsen der Zwillinge? Zu Besuch bei zwei Familien in Mainz und im Thüringischen. Inhalt 6 Was braucht ein Baum? Wie entwickelt sich das Ökosystem Wald in Zeiten des Klimawandels? Forscher aus Göttingen und Israel entwickeln Szenarien und Empfehlungen für eine Waldbaustrategie der Zukunft. 22 Mit dem Herzen bei der Sache ... … und vor allem mit viel Gefühl. Ein bunt gemixtes Forscherteam unterwegs mit dem Ziel, am Ende einer Reise durch Indonesien die Wissenschaft ein bisschen mehr über sich selbst aufzuklären. – Über den Einfluss von Emotionen beim Erkunden des Fremden. 36 Erinnerung, lass nach … Viele Soldaten werden durch Kriegserlebnisse traumatisiert. Psychologen aus Konstanz haben sich mit den Posttraumatischen Belastungsstörungen von burundischen Soldaten der Somalia-Friedensmission befasst und eine spezielle Therapie entwickelt. 52 Ungleiche Zwillinge Wie reagiert das unmittelbare Umfeld, wie die Gesellschaft auf Zwillinge, von denen eines der Kinder von Geburt an gesund ist, das andere krank? Ergebnisse einer einzigartigen Studie über ein nicht alltägliches Familienleben. Rubriken 17 62 Heilen mit Stammzellen? Lassen sich funktionsfähige menschliche Nervenschaltkreise künstlich herstellen? Einer der ersten Freigeist-Fellows hat sich das zur Aufgabe gemacht. Das HeftInterview. Mit Volker Busskamp in Dresden. Editorial: „Neue Sichtachsen und Zugänge“ 18 Kompakt: zum Schwerpunktthema 46 Spektrum: zur Wissenschaftsförderung 72 Forum Förderung: Auszeichnungen / Bewilligungen 78 92 Wissenschaft unter der Lupe der Literatur Gibt es eine neue Form von Wissenschaftsliteratur und – findet die sogar neue Käuferschichten? Und welches Bild von Wissenschaft wird in diesen Büchern vermittelt? Forscher und Autoren suchen gemeinsam nach Antworten. Publikationen 96 Veranstaltungen 100 Die Stiftung im Netz / Die Stiftung intern 102 Vorgestellt! 103 Impressum / Die Stiftung in Kürze Broschüre zur israelisch-niedersächsischen Wissenschaftskooperation die israelisch-deutsche Zusammenarbeit ist. Die auf Deutsch und Englisch erschienene Broschüre kann angefordert werden bei Birgit Rosengart (rosengart@volkswagenstifWir stiften Wissen steht zum A tung.de) Foundationoder of Knowledge Download bereit unter https://www.volkswagenstiftung.de/publikationen.html. VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Germany Telefon/Phone: +49 (0) 511 8381-0 Telefax: +49 (0) 511 8381-344 [email protected] www.volkswagenstiftung.de Gemeinsam forschen – Verbindung stiften Collaborative Research Projects Connecting Israel and Germany Gemeinsam forschen – Connecting Israel and Germany beider Länder unterstützt – gleich auf der nächsten Seite starten wir das Heft mit einem aktuellen Beispiel aus der Fülle geförderter Projekte. Zum Jubiläum hat die Stiftung eine Publikation herausgegeben, die anhand ausgewählter Forschungsvorhaben zeigt, wie ertragreich VolkswagenStiftung 2015 feiern Deutschland und Israel den 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Doch bereits 1963 hatte die VolkswagenStiftung Mittel für israelische Forschungseinrichtungen bewilligt und bald darauf auch Kooperationen und Austausche von Wissenschaftlern Impulse 02_2015 5 6 Text: Jo Schilling // Fotos: Daniel Pilar Was braucht ein Baum? Wie entwickelt sich das Ökosystem Wald in Zeiten des Klimawandels? Forscher aus Göttingen und Israel analysieren die Nährstoffsituation von Gehölzen am Beispiel von Rotbuchen und Palästinaeichen. Ihr Ziel: Szenarien und Empfehlungen formulieren für eine globale Waldbaustrategie der Zukunft. Impulse 01_2015 7 8 O hne Phosphor kein Leben. Das Element transportiert Energie und ist wesentlicher Baustein vieler Biomoleküle wie beispielsweise der DNA, dem Träger der Erbinformation. In verschiedenen chemischen Verbindungen kommt es zum Einsatz: Menschen und Tiere benötigen es, doch vor allem für Pflanzen ist es essenzieller Nährstoff. So nutzen Landwirte je nach Boden unterschiedliche Phosphat-Dünger – ohne ist es zumindest heute noch nicht möglich, die weltweit acht Milliarden Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Und ohne Phosphor wäre eben einfach alles weitgehend kahl: Es gäbe keinen Strauch, keinen Busch, keinen Baum. Also auch – keinen Wald. Ina Christin Meier steuert gerade direkt auf eine mannshohe Wetterstation zu, die in einem fast hundert Jahre alten Buchenwald in der Lüneburger Heide steht. Unter ihren Füßen raschelt Laub; ab und an verirrt sich ein Sonnenstrahl durch dichte Baumwipfel. Die Luft ist frisch, fast ein wenig klamm, und es duftet nach feuchter Erde, Pilzen und Sommer in dieser recht eigenen, durch spezifische Vegetation geprägten Heidelandschaft in der norddeutschen Tiefebene. Die Station steht in einem 30 mal 30 Meter großen Terrain – eingezäunt, damit neugierige Waldbesucher die empfindlichen Messungen nicht stören oder die Messstation gar mitnehmen. Elf solcher Untersuchungsflächen haben Wissenschaftler in der Lüneburger Heide abgesteckt. Für die Dauer des Forschungsprojekts bleiben diese Waldstücke verschont von Kettensägen und Harvestern, den riesigen Erntemaschinen der Holzarbeiter. Fortsetzung auf Seite 14 … Phosphor ist ein Mangelelement in unseren Böden. „Für das Pflanzenwachstum ist die unzureichende Versorgung mit einem der Nährstoffe bereits ein wesentlicher begrenzender Faktor“, sagt Doktorandin Julia Köhler von der Universität Göttingen; hier mit Stechzylinder und Zuwachsmaßbändchen unterwegs in einem Wald bei Unterlüß in Niedersachsen. 10 Forschung, damit der Buchenwald künftig gut gedeiht: Julia Köhler und Heiko Eichner gewinnen mithilfe von Stechzylindern Bodenproben aus elf in den Wäldern der norddeutschen Tiefebene gelegenen Untersuchungsflächen. Die Proben werden später im Labor des Instituts für Pflanzenwissenschaften der Universität Göttingen hinsichtlich der vorhandenen Nährstoffe und deren spezifischer Zusammensetzung analysiert. Gefördert wird das binationale Vorhaben zur Versorgungssituation ausgewählter Baumarten mit dem Nährstoff Phosphor in Zeiten sich verändernden Klimas („The phosphorus nutrition of European beech and Palestine oak under a future warmer and drier climate: experiments and transect studies“) unter dem Dach des Niedersächsischen Vorab im Rahmen der „Forschungskooperationen Niedersachsen – Israel“. Impulse 02_2015 11 12 In der Klimakammer des Gewächshauses im Göttinger Botanischen Garten laufen Tests mit jungen Buchensämlingen. Die Wissenschaftlerinnen Julia Köhler und Dr. Ina Christin Meier (links) variieren in unzähligen Versuchsreihen die Düngergaben und legen die feinen, kleinen, oft kaum sichtbaren Wurzeln frei, um deren Wachstum zu überprüfen. Wie verändert sich dieses abhängig von der Zusammensetzung der Nährstofflösung? Ina Christin Meier ist Spezialistin für eine besondere Technik: die Messung der Wurzelexsudation. „Dazu extrahiere ich Teile der Wurzeln sehr vorsichtig aus dem Boden, reinige sie und lege sie in eine sterile Küvette.“ Mindestens eine Woche lang fängt sie so die Substanzen auf, die die Wurzel normalerweise an den Boden abgibt – und wartet immer wieder gespannt auf die Ergebnisse und darauf, was die Veränderungen an dieser oder jener „Stellschraube“ bewirken. Impulse 02_2015 13 Forschen für eine nachhaltige Waldbaustrategie der Zukunft: Blick in die Klimakammer des Göttinger Gewächshauses. Ziel der kooperierenden Forscher ist es, am Ende ihrer gemeinsamen Arbeit zumindest für einen gewissen Zeithorizont belastbare Aussagen treffen zu können über Entwicklungsszenarien des Ökosystems Wald. Ihre Ergebnisse sollen nicht weniger als die Grundlage bilden für einen ersten Schritt zu einer Waldbaustrategie der Zukunft, um die Gehölze auch in den nächsten Jahrhunderten erhalten und nicht zuletzt nutzen zu können – und das möglichst weltweit. Wo also zeichnen sich Probleme ab? Im Gegensatz zu dem Pflanzennährstoff Stickstoff, der sich im Boden aufgrund des unerschöpflichen Vorrats in der Atmosphäre unseres Planeten stets wieder anreichert, gibt es für Phosphor kein solch gasförmiges Ersatzlager. Er wird während der Bodenbildung aus verwitterndem Gestein freigesetzt. Durch sich zersetzendes Herbstlaub und Totholz steht er den Bäumen in einem geschlossenen Kreislauf zur Verfügung. Fortsetzung von Seite 9 … „Wir untersuchen, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Nährstoffversorgung der Bäume hat“, erklärt Ina Christin Meier und beginnt mit lebhaften und greifbaren Erläuterungen, die Dimension der Aufgabe fassbar zu machen. „Innerhalb dieses komplexen Themenfeldes konzentrieren wir uns auf die Versorgung der Bäume mit Phosphor.“ Das „Wir“, das in fast jeder ihrer Äußerungen zu hören ist, umfasst neben der promovierten Ökologin vom Albrecht-vonHaller-Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Göttingen vor allem Kolleginnen und Kollegen aus Israel. Seit Jahren besteht eine gute, enge Zusammenarbeit zwischen Forschern beider Länder: in diesem Projekt mit Dr. Shimon Rachmilevitch vom Jacob-Blaustein-Institut für Wüstenforschung der Ben-Gurion-Universität der Negev. 14 „Zunehmende Stickstoffanreicherung aus der Atmosphäre und Bodenversauerung verringern aber die Verfügbarkeit von Phosphor. Außerdem wird mit dem Austrag von Biomasse durch die regelmäßige Holzernte dem Wald permanent Phosphor entzogen“, erklärt Meier grundlegende Zusammenhänge. „Und durch steigende klimawandelbedingte Trockenheit verschärft sich das Problem noch.“ Eine Kompensation ist zudem nicht möglich: Selbst alle anderen erforderlichen, im Übermaß vorhandenen Nährstoffe helfen nicht, wenn ein einziger fehlt oder es an ihm mangelt. Die Folge: Die Wälder werden kümmern. Nur: Worin besteht der direkte Zusammenhang zwischen Trockenheit und Phosphormangel? Die erste Folge des Wassermangels ist, dass die Lebensbedingungen für die Bakterien im Boden schlechter werden und damit die Mineralisation von Laub und Totholz nachlässt – damit sinkt die für die Bäume direkt verfügbare Menge an Phosphor. Weniger Wasser im Boden bedeutet auch, dass der Transport der Mineralstoffe im Boden nachlässt. Da Phosphor zu den Wurzeln hin diffundieren muss, heißt das ganz einfach: Den Baum erreichen weniger Nährstoffe. Und die Trockenheit wirkt sich unmittelbar auf die Baumwurzeln aus, auf deren Gewebestruktur und die Fähigkeit, benötigte Substanzen aufzunehmen. Zudem leben die Baumwurzeln in Symbiose mit Mykorrhizapilzen, die viele Nährstoffe dem Baum erst verfügbar machen. Und Pilze mögen keine trockenen Böden. „Es gibt Hinweise, dass die Phosphorkonzentrationen in Waldbäumen jetzt schon immer ungünstiger werden, und es deutet sich an, dass sie bei Trockenheit weiter abnehmen. Steigende Temperaturen verstärken den Effekt“, erläutert die Projektleiterin des deutschen Parts. Ina Christin Meier wird von Doktorandin Julia Köhler unterstützt, während in Israel Postdoktorandin Dr. Inga Dirks und Masterstudentin Hila Gil das Team um Shimon Rachmilevitch vervollständigen. Wenn man mit Blick auf die Waldentwicklung forscht, ist es sinnvoll, Bäume zu untersuchen, die den Wald prägen. „Die Palästinaeiche ist eine im mediterranen Bereich weit verbreitete Baumart und damit ein geeigneter Modellbaum für uns“, sagt Rachmilevitch. Die in Deutschland vorherrschende Baumart ist die Rotbuche, die aus derselben Pflanzenfamilie wie die Palästinaeiche stammt. Damit ist sie das geeignete Gegenstück für den deutschen Teil der Untersuchungen. An der Universität der Negev und in Göttingen arbeiten die Forscher parallel. Sie untersuchen den Einfluss der Trockenheit auf die Phosphorversorgung der Bäume auf zwei Ebenen: Die in Gewächshäusern und Klimakammern gut kontrollierbaren Umweltbedingungen ermöglichen es ihnen, sich ein belastbares, unter definierten Bedingungen reproduzierbares Bild von der Phosphorversorgung junger Bäume zu machen – einschließlich der Auswirkungen von Trockenheit und Stickstoff auf das Wachstum. Der Praxistest, der Abgleich mit den realen Bedingungen im natürlichen Ökosystem, erfolgt dann entlang der über große Entfernungen verteilten Baumbestände in der Lüneburger Heide und der Negev. Dr. Shimon Rachmilevitch und Dr. Inga Dirks untersuchen auf verschiedenen Flächen in Israel, wie es um die Phosphorversorgung der Bäume, speziell der Palästinaeiche, steht. Impulse 02_2015 15 Hier laufen die Fäden des Projekts zusammen: der Botanische Garten und das Albrecht-vonHaller-Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Göttingen. 16 „In Israel haben wir ein sehr großes Niederschlagsgefälle. Der Niederschlagsgradient reicht von 860 Millimeter bis zu weniger als 400 Millimeter Regen pro Jahr“, erklärt der israelische Forscher. „Diese breite Spanne ermöglicht es uns, die langfristige Anpassung der Baumbestände an unterschiedliche Niederschlagsmengen zu untersuchen.“ Ina Christin Meier steht inzwischen vor dem nächsten Baum und freut sich: Diesmal ist es gut gegangen. Diesmal haben keine neugierigen Wildschweine nachgesehen, was das da an den Bäumen wohl ist – und nachgegraben. Probleme im Forscheralltag. Probleme, von denen auch die Kollegen in Israel nicht verschont bleiben. Zurück zu Ina Christin Meier und den Rotbuchen, zurück in das Waldstück bei Sellhorn in der Lüneburger Heide. Auch dort gibt es nicht überall gleich viel Niederschlag. Sellhorn ist der feuchteste Standort. Hier fallen pro Jahr etwa 820 Millimeter Regen. Die trockenste Parzelle muss mit maximal 540 Millimeter Wasser im Jahr auskommen. Um die Interaktion der Bäume mit dem Boden zu untersuchen, extrahiert die Ökologin die Wurzeln. Sie ist Spezialistin für eine besondere Technik: die Messung der Wurzelexsudation. „Dazu extrahiere ich Teile der Wurzeln vorsichtig aus dem Boden, reinige sie und lege sie in eine sterile Küvette.“ Mindestens eine Woche lang fängt sie so die Substanzen auf, die die Wurzel normalerweise an den Boden abgibt, denn Symbiose ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Auch der Baum gibt – und zwar Zucker, Aminosäuren und andere organische Moleküle. Sie fließen über die Wurzeln an die Mykorrhizapilze zurück. Wichtiger Bestandteil der Kooperation ist der persönliche Austausch. Geplant ist, sich mindestens zwei Mal im Jahr zu besuchen, voneinander Techniken zu lernen und die Projektstränge zu verknüpfen. „Eine Schnittstelle werden beispielsweise die Experimente zur Phosphoraufnahme in Göttingen sein“, sagt Shimon Rachmilevitch. Für das zweite Jahr ist vorgesehen, am Göttinger Labor für Radioisotope die Aufnahme von Phosphor direkt in jungen Bäumen zu untersuchen. Dafür werden junge Palästinaeichen aus Israel nach Göttingen verschickt. „Wir hoffen, Bäume identifizieren zu können, die Strategien zur effizienten Phosphoraufnahme und -nutzung zeigen“, benennt der Israeli das gemeinsame Ziel. „Bäume, die Förster heute pflanzen, werden in den kommenden Jahrzehnten bereits veränderten Klimaund Umweltbedingungen ausgesetzt sein. Daher müssen sie entsprechend angepasst sein, wenn unsere Wälder langfristig Bestand haben sollen.“ Heftschwerpunkt Neue Sichtachsen und Zugänge Einmal die Perspektive wechseln und etwas von einer anderen Seite betrachten; einmal versuchen, in ungewohnter Weise Sichtkontakt aufzunehmen: mit der Welt da drinnen und da draußen, den Menschen, dem Leben. – Ein Heft über ungewöhnliche Projekte. Inwieweit beeinflussen die Gefühle, die Wissenschaftler während ihrer Forschung etwa dem Gegenstand ihres Interesses entgegenbringen oder die sie im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess erfahren, die Ergebnisse ihrer Arbeit und damit auch deren Darstellung? Wie kann man Soldaten, bevor sie in einen Krieg oder eine Friedensmission ziehen, präventiv helfen, damit sie später möglichst nicht unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden? Was bedeutet es für das Aufwachsen und Leben von Zwillingen und den Alltag ihrer Familien, wenn eines der beiden Kinder krank ist – in diesem Fall: ein Down-Syndrom hat? Wenngleich jedes Forschungsvorhaben einzigartig ist, so zeigen die einleitenden Fragen doch: Hier erwartet den Betrachter Besonderes. Und nicht nur die Themen und Fragen, die sich wie eingangs skizziert bereits kräftig abbilden, sind besonders; auch die Wege, die die Forscher gehen und gegangen sind, um sich dem Gegenstand ihres Interesses zu nähern, sind im besten Sinne originell, kreativ, spannend. Es bereitet Freude zu sehen und zu lesen, wie der Erkenntnisprozess gestaltet wurde, wie die Wissenschaftler – und damit ist das Schwerpunktthema dieses Heftes umrissen – neue Sichtachsen geschaffen und Zugänge zu ihrem Forschungsansinnen und -prozess gelegt haben. Es handelt sich also um Vorhaben mit einem besonderen Anspruch in der Sache – auf allen Ebenen. Mit dem besonderen Anspruch in der Sache korrespondiert der besondere Anspruch an die Förderbedingungen: Die meisten der hier aufgeblätterten Projekte hat die Stiftung im Zuge ihres Angebots „Offen – für Außergewöhnliches“ unterstützt. Mit dieser Option öffnet sie außerhalb ihrer Förderinitiativen eine Tür für herausragende Projektideen, die im besten Wortsinne risikoreich sind und innovativ; es geht um exzellente Forschungskonzepte, die zukunftsweisenden Fragestellungen gelten und die Grenzen der Wissenschaft und dabei vor allem die des jeweiligen Fachgebietes auszuloten vermögen. Dr. Christian Jung ist – seit deren erster Ausgabe im Jahr 2000 – verantwortlicher Redakteur des Magazins „Impulse“ und in diesem Heft Autor und Ko-Autor mehrerer Beiträge. Der letzte Punkt verdeutlicht, dass es ganz wesentlich darum gehen muss, im Zuge des Projekts der Wissenschaft durch Zusammenführung oft unterschiedlicher Fachrichtungen und methodischer Ansätze neue Perspektiven zu eröffnen – in der Forschung, in der Lehre und nicht zuletzt im Zusammenspiel von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit. Die in diesem Heft vorgestellten Vorhaben erfüllen jenen Anspruch, und sie füllen das Label, das mit dem Schwerpunktthema gesetzt ist, bestens mit Leben. Es überrascht folglich nicht, dass sie im Begutachtungsprozess als „ohne Zweifel außergewöhnlich“ eingestuft wurden. Selbst wer also unter den aktuellen Initiativen der Stiftung keine findet, der sich ein geplantes Vorhaben zuordnen lässt, kann dennoch bei ihr an der richtigen Adresse sein. Insofern soll dieses Heft auch Mut machen zu versuchen, die Hürden zu nehmen. Bleibt noch, eine Lektüre ohne jegliche Hürden zu wünschen – hingegen viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn. Das hofft: Ihr Christian Jung Impulse 02_2015 17 Kompakt Nachrichten zum Schwerpunktthema „Neue Sichtachsen und Zugänge" Das Spiel mit dem Selbst Theater als Mittel der Therapie und der Pädagogik – Berufung für ein besonderes Thema: Dilthey-Fellow Dr. Céline Kaiser ist seit Anfang 2015 Professorin für Medienkulturwissenschaft und szenische Forschung an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg. Psychisch kranke Menschen und andere Patienten einbinden in szenische Spielsituationen, die den Kern ihrer inneren Welten berühren: Mit diesem Thema beschäftigte sich Dr. Céline Kaiser als DiltheyFellow intensiv. Für sie ist das nicht nur ein nüchtern wissenschaftliches Sujet – immerhin wird das Rollenspiel bei der Therapie kranker Menschen heutzutage gezielt eingesetzt. Das ist noch nicht lange so, wie die Erforschung der Geschichte der Theatrotherapie gezeigt hat. Diese Facette ihres mehrjährigen Engagements an der Universität Bonn erforderte ein intensives Literatur- und Quellenstudium. Entsprechend gefüllt mit zahlreichen einschlägigen Abhandlungen sind Céline Kaisers Schränke inzwischen, darunter viele Preziosen. Als frisch berufene Professorin weitet sich ihr Interessenspektrum nun erneut. 18 Ist Theater auch Therapie oder Therapie in irgendeiner Form immer auch Theater? Diese Frage haben sich Mediziner, Psychiater, Philosophen und andere kluge Köpfe schon im späten 18. Jahrhundert gestellt. Dr. Céline Kaiser hat in den vergangenen gut sechs Jahren die Geschichte der Theatrotherapie intensiv erforscht und sich damit einen Namen gemacht. Dabei interessierte die engagierte Wissenschaftlerin vor allem, wie szenische Mittel in der Psychotherapie seit dem 18. Jahrhundert zum Einsatz kamen. Für ihre Forschung beschäftigte sie sich gleichermaßen mit Arbeiten von Literaturund Kulturwissenschaftlern, Medizinhistorikern und praktisch tätigen Theaterpädagogen – ein fürwahr interdisziplinärer Ansatz. Mit ihrem ungewöhnlichen Thema konnte sie nun überzeugen: Anfang 2015 trat Céline Kaiser eine Professur für „Medienkulturwissenschaft und szenische Forschung“ am Institut für Kunsttherapie und Forschung der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg an. Damit vertritt sie die kulturhistorische Erforschung künstlerischer Therapieformen und erweitert das Lehrangebot im Bereich der Theater- und Tanztherapie an der Hochschule. Die vielseitig interessierte Wissenschaftlerin – sie hat Germanistik, Philosophie und Medizingeschichte in Bonn und Düsseldorf studiert und ist zudem ausgebildete Theaterpädagogin – wird in Ottersberg an den Schnittstellen von Szene und Szenographie, Subjekttheorie und Wissenschaftsgeschichte forschen und lehren. Die neue Stelle wurde durch die VolkswagenStiftung ermöglicht im Rahmen einer erweiterten Projektförderung für Dilthey-Fellows. „Die wissenschaftliche Fundierung des Theaters in sozialen Kontexten ist an deutschen Hochschulen bisher noch kaum etabliert, während gleichzeitig diverse mit der Hochschule kooperierende Praxisinstitutionen im Bereich der medizinischen Versorgung, Gesundheitsförderung oder Heilpädagogik zunehmend nach der Umsetzung und Evaluierung theatraler Interventionen fragen“, freut sich Rektor Professor Peer de Smit über seinen Neuzugang. Mit ihrem medienkulturwissenschaftlichen Profil und ihrem transdisziplinären Begriff des Szenischen passe Céline Kaiser ideal zur Ausrichtung der Hochschule. Sie bringe nicht nur reichlich Know-how mit im Hinblick auf die Entwicklung entsprechender Konzepte und Praxismodelle; ihr Wissen und ihre Fähigkeiten seien darüber hinaus wertvoll auch für die Weiterentwicklung künstlerischer Therapien generell. Professorin Céline Kaiser konstatiert stolz, dass sie ihre zuvor eher unkonventionelle Forschung nun institutionell verankern kann: „Entscheidend war dabei auch das Dilthey-Fellowship, durch das es mir gelungen ist, ein eigenständiges Profil mit einem für eine wissenschaftliche Karriere durchaus ‚riskanten‘ Thema zu entwickeln“, führt sie aus. Ebenso profitiere sie davon, dass sie das interdisziplinäre Forschungsfeld in den vergangenen Jahren durch viele Gespräche mit Ärzten, Psychiatern, Praktikern und Künstlern auf- und ausbauen und letztlich etablieren konnte und dabei auch die Zeit gehabt habe, andere Formate zu entwickeln und zu erproben. Andrea Oechtering Impulse 01_2015 19 Kompakt Über die deutsche Romantik, Napoleons Kunstraube und NS-Filmpropaganda für Berliner Museen ... … und über neue Formen des Ausstellens, Informierens und Kuratierens in Museen: Die von der Stiftung geförderten Berliner Museumsforscherinnen Bénédicte Savoy und Susan Kamel schaffen neue Zugänge und reüssieren mit ihren zahlreichen Projekten und Publikationen. Sie forschen in und für Museen und lassen die Öffentlichkeit lebhaft daran teilhaben: Die Berliner Professorinnen Bénédicte Savoy (links) und Susan Kamel. Sie ist getrieben von Neugier und der Bereitschaft, auch und gerade dort genauer hinzuschauen, wo der Aktendeckel im Archiv alles andere verspricht als eine kunst- und kulturhistorische Trouvaille. Solche glücklichen und überraschenden Funde aber sind es, die die Berliner Kunsthistorikerin Professorin Dr. Bénédicte Savoy von der Technischen Universität Berlin immer wieder zutage fördert; etwa bei ihrem hochgelobten, 2003 veröffentlichten zweibändigen Werk über Napoleons Kunstraube in Deutschland. Thema und Vorgehensweise blieb und bleibt sie nahe. Fördermittel der VolkswagenStiftung in der Initiative „Opus magnum“ haben ihr seit dem Wintersemester 2013 vier reine Forschungssemester beschert, die sie dem Projekt „Paris als Hauptstadt der deutschen Romantik“ widmet. Das Buch ist bereits angekündigt. Man darf gespannt sein. Schließlich steht Bénédicte Savoy wie kaum eine andere für das Thema dieses Heftes, sucht immer wieder neue Sichtachsen und Zugänge zu ihren Sujets und überrascht mit Funden und Erkenntnissen. Das gelang ihr gerade erst wieder durch ein weiteres Buch: „Vom Faustkeil zur Handgranate. Filmpropaganda für 20 die Berliner Museen 1934-1939“, das sie im Februar 2015 im Berliner Zeughauskino vorstellte. Darin seziert sie die Filmpropaganda der NS-Zeit insbesondere für die auf der Museumsinsel gelegenen Bildungstempel. Savoy ist es gelungen, zum Teil völlig disparate Einzelfunde miteinander zu verknüpfen. So kommt sie zu einer generellen Darlegung der Museumsfilme dieser Zeit. Übrigens: Noch in ein weiteres erfolgreiches Projekt war Bénédicte Savoy zentral eingebunden: das „Experimentierfeld Museum“ (siehe Impulse 1_2015, S. 66f., und Impulse 1_2014, S. 80ff.). „Museen sind die Tempel der Realität. In ihren Sammlungen wird die Würde der wirklichen, dreidimensionalen Gegenstände gegen die Flut der digitalisierenden Bilder verteidigt“, sagt die Kunsthistorikerin. Geleitet wurde das Projekt von Dr. Susan Kamel. Sie hat zwischenzeitlich zum Sommersemester 2015 die Professur für Sammeln und Ausstellen in Theorie und Praxis an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin angetreten. Berlin darf sich wohl freuen über Forschungsideen von Museumswissenschaftlerinnen, die neue Sichtachsen legen und andere Zugänge anbieten. Das GPS stets mit dabei: Nomaden in Zentralasien künftig auch unterwegs im Dienst der Wissenschaft Einblicke in unbekanntes Terrain: Ein Forscherteam aus Münster untersucht die traditionellen Wanderrouten der Hirten in der Mongolei und Kirgisistan und fragt: Verändern sich diese aktuell durch den Klimawandel? Jeweils 400 Familien in beiden Ländern mit Messgeräten ausgestattet. Hirten unterwegs in der zentralen Mongolei – einige von ihnen sind künftig ausgestattet mit Messgerät und GPS. Sollten Sie im kommenden Jahr die Mongolei oder Kirgisistan bereisen und dort zufällig in der Steppe einen einsamen Hirten treffen, den sie mit einem GPS hantieren sehen, dann steckt vielleicht die Stiftung dahinter. Oder, je nach Betrachtung, ein Wissenschaftlerteam aus Münster. Denn das hat Mitte Mai sowohl 400 Familien im Westen der Mongolei – ein Gebiet etwa so groß wie die Bundesrepublik – als auch 400 Familien in Kirgisistan entsprechend ausgestattet. Die Nomaden benötigen GPS-Geräte natürlich nicht, damit sie ihnen den Weg für ihre Wanderungen weisen; sie sollen aber die Wege, die sie einschlagen, aufzeichnen. Nach einem Jahr werden die Geräte eingesammelt und die Daten ausgewertet. Konkret wollen die Münsteraner Forscher erfassen, welche Wege die Nomaden normalerweise nehmen und inwieweit sich diese bei extremen Klimaschwankungen ändern. Öfter als früher erlebt die Region sogenannte Klimaschocks, fallen die Temperaturen dort in kurzer Zeit auf minus 40 Grad. „Die Folgen für die Nomaden sind katastrophal“, sagt Thomas Bartoschek von der Universität Münster. Von der Herde eines Noma- den können dann binnen Kurzem drei Viertel der Tiere erfrieren oder verhungern. In solchen Phasen ändern die Nomaden ihre althergebrachten Wanderrouten. Weichen sie zum Beispiel – und das könnte indirekt Hinweise auf regionale Klimaänderungen geben beziehungsweise auf stärkere Schwankungen als früher – weitaus häufiger als zuvor von den angestammten Strecken ab? „Wir wissen, wer zu welcher Familie gehört, wer wie ausgebildet ist, wer wie viel Vieh im Frühjahr besaß und jetzt noch besitzt – aber wir wissen nicht, wie oft sie umziehen, wie weit und wohin sie ziehen“, sagt Kati Krähnert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Nomaden in der Mongolei sind keine Freunde von Landkarten. Sie rechnen Entfernung nicht in Kilometern, orientieren sich hingegen an Bergen, Tälern, Bäumen und erfassen darüber Distanzen. Sie haben ein anderes – überlebensentscheidendes – Detailverständnis von Geografie, das sich zudem nicht in Zahlen packen lässt. Das macht es für die Wissenschaftler unmöglich, selbst die genauen Routen zu recherchieren. Mit dem neuen Ansatz hoffen sie nun, dass das gelingt. Impulse 02_2015 21 22 Schwerpunktthema Neue Sichtachsen und Zugänge Mit dem Herzen bei der Sache Wirken die eigenen Gefühle im Prozess des Forschens auf diesen zurück und – beeinflusst das die Ergebnisse? Diese Fragen sucht ein Team aus Ethnologen, Psychologen und Literaturwissenschaftlern aus Berlin und Bern während eines Aufenthalts in Indonesien zu beantworten. Ihr Ziel: die Wissenschaft ein bisschen mehr über sich selbst aufzuklären. Am Ende könnte dann ein neues, angemesseneres Verständnis davon stehen, was Objektivität in der Forschung eigentlich bedeutet. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Professor Dr. Oliver Lubrich trifft im Camp Leakey auf der indonesischen Insel Java einen OrangUtan. Die Fragezeichen im Gesicht des Forschers sind unübersehbar. Das Interesse des Affen hingegen scheint zunächst gebremst. Impulse 02_2015 23 Text: Isabel Fannrich und Christian Jung (Mitarbeit) // Fotos: Muhammad Fadli W enn acht Wissenschaftler und sieben Mann Besatzung auf der Insel Java vier Tage lang in einem kleinen Boot im Regenwald Indonesiens unterwegs sind, kann das für den einen Entspannung bedeuten, für den anderen Stress. Zumal dann, wenn diese Forscher ganz unterschiedliche fachliche Expertise mitbringen. Welche Emotionen das Erkunden einer fremden Kultur oder anderen Art auslöst, erlebten die Teilnehmer aus Deutschland und der Schweiz nicht nur einmal. „Mit dem Trip durch den Urwald wollte ich zeigen, welches Wechselbad der Gefühle man durchlebt, wenn man tagelang als FreilandAffenforscher unterwegs ist, um den Tieren zu begegnen, und allmählich die Hoffnung schwindet; man letztlich womöglich sogar vergebens losgezogen ist“, erzählt Dr. Katja Liebal, Juniorprofessorin für Evolutionäre Psychologie an der Freien Universität Berlin. Der Ethnologe und Anthropologe Thomas Stodulka schreibt regelmäßig in sein EmotionsTagebuch an Bord des Schiffes, das dem Team eine Woche lang während des Aufenthalts in Indonesien zur Verfügung stand. Das Holzboot diente gleichsam als Basisstation für die Forschungsaktivitäten in dieser Zeit. 24 Der Plan der Affenforscherin ging auf: Das Kaleidoskop an Reaktionen und Empfindungen, das sie bei den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beobachtete, habe von Euphorie über Hoffnung, Erschöpfung, Frustration bis letztlich zu tiefer Enttäuschung gereicht. Denn nach kräftezehrender Bootsfahrt und den Anstrengungen einer sich anschließenden 16 Kilometer langen Wanderung durch den Regenwald war die Ernüchterung jedes Einzelnen in der Gruppe groß, nachdem es zu keiner einzigen Begegnung mit einem Orang-Utan gekommen war. Schauplatzwechsel: Eine Bambushütte am Strand von Java. Hier landen diejenigen, die von der indonesischen Gesellschaft „ausgespuckt“ werden: Kinder und Jugendliche, die von zu Hause weggelaufen sind und die Abstand brauchen von ihrem anstrengenden Leben auf den Straßen von Yogyakarta. Die lebendige Stadt ist einer der touristischen Anziehungspunkte auf der bevölkerungsreichsten indonesischen Insel. Der Ethnologe Dr. Thomas Stodulka war hier in den vergangenen Jahren immer wieder, um zu forschen, zu arbeiten, zu leben. Seine erste Emotion, erinnert er sich an jene Zeit vor rund 15 Jahren, als er dort seine Magisterarbeit schrieb, sei damals Überraschung gewesen. Die Jugendlichen hätten so gar nicht dem Bild entsprochen, das man als Europäer von Straßenkindern und Obdachlosen hat. Sie seien stets höflich gewesen, freundlich und interessiert, hätten ihm Tee und Süßigkeiten angeboten, wo immer er aufgetaucht sei. Thomas Stodulka und Katja Liebal haben als Feldforscher an sich selbst erfahren, wie das ist, wenn man plötzlich im Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens heftige Gefühle durchlebt, sich dieser gewahr wird. Trotzdem gibt es – und das überrascht eigentlich – bisher kaum Erhebungen darüber, welche Emotionen Wissenschaftler bei ihrer Arbeit entwickeln und, entscheidender noch, wie sich diese auf den Prozess des Forschens und damit womöglich auf die Erkenntnisse auswirken, die ja auch veröffentlicht werden. „Vielleicht liegt das einfach daran, dass Wissenschaftlern über Generationen hinweg beigebracht wurde, sie müssten ihre Gefühle bei der Forschung außen vor lassen!“, sagt Stodulka, der aktuell in das Berliner Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ eingebunden ist. Doch zumindest in manchen Fächern lasse sich der Einfluss, den solche Gefühle wie die beschriebenen haben, nicht mehr leugnen. Und so wuchs bei dem Ethnologen, der auch heute noch das Leben chronisch kranker Jugendlicher auf den Straßen Yogyakartas erforscht, und der Primatologin, die immer wieder eine Auffangstation für Orang-Utans in Kalimantan besucht, im Laufe ihrer längeren Auslandsreisen die Idee, diese begleitenden Emotionen einmal selbst zum Forschungsthema zu machen. Wenn Thomas Stodulka zurückdenkt, dann nimmt er die heftigen, zum Teil widersprüchlichen Gefühle wahr, die immer wieder in ihm hochsteigen: Bewunderung für die Art, wie sich die Jugendlichen ohne Geld und Unterkunft durchschlagen, und Ärger über die Gesellschaft, die es ihnen so schwer macht. Anziehung und Abstoßung, Euphorie und Erschöpfung. Einige der Jungen und Mädchen begleitete er beim Sterben im Krankenhaus. „Von 25 Jugendlichen, mit denen ich vor vielen Jahren zusammengearbeitet habe, leben noch acht“, erzählt er. „Ich habe sehr viele emotionale Ausschläge nach oben und unten erlebt.“ Oliver Lubrich bespricht mit Katja Liebal die ersten Affensichtungen. Fünf Tage lang war eine rund 20-köpfige Grup- Ob am Schreibtisch, im Labor, im Feld: Überall in der Forschung kommen Emotionen zum Tragen „Objektivität und Emotion wurden in der Wissenschaft lange Zeit als Gegensätze gesehen. Das wollen wir infrage stellen“, sagen Stodulka und Liebal. In Dr. Oliver Lubrich, Professor für Komparatistik und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bern, haben sie einen wichtigen Mitstreiter gefunden. Gemeinsam rückt das Forschertrio mit seinen jeweiligen Arbeitsgruppen nun die Gefühle in den Blickpunkt, die sonst aus Forschungsprozessen ausgeblendet werden. Ziel des Projekts „Die Affekte der Forscher“ ist es, diese für die Wissenschaft und deren eigene Verständnisprozesse greif- und nutzbar zu machen. Die VolkswagenStiftung fördert das auf fünf Jahre angelegte Vorhaben, in dessen Rahmen sich auch ein halbes Dutzend Nachwuchswissenschaftler interdisziplinär weiterqualifiziert und das kurz vor seinem Abschluss steht, in der Reihe „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“ mit 750.000 Euro. pe im Tanjung Puting National Park unterwegs, um Orang-Utans in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten. Im Herbst dieses Jahres treffen sich alle Beteiligten des Projekts zur Nachbetrachtung in Berlin. Dann werden auch die EmotionsTagebücher einer Analyse unterzogen. Impulse 02_2015 25 Bislang sei es in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen üblich gewesen, Emotionen wie die geschilderten bei der Feldforschung und in der wissenschaftlichen Arbeit beiseitezuschieben, sagt der Literaturwissenschaftler Lubrich. Das verwundere doch sehr, denn: „Ob am Schreibtisch, im Labor oder bei der Feldforschung – überall spielen Emotionen eigentlich eine Rolle.“ Schließlich stehe ja am Anfang jeder Forschung ein ganz starkes Gefühl: die Neugier. „Allein die Frage, warum ich überhaupt Interesse an bestimmten Themen habe und an anderen nicht – schon das ist ja zum Teil emotional, psychologisch motiviert.“ Zudem beeinflussen die Gefühle nicht nur den Forschungsgegenstand und womöglich die Darlegung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern möglicherweise bereits vorab Entscheidungen, die mit Blick auf die Methodik getroffen werden, oder gar das ganze Forschungsdesign. „All das blieb bisher weitgehend ausgeblendet und wurde in der wissenschaftlichen Dokumentation nicht systematisch und überindividuell thematisiert“, fasst der Forscher zusammen. Oliver Lubrich beschäftigt sich schon seit Längerem mit den Emotionen von Forschenden und hat vor dieser Folie unter anderem Texte von Virginia Woolf, Samuel Beckett und Max Frisch betrachtet, die das nationalsozialistische Deutschland bereisten. Besonders interessiert ihn die Reiseliteratur 26 Alexander von Humboldts. „Es gibt im Bericht seiner amerikanischen Reise eine sehr schöne Szene, die Landung in Havanna“, nennt er ein Beispiel. Dort schreibt der Naturforscher, dass der Anblick von Havanna bei der Einfahrt in den Hafen einer der heitersten und malerischsten sei, derer man sich an den Küsten Amerikas nördlich des Äquators erfreuen kann. – Eine Seite später liest man dann das genaue Gegenteil. „Warum diese 180-Grad-Wende?“, fragt Lubrich – und antwortet gleich selbst: „Weil Humboldt beim Rundgang durch Havanna beobachtet, wie Sklaven verkauft werden. In diesem Moment findet ein Übergang von Euphorie, von ästhetischer Exaltation statt zu empfundenem Ekel und politisch motivierter, emotionaler Ablehnung.“ An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr sich der Blick auf den Gegenstand unmittelbar im Prozess des Forschens ändern kann, wenn sich die Gefühle wandeln. Etwas Ähnliches könne natürlich auch passieren, wenn der Forscher später seine Berichte studiert und bewertet, konkretisiert der Berner Linguist. „Inwiefern lese ich einen Text anders, wenn ich ihn zum wiederholten Mal lese – unbewusst in Erwartung bestimmter Phasen des ästhetischen Genusses oder mit einer bestimmten Haltung etwa der moralischen Entrüstung? Grundiert oder steuert all das nicht vielleicht sogar die literaturwissenschaftliche Interpretation?“ Da oben sind sie, die Affen. Endlich, nach Tagen des Unterwegsseins und zur Freude der Forschungsreisenden. Einige wie (von links) Mira Shah, Samia Dinkelaker und Fermin Suter sind auf dem Boot geblieben und schreiben beim Dahintuckern durch den Tanjung Puting National Park in ihren Tagebüchern, in denen sie Beobachtungen, Eindrücke und ihre Stimmungslage erfassen. Später werden die Schriften von anderen Forschern analysiert. Zurück zu Forschungsgegenstand und -region unseres Trios. „In den involvierten Disziplinen Ethnologie, Primatologie und auch meiner eigenen wird die Funktion, die Affekten zukommt, allzu sehr ausgeblendet“, stellt Lubrich fest. „Dabei ist es doch naheliegend, dass die Emotionen des Wissenschaftlers gerade in der Feldforschung, bei der Betrachtung einer anderen Kultur oder Art eine vermutlich sogar wesentliche Rolle spielen.“ Der individuelle Blickwinkel sei entscheidend: So könnten Forschungsberichte jeweils ganz anders aussehen in Abhängigkeit davon, ob man den Affen zum Beispiel mit einer durchweg sentimentalen Haltung begegne oder ihre aus unserer Menschensicht gewalttätigen Handlungen in den Vordergrund rücke. Gerade weil Primaten dem Menschen so ähnlich sind, fließen in die Analysen ihres Verhaltens oft menschliche Gefühle ein, die zudem bei Männern und Frauen teils unterschiedlich sind. So beschreiben Wissenschaftlerinnen die Affen vielfach wie Kinder, die weitgehend unverdorben ihren Impulsen folgen. Männliche Affenforscher hingegen charakterisieren sie oft als Individuen, die Gewalt ausüben, vergewaltigen, foltern und verstümmeln. Ist es da nicht sogar zu erwarten, dass die Gefühle das Forschungsergebnis schon teilweise vorwegnehmen, ohne dass die Wissenschaftler es überhaupt merken? „Und wenn eine so bekannte Affenforscherin wie Biruté Galdikas sich für den Schutz von OrangUtans einsetzt und an ihrem Engagement zu scheitern droht, fließt dann solch eine emotionale Erfahrung, diese gefühlte, intensiv empfundene Belastung in ihre wissenschaftlichen Texte ein?“, schiebt Lubrich ein anders gelagertes Beispiel nach. Neues Werkzeug für die Forscher: das EmotionsTagebuch zur Dokumentation eigener Gefühle Die Ansätze, die das Forschertrio verfolgt, sind eng verwoben. Sie kombinieren Methoden aus den beteiligten Disziplinen auf jeweils eigene Art. Dabei sollen die Emotionen der Ethnologen und Affenforscher im Feld zum einen durch Selbstbeobachtung der Beteiligten, aber auch durch Erhebungen und Betrachtungen vonseiten der anderen – unter denen gerade den Literaturwissenschaftlern qua Profession ein ganz anderer Blickwinkel allein auf die Forschung als solche zu eigen sein dürfte – empirisch-quantitativ erfasst und in deren (wissenschaftlichen Nieder-) Schriften analysiert werden. „Die Forscher, die ins Feld gehen, erhalten zum Beispiel sogenannte Emotions-Tagebücher, in denen sie ihre Gefühle dokumentieren sollen: nicht nur im Feld, sondern auch bevor sie ins Feld fahren Impulse 02_2015 27 und nachdem sie wiedergekommen sind“, sagt Liebal. Später wollen sie diese Tagebücher mit den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auswerten, um zu erkennen, ob und wie deren Gefühle ihre Fragestellungen und Beobachtungen vielleicht beeinflusst haben. Katja Liebal ist sich sicher, dass es solche Einflüsse gibt – schon aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen bei der Beobachtung von Affen. Stodulka, Liebal und Lubrich bezeichnen das „Emotions-Tagebuch“, das sie gemeinsam konzipiert haben, als „wichtigen Meilenstein“. Das neue Werkzeug, das die Projektgruppe während ihrer Indonesienreise im Frühjahr 2015 ausgiebig testete, soll die emotionalen Erfahrungen von Feldforschern sowohl quantitativ und qualitativ dokumentieren, vergleichbar und erforschbar machen als auch zu den im Feld erhobenen Daten in Bezug setzen. Mit diesem Hilfsmittel könnten künftig zudem nicht nur Forscher, sondern auch Reiseschriftsteller, Entwicklungshelfer oder Journalisten vor Ort festhalten, welche Gefühle sie oder ihn in welcher Weise gerade im Schaffensprozess beschäftigen und was sie bei der Arbeit bestärkt oder hindert. Auch in der Habilitationsarbeit von Thomas Stodulka spielt das Emotions-Tagebuch eine zentrale Rolle. Der Wissenschaftler nimmt die Gefühle anderer Forscherinnen und Forscher unter die Lupe und steht dafür mit vierzig Ethnologen und Primatologen auf der ganzen Welt in Kontakt. Egal ob jemand in Moskau über Organhandel forscht, in Paris und Mali über charismatische religiöse Führer oder in Osttimor über die Aufarbeitung der gewalttätigen Vergangenheit – alle nutzen das Tagebuch zur regelmäßigen Selbstbeobachtung und -reflexion. Das Interesse sei groß, freut sich der Berliner Ethnologe: „Viele Feldforscher sind begeistert, dass sich endlich jemand wissenschaftlich mit der Emotionalität in fremden Kontexten beschäftigt. Denn wenn ich diesen Teil von mir, der eine Rolle spielt in der Interaktion mit dem Forschungsgegenstand, ausblende, dann fehlt da was.“ Auch die ins Projekt integrierten Doktorandinnen und Doktoranden arbeiten mit dem EmotionsTagebuch: Samia Dinkelaker folgt indonesischen Arbeitsmigrantinnen auf ihrem Weg nach Hongkong. Sie hat das sechswöchige Training einer Katja Liebal (links) spricht gerade mit der Biologin Julia Keil über ihre Arbeit mit Affen und erläutert typische Verhaltensweisen und Aktionsmuster der Primaten. Doch vor allem teilen beide den Zauber vieler Begegnungen mit den Tieren, die derweil oben über den Köpfen der Forscherinnen in den Baumkronen turnen und durchs Blätterdach springen. 28 „Schlängelnder Pfad ins Landesinnere“: Auch die Wege des Urwalds bedürfen zu Land und zu Wasser erläuternder Hinweise. Fermin Suter ist Ph.D.-Student; sein Interesse gilt der Reiseliteratur über Indonesien und Feldforschungstagebüchern. Firma besucht, die Haushaltshilfen rekrutiert – und analysiert über das Tagebuch ihre Gefühle zu diesem Betrieb, der die Frauen wie Untergebene behandelt. Ihr Kollege Ferdiansyah Thajib untersucht das Spannungsverhältnis zwischen Homosexualität, Islam und Emotionen in der indonesischen Gesellschaft. Ein Jahr lang haben beide nahezu täglich das Emotions-Tagebuch geführt; entstanden sind zwölf „einzigartige kleine Bücher“, wie Stodulka sagt. Gemeinsam mit den Aufzeichnungen der Ethnologen bilden sie ein „einzigartiges“ Text-Corpus. Für den Herbst 2015 lädt er die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Evaluation nach Berlin ein. Moderne Methoden der Textanalyse machen verborgene Emotionen in Berichten sichtbar Die interdisziplinäre Arbeit ist im Forschungsprojekt durch das Prinzip der Rotation zwangsläufig sehr ausgeprägt. Jeder macht einmal alles, begibt sich in das Arbeitsgebiet des jeweiligen Gegenübers und gewinnt dadurch einen Einblick – und: ein Gefühl. Die Teilnehmer lernen, mit welchen Methoden die anderen Disziplinen arbeiten, wie deren Fragestellungen lauten und mit welchen Problemen sie zu tun haben. Oliver Lubrich etwa steuert vonseiten der Literaturwissenschaft eine neue, komplementäre Betrachtungsweise bei: Wie zum Beispiel Affekte in Texten erkannt und kenntlich gemacht werden können, illustrierte er gleich zu Beginn des Forschungsprojekts in einem mehrtägigen Workshop, bei dem es um Methoden der Textanalyse und die Rhetorik der Affekte ging. veränderten Satzbaus auf Nervosität schließen? Verändert sich die Handschrift oder häufen sich bestimmte Satzzeichen? Die Affekte können sich auch in den Wörtern selbst verstecken. Der Computer hilft bei der Kenntlichmachung und markiert Textteile farbig oder übersetzt sie in Zahlen. Seinen Kollegen aus den empirisch arbeitenden Wissenschaften führte er vor, wie man mithilfe von zwei Dutzend philologischer Methoden Reiseliteratur und Aufzeichnungen von Feldforschern zerlegt, um affektive Dynamiken sichtbar zu machen. „Diese sind den Verfassern selbst vielleicht gar nicht bewusst“, erläutert Lubrich. Er prüft etwa, ob ein Autor bestimmte Sprachbilder verwendet, die zum Beispiel Furcht andeuten. Verändert sich der Sprachrhythmus bei der Begegnung mit einem Affen? Lässt sich aufgrund eines Die Textanalyse zeigt, ob es Muster im zeitlichen Ablauf der Emotionen gibt. „Diese Frage wurde in den Literaturwissenschaften bislang nicht untersucht“, sagt Oliver Lubrich. „Aber wenn man fünfzig Texte auf solche Weise vergleicht, lassen sich vielleicht Regelmäßigkeiten oder Entwicklungsprozesse in den Empfindungen der Forscher beobachten.“ Nach den bislang gängigen Theorien des erlebten Kulturschocks folgen bei einem Feldaufenthalt teils widerstreitende Gefühle einander wie Anfangseuphorie, Ermüdung und Impulse 02_2015 29 Katja Liebal brieft (von links) Mira Shah und Ferdiansyah Thajib über deren Arbeit in dem Projekt und klärt über das neue Instrument „Emotions-Tagebuch“ auf. Die beiden jungen Nachwuchsforscher sollen während ihres Besuchs in der Aufzuchtstation Camp Leakey Beobachtungen zum Verhalten der Affen erfassen. Faszination, durchbrochen oder abgelöst von Langeweile, Fremdheitsekel, Rückkehrschmerz und Abschiedsnostalgie. Thomas Stodulka hält die in den Theorien formulierte Abfolge jedoch für nicht hinreichend ausdifferenziert beziehungsweise dem Einzelnen und der jeweiligen Forscher- und Forschungssituation entsprechend: „Emotionale Zustände sind viel kurzlebiger und viel individueller“, sagt er. „Sie sind auch nicht so ichzentriert wie bislang angenommen, sondern extrem abhängig vom Umfeld und von der Begegnung mit anderen Menschen.“ Der Ethnologe möchte den phasenhaften Ablauf von Gefühlen deshalb mit einer detaillierteren Beschreibung verbinden. Dazu beitragen soll das Emotions-Tagebuch – als eine Art „Gefühlsthermometer“ im Feld. Aufgeblättert an einer x-beliebigen Stelle: die EmotionsTagebücher von Katja Liebal, Thomas Stodulka und Samia Dinkelaker (von links) 30 Den interdisziplinären Anspruch bekräftigen die Arbeiten der beiden Doktoranden aus der Literaturwissenschaft und ihrer Kollegin aus der Evolutionären Psychologie, die ebenfalls in das Projekt eingebunden sind. Sie analysieren Reisereportagen, Feldtagebücher und Berichte der Affenforscher, wollen die Bedeutung einzelner Gefühle entschlüsseln und Dramaturgien erkennen, die die Emotionen von Forschern oder Reisenden während eines Aufenthalts in der Fremde regelmäßig durchlaufen. Mira Shah untersucht die „Rhetorik der Primatologie“ daraufhin, wie der Affe literarisch und kulturell konstruiert wird. Fermin Suter widmet sich den „Emotionen des Reisens“ und wie diese in den Reise- und Forschungstexten über Indonesien inszeniert werden. Und Julia Keil analysiert das Verhältnis von Tierforschern zu ihrem Gegenüber. Weitere methodische Werkzeuge sind entstanden oder in Planung: ein Interview-Leitfaden für Feldforscher, Ärzte, Kriegsreporter und Reiseschriftsteller; ein Handbuch, Trainings für angehende Feldforscher, ein Dokumentarfilm. Auch für Experimente ist Platz. Katja Liebal und Oliver Lubrich haben zwei Standardwerke unter die Lupe genommen: den Roman „King Kong“ von Delos W. Lovelace und den Feldforschungsbericht „Gorillas im Nebel“ der Zoologin Dian Fossey. Beide beschreiben, wie eine westliche Frau in das Reservat der Affen eindringt und eine emotionale Beziehung zu ihnen aufbaut. Überraschenderweise habe sich der wissenschaftliche Text als viel emotionaler und sensationalistischer gezeigt als der Roman, dieser wiederum wissenschaftlicher als erwartet, sagen beide. „Wir lesen die Literatur wie Wissen- schaft und die Wissenschaft wie Literatur und kommen so zu neuen Ergebnissen“, fasst Lubrich zusammen. „In den Naturwissenschaften geht es immer um affektfreie Fakten“, bedauert Katja Liebal. „Ich fand es außerordentlich befreiend, die Texte nicht nur mit dem Blick darauf zu lesen, was darin richtig oder falsch ist, sondern konzentriert darauf, mit welchen Mitteln sie gestaltet sind.“ Die Wissenschaft über sich selbst aufklären: eine Forschungslücke wird allmählich geschlossen Auch die Reise nach Indonesien war für alle Beteiligten ein großes Experiment. In der Sultanstadt Yogyakarta wurden die Doktoranden in einem mehrtägigen Methodenworkshop durch die Ethnologen des Projekts auf ihre dreiwöchigen Studien vorbereitet. Auch einheimische Nachwuchsforscher profitierten davon. Danach unternahm das Team eine Exkursion zu einer Auffangstation für 350 Orang-Utans in Pasir Panjang auf der Insel Borneo, in der Liebal seit 2007 das Verhalten dieser Menschenaffen erforscht. Ziel war es, den Forscherkollegen die anspruchsvolle und schwierige Arbeit zu zeigen, die von den Mitarbeitern dort geleistet wird; was es heißt, Orang-Utan-Waisenkinder aufzuziehen und sie für die Auswilderung vorzubereiten. So manche Erfahrung, ob während der Feldforschung oder bei der Exkursion, falle in die Kategorie „unerwartete emotional herausfordernde Situation“, sagt die Affenforscherin. Letztlich habe die Reise alle darin bestätigt, wie komplex solch eine Forschungssituation sei und wie viel kulturelle Kompetenz man für Feldforschung in fremdem Umfeld brauche. „Häufig beherrscht man eine Sprache nicht, es fehlt das Wissen um die richtigen Ansprechpartner vor Ort, und man ist verunsichert durch kulturelle Unterschiede“, erzählt Liebal. Das löse viele Emotionen aus, die neben die eigentliche Forschung wie hier mit den Orang-Utans träten. Die Doktorandin Samia Dinkelaker (rechts) wird von Thomas Stodulka interviewt. Er versucht zu erfassen, was die junge Wissenschaftlerin gefühlt hat beim Aufeinandertreffen mit Orang-Utans während des fünftägigen Feldforschungsaufenthalts im Tanjung Puting National Park. Oliver Lubrich ist zuversichtlich, dass sich mit dem Projekt eine Lücke schließen lässt: „Das Thema ist gesellschaftlich relevant, weil es nicht nur um die Wahrnehmung anderer Kulturen und Arten geht, sondern indirekt auch um unsere eigene Identität. Die Art und Weise, wie wir unsere nächsten Verwandten, die Affen, gerade emotional verstehen, ist nicht zu trennen von unserem eigenen Selbstverständnis.“ Die Herausforderung bestehe nun im Übertragungs- und Übersetzungsprozess, ergänzt Thomas Stodulka: „Es geht darum, wissenschaftliche Daten über das Erleben, das Verhalten und die Sprache unserer Forschungssubjekte auf der Basis und unter Einbeziehung eigener emotionaler Felderfahrungen besser zu interpretieren.“ Impulse 02_2015 31 Was macht uns zum Menschen, und was unterscheidet uns vom Affen? Das große Thema der Professorin für Evolutionäre Psychologie und Verhaltensforscherin Katja Liebal, in mehreren Projekten von der VolkswagenStiftung bereits gefördert. „Jeder von uns ist persönlich und wissenschaftlich mit diesem Projekt an seine Grenzen gelangt“, stellt Katja Liebal fest, „hat vieles an sich und seinem wissenschaftlichen Vorgehen plötzlich neu betrachtet.“ Und das sei ja so beabsichtigt gewesen. „Da wir in einer großen Gruppe an Forschern unterschiedlicher Disziplinen eng zusammengeschlossen miteinander reisten, waren wir ständig gefordert und kamen schlicht nicht umhin, immer Der Blick auf die eigene Art und die nächsten Verwandten In den vergangenen Jahren war Professorin Katja Liebal zentral in zwei weiteren von der Stiftung geförderten interdisziplinären Verbundvorhaben aktiv. Die Ergebnisse beider Projekte wurden nicht nur in der wissenschaftlichen Community stark beachtet, sondern fanden auch in der allgemeinen Wissenschaftsberichterstattung reichlich Widerhall. Was macht uns Menschen zu Menschen? Bereits in dem mit einer halben Million Euro geförderten Projekt „The Evolutionary Roots of Human Social Interaction“ (2008-2012) richtete Katja Liebal gemeinsam mit Professorin Juliane Kaminski und Dr. Daniel Haun, beide seinerzeit am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, den Blick in überraschender Weise auf die eigene Art und auf die nächsten Verwandten. Das Trio begab sich auf die Suche nach den Charakteristika menschlichen Sozialverhaltens. Welche Eigenschaften machen uns als Mensch unverwechselbar? Wie haben sich diese entwickelt? Und was unterscheidet uns von den nächsten Art-Verwandten, den Menschenaffen? Die Forscher verglichen die kommunikativen und kognitiven Leistungen von vier Menschenaffenarten – Bonobos, Schimpansen, Gorillas und OrangUtans – mit denen von Menschen verschiedener Altersstufen und Kulturen. Für die Studien zum Artvergleich arbeitete das Trio mit 16 deutschen und europäischen Zoos sowie mit der Aufzucht- 32 station für Orang-Utans auf Borneo in Indonesien (siehe Haupttext) zusammen, profitierte andererseits bei der Suche nach Probanden direkt von bestehenden Kooperationen des Leipziger MPIs mit einem Leipziger Kindergartennetzwerk und dem Leipziger Zoo. „Die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und kommunizieren, ist einzigartig in der Tierwelt“, weiß Katja Liebal. Was den Menschen aus Sicht des Forschertrios insbesondere auszeichne, sei seine Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und die Wahrnehmungen, Wünsche und Annahmen anderer für die eigene Strategie zu nutzen. Daniel Haun überprüfte vor diesem Hintergrund, ob sich Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung und Herkunft anders verhalten oder ob sie die gleichen Strategien entwickeln. Dazu verglich er das Verhalten deutscher Kinder und Erwachsener mit dem zweier traditioneller Kulturen in Asien und Afrika: den Bewohnern eines Dorfes in WestSamoa und den #Akhoe Hai||om, einer Jäger- und Sammlergemeinschaft in Namibia. Die beiden Völker teilen zwar eine ähnliche Lebensweise, sind jedoch unterschiedlich kulturell sozialisiert. „In Samoa gilt es etwa als unhöflich, Annahmen über mentale Zustände anderer zu treffen“, sagt der Wissenschaftler. Katja Liebals Spezialthema ist das Verhalten und die Interaktion von Menschenaffen, vor allem deren gestische Kommunikation. Sie testete, wie die Perspektive des jeweils Anderen einzunehmen.“ Dass zum Beispiel manche Teilnehmer die Bootsfahrt durch den Regenwald tatsächlich als Stress empfinden würden, hätte sie nicht erwartet. Als sie jedoch während der Rückfahrt Nasenaffen auf einem Baum entdeckten, seien alle begeistert zur Reling gerannt. „Da dachte ich: Habe ich sie doch angesteckt mit meiner Begeisterung für die Affen?“ Diese Begeisterung überträgt sich ohne Zweifel in jedem Moment, den man die engagierte Forscherin erlebt, mit jedem Gespräch. Dabei sind es immer wieder auch die ganz großen Fragen, die sie umtreiben: Was macht den Menschen zu dem, was er ist? Wie sind wir so geworden? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede bestehen zwischen verschiedenen Kulturen – und was zeigt uns denn nun der Blick auf unsere nächsten tierischen Verwandten, die Menschenaffen? weitere Projekte die Tiere in bestimmten Standardsituationen kommunizieren. Wie verhält sich zum Beispiel eine Gruppe Schimpansen, wenn man nur eine einzige Nahrungsquelle anbietet? Gebrauchen sie dabei Gesten? Wie bauen sich die Interaktionen auf? Dabei interessierte sie der Verlauf des kommunikativen Akts insgesamt – wie sich die Gruppenmitglieder etwa zueinander positionieren, welche Blickkontakte sie aufnehmen oder ob ihre kommunikativen Strategien womöglich abhängen von der Aufmerksamkeit, die ihnen ihr Gegenüber gewährt. Haun, Liebal und Kaminski fanden nun – grob zusammengefasst – heraus, dass Kinder und Schimpansen sich der Mehrheitsmeinung anschließen, wenn sie etwas Neues lernen. Das ist durchaus sinnvoll, denn die Gruppe verfügt über Wissen, das einer Einzelperson nicht notwendigerweise bekannt ist. Aber geben sie, um sich Gleichaltrigen anzupassen, auch eigene Vorlieben auf? Ergänzende Vergleichsstudien zwischen Menschenaffen und Kindern zeigten, dass die Bereitschaft, eigene Vorlieben zugunsten anderer aufzugeben, beim Menschen besonders stark ausgeprägt ist – und zwar bereits bei Kleinkindern im Alter von zwei Jahren. Spielerische Experimente insbesondere der Forschergruppe um Daniel Haun belegen, dass konkret in mehr als der Hälfte der Fälle sich die Kleinen selbst dann konform verhielten, wenn ihre eigene Strategie zuvor erfolgreich gewesen war. Den Menschenaffen dagegen schien es ziemlich egal, was ihre Artgenossen so taten. Sie blieben meist bei ihrem eigenen Vorgehen. Zudem passten Kinder sich vor allem dann an, wenn andere ihnen zusahen. Trafen sie ihre Entscheidung allein, blieben sie häufiger bei ihren Strategien, auch wenn sie andere Kinder bei Alternativen beobachtet hatten. „Konformität spielt im menschlichen Sozialverhalten eine zentrale Rolle“, sagt Haun. „Sie grenzt verschiedene Gruppen voneinander ab und hilft ihnen dabei, ihre Aktivitäten zu koordinieren." Damit fördert und stabilisiert sie Gruppen – was gut sein kann, aber natürlich auch Gefahren birgt. Fortsetzung auf Seite 34 ... Begegnung mit einem erwachsenen männlichen Orang-Utan in der Aufzuchtstation im Tanjung-Puting-Nationalpark auf Java, Indonesien: in freier Wildbahn inzwischen ein seltenes Ereignis. Impulse 02_2015 33 Und Thomas Stodulka, der jahrelang in Indonesien mit auf der Straße lebenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zusammengearbeitet hat, der Freundschaften schloss, der einige dieser Freunde hat sterben sehen und oft wütend war auf Ärzte, die jene in den Krankenhäusern aufgrund ihres Stigmas schlecht behandelten und der sich heute bewusst macht, dass er nie versucht hat, zumindest auch einmal die Perspektive der Ärzte einzunehmen und zu versuchen, diese zu verstehen; der sagt: „Man wird in der wissenschaftlichen Arbeit fast dazu gezwungen, all die Emotionalität, die da auch stattfindet, in der Begegnung mit dem sogenannten Forschungsobjekt auszublenden. Doch das ist nicht nur nicht möglich, sondern sie hat auch ihre Wirkung.“ Im August wird die Forschergruppe bei einem Workshop eine erste Bilanz ihrer Erkenntnisse ziehen. Laut sprechen, Mimik einsetzen, Gestikulieren: alles integrierte Bestandteile von „Sprache“? Wenn wir reden, kommunizieren wir relevante Inhalte auch mit den Händen. Solche Gesten sind ein integrierter Bestandteil von Sprache und unterliegen, so die überwiegende Meinung, ebenso wie die Lautsprache bestimmten Regeln. Das Interesse der Forscherinnen galt nun der Frage, ob Gesten letztlich Vorläufer der Lautsprache sind oder sich unabhängig davon entwickelt haben. Im Fokus der Analyse standen dabei die redebegleitenden Gesten. Mehr als zwanzig Wissenschaftler untersuchten in neun Teilprojekten vor allem, wie Gesten aus Handbewegungen geschaffen werden, wenn jemand spricht, und welche Formen und Kombinationen von Gesten wir verwenden. Wo fängt eine Geste an? Wo hört sie auf? Welche Formen gibt es? Wie lassen sich Gesten kombinieren, und welche Bedeutungen haben sie? Was sind die neurologischen Grundlagen von Gesten, und welche Vorläufer haben sie in der Evolution? Und: Wie hängen Gesten und Lautsprache zusammen? In einem einzigartigen, von der Stiftung mit einer Million Euro geförderten Projekt suchten vier Forscherinnen – die Linguistin Cornelia Müller, die Neurologin Hedda Lausberg, die Semiotik-Expertin Ellen Fricke und die Primatologin Katja Liebal – zwischen 2006 und 2010 nach einer umfassenden Beschreibung, vulgo einer „Grammatik der Gesten“. In dem Projekt „Towards a grammar of gesture: evolution, brain, and linguistic structures“ stellten sie das traditionelle Konzept von Sprache infrage. Welchen Regeln unterliegen Gesten, um allgemein verstanden zu werden? Und wie hängen Gesten und Lautsprache zusammen? 34 Gut hundert Stunden Videomaterial sichteten die Forscher – Aufnahmen von Menschen in Ratesendungen und Talkshows, von Gesprächen zwischen Bekannten, in Vorlesungen und bei wissenschaftlichen Vorträgen oder auch in eher experimentellen Situationen. Jede identifizierte Geste wurde anhand von vier Parametern beschrieben: Handform, Orientierung der Hand, ausgeführte Bewegung und Bewegungsrichtung sowie räumliche Position in Relation zum Körper. Das Ergebnis: Sämtliche Gesten werden nach vier Prinzipien „hergestellt“: als agierende, modellierende, zeichnende und repräsentierende Gesten. Agierende Gesten ahmen Bewegungen nach und erinnern damit an Verben. So wird das Wort „schreiben“ häufig mit einer schreibenden Bewegung des Zeigefingers begleitet. Modellierende und zeichnende Gesten stellen dagegen Eigenschaften dar, vergleichbar Endlich Zeit für das Wichtigste: Es ist schon dunkel, als Katja Liebal Muße findet, die Eindrücke der letzten Stunden in ihr Emotions-Tagebuch zu schreiben. Sie sitzt auf einem ihrer Lieblingsplätze, einem Holzsteg im Tanjung Puting National Park. Gerade beginnt erster Dunst aufzuziehen, kurze Zeit später schon wird sie von Nebel eingehüllt sein. weitere Projekte Adjektiven. Manchmal steht unsere Hand aber auch direkt für ein Objekt, zum Beispiel für ein Blatt Papier – eine repräsentierende Geste. Aus diesen und anderen Hinweisen schließen die Forscherinnen, dass sie es bei Gesten mit Vorformen von sprachlichen Strukturen zu tun haben. Für sie steht fest: „Denken manifestiert sich nicht nur über die Lautsprache, sondern auch im Gestikulieren.“ Die Neurologin Hedda Lausberg untersuchte die kognitiven und emotionalen Prozesse, die bei der Gestenproduktion im menschlichen Gehirn ablaufen. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie und der Nah-Infrarotspektroskopie zeichnete sie die zerebralen Aktivierungsmuster bei der Produktion von Gesten auf. Welche Hirnareale sind aktiv, wenn Menschen ein Objekt gebrauchen, etwa einen Hammer? Die Ergebnisse verglich sie mit der zerebralen Aktivierung bei der gleichen Bewegung als pantomimische Geste. Sie stellte fest: Bei denjenigen Personen, die den Hammer verwendeten, wurden beide Hirnhälften aktiviert. Die pantomimische Handlung aktivierte jedoch zusätzlich linkshemisphärische Areale. Bei Patienten mit linkshemisphärischen Hirnschädigungen beobachtete sie zudem, dass diese bei der Ausführung pantomimischer Gesten eingeschränkt waren. Sie folgerte: Pantomimische Gesten erfordern im Vergleich zu Objektgebrauch die zusätzliche Kompetenz, mit der Vorstellung des Objektes zu agieren, das heißt, die Fähigkeit zur Abstraktion. „Diese Fähigkeit ermöglicht es, Dinge zu kommunizieren, die nicht physisch präsent sind, etwa von einem Hammer zu sprechen, obwohl er nicht da ist“, sagt Lausberg. „In der Evolution könnte der Erwerb dieser Kompetenz einen entscheidenden Schritt dargestellt haben in der Entwicklung gestisch-sprachlicher Kommunikation.“ Eine Fähigkeit, die Affen zu fehlen scheint. Katja Liebal verbrachte mehr als 700 Stunden mit der Kamera vor Zookäfigen und im Freiland und beobachtete, wie sich Schimpansen, Orang-Utans und Gibbons verständigen. Dabei entdeckte sie, dass die Tiere ausschließlich agierende Gesten benutzten, zum Beispiel um Futter zu erbetteln. Zeichnende, modellierende oder repräsentierende Gesten fand sie dagegen nicht. Andererseits deutet einiges darauf hin, dass Affen ihr Kommunikationssystem flexibel anpassen können. In Gefangenschaft kommunizieren die Tiere eher über Gesten als im Freiland, wo sie sich oft über große Entfernungen verständigen müssen. Auch variieren sie die Form einer Geste je nach Kontext. Mehrere Grundlagenwerke runden das Projekt ab: ein Field Guide von Cornelia Müller, der erstmals eine systematische linguistisch-strukturelle Analyse von Gesten ermöglicht, eine linguistische Dokumentation von ihr über Formen redebegleitender Gesten – sowie Ellen Frickes Buch „Grammatik multimodal“, das die theoretischen Grundlagen für eine Integration von Gesten in die lautsprachliche Grammatik formuliert. Christian Jung Impulse 02_2015 35 36 Schwerpunktthema Neue Sichtachsen und Zugänge Erinnerung, lass nach … Viele Soldaten werden durch Kriegserlebnisse traumatisiert. Die Folgen sind zum Teil dramatisch: Depressionen, Suizid, aggressives Verhalten bis hin zur Ausübung von Gewalt gegen andere. Oft finden sich die Betroffenen nur schwer wieder im Alltag zurecht. Psychologen der Universität Konstanz haben sich mit den Posttraumatischen Belastungsstörungen von Soldaten der Somalia-Friedensmission befasst und versuchen, mit einer neuen Therapie zu helfen. Ein ruhiges Fleckchen am Rande von Bujumbura, der Hauptstadt Burundis, im Herzen Afrikas. Dort beschäftigen sich Traumaforscher mit den psychischen Belastungen von Soldaten nach deren Rückkehr aus einem Kampfeinsatz. Hier interviewt der Psychologe Herve Mugisha (rechts) den Soldaten Zacharie Barikuririza. Impulse 02_2015 37 Text: Mareike Knoke // Fotos: Kristy J. Carlson F ragt man Dr. Anselm Crombach danach, was ihn antreibt und fasziniert an seinem Projekt, das Forschung und Therapie miteinander verbindet, dann sprudelt es aus ihm nur so heraus. Er berichtet zum Beispiel von einer Begegnung mit einem burundischen Soldaten, der gerade von einem Einsatz der Friedensmission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) in seinen Heimatort zurückgekehrt war. Crombach kannte ihn bereits von einem früheren Treffen, hatte ihn seinerzeit nach Gesprächen auch schon einmal therapeutisch behandelt. Nun erwartete den Mann nach traumatischen Erlebnissen im Kampf gegen die Al-ShabaabMilizen zu Hause ein weiteres Schockerlebnis: Seine Frau hatte ihn während seiner Abwesenheit verlassen und von einem anderen Mann ein Kind bekommen. „Ich bringe die beiden und mich um“, drohte der Soldat gegenüber Crombach. „Es ist mir letztlich gelungen, ihn im therapeutischen Gespräch von seinem Plan abzubringen“, sagt der Konstanzer Psychologe, dem anzumerken ist, wie sehr ihn das Erlebte bewegt. Mit einer Situation wie dieser sieht sich der Wissenschaftler bei seiner Arbeit mit burundischen Soldaten immer wieder konfrontiert. Oft schon musste er feststellen, dass viele Kämpfer nach ihren Einsätzen in Krisengebieten an Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) litten. Depressionen, Gedanken an Selbsttötung, aber auch an Rache sind keine Seltenheit. Seit drei Jahren nun engagiert sich Crombach als Teil eines sorgsam zusammengestellten Teams aus etablierten Wissenschaftlern, Doktoranden und Studierenden der Universität Konstanz in dem weltweit einzigartigen Projekt „Resilienzund Risikofaktoren für die Entwicklung von Traumafolgestörungen durch Kriegseinsätze und deren Zusammenhang zu appetitiver Aggression“. Ziel ist es, Abhängigkeiten von traumabedingtem Stress und Gewaltbereitschaft von Soldaten infolge von Kampfeinsätzen zu entschlüsseln. Die Forscher haben dabei die einmalige Gelegenheit, Mitglieder der AMISOM-Friedensmission, allesamt burundische Soldaten, vor und nach ihrem zwölfmonatigen Militäreinsatz in Somalia zu befragen und zu betreuen. 38 Allein das zeigt schon: Es ist ein ganz außergewöhnliches Projekt, und so wird es von der VolkswagenStiftung seit Mitte 2012 auch für drei Jahre mit 250.000 Euro unter dem Förderdach „Offen – für Außergewöhnliches“ unterstützt. Die Messlatte, in diesem Rahmen Geld zu bekommen, liegt sehr hoch: In der Regel sind es nur rund eine Handvoll Vorhaben pro Jahr, denen das gelingt. Diese Hürde zu nehmen, war jedoch kein Problem für die Projektidee. Denn die Gutachter waren von dem durchaus risikoreichen und in seiner Durchführung alles andere als einfachen Vorhaben äußerst beeindruckt: ob im Hinblick auf die Konzeption, die Verbindung von Forschung und praktischem Nutzen oder auch angesichts einer realistischen Einschätzung dahingehend, was machbar ist. Sie lobten unisono schon im Vorfeld „Innovationsgehalt, perspektivischen Nutzen und Einzigartigkeit“ des Projekts. Die richtige Therapie als Fernziel: Wie lässt sich gewaltbereites Verhalten regulieren? Erstmals hatten Psychologen nun mit substanzieller Unterstützung im Rücken die Chance, für eine bestimmte Zeit Soldaten wissenschaftlichtherapeutisch zu begleiten, die zudem traumatisch bereits vorbelastet waren. Denn wie ein Großteil der burundischen Bevölkerung hatten sie erst wenige Jahre zuvor den langen, blutigen Bürgerkrieg in ihrem Heimatland durchlitten. Ein Ziel der gesamten Studie war es herauszufinden, ob passgenaue präventive Maßnahmen vor dem Einsatz im Krisengebiet das Risiko einer Traumafolgestörung mindern können. Auf der Grundlage ausführlicher Interviews mit den Soldaten und – sofern erforderlich – ergänzenden Therapiegesprächen ging es zudem darum zu erfassen und zu begreifen, ob und inwieweit sich die psychische Gesundheit eines Soldaten infolge seines Kampfeinsatzes veränderte. Die eigentliche therapeutische Intervention, bei der die Soldaten zeitweilig auch Täter- und Opferrolle einnehmen, sollte dann zeigen, inwieweit Strategien zur Aufarbeitung traumatischer Kriegserlebnisse und anderer Gewalterfahrungen greifen. Das Gespräch als zentrales Instrument der Forschung. Oben links: Die Psychologin Alice Kanyambo lauscht aufmerksam den Erzählungen von Mathias Nautinamangara, der als Soldat in Somalia im Einsatz war. Oben rechts: Die Psychologen Adeline Nimubona und Simeon Hafashimana befragen den Soldaten Ezechiel Hakizimana (rechts). Großes Foto: der ebenfalls ins Projekt eingebundene Militärpsychologe Eric Rambete in einer Supervisionsrunde mit Fachkollegin Cynthia Nishimve. Zweite Reihe von unten, links: Der Psychologe Thierry Ndayikengurukiye versucht, dem Soldaten Jean Bosco Sibomana nach dem Gespräch in einer Alltagssituation zu helfen. Zweite Reihe von unten, rechts: Der Psychologe Hervé Mugisha ist bestürzt von den Berichten Eric Rutegas über dessen Erlebnisse im Kampfeinsatz. Unten links: Ebenfalls Belastendes aus Somalia erzählt Pascal Nteziriba Thierry Ndayikengurukiye. Unten rechts: Manch einer durchlebt bei den Gesprächen die Geschehnisse erneut; der Blick in die Kamera ist dann zu viel. Impulse 02_2015 39 Standarduntersuchungen vergleichbar einem jährlichen Gesundheitscheck, wie er bei uns schon fast Routine ist, sind ebenfalls Teil des Forschungsprogramms: Ein paar Mediziner sind daher in das Projekt eingebunden, beispielsweise Eliphase Ndayishimiye. Insgesamt befragte das Team zwischen Herbst 2012 und Frühsommer 2015 knapp tausend männliche Soldaten nach ihren Lebensumständen und Erfahrungen mit Gewalt – davon etwa 400 nicht mehr in Krisengebieten eingesetzte Bürgerkriegsveteranen und gut 550 AMISOM-Soldaten, die ein Jahr lang in Somalia im Einsatz waren. Einige, aber nicht alle Probanden zeigten deutliche Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung: vielfältige psychische Probleme, wie sie Menschen nach Katastrophen heimsuchen können. Wird jemand Opfer beispielsweise eines Angriffs, Zeuge eines großen Unglücks, erleidet er einen schweren Unfall oder einen lebensbedrohlichen Herzinfarkt – dann schafft es das Gehirn anschließend oft nicht, das Erlebte zu verarbeiten (siehe auch Text auf Seite 44). Katalysator für das Projekt war ein früherer Forschungsaufenthalt Anselm Crombachs in Burundis Hauptstadt Bujumbura. Der heute 31-Jährige hatte dort Jahre zuvor im Rahmen seiner Doktorarbeit über Straßenkinder geforscht. Durch Kontakte seines Kooperationspartners Professor Manassé Bambonye von der Université Lumière in Burundi entstand die Idee, mit dem heimischen Militär zusammenzuarbeiten. Crombachs Kollege Dr. Roland Weierstall, Dozent und Psychotherapeut an der Universität Konstanz, ergriff sofort begeistert die einmalige Chance, die sich da bot. Er übernahm die Koordinierung des Projekts und suchte Kontakt zur burundischen Armee. „Zunächst mussten wir auf die offizielle Genehmigung des dortigen Verteidigungsministeriums warten. Dann wurden plötzlich mehrere Posten in der Behörde neu besetzt, wodurch sich die Genehmigung für das Projekt und somit dessen Start mehrfach verzögerten.“ Doch das Warten hat sich gelohnt – für die Konstanzer Forscher und die burundischen Friedenskräfte. 40 Ebenso ließen sich aus den Interviews Rückschlüsse ziehen auf das Ausmaß an „appetitiver Aggression“ eines Befragten. Damit gemeint ist das Ausüben von Gewalt oder das Zufügen von Leid mit dem Ziel, Vergnügen zu verspüren. Die empfundene Faszination lässt sich auf erlebte und ausgeübte Reize zurückführen. Dieses Hochgefühl, die Hemmungslosigkeit, Gewalt auszuüben, unterscheidet die appetitive Aggression zum Beispiel von reaktivem aggressiven Verhalten, das etwa der Selbstverteidigung in einer Gefahrensituation dient. In diesem Zusammenhang können womöglich die Meldungen von Human Rights Watch aus dem vergangenen Jahr über gewalttätige burundische Soldaten gesehen werden: Einige AMISOM-Soldaten, die eigentlich die Bevölkerung vor Ort schützen sollten, misshandelten und missbrauchten an ihren Stützpunkten in Mogadischu somalische Frauen und Mädchen sexuell. Und so war es, immer eine spätere Therapie im Blick, eines der Ziele der Projektinitiatoren, das Phänomen der appetitiven Aggression im Zusammenspiel von biologischen, sozialen und psychischen Prozessen möglichst umfassend zu verstehen. Dabei muss ein interessanter Bezug, den die Untersuchungen zutage gefördert haben, auch genannt werden: Ein hohes Maß an appetitiver Aggression führt offenbar zu einer erhöhten Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber Traumatisierungen. Viele Soldaten leiden nach Einsätzen in Krisengebieten an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. „Sie zeigen dann häufig ein aggressiveres Verhalten als vorher und finden sich nur schwer im Alltag zurecht, können oft keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen, geraten ins soziale Abseits. Und wissen häufig gar nicht genau, was mit ihnen geschieht“, sagt Professor Dr. Thomas Elbert, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Neuropsychologie der Universität Konstanz. Erfolgsmodell „Narrative Expositionstherapie“ – dauerhafte Hilfe für den Alltag nach dem Krieg? Der Experte für Traumaforschung hat vor ein paar Jahren die Narrative Expositionstherapie (NET), die jetzt auch im Burundi-Projekt zum Einsatz kam, mit entwickelt. Sie ist ein Herzstück dieses Projekts und steht im Zentrum der therapeutischen Behandlung. Bei der Narrativen Expositionstherapie geht es um die Be- und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse und Gewalterfahrungen. Der traumatisierte Patient erarbeitet in den Behandlungssitzungen im Zuge ermutigender, mitfühlender Gespräche einen detaillierten und in sich schlüssigen Bericht seiner Lebensereignisse – insbesondere jener Geschehnisse, die vermutlich die Traumatisierung bewirkt haben. Was die Therapie der burundischen Soldaten zusätzlich erschwere, sei der lange Bürgerkrieg im eigenen Land, den alle miterlebt hätten, sagt Elbert. Denn erst seit 2011 herrscht dort wieder – relativer – Frieden. Demzufolge gebe es in der Bevölkerung kaum jemanden, der nicht als junger Bürgerkriegssoldat oder als jugendlicher Zivilist mit Gewalt in Berührung gekommen sei; Gewalt, die entweder selbst erlitten oder bei anderen Menschen beobachtet wurde. „Folglich schleppen viele unserer Probanden bereits vor dem Einsatz als Soldat in der Fremde ein schweres Gepäck an traumatischen Erinnerungen mit sich herum“, ergänzt Anselm Crombach. Gerate der Soldat dann wieder in eine ähnlich belastende Situation, sieht er schließlich die Gefahr überall – die Bedrohung wird zum ständigen Begleiter. Kann es dennoch gelingen, dass eine präventive Behandlung vor einem Kampfeinsatz einem Soldaten hilft, auftretende traumatische Situationen besser zu bewältigen? „Unsere Überlegung war und ist: Wie können wir Soldaten vor dem Einsatz im Krisengebiet eine Art ‚Schutzimpfung‘ mitgeben; eine Strategie, die sie in die Lage versetzt, lebensgefährliche und gewalttätige Erlebnisse zu verarbeiten und diese später als Erinnerungen aus einer anderen Zeit zu begreifen – mit dem Ziel, eine Traumareaktivierung zu verhindern? Damit sie sich, wieder zu Hause, erfolgreich einer neuen Aufgabe widmen können, und nicht, zurück im Alltagsleben, unter schweren Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden?“, führt Thomas Elbert aus und betont, dass diese Form der präventiven Intervention neu sei. Die Psychologin Adeline Nimubona hilft beim Markieren der Probensamples. Vom Konstanzer Team längere Zeit vor Ort dabei ist die Forscherin Anja Zeller (rechts). Impulse 02_2015 41 Doktorandin Corina Nandi, die gemeinsam mit Anselm Crombach hauptsächlich für die Feldforschung zuständig war und monatelang in den burundischen Militärcamps Soldaten untersucht und das lokale Team angeleitet hat, ergänzt: „Für diesen Zweck haben wir ein eigenes, geeignetes Format entwickelt. Denn da jeweils große Bataillone in den Einsatz geschickt werden, sind zeitliche wie personelle Möglichkeiten natürlich begrenzt. Stattdessen führten wir also mit ausgewählten Probanden zwei Gespräche von jeweils zwei- bis dreistündiger Dauer auf Grundlage einer Narrativen Expositionstherapie.“ Von 120 ausgewählten Soldaten, die keine, wenig oder starke PTBS-Symptome zeigten, erhielten sechzig die spezielle präventive, also vorbeugende Intervention, die anderen nur die bisher in der Armee übliche Einsatzvorbereitung. Die präventive Kurzzeit-Intervention als schützende Vorbereitung auf den Kampfeinsatz? Erste Ergebnisse ließen bereits Ende 2014 den Schluss zu, dass eine NET-gestützte Prävention von erheblichem Nutzen sein kann. Denn jene Soldaten, die eine derartige Intervention erhielten, zeigten sich nach dem Einsatz weniger anfällig für Traumatisierungen und Traumareaktivierungen. Neue Ausschreibung zur Traumaforschung Die Stiftung hat im Mai 2015 die Ausschreibung „Gewalterfahrungen, Traumabewältigung und Erinnerungskultur“ aufgelegt. Unter diesem thematischen Dach vergibt sie Fördermittel für kooperative Forschungsvorhaben im arabischen Raum. Der Stichtag für die Einreichung von Anträgen ist der 10. September 2015. Die Ausschreibung richtet sich an Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler und erwartet zumindest bilaterale Projektteams. Als Partner müssen mindestens eine deutsche Forschungseinrichtung und eine in der sogenannten MENA-Region („Middle East & North Africa“) eingebunden sein: also in Nahost oder Nordafrika. Neben einem Bezug zu den jüngsten Transformationsprozessen Förderangebot in der arabischen Welt müssen die Projektanträge eben einen der drei genannten thematischen Schwerpunkte berücksichtigen: Gewalterfahrungen, Traumabewältigung oder Erinnerungskultur. Die VolkswagenStiftung begleitet die Entwicklungen in der arabischen Welt seit 2011: Dies ist die inzwischen dritte Ausschreibung, die die Region adressiert. Neben der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses liegt bei diesem Engagement ein Augenmerk auf der Netzwerkbildung – sowohl intra-regional als auch aus anderen Ländern mit Partnern in der arabischen Welt. Vier Jahre nach Beginn der Umbrüche befindet sich die MENA-Region nach wie vor im Wandel, und sowohl die politische als auch die soziale Situation in vielen Staaten bleibt prekär. Die aktuellen Entwicklungen eröffnen eine erhebliche Bandbreite an Forschungsfragen, zu deren Bearbeitung die Stiftung mit der Förderung bilateraler oder multilateraler Kooperationsprojekte beiträgt. Christian Jung Interview über Interview zu Lebensumständen und Erfahrungen mit Gewalt oder auch über Gewaltfantasien: Allmählich fügt sich ein Bild zusammen und Muster werden erkennbar. 42 Sie sind die tragenden Säulen des Traumaforschungsprojekts: Die Psychologen Dr. Anselm Crombach (oben links) und Dr. Corina Nandi (unten, Mitte) haben sich über Monate in Burundi engagiert. „Ob dieser Effekt von Dauer ist, darüber werden wir mehr wissen, wenn Ende 2015 unsere derzeit noch laufenden Follow-up-Befragungen abgeschlossen sind“, sagt Corina Nandi, die in der präventiven Kurzzeit-Intervention bereits jetzt einen guten Schutz sieht. Vorsicht ist in der Tat geboten, denn Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung können sich durchaus zeitverzögert zeigen. „Deshalb ist es wichtig, die Probanden einige Monate nach ihrer Rückkehr aus Somalia erneut zu befragen!“ Erst dann wollen die Forscher erörtern, ob und wie sich solch eine Prävention bei anderen Berufsgruppen anwenden ließe wie etwa Feuerwehrleuten, die ebenfalls lebensbedrohliche Stresssituationen auszuhalten haben. Wie sorgsam sie alles bedenken, zeigt sich an der Akribie, mit der sie zusammengetragen haben, was irgend auffindbar war an Studien über ebenfalls im Kontext mit Kampfeinsätzen befragte Soldaten – auch wenn, wie Thomas Elbert sagt, immer wieder klar wurde, dass nichts mit ihrem Ansatz wirklich zur Deckung zu bringen sei. Verändern extreme äußere Einflüsse wie übermäßiger Stress oder Traumatisierungen sogar die Gene? Noch einen anderen Aspekt gilt es weiter auszuloten: die Untersuchung epigenetischer Marker von Trauma und Aggression. Epigenetik beschreibt, vereinfacht ausgedrückt, was um das menschliche Genom herum passiert – einschließlich der Wirkungen äußerer Einflüsse auf unser Genom. Epigenetische Vorgänge verbinden sozusagen Umwelteinflüsse und Gene. Man weiß inzwischen, dass es Moleküle gibt, die sich an Gene binden und damit „entscheiden“, ob, unter welchen Umständen und zu welchem Grad ein Gen angeschaltet und damit „gelesen“ wird und wann es (wieder) „stillgelegt“ und somit stumm ist. Hier vermuten Wissenschaftler zum Beispiel eine Erklärung dafür, warum von zwei Menschen, die das gleiche defekte und damit krankheitsauslösende veränderte Gen haben, nur einer womöglich die Krankheit bekommt. Oder noch anders gesagt: Die Epigenetik zeigt uns, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Gene. Solche Prozesse können also Umwelteinflüssen unterliegen, aber auch bedingt sein durch schwerwiegenden, lang anhaltenden Stress, wie ihn beispielsweise Soldaten bei Kampfhandlungen erfahren. „Es ist belegt, dass traumatische Ereignisse epigenetische Veränderungen hervorrufen können; bei der traumatisierten Person kann das zu einer veränderten Stressanfälligkeit führen“, sagt Roland Weierstall. Den Konstanzer Wissenschaftlern war es wichtig, epigenetische Untersuchungen einzubeziehen. Als auf diesem Gebiet ausgewiesene Kooperationspartner holten sie sich Neurowissenschaftler von der Universität Basel ins Boot. Sie werten derzeit an ihrer Hochschule Speichelproben aus, die Soldaten eigens für die Untersuchungen abgegeben haben. Unterdessen liegt Corina Nandi und Anselm Crombach noch eine andere, sehr erfolgreiche und beglückende Seite ihres Projekts besonders am Herzen: die Aus- und Fortbildung der einheiImpulse 02_2015 43 mischen Studierenden von der Université Lumière in Burundi sowie jener sechs Militärpsychologen, die sie bei ihrer Arbeit unaufhörlich unterstützt haben. „Die intensive Arbeit mit den burundischen Studierenden und den Psychologen war fordernd, hat aber großen Spaß gemacht. Es ist uns, glaube ich, gelungen, ihnen ein gutes berufliches Rüstzeug mit auf den Weg zu geben“, freut sich Nandi. „Während die Studenten anfangs bei den Befragungen lediglich hospitierten, führten sie im weiteren Verlauf mehr und mehr selbstständig die Interviews und gaben später als Multiplikatoren ihr Wissen weiter. Das war ideal, weil sie natürlich einen besseren sprachlichen und kulturellen Zugang zu den Soldaten haben als wir.“ Sehr gefreut haben sich die jungen Konstanzer Forscher über eine kürzlich erfolgte Anfrage von Lassen sich traumatische Erinnerungen löschen? Menschen, die Schreckliches erlebt haben, quälen die Gedanken daran noch lange. Doch nicht jeder entwickelt eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Zurzeit laufen weltweit einige spannende Forschungsvorhaben, die um eben diese zentrale Frage kreisen: Wer entwickelt nach einem Unglück eine Traumastörung und wer nicht? Insbesondere Forscher aus Nordamerika machen derzeit von sich reden, etwa die Psychologin Margaret McKinnon von der Universität in Hamilton. Sie war im Spätsommer 2001 selbst an Bord eines Transatlantikflugs, dem auf halber Strecke zwischen den Kontinenten wegen eines unbemerkt gebliebenen Lecks im Treibstofftank die Triebwerke ausfielen. Die bereits für eine Notwasserung vorbereiteten Passagiere hatten Glück im Unglück, da es dem Piloten durch den längsten Gleitflug der Luftfahrt gelang, auf einer Azoreninsel notzulanden. Die allesamt unverletzt gebliebenen Passagiere berichteten, während der ganzen Zeit – gut 30 Minuten – Todesängste ausgestanden zu haben. Margaret McKinnon und ihr Team konnten 15 Passagiere dazu bewegen, an einer Studie zur Posttraumatischen Belastungsstörung teilzunehmen. Deutlich war: Nur bei einigen hatte sich eine PTBS entwickelt. Welches aber sind nun die individuellen Unterschiede, die eben das bewirken? Was leistet einer Traumastörung Vorschub, und was schützt vor der belastenden Erinnerung? Hypothese der Forscher ist, dass weniger die Art der Belastung über das Auftreten einer PTBS entscheidet als vielmehr die Art und Weise, wie ein Patient Informationen im Langzeitgedächtnis abspeichert, wieder (und wieder) aufruft, sich damit beschäftigt und schließlich erneut abspeichert. Menschen falle es leichter, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten, wenn sie Details ausblendeten und ihre Erinnerungen steuern könnten, erklärt der Leiter der Studie Brian Levine von der University of Toronto in Kanada. Derzeit laufende Hirnscan-Untersuchungen bei den meisten bislang in die Studie Einbezogenen sollen weitere Erkenntnisse generieren. Eine Belastungsstörung ist eine stille Krankheit. Viele wissen nicht einmal, dass sie zu den Betroffenen gehören, und halten nach einem schlimmen Erlebnis Flashbacks, also unvermittelt und ohne Vorwarnung ins Bewusstsein einschießende Die Interviews sind geführt, jetzt beginnt die Auswertung der Befragungen, die zentrales Instrument der Traumaforschung sind. 44 Die Psychologen Professor Thomas Elbert (rechts) und Dr. Roland Weierstall von der Universität Konstanz besprechen die Interviews. An der Wand eine Dankesgabe: das Bild eines Malers aus Uganda. Es zeigt Szenen des Engagements der Konstanzer Wissenschaftler. offizieller burundischer Seite, die hohe Wertschätzung ihrer Arbeit und ihrer Person gegenüber zum Ausdruck bringt – ob sie nicht helfen wollen, als Ausbilder eine psychotherapeutische Station im Militärkrankenhaus von Burundi von Grund auf mit aufzubauen. „Auch wenn dieser Plan daran scheitert, dass das Land nicht genug Mittel dafür hat, haben wir in den Köpfen etwas mit unserer Arbeit in Gang gesetzt“, sagt Anselm Crombach. Hintergrund Schreckensbilder, jahrelang wiederkehrende Albträume, permanent erhöhte Wachheit und andauernde Schlaflosigkeit für völlig normal. Inzwischen sind Forscher und Therapeuten sicher, dass jedes Mal, sobald ein traumatisierter Mensch das Geschehen erinnert, eine Gelegenheit zur Einflussnahme auf die „Erinnerungen“ besteht: Bleibt der Betroffene beim Aufrufen und Abspeichern des Erlebten im Schrecken der Vergangenheit verhaftet, wird auch seine Erinnerung quälend bleiben. Gelingt es jedoch, den Kreislauf zu durchbrechen, könnte er sein Trauma überwinden. Ende 2014 vorgestellte Ergebnisse eines Forscherteams um den Psychologen Professor Edward Meloni von der Universität Harvard formulieren, dass offenbar auch das Edelgas Xenon hilft, die Erinnerung an traumatische Erlebnisse zu löschen – zumindest bei Ratten. Die Wissenschaftler setzen explizit bei eben jenen Flashbacks an, mit denen Traumaopfer häufig zu kämpfen haben. Den Schlüssel zur therapeutischen Hilfe liefert der Prozess der sogenannten Rekonsolidierung – jener Moment des Abrufs gespeicherter Erlebnisse aus dem Gedächtnis, in dem unsere Erinnerungen für einen Augenblick instabil sind und kurzzeitig beeinflussbar – bevor sie wieder in den Tiefen des Langzeitgedächtnisses abgelegt werden. Die Arbeitsgruppe versuchte nun, sich diesen Effekt zunutze zu machen. Zunächst lehrte sie Laborratten das Fürchten. Jedes Mal, wenn die Tiere einen schrillen Ton hörten, bekamen sie einen kurzen Elektroschock. Nach kurzer Zeit erstarrten die Ratten daher schon, sobald das Geräusch ertönte. Atmeten die Tiere allerdings gleich danach eine schwache Dosis Xenon ein, linderte das die Furchtreaktion bei künftigen Begegnungen mit dem Reiz. Sie konnten den Ton dann hören, ohne in Schockstarre zu verfallen. Verantwortlich für diese Verhaltensänderung ist eine spezielle Eigenschaft des Xenongases: Der Stoff blockiert die Andockpunkte der sogenannten NMDA-Rezeptoren, die im menschlichen Gehirn Prozesse wie Lernen und Gedächtnis steuern. Gerade bei der Rekonsolidierung von angstvollen Gedächtnisinhalten spielen die Rezeptoren eine Schlüsselrolle. Vermutlich werden die Erinnerungen an den Schmerzreiz also durch das Einatmen von Xenon manipuliert – und anschließend in milderer Form wieder abgespeichert. Ob eine solche „Behandlungsmethode“ auch Menschen helfen könnte, die nach einem schlimmen Erlebnis unter einer PTBS leiden, ist ungeklärt. Zu bedenken ist, dass mit gedächtnisverändernden Wirkstoffen therapiert werden würde. Befürworter plädieren jedoch für weitergehende Tests, da ähnlich wie etwa durch Psychopharmaka dem überschießenden Angstsystem versichert werde, dass in der Gegenwart alles in Ordnung sei. Traumageplagten könnte so in Zukunft das Verarbeiten leichter fallen. Und letztlich vielleicht das Vergessen – da, wo es notwendig ist. Christian Jung Impulse 02_2015 45 Spektrum Nachrichten aus der Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung Vogelkinder älterer Eltern haben weniger Nachwuchs – Langzeitstudie an wild lebenden Haussperlingen Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen stößt auf generationenübergreifende Alterseffekte. Die Erkenntnisse helfen, die evolutiven Prozesse von Langlebigkeit zu verstehen. Und sie sind von großer Bedeutung für Brutprogramme gefährdeter Arten. Eine kleine Insel vor der Südwestküste Englands: Hier wies Dr. Julia Schroeder (unten rechts) vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen erstmals bei Vögeln den Lansing-Effekt nach, der ansonsten bislang nur bei Mäusen und einigen wirbellosen Tieren als bestätigt und für den Menschen als wahrscheinlich gilt. Der besagt: Je älter die Eltern bei der Geburt ihrer Nachkommen sind, umso weniger Nachwuchs haben wiederum diese Kinder beziehungsweise leben jene auch kürzer. Julia Schroeder, die mit ihrer Publikation gehörig für Aufmerksamkeit sorgte, zeigte den Lansing-Effekt gemeinsam mit britischen und neuseeländischen Forscherkollegen an einer geschlossenen, über zehn Jahre beobachteten Spatzenpopulation von über 5.000 Tieren. 46 Die Fortpflanzungsfähigkeit nimmt nicht bei allen Tierarten mit dem Älterwerden ab. Sie kann das ganze Leben lang konstant bleiben, wie es etwa bei einigen Wirbellosen der Fall ist – oder sogar wie bei manchen Reptilien mit steigendem Alter zunehmen. In der Regel können sich beide Geschlechter bis ins hohe Alter hinein fortpflanzen, wobei das Männchen normalerweise weitaus mehr Nachkommen zu zeugen vermag als das Weibchen. Bei einigen Säugetieren wie uns Menschen bleiben die männlichen Individuen länger zeugungsfähig. Allerdings, und das weiß man schon seit geraumer Zeit, birgt es gewisse Risiken, sich in fortgeschrittenem Alter zu vermehren: etwa eine höhere Wahrscheinlichkeit für Kindersterblichkeit oder das Auftreten von Chromosomenanomalien. Darüber hinaus haben die Kinder älterer Eltern selbst weniger Nachkommen oder leben kürzer; eine Gesetzmäßigkeit, die als „Lansing-Effekt“ bezeichnet wird. Sie wurde außer beim Menschen bereits bei Mäusen und einigen wirbellosen Tieren nachgewiesen, nie jedoch bei wild lebenden Populationen. Jetzt hat Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen mit Kollegen der Universität Sheffield, England, und der Universität Otago in Neuseeland diesen Effekt in einer Population von Haussperlingen erforscht. Ihr Untersuchungsgebiet: eine kleine Insel vor der Südwestküste Englands, auf der seit über zehn Jahren sämtliche Spatzen-Nachkommen erfasst und beringt werden. Die Tiere verbringen ihr ganzes Leben auf der nahezu unbewohnten, 19 Kilometer entfernt vom Festland gelegenen Insel. Die Forscher nahmen Blutproben von Eltern und Jungtieren, um Verwandtschaften zu bestimmen. Auf diese Weise entstand ein einzigartiger und präziser genetischer Stammbaum von über 5000 Tieren: Von jedem ist das genaue Alter und die Zahl der Nachkommen bekannt. Um herauszufinden, ob ein möglicher Effekt genetisch oder durch die Umwelt bedingt ist, tauschten die Forscher systematisch die Gelege zwischen den Nestern aus. Die Analyse der Lebensdauer ergab ein eindeutiges Ergebnis: Je älter die Weibchen, umso weniger Nachkommen hatten die Töchter. Alte Männchen wiederum produzierten Söhne, die selbst weniger Nachwuchs zeugten. Diesen Nachteil erfahren besonders Nachkommen aus einem Seitensprung. Denn Spatzenweibchen gehen durchaus fremd – allerdings eher mit älteren Männchen. Diese Strategie, sich langlebige und damit besonders überlebensfähige Männchen zur Fortpflanzung auszusuchen, erweist sich nun als offenkundig von Nachteil. „Die gefundenen Effekte lassen sich nicht durch Umweltfaktoren erklären, sondern durch die Konstitution der Eltern, die sich im Laufe der Jahre durch sogenannte epigenetische Prozesse auch ändern kann“, sagt Julia Schroeder, von der Stiftung über die Initiative Evolutionsbiologie gefördert. „Unsere Erkenntnisse sind möglicherweise auch für Brutprogramme gefährdeter Arten wichtig, bei denen oft ältere Tiere aus verschiedenen Populationen verwendet werden, um eine genetische Variabilität aufrechtzuerhalten“, ergänzt sie. Barbara Riegler Impulse 02_2015 47 Spektrum Mengenlehre für Immunzellen – Forscher finden eine Art „lernende Zelle“ unseres Abwehrsystems Ein Forscherteam aus Berlin um Lichtenberg-Professor Dr. Max Löhning hat entdeckt: Immunzellen lernen, welche Menge eines Stoffes sie für eine Abwehrreaktion produzieren müssen. Damit könnten sich künftig Immunreaktionen gezielt beeinflussen lassen. Nach der Aktivierung im Zuge der Immunreaktion behalten T-Helferzellen die Menge an produziertem Zytokin stabil bei, auch noch nach ihrer Umwandlung in Gedächtniszellen. (Links: Bildausschnitt aus dem Cover der Januar-Ausgabe 2015 der Fachzeitschrift Immunity zum Forschungsprojekt) Lichtenberg-Professor Dr. Max Löhning, Stellvertretender Direktor des Zentrums für Immunwissenschaften der Charité – Universitätsmedizin Berlin, erforscht die Reifung und Prägung von T-Helferzellen. Diese Zellen steuern die Immunantworten des Körpers, indem sie Botenstoffe ausschütten, sogenannte Zytokine. Die Forscher konnten nun zeigen, dass eine T-Helferzelle bei ihrer ersten Aktivierung – etwa im Zuge einer Infektion – nicht nur lernt, welches Zytokin sie produzieren soll, sondern auch in welcher Menge. Damit ließen sich künftig möglicherweise gezielt erwünschte Immunreaktionen verstärken und fehlgesteuerte Immunantworten abschwächen. Das „quantitative Zytokingedächtnis“ behalten T-Helferzellen zudem stabil bei. Ist die Infektion überstanden, wandeln sich einige der T-Helferzellen in langlebige Gedächtnis-T-Zellen um. Bei einer erneuten Infektion würden diese Gedächtnis-T-Zellen aktiviert und schütteten wieder die gleiche, vorgeprägte Menge des Botenstoffs aus, sagt Max Löhning, der zugleich am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum aktiv ist. 48 Darüber hinaus konnten die Forscher einen Schlüsselfaktor identifizieren, der maßgeblich an der Aufrechterhaltung des „quantitativen Zytokingedächtnisses“ einzelner T-Zellen beteiligt ist – ein Molekül als eine Art „schwimmende Produktionsanweisung“. Dieser Faktor liegt in jeweils spezifischen Mengen im Zellkern vor. Ist er in großen Mengen vorhanden, wird auch eine große Menge des Zytokins produziert und umgekehrt. Bei einer Reaktion des Immunsystems kommen sowohl T-Helferzellen vor, die geringe Mengen eines bestimmten Zytokins herstellen, als auch solche, die viel produzieren. „Wir gehen davon aus, dass auf diese Weise eine Feinabstimmung der Immunreaktion erreicht wird. „Die nun entdeckte Ebene der quantitativen Regulation könnte es ermöglichen, bei manchen Erkrankungen nur schwach reagierende Immunzellen zu fördern, um die Immunantwort insgesamt abzuschwächen. Beim Kampf gegen Krebszellen und bei vielen Infektionen hingegen würde man die Anzahl hochaktiver Immunzellen gezielt erhöhen“, erläutert Löhning. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Immunity veröffentlicht. Überraschende Entdeckung: Bakterien haben „Essenskanäle“. Einige können in Zeiten des Mangels Nährstoffe austauschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Jena, Kaiserslautern und Heidelberg gelang der Nachweis, dass manche Bakterienstämme nanometerkleine Verbindungskanäle zwischen einzelnen Zellen ausbilden – und auch, wie der direkte Austausch von Nährstoffen über diesen Weg im Detail erfolgt. Lisa Freund, Christian Kost, Shraddha Shitut und Samay Pande (Skype) konnten zeigen, wie bestimmte Bakterien Aminosäuren über schlauchähnliche Nanokanäle zwischen den Zellen austauschen (hier eine elektronenmikroskopische Aufnahme gentechnisch veränderter Bakterienstämme der Arten Escherichia coli und Acinetobacter baylyi). Schon länger weiß man, dass Bakterien in der Lage sind, Nährstoffe und andere Stoffwechselprodukte auszutauschen. Unklar war jedoch, ob dies ausschließlich über das umgebende Lebensmilieu, die Umwelt, geschieht oder dafür womöglich direkte Verbindungen zwischen den Zellen bestehen. Forscher um Dr. Christian Kost vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena haben nun experimentell beim Bodenbakterium Acinetobacter baylyi und beim Darmkeim Escherichia coli spezifisch bakterielle Gene ausgeschaltet. In der Folge wurden manche Aminosäuren nicht mehr produziert, andere hingegen im Übermaß. Im Ergebnis wurde deutlich: Wuchsen die veränderten Bakterien zusammen, konnten sie sich gegenseitig ernähren und den künstlich erzeugten Aminosäuremangel ausgleichen. Trennte man die Bakterien allerdings durch einen Filter, der Aminosäuren im Nährmedium zwar durchließ, einen direkten Austausch zwischen den beiden Bakterienstämmen jedoch verhinderte, gedeihte keiner der Stämme. Im Elektronenmikroskop beobachteten die Wissenschaftler nun, dass sich zwischen beiden Bakterienarten Nanoröhren bildeten, die den Austausch von Nährstoffen ermöglichten. Dabei fiel auf, dass nur das Darmbakterium Escherichia coli solche Strukturen nutzte, um sich mit Acinetobacter baylyi-Zellen zu verbinden. „Die spannendste Frage bleibt für mich, ob es sich bei Bakterien tatsächlich um einzellige, relativ einfach strukturierte Organismen handelt, oder ob wir es mit einer anderen Form der Vielzelligkeit zu tun haben. Bakterien könnten beispielsweise ihre Komplexität dadurch steigern, dass sie sich mit anderen Bakterien verbinden und so ihre Fähigkeiten kombinieren“, sagt Christian Kost, der in Jena im Zuge der Initiative Evolutionsbiologie die Forschergruppe Experimentelle Ökologie und Evolution leitet. Seine Arbeitsgruppe erforscht, warum Lebewesen miteinander kooperieren. Bakterielle Lebensgemeinschaften als Modellsysteme sollen dabei helfen zu verstehen, warum sich bei den meisten Lebewesen im Laufe der Evolution ein kooperativer Lebensstil durchgesetzt hat. Impulse 02_2015 49 Spektrum Wie giftiges Kohlenmonoxid verbrennt: erstmals Detailaufnahmen zu Zwischenstufen des Prozesses Forschen für den Umweltschutz: Ewald-Fellow Dr. Martin Beye vom Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) trägt mit ausgefeilten Experimenten am SLAC National Accelerator Laboratory zu einem erweiterten Verständnis der Reaktionen bei, die an Katalysatoren ablaufen. Die Abbildung illustriert als Momentaufnahme eine Zwischenstufe der Reaktion von CO zu CO2 auf einer heißen Katalysatoroberfläche. Dieser Prozess konnte nun erstmals gezeigt werden. Einem internationalen Forscherteam ist es erstmals gelungen, die flüchtigen Zwischenstufen zu beobachten, die sich bei der Oxidation von Kohlenmonoxid auf einer heißen Katalysatoroberfläche bilden. Die Wissenschaftler um Ewald-Fellow Dr. Martin Beye nutzten dafür ultrakurze Röntgenblitze und Laserpulse. Martin Beye hatte durch sein von der Stiftung finanziertes Fellowship die einmalige Chance, monatelang am SLAC National Accelerator Laboratory im Menlo-Park, Kalifornien, arbeiten zu können. Das Team ging bei seinen Versuchen wie folgt vor: Zunächst erhitzte ein Laserblitz die Ruthenium-, also die Katalysatoroberfläche und aktivierte damit die absorbierten Kohlenmonoxidmoleküle und Sauerstoffatome. Über Röntgenabsorptionsspektroskopie beobachtete das Team, wie sich die elektronische Struktur der Sauerstoffatome veränderte, während sich mit Kohlenstoffatomen allmählich Bindungen anbahnten. Die Forscher stellten fest, dass die dokumentierten Übergangszustände mit quantenchemischen Berechnungen gut übereinstimmten. 50 Hingegen überraschte sie zweierlei: zum einen, wie viele Reaktionspartner in einem Übergangszustand aktiviert werden, zum anderen, dass nur ein Bruchteil davon anschließend stabile CO2-Moleküle bildet. „Es ist so, als wenn man Murmeln einen Berg hochschießt und die meisten, die es bis ganz oben geschafft haben, rollen dennoch einfach wieder auf der gleichen Seite herunter“, sagt Professor Anders Nilsson von der Universität Stockholm. Er hat am SLAC/Stanford SUNCAT Center for Interface Science and Catalysis das an Details reiche Forschungsprojekt geleitet, in das zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Nationen eingebunden waren. „Die Ergebnisse helfen, eine entscheidende Reaktion an einem Katalysator zu verstehen, die nicht zuletzt für den Umweltschutz sehr wichtig ist“, erklärt Physiker Dr. Martin Beye, der mit seinem Team vom Institut für Methoden und Instrumentierung für Forschung mit Synchrotronstrahlung am Berliner Helmholtz-Zentrum in das Vorhaben zentral eingebunden war. Diese Forschung, fügt er hinzu, wäre ohne das Ewald-Fellowship nicht möglich gewesen. Licht schaltet Anziehungskräfte ein und aus: Unterwasserexperimente mit dem Rasterkraftmikroskop Forscherteams aus Saarbrücken und Münster zeigen, wie sich durch abwechselnde Bestrahlung mit ultraviolettem und sichtbarem Licht Reibung verringern oder verstärken lässt. Synthese von speziellen lichtempfindlichen Molekülen gelungen. Für ihre Forschung haben die Wissenschaftler mit der enorm dünnen Spitze eines Rasterkraftmikroskops, die nur einen Millionstel Millimeter Platz einnimmt, und einer Glasoberfläche experimentiert, um die Anziehungskraft zwischen den Komponenten kurzzeitig zu verändern. Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Neue Materialien (INM), der Universität des Saarlandes und der Universität Münster haben herausgefunden, dass sich sowohl Reibung als auch Adhäsion durch bestimmte Moleküle erzeugen und per Lichtsignal steuern lassen. Ihre Erkenntnisse beruhen auf Unterwasser-Experimenten mit der nur ein Millionstel Millimeter feinen Messspitze eines Rasterkraftmikroskops und einer Glasoberfläche. Bei den Versuchen wurden die Oberflächen von Messspitze und Glas mit sogenannten Wirtsmolekülen ausgestattet – großen Molekülen, die eine Art Hohlraum bilden. Ins Wasser wurden Gastmoleküle gegeben: Diese haben eine längliche Form und tragen an beiden Enden eine molekulare Gruppe, die in den Hohlraum der Wirtsmoleküle passt. „Somit kann ein Gastmolekül zwei gegenüberliegende Wirtsmoleküle aneinander binden. Wenn sehr viele Verbindungen zwischen Wirten und Gästen aufgebaut werden, dann entstehen Adhäsion und Reibung: Messspitze und Glasoberfläche kleben aneinander“, erläutert Professor Gerhard Wenz von der Universität des Saarlandes. Während Wenz mit seinem Team die Gast-WirtVerbindungen erforscht hat, wurden die länglichen Gastmoleküle von den Kollegen aus Münster als spezielle lichtempfindliche Moleküle synthetisiert. „Die Moleküle beinhalten eine reaktive Gruppe, die bei Bestrahlung mit ultraviolettem Licht die Molekülenden abknickt. Diese passen dann nicht mehr in die Wirtsmoleküle, und die Verbindung zwischen den Oberflächen wird gelöst, die Reibung nimmt ab“, erklärt INM-Professor Roland Bennewitz den Trick mit dem Licht. Werden die Moleküle dagegen mit sichtbarem Licht bestrahlt, richten sie sich wieder gerade, und die Gast-WirtVerbindungen entstehen erneut. „Durch abwechselnde Bestrahlung mit ultraviolettem und sichtbarem Licht kann man die Reibung also verringern oder verstärken“, sagt Bennewitz, der die mikroskopischen Prozesse vornahm. Publiziert wurden die Ergebnisse Anfang 2015 im Fachblatt „Chemical Communications“. Die Stiftung förderte das Vorhaben im Rahmen ihrer Initiative zu den funktionalen makroskopischen Systemen mit gut einer halben Million Euro. Impulse 02_2015 51 52 Schwerpunktthema Neue Sichtachsen und Zugänge Ungleiche Zwillinge Sie sind Zwillinge und doch grundverschieden: Denn eines der Kinder hat das Down-Syndrom, eines nicht. Wie beeinflussen die Zwillinge in dieser besonderen Situation einander? Wie reagiert das unmittelbare Umfeld, wie die Gesellschaft darauf? Was bedeutet das für die Familien, deren Alltag? Fragen, mit denen sich in einer weltweit einzigartigen Studie Wissenschaftler von der Universität des Saarlandes beschäftigt haben. Lieben das Springen und Toben auf dem Trampolin wie die meisten anderen Kinder ihres Alters: die elfjährigen Zwillinge Tim und LisaJane im Garten des elterlichen Hauses in Mainz. Impulse 02_2015 53 Text: Mareike Knoke und Christian Jung (Mitarbeit) // Fotos: Daniel Pilar T im und Lisa-Jane sind elf Jahre alt und leben mit ihren Eltern Susanne und Michael in der Nähe von Mainz. Wie andere Geschwister auch lieben sie sich, streiten; sind manchmal genervt voneinander. Und anderen Zwillingen gleich fühlen sie sich ihrem am selben Tag geborenen Geschwister eng verbunden, sind in Gedanken nahe beieinander, erspüren oft intuitiv des Anderen Stimmung. Tim ist zehn Zentimeter größer als seine Schwester und wirkt körperlich viel robuster als die zarte Lisa-Jane. Dennoch war er es, der in den ersten Lebensjahren das Sorgenkind war. Denn Tim hat das Down-Syndrom, Lisa-Jane nicht. Zweieiige Zwillingsgeschwister wie Tim und Lisa-Jane, von denen eines der Kinder eine gravierende Behinderung hat, sind sehr selten: Wissenschaftler sprechen von diskordanten Zwillingen. Hört man deren Eltern zu, wie sie über Familienleben und Alltag mit ihren Kindern erzählen, dann erwachsen aus den individuellen Berichten generelle Fragen: Profitieren eigentlich bei solchen Zwillingen die Geschwister in besonderer Weise voneinander – etwa das behinderte Kind von den kognitiven Fähigkeiten des gesunden Bruders oder der Schwester? Lernt wiederum das nicht behinderte Geschwister leichter soziale und emotionale Kompetenz? Andererseits: Wenn Menschen – Behinderte erleben das immer wieder – unsicher oder gar Distanz haltend den Kindern gegenübertreten: Hat ein solches Verhalten bleibenden Einfluss auch auf den nicht behinderten Zwilling? Und: Verläuft dessen Entwicklung womöglich ebenfalls verzögert? Fragen, die sich auch der Humangenetiker Professor Dr. Wolfram Henn stellte, als er erstmals mit dem Thema in Berührung kam. Wolfram Henn ist Leiter der humangenetischen Beratungsstelle an der Universität des Saarlandes. Seine ruhige Art und die freundlichen, dunklen Augen hinter dem dezenten Brillengestell wecken Vertrauen. Viele Elternpaare wenden sich an ihn; in den meisten Fällen geht es um die Vererbbarkeit von Erkrankungen wie etwa Brustkrebs. Eines Tages eröffnete sich dem Humangenetiker jedoch ein neues Forschungsthema: Zwei schwangere Frauen, die zweieiige Zwillinge gebären würden, gaben in der Beratungsstelle ihre Fruchtwasserproben ab – soweit erst einmal nichts Ungewöhnliches. Allerdings ergab die Untersuchung der Proben für beide Schwangerschaften den Hinweis auf eine Trisomie 21 bei jeweils einer von zwei Proben. Beide Frauen würden also zweieiige Zwillinge zur Welt bringen, von denen eines der Geschwister ein Down-Syndrom hat, das andere nicht. „Die Befunde brachten mich trotz aller Erfahrung schlagartig ins Grübeln“, sagt der Pränataldiagnostiker Henn, der sich seit etwa 15 Jahren mit Familien beschäftigt, die Kinder mit einem DownSyndrom haben. „Uns dämmerte die Erkenntnis: Es sind vermutlich mehr Familien als gedacht, in denen Zwillinge heranwachsen, von denen eines eine Trisomie 21 aufweist.“ Rein statistisch betrachtet müsste deren Zahl in der Tat zunehmen: Zum einen gibt es immer mehr künstliche Befruchtungen, und bei In-vitro-Fertilisationen Tim und seine Mutter Susanne beim Kräftemessen im Wohnzimmer. Durchaus spielerisch ging’s auch zu bei den Tests, die Katarzyna Chwiedacz von der Universität des Saarlandes mit den Zwillingen machte. 54 Tim liebt Puzzeln. Wenngleich er wann immer möglich Zeit mit seiner Schwester Lisa oder den Eltern verbringt, beschäftigt er sich damit gern und ausgiebig auch allein. Ein waches Auge auf ihn hat ab und an ein weiteres Familienmitglied: Siamkater Leo. kommt es häufiger zu zweieiigen Zwillingsschwangerschaften als bei einer natürlichen Zeugung; ebenso bedingt das im Durchschnitt steigende Alter der Gebärenden immer mehr Zwillingsgeburten über die Jahre. Zum anderen steigt mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Trisomie 21 zur Welt zu bringen. Überraschung für die Forscher: Es gibt weit mehr betroffene Familien als erwartet Er sei nach kurzer Zeit wie elektrisiert gewesen, sagt Wolfram Henn heute im Blick zurück. Immer mehr Fragen seien ihm in den Kopf geschossen: Was bedeutet es für eine Familie und die heranwachsenden Zwillinge, wenn eines dieser Kinder eine Trisomie 21 hat und damit entwicklungsverzögert ist? Was heißt das für Geschwister, die zumeist alles gemeinsam und zur gleichen Zeit machen und lernen würden: laufen, sprechen, lesen, schreiben, rechnen, mit Messer und Gabel essen, Wünsche und Bedürfnisse ihrer Umwelt erkennen und vieles mehr? Oder welche Auswirkungen hat es zum Beispiel, wenn die Nachbarskinder auch mit dem nicht behinderten Geschwister weniger spielen als das womöglich sonst der Fall wäre – andererseits: Ist das überhaupt so? Welche Szenarien spielen sich zwischen diesen Zwillingen und in beider Leben ab, die sich bei „gleich gesunden“ Zwillingen so nicht beobachten lassen? Tim beispielsweise ist offensichtlich ganz klar der kleine Entertainer im Zwillingsteam: laut, zappelig, sehr präsent und für seine Mitmenschen nicht immer einfach im Umgang. „Oft gibt es bei Zwillingen eine Rollenteilung: Einer ist der zurückhaltende ‚Innenminister‘, der andere übernimmt als eine Art ‚Sprecher‘ des Paares den Part des extrovertierten ‚Außenministers‘“, meint Wolfram Henn, selbst – „13 Minuten jünger als mein Bruder“ – zweieiiger Zwilling. „Es ist jedoch keineswegs so, dass bei diskordanten DownSyndrom-Zwillingen automatisch der gesunde Zwilling diese Sprecher-Rolle übernimmt und sein Geschwister mehr oder weniger mitzieht.“ Bei Lisa-Jane und Tim kann man das gut beobachten. Kinder mit Trisomie 21 wie Tim entwickeln sich körperlich, mental und kognitiv in der Regel halb so schnell wie ihre Geschwister. Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa 50.000 Menschen mit Down-Syndrom; etwa eines von 700 Kindern kommt mit 47 anstelle der üblichen 46 Chromosomen zur Welt: das Chromosom Nr. 21 liegt dreifach statt doppelt vor. Die körperliche und geistige Entwicklung dieser Kinder ist beeinträchtigt, häufig aber nicht so schwer wie gemeinhin angenommen. Allerdings treten oft schon früh begleitende Komplikationen auf, so auch bei Tim, der wie viele Trisomie-21-Kinder mit einem lebensbedrohlichen Herzfehler zur Welt kam. „Dafür machte er, zum Beispiel beim Sprechen Impulse 02_2015 55 verhältnismäßig früh sehr gute Fortschritte; Kinder mit Down-Syndrom haben da oftmals große Schwierigkeiten“, berichtet seine Mutter, Susanne Pohl-Zucker. „Wir denken, das liegt daran, dass Lisa-Jane bereits als Kleinkind gern und viel geredet hat, gerade auch mit ihm.“ Solche Erzählungen weniger Eltern vor Augen, suchte Wolfram Henn in Pubmed, der Datenbank für medizinische Veröffentlichungen aus aller Welt, nach Studien zu „Diskordanten DownSyndrom-Zwillingen“ (kurz: DDS-Zwillinge). Doch abgesehen von ein paar weiteren Einzelfallbeschreibungen fand er – nichts. Dieses Nichts war gleichsam die Initialzündung für die Idee zu dem ungewöhnlichen Feldforschungsprojekt „DownSyndrom bei diskordanten Zwillingen“: weltweit das erste Vorhaben, das sich mit den psychosozialen und ethischen Aspekten der Entwicklung solcher Geschwisterpaare beschäftigt. Lorem ipsum dolor sit amet, consectetuer adipiscing elit. Aenean commodo ligula eget dolor. Aenean massa. Lorem ipsum dolor sit amet, consectetuer adipiscing elit. Aenean commodo ligula eget Eingebunden letztlich in alle Phasen der Studie: 46 Familien mit Kindern fast aller Altersstufen dolor. Aenean massa. Tim und Lisa-Jane machen am Esstisch ihre Hausaufgaben. Dabei bekommt Tim die Unterstützung von Mama Susanne, derweil mit Papa Michael zwischendurch gern mal getobt wird. Und wann immer Zeit ist, tauchen die Geschwister ein in andere Welten – und spielen Kasperletheater. Als kleine Manege dient der Türrahmen von Tims Zimmer. Die Geschichte, die heute aufgeführt wird, haben sie sich wie jede ihrer Inszenierungen ausgedacht. 56 Wegen fehlender vergleichbarer Forschung, aufgrund der Besonderheiten der Studie und wegen erwarteter Schwierigkeiten – würden überhaupt genug Familien teilnehmen – hielt Henn es für so gut wie unmöglich, staatliche Förderinstitutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft als Mittelgeber zu gewinnen. „Es ist ein exploratives Projekt; es gab beim Start keine Literatur, auf die wir uns berufen konnten, keine Hypothese, die sich auf vorliegende Erkenntnisse und Ergebnisse gestützt verfolgen ließ.“ Die VolkswagenStiftung erkannte das Potenzial der Ideenskizze und stellte schließlich 160.000 Euro bereit für die außergewöhnliche Studie, die Wolfram Henn 2009 gemeinsam mit der Entwicklungspsychologin Professor Gisa Aschersleben startete. Ende 2014 legte das Team Ergebnisse vor. Die Tatsache, dass es sich um Zwillinge handelte und nicht um gewöhnliche Geschwister mit mehrjährigem Altersunterschied, barg für Henn und Aschersleben jede Menge spannendes For- schungspotenzial. Sie stellten ein Team zusammen aus drei Medizinern, drei Psychologen und noch einmal ebenso vielen studentischen Mitarbeitern. Es gelang ihnen zunächst, rund sechzig Familien für das Projekt zu begeistern, von denen zu guter Letzt insgesamt 46 Familien in Deutschland und Österreich an sämtlichen Phasen der mehrstufigen Studie teilnahmen. Kinder fast aller Altersgruppen sind dabei, angefangen bei Vierjährigen bis zu jungen Erwachsenen im Alter von 18 Jahren. Nicht zu jung, als dass sie sich nicht schon artikulieren konnten, und zudem alt genug, um Empathie zu zeigen; noch jung genug andererseits, um bei ihren Eltern zu leben. Zugleich suchten und fanden die Forscher die notwendige Kontrollgruppe. Die Familien füllten in drei Erhebungsphasen mehrere Testbogen aus, unter anderem mit Fragen zu persönlichen Lebensumständen, Schwangerschaftsverlauf, Partnerbeziehung, Alltagsbelastungen, zur gesellschaftlichen Integration und gesundheitlichen wie sozialen Entwicklung der Zwillinge. Dann folgte ein persönlicher Besuch der Wissenschaftler bei ihnen. Oft einen ganzen Tag lang wurden die Familienmitglieder unabhängig voneinander befragt. Außerdem machten die Forscher Videoaufnahmen und verschiedene Tests mit den Kindern. „Dabei wollten wir vor allem sehen, wie die Zwillinge miteinander umgehen“, sagt Entwicklungspsychologin Gisa Aschersleben. Die Wissenschaftler erhofften sich detaillierte Aufschlüsse darüber, wie die Kinder sich entwickeln und wie sich das familiäre Zusammenleben darstellt – zumal es ja da und dort auch noch weitere Geschwister gibt. Bis in die Einzelheiten interessierte sie etwa, auf wen und worauf im Tagesrhythmus Zeit entfällt; desgleichen, wie das gesellschaftliche Umfeld auf das ungleiche Zwillingspaar reagiert. Einige der zuvor skizzierten Fragen kann das Team nun beantworten, etwa die nach der kognitiven Entwicklung jenes Zwillingskindes, das nicht vom Down-Syndrom betroffen ist: Im Vergleich mit den „Kontrollgruppenfamilien“, in denen also Zwillinge ohne Down-Syndrom leben, ließen sich keine nennenswerten Unterschiede in der kognitiven Entwicklung feststellen. Die Eltern der DDS-Zwillinge erklärten zudem mehrheitlich, das Kind ohne Down-Syndrom habe vom Zusammenleben mit einem Geschwister, das sich langsamer entwickle und eben „etwas anders“ sei als andere Kinder, profitiert und starke soziale Kompetenzen aufgebaut. Konfliktfeld Schule: Der Besuch einer integrativen Einrichtung muss oft hart erkämpft werden Die Kinder mit Down-Syndrom wiederum schauten sich vieles im Alltag von ihrem Zwilling ab, ahmten ihn nach, orientierten sich an ihm überaus stark. Das wurde immer wieder mit Nachdruck betont, so auch vom Ehepaar Pohl-Zucker, den Eltern von Tim und Lisa-Jane. Auch zeigten die Gespräche mit den Familien ganz deutlich: Fing das Kind ohne Down-Syndrom früh mit dem Sprechen an, wirkte sich dies meist positiv auf das sprachliche Artikulationsvermögen des Zwillings mit Down-Syndrom aus. Mehrheitlich berichteten die Familien mit DDSZwillingen zudem, sich aufgrund ihrer besonderen Situation nicht sozial isoliert zu fühlen. Weitaus problematischer hingegen waren für etliche von ihnen die Auseinandersetzungen mit Institutionen. Einige Eltern schulpflichtiger Kinder beklagten zum Beispiel, sehr hart kämpfen zu müssen, um geeignete integrative Schulen für ihre Kinder zu finden: Sie mussten auf die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen pochen, damit ihre Zwillinge zumindest die Grundschulzeit an derselben Schule verbringen durften. Die beiden Leiter des Forschungsprojekts: Gisa Aschersleben und Wolfram Henn von der Universität des Saarlandes Auch Katharina und Frank Gräf aus der Nähe von Saalfeld in Thüringen haben entsprechende Erfahrungen gemacht. Sie sind Eltern der dreizehnjährigen Zwillingstöchter Victoria und Elisabeth. Elisabeth, die Tochter mit Down-Syndrom, besucht heute eine Regelschule, an der sie lerndifferenziert unterrichtet wird. Um eine für ihr behindertes Kind adäquate Grundschulzeit mussten Katharina und Frank Gräf hart kämpfen. Der Ärger darüber, die Wut, die Bitterkeit auch, die hochkommen bei dem Thema, sind spürbar. Impulse 02_2015 57 Inzwischen wüssten sie aus Kontakten zu anderen Eltern, die sie gerade auch über das Projekt kennengelernt hätten, dass die Situation diesbezüglich in Deutschland sehr unterschiedlich sei. Jenseits größerer Städte wie Erfurt oder Jena hätten sie ihr Bundesland hinsichtlich notwendiger und angemessener Möglichkeiten als sehr rückständig erfahren: Die (integrative) Beschulung behinderter Kinder sei vielerorts katastrophal oder kaum gegeben, sagt Frank Gräf. Etwa 75 Prozent der so Heranwachsenden würden einfach in Förderschulen weggesperrt. Victoria und Elisabeth (oben links) Gräf aus der Nähe von Saalfeld in Thüringen beim gemeinsamen wöchentlichen Turntraining. Der elfjährige Tim, den wir eingangs bereits kennengelernt haben, besucht mittlerweile eine integrierte Gesamtschule, braucht aber nach wie vor sehr viel Betreuung und Beaufsichtigung. Das fordert die ganze Familie, „weil wir oft nicht wis- sen, was er als Nächstes anstellt“, sagt Susanne Pohl-Zucker lächelnd. Sie fügt hinzu: „Lisa-Jane hat inzwischen gelernt, sich gegen ihren dominanten Bruder abzugrenzen.“ Ansonsten achte ihre Tochter aber immer sehr darauf, Tim zu integrieren. Die Fünftklässlerin, die ein Gymnasium besucht, sei sehr gut darin, Spiele oder Bastelaufgaben so anzupassen, dass auch Tim daran teilhaben könne. Auch im Umgang mit ihren Freundinnen zeige sie ein ähnliches Verhalten: Sie versuche oft, allen gerecht zu werden. „Uns ist aber wichtig, und das sagen wir ihr auch, dass sie dies nicht auf Kosten ihrer eigenen Bedürfnisse und Meinungen tun sollte“, sagt Vater Michael Zucker. Die Studie zeigt: Es lässt sich wenig verallgemeinern – einige Probleme haben jedoch fast alle Familien In der letzten Erhebungsphase besuchte Doktorandin Katarzyna Chwiedacz, die auch zuvor schon die skizzierten Tests und Gespräche mit den Kindern durchgeführt hatte, die Familien zu Hause und interviewte sie ausführlich. Es wurden offene, individuell auf jede Familie zugeschnittene Fragen gestellt. „Eltern wie Kinder sollten frei berichten: etwa von ihrem Alltag, ihrem Verhältnis zu Familienmitgliedern und Freunden und über positive wie negative Erfahrungen“, erläutert die junge Wissenschaftlerin. Dabei habe sich letztlich herausgestellt, dass es schwierig sei, allgemeingültige Aussagen zur Entwicklung der DDS-Zwillinge zu treffen, fasst die Psychologin zusammen. „Nur eines steht fest: dass es große Unterschiede gibt zwischen den Familien!“ Die individuelle Ausprägung des Down-Syndroms, das Vorhandensein weiterer Geschwister und sogar deren Geschlecht, der Wohnort – all das und anderes mehr beeinflusse Entwicklung und Verhalten der Zwillinge und somit auch das Alltagsleben. Jede Familie mit DDS-Zwillingen erfährt ihre Lebenssituation anders. Elisabeth, die Tochter mit Down-Syndrom der Thüringer Familie Gräf, benötigt zum Beispiel deutlich weniger Begleitung als Tim Zucker. Sie fährt nach der Schule allein mit dem Bus nach Hause und geht dann 58 mit dem Hund spazieren. Das entspannt den Alltag, denn beide Eltern arbeiten Vollzeit als Gymnasiallehrer. „Elisabeth ist sehr selbstständig, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen“, sagt Frank Gräf. Victoria sei nach wie vor ein Vorbild für Elisabeth, vereint gehen sie zum Geräteturnen, zum Klavierunterricht, spielen mit gemeinsamen Freunden. Dass die beiden Mädchen nach der miteinander verbrachten Grundschulzeit nun auf verschiedene Schulen gewechselt sind, habe Elisabeths Entwicklung jedoch sehr gut getan: „Dort hat sie ihren eigenen Freundeskreis aufgebaut“, freuen sich die Eltern. Doch Elisabeth profitiert nicht nur von ihrem Vorbild Victoria. Umgekehrt sei sie in anderen Dingen eine Stütze für die nicht behinderte Schwester, erzählen die Eltern Gräf. So sind beide Mädchen in unbekannten Situationen eher vorsichtig und zurückhaltend, Victoria könne sich dann fast immer auf das gute Gespür ihrer behinderten Schwester für fremde Menschen verlassen. „Elisabeth spürt genau, wie ihr jemand gegenübertritt und gesonnen ist – und ignoriert die richtigen Leute“, beschreibt es der Vater. Katarzyna Chwiedacz hat viele Stunden mit den Projektfamilien verbracht: „Deren große Bereitschaft, mitzuwirken und offen alle Fragen zu beantworten, hat uns positiv überrascht.“ Für ihre Hausbesuche hat die junge Forscherin so viele Kilometer kreuz und quer durch Deutschland zurückgelegt, dass sie damit den Erdball hätte halb umrun- den können, meint sie. Doch die Fahrten hätten sich mehr als gelohnt: „Die Begegnungen mit den Familien, ihre Offenheit, ihre Art, die Herausforderungen anzunehmen, die das Leben und der Alltag mit den Zwillingen bereithalten: Das waren intensive Erfahrungen, die ich nicht missen möchte.“ Jeden Morgen bürstet Victoria ihrer Zwillingsschwester Elisabeth vor der Schule die Haare und flechtet sie zu Zöpfen. Bevor’s dann losgeht, bekommt Vater Frank von Elisabeth noch Effekt jenseits der wissenschaftlichen Begleitung: Die Familien kennen sich und sind vernetzt Inzwischen sind über hundert „DDS-Zwillingsfamilien“ aus Deutschland und Österreich in der Projektdatenbank erfasst, Tendenz: steigend. Wolfram Henn und Gisa Aschersleben machen seit Beginn immer wieder über Fachzeitschriften und Meldungen, die sie versuchen in den Medien zu platzieren, ihr Thema, das inzwischen ein Anliegen ist, publik – eben so, wie sie einst gezielt nach Elternpaaren für die Studie gesucht hatten. Diese Familien und weitere Interessierte können über die Datenbank miteinander in Verbindung treten. Zudem haben die Saarbrücker Forscher die Website www.downsyndrom-zwillinge.de eingerichtet. Entsprechend rege ist mittlerweile der Austausch: über Schwangerschaftsverläufe, die Herausforderungen des Alltags, wie sich die Kinder entwickeln; vieles mehr. schnell einen Kuss; Mutter Katharina ist schon versorgt. Nachmittags steht dann gemeinsames Klavierspielen auf dem Programm. Beide Kernziele des Projekts wurden nach Meinung der beteiligten Wissenschaftler klar erreicht: „Jenseits der Beantwortung entwicklungspsychologischer Fragen hat das Unterfangen einen starImpulse 02_2015 59 ken anwendungsbezogenen Nutzen“, betonen sie immer wieder. „Für die Familien war von Anfang an deutlich sicht- und erlebbar, dass wir nicht nur über DDS-Zwillinge forschen wollen; sie haben gespürt, dass es uns auch darum geht, sie etwa bei der Vernetzung zu unterstützen“, bringt es Gisa Aschersleben auf den Punkt. „So haben sie es leichter, sich gegenseitig zu helfen, ihre Situation, falls nötig, zu verbessern!“ Das Highlight für Forscher wie Familien sei das große Wochenendtreffen für alle an der Studie Beteiligten gen Abschluss des Vorhabens gewesen. „Die Resonanz darauf war überwältigend. Viele der Eltern sagten, dass sie durch den persönlichen Austausch mit den anderen zum ersten Mal das Gefühl bekommen hätten: Wir sind nicht allein, es gibt noch andere Familien wie uns“, sagt Henn. „Ohrenkuss: da rein, da raus“ – das etwas andere Magazin Die Idee zu „Ohrenkuss“ kam Gründerin Katja de Bragança während eines „langweiligen Forschungsvortrages“, sagt sie. Plötzlich sei sie wieder hellwach gewesen, fährt sie in ihren Erinnerungen kramend lachend fort, „als vorn im Saal jemand berichtet hat, wie ein Mann mit DownSyndrom die Geschichte von Robin Hood erzählt“. Jener Wissenschaftler habe zeigen wollen, dass die Betroffenen durchaus lesen und schreiben können. Von diesem Gedanken war de Bragança so ergriffen, dass sie beschloss, eine eigene Zeitschrift zu gründen. Mithilfe der Universität Bonn und der VolkswagenStiftung, die das Projekt von Beginn an als außergewöhnliches, für sie eigentlich ganz und gar untypisches förderte, wurde die Idee 1998 Wirklichkeit. Heute, 17 Jahre später, hat sich die Zeitschrift längst am Markt etabliert und weder etwas vom Enthusiasmus der Anfangszeit verloren noch bietet sie Stillstand. Über alles Mögliche ist in den Jahr für Jahr regelmäßig erscheinenden zwei Ausgaben bereits berichtet worden – von gesellschaftspolitisch wichtigen Themen wie der Frage „Warum Buchenwald?“ über die Lust an Luxusgegenständen bis hin zu Reisen in ferne Länder wie die Mongolei. Inzwischen liefern sogar vierzig Außenkorrespondenten regelmäßig Texte zu: von der Schweiz bis in die USA. Einmal alle zwei Wochen trifft sich gut ein Dutzend Redakteure, um die Ereignisse der vergangenen Tage zu besprechen und neue, mögliche Themen für Beiträge zu diskutieren. In den 14 Tagen zwischen den Sitzungen wird recherchiert, getextet, man geht auch gemeinsam auf Exkursion. Die Autoren tippen, schreiben von Hand oder diktieren Assistenzkräften ihre Zeilen. Rechtschreibung und Grammatik sind dabei in diesem Magazin egal; die Texte werden so veröffentlicht, wie sie geschrieben sind – ohne Korrekturen oder Verbesserungen. Schließlich werden die Artikel im „Ohrenkuss“ nur von Autoren mit Down-Syndrom verfasst, und es gehört mit zum Konzept, dass das sichtbar bleibt. Dem Leser begegnen daher immer wieder „krumme“ Sätze oder ungewöhnliche Wortschöpfungen, doch gerade das schafft auch den ganz eigenen Zauber, den die Sprache der Autorinnen und Autoren Katja de Bragança mit dem langjährigen Redaktionsmitglied Achim Priester von der Zeitschrift „Ohrenkuss" 60 Victoria (links) und Elisabeth, die Tochter mit Down-Syndrom, bei einem Spaziergang mit Hündin Leni. Die ganze Familie ist stolz, dass Elisabeth sehr eigenständig ihren Alltag zu bewältigen weiß – auch wenn die Mädels viel gemeinsam unternehmen. Elisabeth habe sich an ihrer neuen Schule sogar einen eigenen Freundeskreis aufgebaut, freuen sich die Eltern. Nach wie vor sei es aber so, dass die Mädchen durch viel Nähe voneinander profitierten. Weitere Projekte auf jeder Seite entfaltet. Egal welches Thema: Immer wieder berühren diese oft so ungewöhnliche Sprache und die Sicht auf die Dinge; man staunt häufig ob der Formulierungen – ob es um Liebe geht, Glück oder Krieg. Oder zum Beispiel um Musik. „Heißer Mann mit viele Ketten. Und ist Rapper.“ So würde wohl sonst niemand schreiben über das Machogehabe eines US-Popstars: „Sehr, sehr groß sein und cool sein. Mann sagt yo-yo, ich liebe Frauen.“ Und später: „Mann zu sein ist nicht einfach. Denn sie wollen immer den Boss oder den Chef zeigen und über sinnlose Sachen zu diskutieren und müssen immer Recht haben aber das wollen sie ja nicht zugeben und geraden öfters außer Kontrolle über sich selber.“ Es ist fürwahr ein etwas anderes Magazin, das alle Menschen gleichermaßen bewegt, ob mit oder ohne Handicap. Dabei klingt das Thema DownSyndrom zwar auf natürliche, manchmal nachdenkliche, oft auch humorvolle Weise immer mit, doch die Redakteure und freien Schreiber fokussieren nicht darauf. „Stattdessen zeigen die Ohrenkuss-Beiträge, dass Menschen mit Down-Syndrom ganz normale Menschen sind“, sagt Projektleiterin de Bragança. „Behindert war gestern!“ Zu dem unkonventionellen Stil passt auch der Name des Magazins. Während einer der ersten Redaktionssitzungen küsste einer der Teilnehmer Katja de Bragança unvermittelt aufs Ohr. „Und von da an stand der Titel eigentlich fest“, erinnert sich die Humangenetikerin. Motto der Redaktion: „Man hört und sieht ganz vieles – das meiste davon geht zum einen Ohr hinein und zum anderen sofort wieder hinaus. Aber manches ist wichtig und bleibt im Kopf: Das ist dann ein Ohrenkuss.“ Von diesen Ohrenküssen finden sich in den bislang über dreißig Ausgaben des Magazins unzählige. Für viele Berichte, auch den über den US-Rapper, wurde Ohrenkuss inzwischen ausgezeichnet: Im Jahr 2010 etwa mit dem Designpreis der Bundesrepublik Deutschland, zuvor schon unter anderem mit dem Jugendkulturpreis NRW, dem Deutschen PR-Preis oder dem Förderpreis des Deutschen Bundestags. Und Ohrenkuss-Chefredakteurin Katja de Bragança erhielt 2010 für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz. Lassen wir sie zum Schluss noch einmal zu Wort kommen: „Das Down-Syndrom ist schon hart“, sagt sie. „Aber das gemeinsame Reden bei den Treffen und das Schreiben machen Mut und machen stark.“ Die Arbeit für das Magazin bereitet Freude, sind sich alle Redakteure einig. „Ich bin da, weil ich schreiben kann“, wirft einer in die Runde. „Das bedeutet für mich Glück, und Glück bedeutet für mich Hoffnung und Vertrauen. Ich war schon sehr glücklich von ganzem Herzen. Wenn ich lache, dann bin ich glücklich. Ich bin hier sehr mit meiner Glücklichkeit zufrieden.“ Christian Jung Impulse 02_2015 61 62 Schwerpunktthema Neue Sichtachsen und Zugänge Heilen mit Stammzellen? Den Weg, den er geht, ist bisher wohl niemand gegangen: FreigeistFellow Dr. Volker Busskamp kombiniert in einem neuen Ansatz Bioingenieur- und Neurowissenschaften sowie Stammzellforschung. Sein Ziel ist es, funktionsfähige menschliche Nervenschaltkreise künstlich herzustellen: zum einen, um mehr über bestimmte Eigenschaften unseres Nervengewebes zu erfahren; zum anderen in der Hoffnung, dass die Erkenntnisse therapeutisches Potenzial etwa für neurodegenerative Erkrankungen haben. Dr. Volker Busskamp entwickelt eine Technik, mit der sich Stammzellen schnell und passgenau zu Nervenzellen ausdifferenzieren lassen. Das Ziel: neue Behandlungsoptionen für verschiedene Erkrankungen. Der Bildschirm zeigt den Ausschnitt einer Netzhaut; die Erforschung des Sehverlusts ist eines seiner Themen. Impulse 02_2015 63 Text: Christian Jung // Fotos: Sven Döring A usgestattet mit einem FreigeistFellowship der VolkswagenStiftung, arbeitet Dr. Volker Busskamp seit Herbst 2014 im DFGForschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der Technischen Universität Dresden an der Entwicklung einer Technik, mit der sich Stammzellen schnell und zielgerichtet zu Nervenzellen ausdifferenzieren lassen sollen. Nun sind Stammzellen nicht gleich Stammzellen: Man unterscheidet zunächst grundsätzlich nach Art des Zelltyps und deren Potenzial. So haben einige Stammzellen die Fähigkeit, sich in jegliches Gewebe zu entwickeln (embryonale Stammzellen), andere können nur noch in bestimmte festgelegte Gewebetypen ausdifferenzieren (adulte Stammzellen). Darüber hinaus gibt es die sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) sowie multipotente Stammzellen. Als pluripotent werden Zellen bezeichnet, die schon einmal ausdifferenziert waren, sich nach ihrer „Rückversetzung“ in ein früheres Stadium aber wieder in sämtliche Körpergewebe umwandeln können; multipotente vermögen das zumindest in einige Zelltypen. Die künstliche Reprogrammierung ausdifferenzierter Zellen des Körpers, die wie beschrieben zu den iPS-Zellen führt, lässt sich inzwischen durch verschiedene Techniken anregen. Im Jahr 2012 wurde für die Entdeckung der iPSZellen der Nobelpreis für Medizin vergeben. Induzierte pluripotente Stammzellen, deren Verwendung weniger ethische Probleme und gesetzliche Vorschriften mit sich bringt als die Arbeit mit embryonalen Stammzellen, bergen unzählige Möglichkeiten für die medizinische Forschung. Sie sind wandlungsfähige Alleskönner, die sich prinzipiell zu jeder beliebigen spezialisierten Zelle weiterentwickeln können beziehungsweise züchten lassen: zum Beispiel zu Haut-, Herzmuskeloder Leberzellen, weißen Blutkörperchen – oder eben Nervenzellen. Wenngleich iPS-Zellen natürlichen Stammzellen in vielen Eigenschaften stark ähneln, ist ungeklärt, ob sie in allen Merkmalen mit natürlichen Stammzellen übereinstimmen. Einige gerade in jüngster Zeit vorgelegte Studien sprechen eher dagegen. iPS-Zellen kommt vermutlich auch (hohes) therapeutisches Potenzial zu. Sie gelten aus medizinischer Sicht als Ausgangspunkt, um erkrankte oder abgestorbene Zellen des Körpers zu ersetzen. Dies ist umso mehr von Bedeutung, als sich im Prinzip für jeden Menschen individuell zugeschnittene, also passende iPS-Zellen erzeugen lassen, die im Falle einer Transplantation vom Körper nicht abgestoßen werden. Freigeist-Fellow Volker Busskamp plant nun, mit von ihm zunächst aus Stammzellen generierten künstlichen Nervenzellen in einem weiteren Schritt funktionale menschliche Nervenschaltkreise herzustellen, um so Rückschlüsse auf die Eigenschaften menschlichen Nervengewebes ziehen zu können sowie neurodegenerative Erkrankungen zu modellieren. Sein Vorgehen ist dabei überraschend anders. Inwiefern und was er genau vorhat und damit perspektivisch erreichen will: Darüber sprach er mit Christian Jung. Die Weitergabe seines Wissens ist ihm wichtig. Regelmäßig lädt Volker Busskamp die am Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) in einer Vielzahl von Arbeitsgruppen beschäftigten Nachwuchswissenschaftler zu Seminaren ein. 64 Volker Busskamp studierte zunächst Biotechnologie an der Technischen Universität Braunschweig. Im Anschluss erwarb er an der Universität Genf ein Postgraduiertendiplom in Biologie und promovierte 2010 in Neurobiologie am Friedrich Miescher Institut für Biomedizinische Forschung der Universität Basel. 2011 folgte der Sprung in die USA an die Harvard Medical School in Boston. Seit Ende 2014 leitet er die Forschungsgruppe zur „Entwicklung synthetischer menschlicher Nervenschaltkreise“ am Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden. Der erst 34-Jährige hat bereits zahlreiche Fellowships und Auszeichnungen erhalten. Er ist einer der elf „Freigeist-FellowPioniere“, die 2014 – gefördert mit insgesamt 8,2 Millionen Euro – als Gewinner der ersten Wettbewerbsrunde der neuen Förderinitiative der VolkswagenStiftung mit ihren Projekten starten konnten. Das fachoffene Freigeist-Angebot richtet sich an exzellente Postdoktorandinnen und Postdoktoranden, die risikobehaftete, unkonventionelle Forschung an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen betreiben möchten. Es soll dem wissenschaftlichen Nachwuchs neue Wege im Wissenschaftssystem eröffnen und Karriereperspektiven bieten. Davon profitieren inzwischen weitere acht Fellows, die im Frühjahr 2015 erfolgreich aus der zweiten Wettbewerbsrunde hervorgingen und im Laufe des Jahres 2015 mit ihren Projekten beginnen. Herr Busskamp, Sie wollen eine neue Technik entwickeln, um eines der komplexesten biologischen Systeme besser erforschen zu können – das Gehirn. Können Sie kurz detaillieren, was Sie konkret vorhaben und inwiefern Stammzellen dabei eine Rolle spielen? In der Tat ist das menschliche Gehirn äußerst komplex. Man schätzt, dass es 100 Milliarden Nervenzellen gibt, und eine einzelne Nervenzelle kann bis zu 30.000 Verknüpfungen mit anderen Zellen eingehen. Nun ist Nervenzelle nicht gleich Nervenzelle; es gibt nach derzeitigem Wissensstand schätzungsweise rund 320 verschiedene Zellklassen mit einen unbekannten Zahl an Subtypen. Um dieser Komplexität entgegenzutreten, konzentrieren sich viele Forscher in ihrer Arbeit traditionell auf spezielle Hirnareale. Mein Ansatz zielt nun nicht auf eine Fragmentierung des menschlichen Gehirns, sondern ich möchte einzelne Nervenschaltkreise kreieren – also letztlich ebenfalls Teile des Gehirns, aber ich sehe mehr den übergreifenden Vernetzungsaspekt als die Anatomie. Entscheidend ist, dass es mir zu Beginn gelingt, aus bestimmten Stammzellen Nervenzellen zu züchten, die dann später gezielt verknüpft werden können. Ich verwende adulte menschliche, genauer: induzierte pluripotente Stammzellen – wir nennen sie kurz iPS-Zellen (nähere Erklärung siehe Einleitungstext). Sie sind ethisch unbedenklich und haben das Potenzial, in Nervenzellen zu differenzieren; sie sind einfach zu handhaben und zu modifizieren. Eine unserer Zwischenetappen ist es, unmittelbar in Stammzellen genetische Faktoren so kontrollieren zu können, dass eben jene Stammzellen sich verlässlich in verschiedene Typen von Nervenzellen programmieren lassen. Sobald ich eine Palette unterschiedlicher Nervenzellen stabil vorliegen habe, wird die nächste Herausforderung sein, einzelne davon gezielt zu verbinden. Dazu werden wir auf Objektträgern bioaktive Polymere in Form von Schaltkreisen aufbringen und anschließend die Zellen hinzugeben. Die Nervenfortsätze können nur an den PolymeImpulse 02_2015 65 Blick in die Tierhaltung im Keller des Forschungszentrums für Regenerative Therapien in Dresden (CRTD). Hier tummeln sich, bestens betreut von Anja Wagner (links) und Beate Gruhl, Krallenfrösche, Zebrafische und ein großer Bestand an Axolotln, einer in Mexiko in unterirdischen Höhlen lebenden Salamanderart. 66 ren haften und entlangwachsen. Auf diese Weise sollte es uns gelingen, verschiedene Zellen gezielt zusammenzuführen. An definierten Knotenpunkten werden wir versuchen, eine kontrollierte Synaptogenese zu induzieren, das heißt: zelluläre Verbindungen zu schaffen. Auf diese Weise erhalten wir funktionale Nervenschaltkreise aus menschlichen Zellen. Zusammengefasst: Bei Ihrem Projekt geht es darum, synthetische Nervenschaltkreise zu kreieren. So wie Sie das erläutern, hört sich das ebenso logisch nachvollziehbar wie zugleich schwierig in der Umsetzung an. Beherrschen Sie denn bereits das nötige Handwerk dafür – und welches womöglich therapeutische Ziel wollen Sie genau erreichen? Um mit dem Ende Ihrer Frage zu beginnen: Letztlich geht es darum, auf der Basis meines Ansatzes herauszufinden, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet. Spannend wird es auch, wenn es uns – deshalb verwenden wir Zellen vom Menschen – gelingt, krankheitsrelevante Mutationen einzufügen, um biomedizinische Anwendungen für bestimmte neurodegenerative Erkrankungen zu erforschen. Denken Sie allein einmal an das mögliche therapeutische Potenzial bei Parkinson, hier weiß man ja inzwischen, dass zumindest bei einem nicht unerheblichen Anteil der Betroffenen ein oder mehrere Gendefekte der Krankheit zugrunde liegen können. Was die Technik und die Handhabbarkeit angeht: Grundzüge der von meiner Arbeitsgruppe jetzt eingesetzten Technik, Stammzellen besonders schnell in Nervenzellen umzuwandeln, habe ich in den USA mit entwickelt. Beim Menschen können wir die Informationsverarbeitung im Gehirn bisher kaum unmittelbar überprüfen – aus ethischen Gründen, aber auch, da immer gleich unzählige Nervenzellen beteiligt sind und komplex zusammenwirken. Mein Verfahren ermöglicht es nun, zwei oder künftig einmal auch mehrere Neuronen gezielt und reproduzierbar zusammenzuschalten und damit in der Petrischale zu überprüfen, wie menschliche Nervenzellen Informationen verarbeiten: wie letztlich also unser Gehirn in dieser Hinsicht funktioniert. Alles in allem ist es also Ihr Ziel, Zusammenhänge zu erkennen, die bestehen bei Prozessen wie etwa der Zellentwicklung, der Zellmorphologie, der Kommunikation zwischen Zellen mittels Botenstoffen und anderen Molekülen – bis hin zu der Frage, was sich daraus für die eine oder andere Erkrankung ableiten lässt … Ja. Denken Sie allein einmal daran, dass sich bislang – etwa bei vielen Hirnerkrankungen – zahllose wechselseitige Abhängigkeiten auf biomolekularer oder anderen Ebenen mangels geeigneter Techniken und Methoden und wegen der enormen Menge beteiligter Nervenzellen längst noch nicht lückenlos erforschen oder sicher beschreiben lassen. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: Bei einer neurodegenerativen Erkrankung wie Alzheimer oder auch der Netzhautdegeneration sterben bestimmte Zellen ab. Doch es nützt nichts, nur diese Zellen zu betrachten, denn man weiß mittlerweile, dass sich eine einzelne Nervenzelle nicht als geschlossene Einheit begreifen lässt. Jede Zelle bekommt Inputsignale, verarbeitet diese und sendet sie weiter zu unter Umständen gleich mehreren postsynaptisch gelegenen Zellen. Daher wäre es erstrebenswert, überschaubare multizelluläre menschliche Nervenschaltkreise als Modell zu haben. Zum einen, um von der Betrachtungsebene der einzelnen Nervenzelle wegzukommen; zum anderen, um neuen Therapieansätzen losgelöst von Tiermodellen nachgehen zu können. Eben in diese Lücke stößt mein Ansatz. Sie sagen, Sie wollen sich nicht auf ein bestimmtes Hirnareal beschränken. Aber wäre das nicht doch der einfachere Weg – gerade im Hinblick darauf, dann schneller ein wissenschaftlich belastbares Modell an der Hand zu haben? Eine solche Fokussierung erscheint in der Tat zunächst einmal plausibel, jedoch können wir zurzeit nur eine sehr geringe Anzahl von Nervenzellen herstellen. Bisher haben wir zu wenige Zell- typen, die ein Hirnareal sinnvoll repräsentieren könnten. Daher ist der erste Schritt, so viele Bauteile wie möglich zu erzeugen – das heißt, möglichst viele verschiedene Nervenzellen für unsere Verknüpfungsversuche zu bekommen. Sie sind von Haus aus Biotechnologe; das was Sie tun, könnte man als neurobiologisch inspirierte Bioingenieurwissenschaften bezeichnen … – ein neues Forschungsfeld? Man könnte meine Arbeit in der Tat so deklarieren. In jedem Fall eröffnet eine solche Zusammenführung etablierter Disziplinen neue Forschungsräume, aber ob sich da am Ende ein neues Forschungsfeld auftut, wird die Zukunft zeigen. Den Weg, den ich gehe, ist noch kaum jemand gegangen: Bioingenieurwissenschaften, Stammzellforschung und Neurowissenschaften zu kombinieren, um mit künstlich hergestellten, funktionsfähigen menschlichen Nervenschaltkreisen eine neue Methode zu etablieren, die dann therapeutisches Potenzial entfalten soll. Für die fernere Zukunft denken Sie sogar an „biologische Computer“. Was meinen Sie damit? Zunächst einmal ist mir wirklich daran gelegen, dass die neue Methode funktioniert und dazu beiträgt, neuronale Krankheiten wie Alzheimer oder Netzhautdegeneration besser zu erforschen und zu verstehen. Davon ab: Wir gehen ja generell davon aus, dass Nervengewebe eine Art biologischen Computer darstellt. Jedoch ist es in den vergangenen hundert Jahren trotz intensiver Forschung nicht gelungen, den neuronalen Code Ein Transilluminator macht deutlich, was zuvor geschah: Zunächst wurde die Erbsubstanz DNA in einem Gel aufgereinigt. Dann werden bestimmte, mithilfe des Illuminators identifizierte DNA-Fragmente aus dem Gel ausgeschnitten, um diese anschließend mithilfe von Vektoren klonieren zu können. Impulse 02_2015 67 zu knacken, also jene Sprache in Form von Aktionspotenzialen zu entschlüsseln, mit der Nervenzellen kommunizieren. Die definierten und isolierten synthetischen Schaltkreise unter konstanten Bedingungen, die ich schaffen will, könnten dazu beitragen, dieses Rätsel zu lösen. Im Umkehrschluss kann man die synthetischen Schaltkreise auch als biologische Computer verstehen, die bestimmte Informationen verarbeiten können. Die ersten technischen Computer konnten am Anfang auch nur eins plus eins rechnen. Mal sehen, was wir in Zukunft durch Nervenzellen berechnen lassen können … Sie haben für das Freigeist-Fellowship die Harvard Medical School in Boston hinter sich gelassen. Nun ist Dresden Ihr neuer Wirkungsort. Warum haben Sie gerade das Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) ausgewählt, es gibt doch sicher einige mindestens ebenso renommierte Einrichtungen in Deutschland, an die man bei Ihrem Forschungsthema sofort denkt … Vermutlich käme im ersten Moment niemand auf die Idee, die Gesamtsituation in Harvard und Dresden zu vergleichen. Betrachtet man allerdings den biomedizinischen Campus der Technischen Univer- Young Investigator Award für Volker Busskamp Im November 2014 erhielt Dr. Volker Busskamp den Young Investigator Award der „European Society of Gene & Cell Therapy“. Ausgezeichnet wurde seine Forschung zum Erhalt der Lichtempfindlichkeit von Fotorezeptoren in der Netzhaut. „Die Ergebnisse ermöglichen es nun, bestimmte Formen der Blindheit weitaus besser zu erforschen und sich einer Therapie zu nähern“, sagt er. Säugetiere besitzen in der Netzhaut Lichtsinneszellen, die für das Sehen verantwortlich sind. Dabei unterscheidet man Stäbchen-Fotorezeptoren, die das Sehen in der Dämmerung und bei Nacht gewährleisten, und Zapfen-Fotorezeptoren für das Tageslicht- und Farbsehen. Bei vielen Augenkrankheiten, die wie beispielsweise die Retinitis Pigmentosa erblich sind und zur Blindheit führen, sterben die Stäbchen-Rezeptoren ab. Im Auszeichnung weiteren Verlauf verlieren die Zapfen-Rezeptoren aus unbekannten Gründen ihre lichtsensitiven „Antennen“, obwohl diese eigentlich nicht von den jeweiligen Mutationen betroffen sind. In den vergangenen Jahren haben die therapeutischen Möglichkeiten dazu geführt, diese Zapfen zu reaktivieren – was jedoch eine sehr hohe Lichtintensität erfordert. Um nun aber das Sehen bei Raumlicht sicherzustellen, wäre der Erhalt oder die Regeneration der natürlichen „Antennen“ der Zapfen auch bei anderen Zapfenerkrankungen wie zum Beispiel der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) vonnöten. Volker Busskamp entdeckte mit seinem Team bei Mäusen zwei kleine RNA-Sequenzen (sogenannte microRNAs), denen eine Schlüsselrolle zukommt beim Erhalt der lichtempfindlichen „Antennen“ der Fotorezeptoren in der Retina. Mit diesem Wissen konnte er die Struktur lichtempfindlicher Fotorezeptoren bei Mäusen bewahren, die sonst erblindet wären. Gleichzeitig gelang es ihm, mit diesen microRNAs lichtempfindliche „Antennen“ zu induzieren in Fotorezeptoren von Netzhäuten, die aus Stammzellen erzeugt wurden. Christian Jung Lisa Kutschke und Evelyn Sauter aus der Arbeitsgruppe von Volker Busskamp legen Zellkulturen an. 68 Doktorandin Aida Rodrigo Albors ist eine von vielen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die es nach Dresden ins Forschungszentrum für Regenerative Therapien zieht. Auf den Fluren scheint man alle Sprachen dieser Erde zu hören. sität Dresden in Johannstadt und hier insbesondere das CRTD mit seinem Fokus auf neurodegenerative Erkrankungen, so stellt man schnell fest, dass ich für mein Projekt kein besseres Umfeld hätte finden können. Die Infrastruktur des DFG-Forschungszentrums für Regenerative Therapien und die dort seit Jahren geleistete Wissenschaft sind einfach hervorragend. Nicht ohne Grund wurde das CRTD bereits drei Mal erfolgreich evaluiert und wird als DFG-Forschungszentrum und als „Exzellenzcluster“ fortgeführt. Ein laufendes Qualitätskriterium ist zudem der umfangreiche Output an qualitativ hochwertigen Ergebnissen, die namhaft publiziert sind und international von der Community wahrgenommen werden. Übrigens: 2014 fand am CRTD der 5. Internationale Stammzellkongress statt, und im Februar 2016 folgt die Tagung der großen internationalen Gesellschaft für Stammzellforschung ISSCR. Fazit also: Es gibt in Deutschland kaum ein zweites wissenschaftliches Umfeld, in das Sie mit Ihrer interdisziplinären fachlichen Expertise so gut passen wie in das Dresdner? Vermutlich ja. Zumindest, alle Details zusammengenommen. Ich habe hier für meine Fragestellung ein einzigartiges Umfeld gefunden. Viele Kollegen des Biocampus arbeiten an exakt jener Schnittstelle von Stammzellforschung, Neurobiologie und Bioingenieurwissenschaften, an der auch ich meine Arbeit platziere. Daraus werden sich zweifelsohne zahlreiche neue Impulse und Kooperationen ergeben – erste Gespräche gab es schon kurz nach meinem Start im September 2014. Nicht weniger entscheidend war und ist für mich auch, dass ich meine Ideen am CRTD in großer Eigenständigkeit vorantreiben kann – bei sowohl guten und engen Kontakten zu den Arbeitsgruppen hier im Haus als auch zu den großen Flaggschiffprojekten im Bereich der Gehirnforschung in Europa und darüber hinaus. Das CRTD ist ja neben den Forschungsfeldern, zu denen Ihr Vorhaben, wie Sie gerade beschrieben haben, gut passt, auch bekannt für besondere Tiermodelle: etwa den großen Bestand an Axolotln. Sind diese Tiere – oder andere wie Zebrafische – relevant für Ihre Arbeit? Axolotl und Zebrafische sind Weltmeister in der Regeneration von Körperteilen, auch von Nervengewebe. Ich verspreche mir in der Tat aufgrund der besonderen Gegebenheiten hier, die Sie gerade angerissen haben, interessante Kooperationen mit Arbeitsgruppen vom CRTD selbst und dadurch weitere Projektideen. Wie beispielsweise lassen sich neu gebildete Nervenzellen in vorhandene Nervenschaltkreise einbringen? Das ist doch eine spannende Forschungsfrage, die sich bruchlos in meine Arbeit einbinden lässt. Warum haben Sie sich gerade für ein FreigeistFellowship der VolkswagenStiftung entschieden? Forschungsgelder sind grundsätzlich rar. Damit einher geht in Deutschland zumeist ein hohes Sicherheitsdenken bezüglich der Förderung von Projekten, und so wird interdisziplinäre und vor allem risikoreiche Forschung nur selten unterstützt – zumal wenn auch noch einiges an Impulse 02_2015 69 Fördermitteln benötigt wird. Viele Forschungsförderer betonen zwar, sie suchten „riskante“ Projekte. Doch was gefördert wird, ist oft totaler Mainstream und arg konventionell angelegt. Die VolkswagenStiftung ist da eine große Ausnahme und dafür auch über die Maßen bekannt; sie hält immer wieder entsprechende interessante Angebote für die Wissenschaft bereit. Und mit den Freigeist-Fellowships hat sie ja letztlich ohne Zweifel eine Lücke geschlossen – für mich ist das die notwendige finanzielle Unterstützung, eine kleine Forschungsgruppe aufbauen zu können. Vor allem habe ich einen längeren Zeitraum vor mir, in dem ich ruhig und gesichert arbeiten und damit die neue Technik entwickeln kann. Die Stiftung unterstützt mich dabei mit rund einer Million Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren: Das ist doch wirklich beachtlich, und das gibt einem schon eine recht lange Planungssicherheit. Herr Busskamp, herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei Ihrer Forschung. Das Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) Die weit über hundert in Dresden am CRTD arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verbindet ein grundlegender Gedanke: Sie interessieren sich in allen denkbaren Facetten für das Selbstheilungspotenzial des menschlichen Körpers. Mit ihrer Forschung und Suche nach den Schlüsseln für die Mechanismen der Selbstheilungsprozesse bereiten sie mittelfristig neuartigen regenerativen Therapien den Boden. Am Ende, hofft man dort über alle Arbeitsgruppen hinweg, stehen Behandlungsoptionen für möglichst viele bislang unheilbare Krankheiten wie Diabetes, Augenerkrankungen, Parkinson oder Alzheimer. Dabei setzen die Forscher bei den zellulären und molekularen Ursachen von Krankheiten an; im Mittelpunkt der regenerativen Ansätze steht die Stammzellforschung. Die Aktivitäten am CRTD sind gebündelt in die Bereiche Hämatologie und Immunologie, Diabe- tes, Neurodegeneration und Degeneration der Retina sowie Knochenregeneration. Überall versuchen die Forscher dabei von der Natur zu erfahren und ihr womöglich abzuschauen, wie Regeneration und Plastizität lebenslang erfolgen. Denn viele Tiere sind dem Menschen in solchen Leistungen weit überlegen – etwa der in Mexiko lebende Lurch Axolotl, dessen Gliedmaßen und Schwanz sich nach Verlust wieder regenerieren können. Auch der Zebrafisch hat die erstaunliche Fähigkeit, Teile des Herzens, des Gehirns oder der Netzhaut wieder nachwachsen zu lassen. Ein Schwerpunkt am CRTD ist die Erforschung von Demenzen wie Alzheimer sowie von neurodegenerativen Erkrankungen. Insbesondere die Grundlagenforschung in zugleich enger Ausrichtung auf mögliche therapeutische Optionen vor allem bei Parkinson und ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) hat am CRTD jüngst eine kräftige Verankerung und Verstärkung erfahren. So ist es dort bereits gelungen, bestimmte iPS-Zelllinien zu entwickeln, aus denen sich theoretisch zahlreiche verschiedene, von Morbus Parkinson oder Amyotropher Zwei von mehreren hundert Axolotln im CRTD. Die Tiere sind erstaunlich regenerationsfähig und dienen als Modellorganismus zur Erforschung von Selbstheilungs- und Alterungsprozessen. 70 Zwischendrin ist auch mal Zeit für die Familie: Kurzbesuch von Volker Busskamps Frau Susanne und den Söhnen Lukas und Julius (auf dem Schoß) in seinem Büro. Die Familie sei schnell heimisch geworden in Dresden und habe vonseiten des Instituts viel Unterstützung erfahren, betonen beide Eltern. Hintergrund Lateralsklerose „betroffene“ Nervenzellen differenzieren lassen. Diese Nervenzellen können Wissenschaftler dann im Labor als Modell nutzen, um die molekularen Mechanismen zu untersuchen, die bei diesen Erkrankungen eine Rolle spielen. Gleichzeitig stellen iPS-Zelllinien eine fast unerschöpfliche Quelle dar, um unmittelbar an menschlichen Nervenzellen neue Medikamente gegen Parkinson und ALS zu testen und zu identifizieren. Eine Arbeitsgruppe um Professor Dr. Gerd Kempermann, vor Jahren von der VolkswagenStiftung im begehrten „Nachwuchsgruppenprogramm“ gefördert, untersucht schon länger äußerst erfolgreich am CRTD die Funktion von Stammzellen im erwachsenen und alternden Gehirn und beschäftigt sich mit der Neubildung von Nervenzellen, der sogenannten adulten Neurogenese. Welchen Beitrag leisten Stammzellen im erwachsenen Gehirn für die lebenslange Anpassungsfähigkeit des Gehirns? Sicher scheint inzwischen: Die neuen Nervenzellen stehen in einem engen und bedeutsamen Zusammenhang mit Lern- und Gedächtnisvorgängen. „Aktivität“, sei sie geistig oder körperlich, steigert die adulte Neurogenese und trägt zu „erfolgreichem Altern“ bei. Ziel der Forschung in der Arbeitsgruppe ist es, die komplexen genetischen Grundlagen aufzuklären, wie „Aktivität“ gleich welcher Art auf jene Stammzellen des Gehirns wirkt, aus denen dann die neuen Nervenzellen entstehen. Geforscht wird aber nicht nur an neuen Strategien zur Prävention und Therapie chronischer neuropsychiatrischer Erkrankungen. Ebenso im Fokus: das erfolgreiche „normale“ Altern des Gehirns. So interessieren sich mehrere Wissenschaftlerteams am CRTD insbesondere dafür, warum die Zellen des mexikanischen Schwanzlurches Axolotl das Potenzial haben, ganze Gliedmaßen oder den Schwanz nachwachsen zu lassen. Daraus resultieren die Fragen: In welchem Ausmaß können die für die Regeneration verantwortlichen Zellen neue Stammzellen bilden? Und wie wird die erneute Zellteilung ausdifferenzierter Zellen gesteuert und kontrolliert? Wie also erlangen sie die Fähigkeit zurück, sich in nahezu jeden Zelltyp eines Organismus zu differenzieren? Wird man einst wissen, wie Salamander die Regeneration des Rückenmarks und von Gliedmaßen bewerkstelligen, könnte dies helfen, entsprechende Regenerationsprozesse beim Menschen zu stimulieren. Auch beim Zebrafisch ist man forsch dabei, die der erstaunlichen Regenerationsfähigkeit des Fischgehirns zugrunde liegenden genetischen und molekularen Prinzipien nach und nach erfolgreich zu entschlüsseln. Für das CRTD bleibt es spannend – so und so: Denn 2017 endet zunächst die Förderung aus dem Exzellenzprogramm von Bund und Ländern. Christian Jung Impulse 02_2015 71 Forum Aus der Wissenschaftsförderung der Stiftung: Auszeichnungen und neue Bewilligungen Symbiosen, die auf Antibiotika beruhen: Forscher findet Allianz zwischen Insekten und Bakterien Dr. Martin Kaltenpoth vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena erhält den Forschungspreis 2014 des Landes Thüringen für herausragende wissenschaftliche Leistungen. Ruf an die Universität Mainz auf die Professur für Evolutionäre Ökologie zum April 2015. Dr. Martin Kaltenpoth (unten links) und sein Team (rechts) haben sich mit der Symbiose zwischen dem Europäischen Bienenwolf, einer Grabwespenart, und Antibiotika produzierenden Bakterien beschäftigt. Oben rechts: ein männlicher Bienenwolf. Mitte links: ein Bienenwolfweibchen bringt eine gefangene Biene in ihre Bruthöhle; mehrere Monate überwintert die Bienenwolflarve im Kokon, bevor das ausgewachsene Tier schlüpft. Von Symbionten produzierte Antibiotika auf der Kokonoberfläche bieten Schutz vor mikrobiellen Schädlingen (die Menge der Antibiotika ist durch Massenspektrometrie sichtbar gemacht). Oben links: Querschnitt durch die Antenne eines Bienenwolfweibchens; gut zu erkennen: die symbiontischen Streptomyces-Bakterien (hellblau angefärbt). Unten rechts: StreptomycesBakterien (angefärbt). 72 Symbiosen bezeichnen eine Form des Zusammenlebens verschiedener Arten von Lebewesen. Sie sind in der Natur allgegenwärtig und für das Überleben von Tieren und Pflanzen wichtig. Auch wir Menschen leben in Symbiose mit einer Vielzahl von Mikroorganismen. Diese spezialisierten Bakterien helfen uns unter anderem, Krankheitserreger abzuwehren, Schadstoffe zu entgiften und Nahrung zu verdauen. Bei Insekten finden sich ebenfalls solche Bündnisse mit Bakterien. Mit einer besonders faszinierenden Symbiose – zwischen dem Europäischen Bienenwolf Philanthus triangulum, einer Grabwespenart, und mit ihnen in Symbiose lebenden Bakterien, die antibiotisch wirksame Substanzen produzieren – beschäftigt sich Dr. Martin Kaltenpoth, seit 2009 Leiter der MaxPlanck-Forschungsgruppe Insektensymbiosen. Bienenwölfe jagen Honigbienen, lähmen diese mit einem Stich und bringen sie als Futter für ihren Nachwuchs in ihre Bruthöhlen. Die Larven, die in unterirdischen Höhlen aus den abgelegten Eiern schlüpfen, sind bedroht durch zahlreiche Bodenpathogene wie etwa Schimmelpilze und Bakterien. Dass die Brut trotzdem überlebt, verdankt sie der erstaunlichen Allianz mit symbiontischen Bakterien, die die Bienenwolfweibchen in ihren Antennen kultivieren. Die Symbionten sind in einer weißen Substanz enthalten, die die Insekten aus ihren Antennen absondern und mit der sie die Decke ihrer Brutzellen bestreichen. Die Larve nimmt die Symbionten auf und spinnt sie bei der Verpuppung in ihren Kokon mit ein. Dort produzieren die Bakterien einen Cocktail aus über zwanzig verschiedenen Antibiotika. Der Kokon – und damit der Insektennachwuchs – ist also quasi mit Breitband-Wirkstoffen gegen eine große Zahl an Pilzen und bakteriellen Erregern geschützt. Martin Kaltenpoth wies die antibiotisch wirksamen Substanzen mit seinem Team zum einen als Erster nach, zum anderen hat er inzwischen seine Analysen so vorangetrieben, dass die Wissenschaft in kurzer Zeit immer wieder Neues über das Verständnis der Evolution solcher „Schutzsymbiosen“ in der Natur erfährt. Der Nutzen liegt auf der Hand: Angesichts zunehmender Resistenzen gegen herkömmliche Antibiotika ist die Entdeckung und Identifizierung neuer antibiotischer Wirkstoffe in der Natur sowohl für die Humanmedizin von Bedeutung als auch interessant für Forscher, die etwas über die evolutiven Prozesse lernen wollen, die solch einer Symbiose zugrunde liegen. „Mich fasziniert, dass durch die Evolution einer Symbiose sprunghaft eine Anpassung des Wirtes an bestimmte ökologische Nischen stattfinden kann, die sonst nicht verfügbar wären. Wie zwei derart verschiedene Organismen eine solche beiderseitig vorteilhafte Symbiose eingehen und über lange Zeiträume beibehalten, ist für mich ein erstaunliches Phänomen“, begeistert sich Kaltenpoth. Sein Forschungsprojekt wurde von der VolkswagenStiftung fünf Jahre lang im Rahmen der Initiative Evolutionsbiologie gefördert. Zum Sommersemester 2015 folgte er dem Ruf auf den Lehrstuhl für Evolutionäre Ökologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Impulse 01_2015 73 Forum Förderung Auf der Langstrecke unterwegs zu neuen Medikamenten gegen Leberkrebs – und weitere Projekte Medizin, Mathematik, Life Sciences: Die VolkswagenStiftung stellt insgesamt gut 3,5 Millionen Euro bereit für drei neue Lichtenberg-Professuren an den Universitäten Mainz und Potsdam und an der Technischen Universität München. Diese drei Lichtenberg-Professoren haben sich 2015 bereits durchgesetzt und können nun durchstarten (von links): Dr. Jens Marquardt, Dr. Markus Gühr und Dr. Christian Kühn. Welche Faktoren begünstigen die Entstehung von Leberkrebs? Dieser zentralen Frage geht künftig an der Universität Mainz Dr. Jens Marquardt nach. Zunächst will er den mehrstufigen Entstehungsprozess dieser Tumorerkrankung verstehen. Daraus könnten sich neue vorbeugende Strategien und therapeutische Ansätze ergeben. Ferner möchte er das Spektrum genetischer Veränderungen im Tumorgewebe ergründen. Mittels eigens auf erkannte Erbgutdefekte zugeschnittener Chemotherapie könnte sich das Zellwachstum spezifisch hemmen lassen. „Besonders dieses Gebiet der individualisierten Präzisionsmedizin verheißt Potenzial“, erklärt der Mediziner. „Trotz intensiver Forschung ist seit sieben Jahren kein Medikament gegen Leberzellkarzinome auf den Markt gekommen. Hier besteht dringend Handlungsbedarf!“ An der Universität Potsdam analysiert Dr. Markus Gühr Wechselwirkungen zwischen Molekülen und Licht. Solche Prozesse laufen überall in der Natur ab – etwa bei der Photosynthese. Gühr interessiert, wie Licht in Molekülen in andere Formen von Energie umgebaut wird – und warum dies oft sehr 74 selektiv geschieht. Beispielsweise wird in den Netzhautzellen des menschlichen Auges bei Lichteinfall innerhalb von wenigen hundert Femtosekunden eine chemische Bindung in bestimmten Proteinen umgebaut. Dadurch entsteht ein elektrochemisches Signal, das über den Sehnerv ins Gehirn gelangt und dort wahrgenommen wird. Physikalisch könnte die Energie des Lichts aber auch zu Hitze führen – was nicht geschieht. Gühr: „Sind die Prozesse einmal verstanden, könnte man Moleküle künstlich so gestalten, dass sie zum Beispiel Solarzellen zu höherer Effizienz oder längerer Lebensdauer verhelfen.“ Warum verliert ein Ökosystem plötzlich sein stabiles Gleichgewicht? Oder warum verhalten sich Nervenzellen im Gehirn bei neurologischen Erkrankungen auf einmal ganz anders als zuvor? An der Technischen Universität München möchte Dr. Christian Kühn neue mathematische Methoden entwickeln, um Vorgänge in solch komplexen Systemen besser vorhersagbar zu machen. Insbesondere will der Forscher die mathematischen Fundierungen zur Abbildung solcher Prozesse anhand verschiedener Zeit- und Raumskalen verbessern. Wie lassen sich Jugendliche in Aserbaidschan, Georgien und Tadschikistan in den Arbeitsmarkt integrieren? Die Stiftung stellt 3,3 Millionen Euro bereit für sieben neue Forschungsprojekte zu institutionellem Wandel und sozialer Praxis in den beiden Regionen Mittelasien und dem Kaukasus. Die Projekte rücken zum Beispiel die staatliche Wirtschaftspolitik oder eben die Jugendarbeitslosigkeit in den Fokus. Landnutzung in Mittelasien – ein gleichermaßen gesellschaftspolitisches wie ein Umwelt- und Ressourcenthema: hier Weizenfelder nahe Kökschetau in Kasachstan. Über drei Millionen Euro für sieben neue Projekte zu den Regionen Mittelasien und Kaukasus: Davon profitieren vor allem zahlreiche junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Institutionen vor Ort, die die jeweilige Forschung entscheidend mitgestalten sollen. Den Rahmen für die im Frühsommer 2015 von der Stiftung auf den Weg gebrachten Vorhaben setzt die Ausschreibung „Institutioneller Wandel und soziale Praxis. Forschungen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Mittelasien und im Kaukasus“ aus dem Vorjahr. Eine weitere Ausschreibung in der Förderinitiative „Zwischen Europa und Orient – Mittelasien/Kaukasus im Fokus der Wissenschaft“ adressierte die Umwelt- und Ressourcenproblematiken der Region. Hier hatte die Stiftung vornehmlich Natur- und Ingenieurwissenschaftler aufgerufen, zum Thema „Umwelt, natürliche Ressourcen und erneuerbare Energien – interdisziplinäre grenzüberschreitende Forschung zu Mensch-Umwelt-Beziehungen“ Projektideen zu entwickeln. Im Ergebnis wurden ebenfalls sieben neue Projekte bewilligt und dafür knapp drei Millionen Euro bereitgestellt. Das Spektrum der interdisziplinär auf die Sozialund Gesellschaftswissenschaften ausgerichteten Forschungsprojekte reicht von der vergleichenden Analyse staatlicher Wirtschaftspolitik in Kasachstan und Georgien bis hin zu Untersuchungen darüber, wie Jugendliche in die Arbeitsmärkte von Aserbaidschan, Georgien und Tadschikistan bestmöglich integriert werden können. Diese sieben Vorhaben sind dabei das Ergebnis nur einer der beiden themenzentrierten Ausschreibungen des Jahres 2014. Bei diesen Vorhaben dominieren die Themen Landnutzung, Agrarproduktion und Beweidung sowie Wassermanagement. An fünf der zumeist trilateral aufgestellten Kooperationen sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Zentralasien beteiligt, vor allem aus Kasachstan und Kirgisistan. Die beiden anderen Projekte beziehen sich auf den Kaukasus und sehen Forscherkollegen aus Georgien und Aserbaidschan eingebunden. Auch Einrichtungen in Xinjiang, China, und in der Mongolei profitieren von den Förderungen. Impulse 02_2015 75 Forum Förderung Zum Beispiel Meeressäuger: Wie Wissenschaft und Öffentlichkeit von Museumsbeständen profitieren Grünes Licht für sechs neue Vorhaben und eine Sommerschule in der Förderinitiative „Forschung in Museen“. Kleine und mittelgroße Museen erhalten insgesamt 2,5 Millionen Euro zur Erforschung ihrer Bestände – mit der Chance auf exzeptionelle Ausstellungen. Tot aufgefundener Schweinswal, einzige heimische Walart; ausgestellt im Deutschen Meeresmuseum in Stralsund 76 Schweinswale, Seehunde und Kegelrobben leben in der Nord- und Ostsee. Alle drei Arten sind zunehmend gefährdet. Verschiedene Faktoren wie der teils ungebremste Schadstoffeintrag, todbringende Fischereimethoden oder die Erwärmung der Meere, die den Sauerstoffgehalt sinken lässt, können die Säugetiere beeinträchtigen – mit ernsten Folgen für deren Gesundheit. Ein Thema für Museen? Ja! Wissenschaftler der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) und vom Zoologischen Museum Hamburg werden jetzt mit Kollegen von Universitäten und Museen in Dänemark und Schweden die Veränderungen im Gesundheitszustand der marinen Säugetiere über die vergangenen Jahrzehnte untersuchen – auch anhand von Sammlungsbeständen. Die in das Projekt eingebundenen Museen der Nord- und OstseeAnrainerstaaten konzipieren auf der Grundlage des Projekts zudem eine Wanderausstellung. bronzezeitliche Siedlungen zu rekonstruieren, wollen Mitarbeiter des Braunschweigischen Landesmuseums und der Universität Göttingen jetzt Keramiken, menschliche Skelette und Pferdezähne aus einer Fundstätte nahe Helmstedt archäologisch und naturwissenschaftlich analysieren. Befestigte Herrschaftssitze spielten bereits in der Bronzezeit eine wichtige Rolle als Knotenpunkte der Kommunikation. Um diese europaweit vernetzten Lebenswelten zu analysieren und Schnittformen, Nahtverläufe und Stoffe der Kleidung aus der Sammlung des Historischen Museums Frankfurt am Main aus den Jahren 1850 bis 1930 sollen Aufschluss geben über die Bewegung, Das Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim und die Universität München engagieren sich künftig bei der Aufarbeitung unveröffentlichter Objekte aus Hermopolis Magna, der Hauptstadt eines Verwaltungsbezirks im alten Ägypten, sowie Funden des zugehörigen Menschen- und Tierfriedhofs. Im Zentrum steht die Frage, ob sich die altägyptische Lehre von der Entstehung der Welt mithilfe der archäologischen Fundstücke beschreiben lassen könnte. Erforscht werden sollen die genaue Funktion der Objekte und die damit verbundenen Rituale. Die Ringelrobbe lebt im Eisund Polarmeer, eine kleine Population in der nördlichen Ostsee. Sie ist daher ein ausgesprochen seltener Gast an der deutschen Küste dieses Meeres. Hier ein ausgestopftes Exemplar, das ebenfalls im Deutschen Meeresmuseum in Stralsund zu sehen ist. Geschwindigkeit und Mobilität des menschlichen Körpers in dieser Epoche. Zum Beispiel reduzierten sich in den 1920er Jahren die Kleiderschichten der weiblichen Kleidung und – die Beine wurden sichtbar. Anhand der Kleidung lassen sich also Rückschlüsse über Bewegungsspielräume und Bewegungsformen ziehen. Zudem bildet das Projekt, in das als Partner die Universität Paderborn eingebunden ist, eine Grundlage für neue Präsentationsformen von Textilien in Museen. Sammlungen der afrikanischen Moderne, die vor allem aus Gemälden, Skulpturen und Grafiken der frühen 1940er Jahre bis in die späten 1980er Jahre bestehen und aus Nigeria und Uganda stammen, sind Gegenstand des gemeinsamen Vorhabens der Universität Bayreuth (Iwalewahaus) und vom Museum der Weltkulturen Frankfurt am Main. Die Forscher interessiert, ob verschiedene Narrationen der afrikanischen Kunstgeschichte in den Sammlungen eingebettet sind, nämlich einerseits jene der Künstler und Künstlerinnen, andererseits die der Sammler. Lässt sich so womöglich die afrikanische Kunstgeschichte in Deutschland besser erschließen? Experten vom Stadtmuseum Penzberg, von der Bayerischen Staatsgemäldesammlung sowie der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung untersuchen die Kunst der Hinterglasmalerei, also das rückwärtige Bemalen von Glas mit einem seitenverkehrt angelegten Bild. Diese Technik ist vor allem aus der Volkskunst bekannt. Ihr wurde lange Zeit vonseiten der Wissenschaft mit Unkenntnis, Verständnislosigkeit und Geringschätzung begegnet, sagen Forscher – dabei war sie keineswegs ein Randphänomen. Die Künstlergruppe „Blaue Reiter“ griff sie Anfang des 20. Jahrhunderts auf, danach verbreitete sie sich. In dem Projekt werden Hinterglasbilder interdisziplinär untersucht. i Sommerschule „im Feld“ Auch ein besonderes Ausbildungsprogramm hat grünes Licht erhalten – eine Sommerschule mit Aufenthalt „im Feld“, das heißt in diesem Fall: an Stätten archäologischer Forschung. Sie wird gemeinsam getragen von den Universitäten Hildesheim und Minya in Mittelägypten sowie dem Landesmuseum Hannover. Junge Wissenschaftler sollen sich weiterqualifizieren können und Techniken, die von Bedeutung sind bei Ausgrabungen oder bei der Konservierung und RestauImpulse 02_2015 77 rierung von Kulturgut, sowohl erlernen als auch gleich vertiefen. 78 Schwerpunktthema Neue Sichtachsen und Zugänge Wissenschaft unter der Lupe der Literatur Man bringt Autoren und Forscher an einem Ort zusammen und beide profitieren voneinander. Hier und da entwickelt sich etwas anders als geplant; da und dort entsteht Neues: mal ein Text, mal entfaltet sich eine wissenschaftliche Idee. Dann und wann formulieren sich Erkenntnisse, scheinen Zusammenhänge auf. Klingt nach einem guten Projekt? Ist ein gutes Projekt! Auf nach Oldenburg, Bremen, Delmenhorst – oder eigentlich: in die weite Welt. Januar 2015: Treffen der am Projekt „Fiction Meets Science“ Beteiligten in der Universitätsbibliothek Bremen; hier das Leitungsteam (von links): Norbert Schaffeld (Universität Bremen), Anton Kirchhofer (Universität Oldenburg), Uwe Schimank (Universität Bremen), Peter Weingart (Universität Bielefeld) sowie Susan M. Gaines (Universität Bremen). Impulse 02_2015 79 Text: Christian Jung Fotos: Michael Löwa (Interview) und Helge Krueckeberg (Bremen) // Illustrationen: Dorota Gorski D er Evolutionsbiologe Frank Moebus ist ein Star seines Forschungsgebiets. Urzellen in der Tiefsee hat er entdeckt, eine bis dato unbekannte Lebensform. In seinem Kieler Universitätslabor wird eines Abends zwischen zersplitterten Aquarien und auf dem Boden zappelnden Fischen einer seiner Assistenten mit aufgeschlitzter Kehle aufgefunden. Ein weiterer Mitarbeiter des Forscherteams hat sich augenscheinlich aus dem Fenster gestürzt. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Ist dies der bittere Ausgang eines Streits unter Kollegen? Als mehrere prominente Forscher Moebus öffentlich vorwerfen, ihren Labors trotz mehrfacher Bitten zwecks Überprüfung seiner wissenschaftlichen Entdeckung keine der spektakulär in der Tiefsee gefundenen Zellen zu überlassen, drängt sich jedoch mindestens noch eine ganz andere Vermutung auf … Bereits mit seinen Romanen „Wenzels Pilz“ und „Der Rote“ und auch seinen populären Sachbüchern wie „Die Ameise als Tramp“ oder „Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden“ feierte der Autor Bernhard Kegel große Erfolge. Gekonnt meistert der promovierte Biologe in beiden Genres – Fiktion hier, populärwissenschaftliches Sachbuch dort – auf jeweils passende Weise den Brückenschlag zwischen der publikumsfreundlichen Vermittlung fundierten Fachwissens und dem sorgsamen Gebrauch selbst komplexer, stets wissenschaftlich valider Fakten. All das verbindet er mit talentvollem Schreibstil. In seinem bislang letzten Wissenschaftskrimi um den Biologen Frank Moebus nun taucht er ein in den akademischen Mikrokosmos. „Ein tiefer Fall“ erzählt von den Schattenseiten der Forschungswelt, in der Konkurrenzdruck und Ruhmsucht selbst die Angesehensten jegliche wissenschaftliche Korrektheit und Fairness vergessen lassen. Nun gut, man kennt das. Aber ist es ein reales Problem, dessen tatsächliches Ausmaß oftmals doch deutlich unterschätzt wird? Kegel vermittelt über die Geschichte in diesem Buch, dass das wohl tatsächlich der Fall ist. Bernhard Kegel ist nur einer von in jüngerer Vergangenheit zahlreichen Autoren, die Wissenschaft auf andere Weise zum Gegenstand von Literatur 80 machen. Ein wenig scheint es, als sei hier ein Markt entstanden, der (s)ein – neues? – Publikum gefunden hat. Und ein Blick auf die Bestsellerlisten bestätigt, dass es offenkundig eine „junge“, frische, eigene Art von Wissenschaftsromanen gibt, die gut ankommt: ob Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ oder Ann Patchetts „Fluss der Wunder“; ob Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe“ oder Barbara Kingsolvers „Das Flugverhalten der Schmetterlinge“; ob Frank Schätzings „Der Schwarm“ oder Susan M. Gaines’ „Carbon Dreams“. Doch warum sind solche Werke jüngst so erfolgreich, insbesondere im angelsächsischen Raum? Wie treffen Wissenschaft und Gesellschaft im Roman aufeinander? Welches Bild von Naturwissenschaft wird in der modernen Wissenschaftsliteratur vermittelt? Und wie im Detail werden in der aktuellen Romanliteratur naturwissenschaftliche Erkenntnisprozesse zum Thema gemacht? Helfen solche Romane gar, die Welt und wie sie funktioniert, besser zu verstehen? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich ein 16-köpfiges, interdisziplinär aufgestelltes Forscherteam in Bremen, Oldenburg und am Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) in Delmenhorst in dem von der VolkswagenStiftung mit 770.000 Euro geförderten Projekt „Fiction Meets Science. The World of Science under the Literary Microscope“. Das Team untersucht Romane wie die eingangs genannten und deren Wirkung aus literaturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive und legt dabei die literarische Aufarbeitung des Wissenschaftsbetriebes in diesen Büchern unter das Brennglas, um dort in aller gebotenen Ruhe zu sezieren. Mitte 2015 nun befindet sich das auf drei Jahre angelegte Vorhaben, das untergliedert ist in ein Dutzend Teilprojekte, auf seinem Zenit und biegt allmählich auf die Zielgerade ein. Es gilt, am Ende wohl zumindest der Beantwortung einer zentralen Frage nahezukommen: „In welcher Form, auf welche Weisen kann das Bild von Wissenschaft, das die Romane entwerfen, auf die Gesellschaft wirken – beziehungsweise auch in die Wissenschaft zurückwirken?“, fasst Projektkoordinatorin „Der Fuchs hatte mit gesträubten Nackenhaaren ausgeharrt, doch als sich der große Fensterflügel endlich mit einem lauten Quietschen nach innen bewegte, reichte es ihm. Sein Weg würde ihn dicht am Ort des Geschehens vorbeiführen. Er fiel in leichten Trab und lief, immer schneller werdend, auf dem Schwarzen Weg zum Mensaparkplatz und weiter bis zum Biologiezentrum. Das helle Licht brannte noch immer, er vermied es aber, nach oben zu schauen. Das Fahrrad, das an einem der vielen, den Weg zum Eingang säumenden Stahlbögen angeschlossen war, beachtete er nicht, genauso wenig wie die beiden PKWs, die hinter dem Biologiezentrum parkten. Er wollte nur noch weg von hier. Und da alles, was nach dem Öffnen des Fensters geschah, völlig geräuschlos vor sich ging, sah er auch den in diesem Moment aus dem zwölften Stock herabstürzenden menschlichen Körper nicht. Er hörte nur den dumpfen Laut, als etwas hinter ihm auf ein Dach des Flachbaus aufschlug, zuckte zusammen, schoss ein paar Meter nach vorne, wandte sich schließlich mit zitternden Flanken um und blickte nach oben zur Dachkante. Das Fenster, an dem die Gestalt gestanden hatte, war offen, der dazugehörige Raum nach wie vor hell erleuchtet. Davon abgesehen war nichts Ungewöhnliches zu erkennen.“ (aus: Bernhard Kegel „Ein tiefer Fall“) Susan Gaines zusammen. Und darüber hinaus: Welches Bild von Wissenschaft, sofern diese Frage überhaupt verallgemeinerbar zu beantworten ist, lasse sich aus den Romanen extrahieren? Vom „absonderlichen Forscher“ hin zum möglichst genauen Abbild des Wissenschaftsbetriebes „Am Beginn des 21. Jahrhunderts bestehen viele hochkomplexe Schnittflächen und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Naturwissenschaften einerseits und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zum anderen“, nennt Professor Dr. Uwe Schimank vom Institut für empirische und angewandte Soziologie der Universität Bremen einen Aspekt, der zugleich eine dem Forschungsvorha- ben zugrunde liegende Motivation spiegelt und bereits zu einem möglichen Argument hinleitet, warum Werke wie die eingangs genannten ein Publikum finden und reüssieren. „In diesen neuen Wissenschaftsromanen wird meist unmittelbar auf naturwissenschaftliche Vorgänge, Prozesse und Ideen abgestellt sowie auf die komplexen Beziehungen zwischen Wissen und den Menschen, die es erschaffen oder die davon betroffen sind“, ergänzt Susan Gaines, deren Buch Carbon Dreams ein frühes Beispiel für diese neue Art von Wissenschaftsliteratur ist. Die Meeresforscherin, die seit Langem Romane schreibt, arbeitet zurzeit an der Universität Bremen im Fachbereich Sprachund Literaturwissenschaften und bildet in dem Projekt eine Brücke zwischen der Vielzahl eingebundener Autoren und Naturwissenschaftler. Impulse 02_2015 81 Im Gespräch mit ihr und ihren Projektkollegen wird wie im Zeitraffer noch einmal die Entwicklung deutlich, die diese Literaturgattung durchlaufen hat: Während im 19. und weit ins 20. Jahrhundert hinein Naturwissenschaft in entsprechend populären Werken oft oberflächlich behandelt und in stereotypen und klischeehaften Charakteren wie dem „absonderlichen Wissenschaftler“ repräsentiert wurde, gehen die neuen Romane den Verstrickungen und Wirkungen der Naturwissenschaft in der Welt nach, in der wir heute leben. „Sie nehmen ihre Leser mitten hinein in die naturwissenschaftliche Wissensproduktion“, meinen Schimank und Gaines unisono. Die Autorin und Wissenschaftlerin ist sich sicher: „Wir leben in einer Zeit des Umbruchs in der literarischen Beschäftigung mit Naturwissenschaft“, betont sie mehrfach. „Die anspruchsvolle zeitgenössische Belletristik zielt zunehmend auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess und seinen gesellschaftlichen Ort.“ Deshalb sei es zwingend geboten, die literarischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieses kulturellen Trends auszuloten. in Delmenhorst und in Bremen. Sie diskutierten über eben diese literarische Entwicklung – und gleichzeitig darüber, was ihre Forschungen lehren über die naturwissenschaftliche Praxis und deren gesellschaftliche Einrichtungen, über die Natur wissenschaftlicher Erkenntnis und über unsere „Wissens“-Gesellschaften, die den Ausbau vorantreiben dieses Wissens, das zugleich ihr innerer Antrieb ist. Bei dieser Veranstaltung wurde sofort die breite Basis sichtbar, auf der das Vorhaben steht und von der es profitiert. So ist eines der Standbeine ein gleich zu Beginn des Kooperationsprojekts geknüpftes Netzwerk internationaler Autoren, die in standardisierten Erhebungen und Interviews im Laufe des Projekts danach befragt werden, wie und auf welche Weise die Wissenschaft in die Fiktion kommt. Dieses Netz spülte nun viele in ihm Verwobene, neugierig Gewordene für drei Tage in die niedersächsische Provinz. Reichlich Gelegenheit dazu hatten Mitte November 2014 etwa sechzig Geistes- und Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Naturwissenschaftler aus Europa, Nordamerika und Australien während einer gut dreitägigen Veranstaltung am HWK Die Tagung öffnete gleich mit einem Paukenschlag. Die vielfach preisgekrönte Philosophin und Autorin von Romanen und Sachbüchern Rebecca Goldstein stellte in der weit über den letzten Sitzplatz hinaus gefüllten Bremer Stadtwaage „Ist es nicht pure Alchemie, aus Physik Fiktion zu machen …?“ „Wäre es nicht verlockend, als Pflanze zu existieren? Man hätte Blätter, die mit ihrem Chlorophyll Photosynthese betreiben. Die Energieversorgung wäre dauerhaft gesichert. Sorgen gäbe es keine mehr, man müsste nicht einmal mehr einkaufen gehen, sondern nur noch in der Sonne liegen. Den Rest besorgt das Blattgrün.“ (aus: Judith Schalansky „Der Hals der Giraffe“) 82 Sie segeln in ihrer Branche äußerst hart am Wind: DECIUSGeschäftsführer Walter Treppmacher und die Leiterin Belletristik der hannoverschen Buchhandlung, Marlis Treder. ihr Buch „Properties of Light: a Novel of Love, Betrayal, and Quantum Physics“ der Öffentlichkeit vor. „Rebecca Goldstein did so successfully in her highly praised first novel …“, hatte immerhin die New York Times die Wissenschaftsautorin früh entdeckt. Sie selbst machte deutlich, dass ihr Handwerk durchaus hartes Ringen ist; umso mehr, wenn das Ergebnis funkeln und faszinieren soll: „It's one kind of trick to turn philosophy into fiction, … it's another, perhaps even headier alchemy, to make fiction out of physics ...“ „Wir sehen eindeutig mehr Veränderungen beim Sachbuch ...“ An diesem Statement knüpfte manch Zuhörer an. So auch Professor Dr. Norbert Schaffeld, der neben Gaines und Schimank ein weiterer Initiator des Forschungsvorhabens ist. „Mich interessiert explizit die Frage, mit welchen literarischen Mitteln Naturwissenschaft dargestellt wird: Gibt es, wie Hans Magnus Enzensberger behauptet, eine ‚poetics of knowledge‘?“, fragt der Forscher vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften, English-Speaking Cultures, der Universität Bremen. Und was bedeute es, fährt er fort, „wenn der erzählerische Aufbau eines Wissenschaftsromans, also dessen Form, eine naturwissenschaftliche Entdeckung spiegelt, wie dies etwa im Romanwerk von John Banville der Fall ist“? Der Praxischeck: Marlis Treder und Walter Treppmacher von der Buchhandlung DECIUS im Interview Die Forscher und Autoren können inzwischen jeder dieser Fragen und manch anderer Idee, die sich im Laufe des Gesprächs erhebt, zügig nachgehen – sozusagen zunächst einmal per Knopfdruck, der dann natürlich intensive Lektüre nach sich zieht. Denn in einer im Zuge des Projekts aufgebauten Online-Datenbank haben die Beteiligten bereits über zweihundert einschlägige Werke englischsprachiger und hiesiger Autoren erfasst – etwa zehn Prozent des insgesamt gespeicherten Materials ist in deutscher Sprache geschrieben. Die Datenbankinhalte sind notwendige Arbeitsgrundlage für das Team um Professor Dr. Anton Kirchhofer vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Oldenburg, Vierter im Bunde der Projektinitiatoren. Eines seiner Ziele ist es, Rezensionen von Wissenschaftsromanen in einem breiten Spektrum an Medien einer systematischen Erhebung zu unterziehen. „Wir untersuchen zum Frau Treder, Herr Treppmacher, Forscher reden von einer Wissenschaftsliteratur, die sich in der jüngeren Vergangenheit anders ausformt, für die es einen veränderten Markt gibt, die offenbar eine andere – neue? – Leserschaft anspricht. Wie stellt sich das aus Sicht Ihrer Buchhandlung dar? Und: Lesen Sie selbst beispielsweise gern solche Bücher? Erobert sich die moderne Wissenschaftsliteratur neue, weitere Räume? Gibt es eine neue Form von Wissenschaftsromanen, die dazu beitragen, die Welt und wie sie funktioniert, besser zu verstehen? Und was lässt sich über das Genre populärwissenschaftliches Sachbuch sagen? Es liegt nahe, diese Fragen, die das Forschungsprojekt „Fiction Meets Science“ grundieren, einer Betrachtung vonseiten der Praxis zu unterziehen. Christian Jung im Gespräch mit dem Geschäftsführer von Niedersachsens großer inhabergeführter Buchhandlungskette DECIUS Walter Treppmacher und der Leiterin Belletristik Marlis Treder. Treder: Ich würde jedenfalls nicht von einem Trend sprechen. Vielleicht hat es sich in den letzten Jahren einfach gefügt, dass da ein paar Wissenschaftsromane eben in erster Linie gute Romane waren, die als solche beim Publikum prima ankommen, weil sie literarisch gut funktionieren … Es hängt letztlich immer davon ab, wie gut das einzelne Buch ist. Ich selbst lese solche Romane durchaus gern – wenn ich den Eindruck habe, Wissen dabei auch wirklich fundiert und korrekt vermittelt zu bekommen. Für mich sind die Bücher von Bernhard Kegel ein treffendes Beispiel: „Der Rote“ und „Ein tiefer Fall“ bieten Einblicke in biologische Phänomene (Der Rote) und behandeln ebenfalls (Ein tiefer Fall) Probleme des Wissenschaftsbetriebes. Impulse 02_2015 83 „Expansion ist ein Merkmal des Lebens. Überall und zu jeder Zeit versuchen sich Pflanzen und Tiere in neuen Lebensumständen. Sie tasten sich über die Grenzen ihrer bisherigen Existenz hinaus, scheitern und beginnen wieder von Neuem. Die Vielfalt der Anpassungen, die sich die Lebewesen zu diesem Zweck haben einfallen lassen, ist unüberschaubar. Sie laufen, schwimmen, fliegen, segeln, lassen sich treiben oder nutzen die Körper anderer Lebewesen als Taxiservice. Viele haben in ihrem Lebenszyklus spezielle Verbreitungsstadien entwickelt, Samen mit Fallschirmen oder Hafteinrichtungen, federleichte Sporen, mobile Larven. Sie gewährleisten, daß die zahlreichen Nachkommen über ein möglichst großes Gebiet verteilt werden. Verluste sind einkalkuliert. Die Entdeckung und Besiedlung neuer Lebensräume war und ist für Tiere und Pflanzen eine Überlebensfrage. Stillstand kann den Tod bedeuten. Tümpel trocknen aus, Seen verlanden, Wälder brennen ab, ganze Kontinente vereisen.“ (aus: Bernhard Kegel „Die Ameise als Tramp") einen, in welchem Ausmaß Naturwissenschaften im zeitgenössischen englischsprachigen Roman thematisiert werden, und vermessen zugleich die öffentlichen Diskurse, die in literarischen wie in naturwissenschaftlichen Medien über diese Romane geführt werden“, gibt er ein Beispiel – und präsentiert immerhin ein erstes quantitatives Ergebnis: „Bereits jetzt wird deutlich, dass die tatsächliche Zahl einschlägiger Romane, die entsprechend Widerhall gefunden haben, noch deutlich über unseren Erwartungen liegt.“ Das „Writers in Residence“-Angebot: eines der Aushängeschilder des Projekts Das vielschichtige Vorhaben erlebt zahlreiche und ganz unterschiedliche Momente, in denen der Prozess der Annäherung der beiden Sphären Wissenschaft und Kultur haut- und lebensnah 84 wird: zu beobachten etwa beim Entstehen eines Romans im Labor der Wissenschaft – einer jener kristallinen Augenblicke, in denen sich beide Welten treffen, in denen eine Analyse des Schaffensprozesses möglich wird. Als ein Katalysator dient vor allem das eingebettete „Writers in Residence“-Angebot. Unter dem Motto „novelists writing science novels“ leben und arbeiten am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst Autoren gemeinsam mit Forschern aus aller Welt. Susan Gaines – sie selbst webt gerade an den letzten Zeilen ihres Roman „The Last Naturalist and the Terrorist’s Daughter“ – sucht und wirbt hierfür Autorinnen und Autoren ein. Als nunmehr dritte „Residierende“ am HWK folgte ihr mit Anne von Canal im Februar 2015 eine deutsche Autorin, die – auch dies ein Experiment – keinen Hintergrund als Wissenschaftlerin und bislang auch kein Buch des betrachteten Genres Wissenschaftsroman geschrieben hat. Vorgänger von Susan Gaines als erster Writer in Residence war Bernhard Kegel. Er fand am HWK reichlich Kristallisationskerne für seine Arbeit – doch nicht nur dort. Er nutzte eine weitere Option, die das „Fiction-Meets-Science“-Projekt für ausgewählte Schriftsteller aus aller Welt bereithält: die Möglichkeit, als „teilnehmende Beobachter“ an einer wissenschaftlichen Einrichtung Eindrücke aus dem Forschungs- und Forscheralltag zu sammeln. Für alle Beteiligten dürfte es – auch unter unmittelbar projektbezogenen wissenschaftlichen Aspekten – spannend sein zu sehen, wie das gewonnene Wissen, wie Eindrücke und Erfahrungen in das literarische Werk eingeflossen sind. Bernhard Kegel nun begleitete im Jahr 2013 als „embedded writer“ für seinen neuen Roman ein Forscherteam des Bremer Leibniz-Zentrums für Marine Tropenökologie (ZMT) zu Expeditionen ans Rote Meer nach Aqaba in Jordanien und zu den Galapagos-Inseln. Um sein Credo vorwegzunehmen: „Die Expedition war essenziell für meine Arbeit“, sagt er, der solche Fahrten generell für notwendig hält. Denn: „Zu häufig wird Forschung in der Literatur oberflächlich behandelt und immer wieder falsch beschrieben.“ Besonders eindrucksvoll sei die erste Woche auf den GalapagosInseln gewesen, lässt sich heute noch in dem Blog nachlesen, den er – auch das mittelbarer Ausfluss des Forschungsvorhabens – parallel zur Reise fütterte. Mit einem kleinen Forschungsschiff wurden die südlichen Inseln des Archipels abgeklappert. Die Wissenschaftler nahmen Sedimentproben und untersuchten die Fischpopulation, um mehr über die Versauerung der Ozeane zu erfahren. Und Bernhard Kegel immer mit dabei. Der promovierte Biologe kann sich richtig in Schwung reden bei dem Thema, wie spannend sich Naturwissenschaft auch für Nicht-Forscher aufbereiten lässt. „Das war meine ursprüngliche Intention, die mich zum Schreiben brachte. Mein Bauch sagte mir, dass Romane das ideale Medium sind, um Wissenschaft unter die Leute zu bringen. Spannung liegt in der Natur der Forschung!“ Noch dazu seien Wissenschaftler interessante Charaktere, nicht nur Geistesgrößen, sondern Menschen Treppmacher: Es ist schwer zu sagen, ob ein Markt entstanden ist für eine „junge“, frische, eigene Art von Wissenschaftsromanen, die gut ankommen. Noch schwerer, welches Publikum sie finden. Unsere Verkaufszahlen lassen da keine generalisierbaren Aussagen zu. Nur soweit: Frank Schätzings „Der Schwarm“ war ein Renner, aber auch wiederum alles andere als ein typischer Wissenschaftsroman. Wenn ich selbst mal ein solches Buch lese, muss es wie jeder Roman vor allem gut geschrieben sein, sonst halte ich nicht bis zum Ende durch. Da können die Inhalte selbst noch so spannend oder relevant oder wichtig sein. Ein Beispiel für ein Buch, das mir sehr gut gefallen hat, ist Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Davon ab würde ich ebenfalls verneinen, dass es sich hier um einen Trend handelt. Wissenschaftliche Themen haben auf die Art und Weise, wie sie jetzt aufbereitet werden, meines Erachtens auch früher schon vergleichbar Einzug in die Literatur gefunden, ich denke da zum Beispiel an den gerade verstorbenen Carl Djerassi, den Erfinder der Antibabypille, und seine gelungenen Romane „Cantors Dilemma“ und „Das Bourbaki-Gambit“. Also kein Trend, da stimmen Sie beide ja deutlich überein! Was hat sich denn dann verändert? Treppmacher: Die wissenschaftlichen Themen werden leichter, lockerer aufbereitet in der Wissenschaftsliteratur – eine Entwicklung, die vermutlich durch die elektronischen Medien getrieben ist, die einen schnellen Zugriff auf Informationen bieten und etwa über Blogs auch die unmittelbare Teilhabe an Wissensverbreitung ermöglichen. Treder: Um es noch einmal zu betonen: Im Kern hat sich wenig verändert. Ein erfolgreiches Buch besticht durch seine Story, ist spannend, trifft den Nerv der Zeit – eigentlich ist es das nach wie vor. Dazu kommt dann noch das richtige Marketing. Bei Frank Schätzing zum Beispiel schlägt die Natur zurück, ist der Klimawandel spannend und mitreißend Thema, an anderer Stelle geht es um die Müll produzierende Gesellschaft – und immer wieder um die Bedrohung unserer Umwelt, ja: unserer Welt, von der wir eben nur eine haben. Themen, die uns alle beschäftigen. Frank Schätzing entwickelt in einer Mischung aus vielen wissenschaftsgestützten Fakten und SciencefictionElementen ein Szenario, das bedrohlich real erscheint und dann auch plötzlich manifest wird. Was uns heute zunächst noch weit entfernt erscheint, könnte morgen wie selbstverständlich unser Untergang sein. Schätzing ist ein grandioser Performer, das merkt man den Büchern an; es ist die Frage, ob man das schätzt. Mir ist die Art zu schreiben, zu erzählen und damit auch Impulse 02_2015 85 mit reichlich Schwächen neben ihren Stärken. Als gelungenes Beispiel für den populärwissenschaftlichen Transfer aktueller Forschung nennt er Frank Schätzings Buch „Der Schwarm“, das sich dadurch auszeichne, dass die darin verwobenen wissenschaftlichen Hintergründe gut recherchiert und aufbereitet seien. Um auf solche Weise ausreichend in die Tiefe gehen zu können – das werde deutlich – bräuchten nicht nur Forscher Zeit für ihr Tun, sondern ebenso ihre Gegenüber im Literaturbetrieb. Bernhard Kegel gehört auch zu jenen, die unmissverständlich sagen: Wer über Wissenschaft schreiben will, sollte zumindest eine Zeit lang selbst handfest wissenschaftlich gearbeitet und wissenschaftliches Denken verinnerlicht haben. „Für Menschen, die einen anderen Hintergrund haben, ist es sehr schwer, sich in das Leben und die inhaltlichen Probleme vor allem eines Naturwissenschaftlers hineinzudenken und dies treffend zu schildern.“ Da darf man dann umso gespannter sein auf den Aufenthalt von Fellowship-Kollegin Anne von Canal, die inzwischen einen Besuch in den Labors des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven auf der Agenda hat, dem sich eine Reise anschließen soll zu der auf Spitzbergen gelegenen AWIPEV Arctic Research Base der Forschungseinrichtung. Dort will die Autorin für ihr geplantes Buch „atmosphärische Eindrücke und wissenschaftliche Hintergrundinformation” sammeln sowie „Einblicke in die Arbeitspraxis der Forscher“ gewinnen. Auch Rebecca Goldstein macht deutlich, wie spürbar die Kluft zwischen der Wissenschaft und dem Literaturbetrieb sein kann und wie schwer oft deren Überwindung selbst für den wissenschaftlich vorgeprägten Autor: „Die Menschen beider Welten können häufig kaum miteinander sprechen, sich verständigen. Es gibt keine Sprache zwischen ihnen. Weil eine Seite es nur rational versteht. Das, was der Schriftsteller mit seinem Herzen aufnimmt, passt nicht unbedingt in jeden Kopf, der glaubt, jedes Problem habe eine logischwissenschaftliche Lösung.“ Vielleicht widmet sich aus eben diesem Grund die „große Literatur“ der Naturwissenschaft viel zu wenig, ist eine zentrale Erkenntnis einschlägiger Autoren wie Kegel und Goldstein in der Rückschau auf inzwischen gut zwanzig Jahre im Literaturbetrieb. Die Leser von Wissenschaftsromanen seien zudem oft selbst in der Forschung tätig, entsprechend empfindlich. Stießen sie gleich auf den ersten Seiten eines Buches auf fachliche Fehler, legten sie es meist schnell beiseite, ist „Am Ende steht eine idealisierte Welt, in der Millionen Frauen versuchen, wie zehn Supermodels auszusehen, Familien eins Komma zwei Kinder haben und ein Chinese im Schnitt 63 Jahre alt und 1 Meter 70 groß wird. Vor lauter Versessenheit auf Normen übersehen wir, dass die Normalität im Abnormalen liegt, in der Abweichung ...“ (aus: Frank Schätzing „Der Schwarm“) 86 „Die Autoren von Wissenschaftsromanen dürfen dem Leser durchaus noch mehr Wissenschaft zumuten“, wünscht sich Marlis Treder, die Wissenschaft zu oft zur Fassade degradiert sieht. Kegel sicher. In jedem Fall sollte man bei einem fiktionalen Buch über einen Wissenschaftler bedenken, wie schwierig es häufig sei, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte einfach darzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch an einen Seufzer des Physikers Richard Feynman zu erinnern, der einmal, als man ihn gebeten hatte, seine Forschungen für das Radio in drei Minuten zusammenzufassen, entgegnete: Er hätte sicher keinen Nobelpreis erhalten, wäre dies möglich. Fiktionale Literatur und populärwissenschaftliche Sachbücher: zwei Genres auf Erfolgsspur? Zurück zu Bernhard Kegel und Galapagos. Das Archipel habe er bewusst ausgewählt mit Blick auf sein nächstes Buch, das erneut den Kieler Meeresbiologen Hermann Pauli ins Zentrum der Handlung stellt. Noch während seines Fellowship-Aufenthalts am HWK schrieb er die ersten Kapitel; erscheinen soll der Roman im Herbst 2016. Im Kern dreht sich darin alles um Korallen und die Tatsache, dass ihnen wegen des Klimawandels eine düstere Zukunft prophezeit wird. „Das Buch handelt davon, was es für Meeresforscher und Riffökologen bedeutet, sich einem todgeweihten Ökosystem zu widmen“, spult er vor den Zuhörern der Konferenz eine Preview ab. Hinter seinem Aufenthalt an Bord als „embedded writer“ habe zunächst bei allen dort wohl ein großes Fragezeichen gestanden, sagt er im Rückblick, und ein Grinsen schwingt in seiner Stimme mit. „Niemand auf dem Schiff kannte meine Bücher.“ So hätten sie schließlich auch nicht einordnen können, ob er die Expeditionsteilnehmer einzeln porträtieren oder jedes Wort, jeden Konflikt haarklein in seinem Roman wiedergeben würde. „Was mir durch den Kopf geht und was ich da gerade aufschreibe, konnten sie nicht wissen.“ Man darf also sicher sein, dass alle Expeditionsteilnehmer interessiert nachlesen werden, wie sich die Reise im Buch niedergeschlagen hat! Und während man auch diesen Gedanken weiterverfolgt, wird langsam klar, welche Dimensionen das von der Stiftung als ein „Schlüsselthema“ geförderte Kooperationsvorhaben eigentlich hat. wissenschaftliche Inhalte populärwissenschaftlich, literarisch zu transportieren von Bernhard Kegel lieber. Da spüre und höre ich den Wissenschaftler dahinter. Nicht nur in der Vermittlung der Fakten; auch in der Art zu schreiben … Ihrer Meinung nach helfen also solche Romane, die Welt und wie sie funktioniert, besser zu verstehen – eine wichtige Funktion also, zumal diese Bücher ja eben ein Publikum erreichen, das in der Regel keine wissenschaftliche Originalliteratur liest … Treder: Unbedingt! Wichtig ist meines Erachtens dabei, dass der Leser immer die Fiktion von den Fakten unterscheiden kann. Vielleicht sollte man, wie Enzensberger vorschlägt, eine „Poetics of Knowledge“ entwickeln, die sich damit auseinandersetzt, wie man mit literarischen Mitteln Naturwissenschaft darstellt. Denn in der Fiktion geht es darum, wie aus Erfahrung und Erlebtem etwas Drittes entsteht: der Text, die Erzählung. Treppmacher: Sicherlich stellt sich beim Leser da oft ein AhaErlebnis ein. Aber meines Erachtens kauft sich nur eine Minderheit Wissenschaftsliteratur, weil sie sich konkret Wissen zu einem Thema aneignen will, um es mal so zu formulieren. Eher ist es die spannende Lektüre, die jemand sucht. Frank Schätzings „Der Schwarm“ und „Limit“ beispielsweise haben sich jedenfalls bei uns – und ich meine generell – weit besser verkauft als seine Krimis und historischen Romane. Das Gleiche gilt für Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, dessen literarische Qualitäten auch Leser anlocken, die sich nicht für Gauß und Humboldt interessieren. Es wäre aber mal spannend zu untersuchen, ob beispielsweise ein Schätzing-Leser dessen Bücher kauft, weil er sich „weiterbilden“ will – meines Erachtens allenfalls eine Minderheit – oder weil er spannende Lektüre sucht. Fiktionale Literatur und populäre Sachbücher: Zwei Genres; Letztere sind nicht Gegenstand des stiftungsgeförderten ProImpulse 02_2015 87 „Abgesehen von dem Besuch der Fischereitagung in Auckland (...) hatte er für die letzten zwei Wochen seiner langen Forschungsreise keine konkreten Pläne. (...) ‚Glaub mir', hatte John gesagt. ‚Raymond ist genau der Richtige, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Du wirst sehen, ihr geht irgendwo am Strand spazieren, und ehe du dich versiehst, stolpert ihr über einen Riesenkalmar.' “ (aus: Bernhard Kegel „Der Rote“) Kegel trifft mit seinen Werken und Themen, die ein recht umfangreiches und disperses Publikum adressieren, mitten in Herz und Verstand. Eher Letzteres wird – Achtung: Genrewechsel – ein Sachbuch über Mikrobiologie ansprechen, zu dem ihn die Expedition ans Rote Meer angeregt hat und das in diesem Frühjahr erschienen ist: „Die Herrscher der Welt“. Und wenn somit das Folgende auch kurz wegführt von der fiktionalen Literatur hin zu populärwissenschaftlich aufbereiteten Werken eher der Kategorie Sachbuch, so muss doch ebenso erwähnt werden, dass es hierzulande brandaktuell immerhin eine ganze Buchreihe schafft, Werk für Werk ihr Publikum zu finden und von sich reden zu machen: „Naturkunden“. Inzwischen sind 19 Preziosen im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienen. Dessen Mut zum Risiko, gleich eine ganze Reihe aufzulegen, ist umso mehr zu loben, als der Akteur nun keiner der wirklich großen seiner Branche ist. 88 Die 19 Schmuckstücke erzählen von Tieren und Pflanzen, Pilzen und Menschen, von Landschaften, Steinen und Himmelskörpern, von belebter und unbelebter, fremder und vertrauter Natur. Der Name der Reihe ist Programm. Hier wird keine bloße Wissenschaft betrieben, sondern die leidenschaftliche Erforschung der Welt: kundig, sorgsam, liebevoll und anschaulich sowie im Bewusstsein, dass sie dabei vor allem vom Menschen erzählt – und von dessen Blick auf eine Natur, die ihn selbst einschließt. Jedes Buch in dieser Reihe formuliert, ungeachtet seiner Gattung, eine eigene Kunde von der Natur und ist dabei so aufwendig, vielgestaltig und schön gemacht, wie das Wesen seiner Gegenstände es fordert: bebildert, in historischen Formaten gebunden, fadengeheftet, versehen mit Frontispiz und farbigem Kopfschnitt. So feiern die Naturkunden nicht zuletzt die unnachahmlichen und mannigfaltigen Möglichkeiten einer lebendigen Buchkultur. „Ich sehe mehr Veränderungen beim Sachbuch“, konstatiert Walter Treppmacher. Doch zurück zur Fiktion. „Ich fühle mich getrie- ben, über Wissenschaft in literarischer Form zu schreiben“, sagt auch die britische Autorin Pippa Goldsmith, die sich in der zweiten Jahreshälfte 2014 als „Writer in Residence“ am Hanse-Wissenschaftskolleg aufhielt. „Es ist doch spannend, sich mit den Anstrengungen, mit der Forschung zu befassen, derer es bedarf, um all das zu verstehen, was uns umgibt und was uns ausmacht“, detailliert sie ihre Motivation. Im Übrigen seien auch viele Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler tolle Geschichtenerzähler, allein – sie wüssten es oft nicht. Gleich Bernhard Kegel, Rebecca Goldstein und Susan Gaines hat Pippa Goldsmith intime Kennt- nisse des Wissenschaftsbetriebs: Die Absolventin der Astronomie hat eine Zeit lang in ihrem Fach geforscht, bevor sie einen Abschluss in kreativem Schreiben erwarb. Sie weiß, wovon sie erzählt. Ihr erster Roman „The Falling Sky”, der in deutscher Übersetzung seit Frühjahr 2015 vorliegt, handelt von einem jungen Astronomen, der zufällig über eine Erkenntnis stolpert, die das Fundament des Wissens über den Aufbau des Universums grundlegend infrage stellt. Dass der Konflikt mit dem Establishment seiner wissenschaftlichen Community nicht ausbleibt, dürfte niemanden überraschen. Wohl aber, wie die Geschichte sich entwickelt … Das „Fiction-Meets-Science“-Projekt: zur Halbzeit mit ersten Ergebnissen Goldsmith betont, wie sehr sie von ihrer Zeit am HWK profitiert hat. Die Unterstützung aus dem Projekt heraus ermöglichte es ihr, etliche Interviews mit Wissenschaftlern unmittelbar in Bremen und Oldenburg zu führen und einige Labore und Forschungsstätten zu besuchen. Dort sammelte sie auch Ideen für eine geplante Sammlung an Kurzgeschichten aus der Wissenschaft. Und sie habe eine erste Idee entwickelt für einen neuen Wissenschaftsroman, der in der Welt der Quantenphysik und ihrer Protagonisten spielt. „Wahrscheinlich hätte sich dieser Gedanke nie bei mir eingepflanzt ohne den durch das Projekt ermöglichten Aufenthalt“, gibt sie zu Protokoll. jekts „Fiction Meets Science“. Daher als Frage an Sie: Ganz unterschiedliche Leserschaft – oder gibt es Überschneidungen? Und gibt es vielleicht in der Kategorie des populärwissenschaftlichen Sachbuchs Veränderungen in den vergangenen Jahren? Treder: Es gibt schon innerhalb beider Genres ganz unterschiedliche Typen von Lesern, wie ich aus meiner täglichen Beratung weiß. Bei jenen, die Wissenschaftsromane kaufen, also eher zur Literatur neigen, würde ich eine kleinere Gruppe beschreiben als die, die sich gern herausfordern lassen, die unbequeme Erkenntnisse zulassen und geduldig in ihrem Leseverhalten sind. Diese Gruppe hat an den Inhalt eines populärwissenschaftlichen Buches einen hohen Anspruch – gerade auch was die wissenschaftlichen Inhalte angeht. Dann gibt es die sehr große Gruppe, die vor allem unterhalten werden will, in welcher Form auch immer. Auch diese Leser sind durchaus anspruchsvoll, wollen nicht „verdummt“ werden und wichtige Themen in ihrem Lesestoff, in der Geschichte vorfinden. Aber denen geht es vor allem um gute, anregende Lektüre. Was Sachbücher angeht, ist das Interesse gezielter. Vor allem aber scheint mir die Qualität populärwissenschaftlicher Sachbücher – zugegeben: Das ist stark verallgemeinert – deutlich besser geworden zu sein. Sie sind anspruchsvoller, sachgerechter, durchaus auch unbequem in ihren Aussagen und bieten nicht nur leicht verdauliche Informationen. Übrigens leistet hier das Fernsehen gute Vorarbeit für uns Buchhändler. Ein Hinweis auf ein Buch, das eine spezifische Problematik punktgenau behandelt, die uns alle beschäftigt: Das wird oft ein Renner. Treppmacher: Der Markt hat sich hier meines Erachtens weitaus stärker verändert als bei der Wissenschaftsliteratur. Ich meine, dass für das populäre Sachbuch Autoren wie Stephen Hawking, die es verstehen, schwierige Themen unterhaltsam und verständlich zu vermitteln und die sich oft durchaus an der Grenze von Wissenschaftsliteratur und Sachbuch bewegen, das Feld bereitet haben für deutsche Autoren wie Harald Lesch und Gerald Hüther. Was mir immer auffällt ist zudem, dass die Hauptzielgruppe des populären Sachbuchs eher männliche Leser sind. Besonders die älteren unter ihnen bevorzugen wiederum wissenschaftshistorische Themen, während ein Autor wie Irving Yalom mit seinen psychologischen Themen eher von Frauen gelesen wird. Impulse 02_2015 89 Und während peu à peu eine Autorin nach dem nächsten Autor das kleine, abgeschiedene Delmenhorst kennenlernt, häufen sich allmählich Eindrücke und Erkenntnisse bei den in das „Fiction-Meets-Science“-Projekt eingebundenen Forschern und Schriftstellern. Obwohl noch ein Stück des Weges vor ihnen liegt, haben sie bereits eine Menge an Resultaten destilliert. So hat sich der Oldenburger Wissenschaftler Anton Kirchhofer längst schon intensiv damit auseinandergesetzt, auf welche Weise Naturwissenschaftler als Romanfiguren dargestellt werden: „Bereits jetzt lässt sich sagen, dass die Darstellung von Wissenschaftlern als Figuren im zeitgenössischen Roman um ein Vielfaches komplexer ist, als die traditionellen Stereotypen vermuten lassen, und dass Leser so in bislang ungekannter Weise Einblicke gewinnen – nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die Motivationen und die besondere Situation von Wissenschaftlern.“ Jedes der insgesamt zwölf Teilprojekte des Kooperationsvorhabens, von denen einige noch gar nicht zur Sprache gekommen sind, wird Interessantes zutage fördern, sind sich die Beteiligten sicher – zum Beispiel jenes, das die Diskussionen naturwissenschaftlicher Romane in Buchklubs und Lesezirkeln einer wissenschaftlichen Betrachtung unterzieht. 90 Andere Teilprojekte fokussieren auf Genderaspekte und Fragen der Ethik in literarischen Beschreibungen von Wissenschaft. Und das Vorhaben zieht noch weitere Kreise als ursprünglich geplant: So hat sich ein Lesezirkel zusammengefunden von Wissenschaftlern mit ganz unterschiedlichem fachlichen Hintergrund. Die Teilnehmer dieses „Buchdebattierklubs“ treffen sich drei bis vier Mal im Jahr, um einen zuvor vereinbarten Kanon an Wissenschaftsromanen zu diskutieren. Ein ganz spannender Aspekt gleichsam zum Ausklang der analytischen Möglichkeiten dieses Vorhabens: Lassen sich womöglich Passagen in den Romanen finden, in denen das Dargelegte über das aktuell gesicherte Wissen im jeweiligen Feld der Wissenschaft hinausgeht – und damit wiederum das kulturelle Umfeld bildet, in dem die Naturwissenschaften ihrerseits weiter vorangetrieben werden? Ein Wissensfluss in die umgekehrte Richtung sozusagen? Dem Genre und Sujet angemessen, wäre dies beinahe schon der Cliffhanger für ein Folgeprojekt, fangen die Projektinitiatoren den Gedanken begeistert auf. Und während all die Dimensionen, nach denen das voluminöse Vorhaben greift, ob ihrer Ausdehnung bald gar nicht mehr fassbar scheinen, schafft es das „Es war ein Feuermeer, etwas viel Gewaltigeres und Wundervolleres, als jedes der beiden Elemente für sich genommen. Es war das Unmögliche. Es waren Tausende und Abertausende von Schmetterlingen.“ (aus: Barbara Kingsolver „Das Flugverhalten der Schmetterlinge“) Ihr Fazit zu dem Thema? Treder: Ich bleibe dabei. Im Segment Wissenschaftsliteratur hat sich nicht viel verändert: Was zählt, ist die gute, spannende, vielleicht irritierende Story – und wenn die mit Wissenschaft unterlegt ist und das Buch noch ein Renner wird, umso besser. Das wird dann unter „Gleichgesinnten“ wunderbar sozial kommunizierbar, man gehört kurzfristig einer Gemeinschaft an, die an diesem Leseereignis teilnimmt, das verbindet ungemein. Ich bin davon überzeugt, dass Wissenschaftsromane eine noch größere Chance auf ein breiteres Publikum hätten, wenn die Autoren dem Leser – auch über eine wirklich gute Vermittlung der Fakten und des oft „harten Stoffs“ – einfach noch mehr wissenschaftliches Wissen und dessen Rezeption zutrauen und nicht Naturwissenschaft zu einer Fassade degradieren, aus der man sich nach Belieben für eine spannende Geschichte bedient. Leider ist das oft so. Herzlichen Dank Ihnen beiden für das Gespräch. „Fiction-Meets-Science“-Projektteam – zu dessen Kern neben den Protagonisten aus Bremen, Oldenburg und Delmenhorst auch Wissenschaftler in Hamburg, Bielefeld und Australien gehören – mit seinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Literaturbetrieb in diesem gleichsam leisen wie feinen Projekt die Bretter auszulegen für eine teils sehr öffentliche, teils aber auch angemessen intime Bühne für Wissenschaft und Literatur: zwei Welten, die sich in jüngerer Zeit offenbar neu, aber immer noch zu selten begegnen, die einander heute schon viel geben, aber sicher noch mehr zu geben hätten. Die inhabergeführte Buchhandlung DECIUS GmbH ist mit einem Dutzend Filialen und rund 170 Mitarbeitern in ganz Niedersachsen vertreten – darunter die großen Stammhäuser in Hildesheim und Hannover. Allein hier bietet sie rund einhundert qualifizierte Arbeitsplätze; zugleich bildet sie in mehreren Berufen aus. Darüber hinaus unterstützt DECIUS zahlreiche regionale Kulturinitiativen am jeweiligen Ort. Das „Fiction-Meets-Science”-Forscherteam Anfang 2015 beim Projekttreffen in Bremen. Die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zeigten sich begeistert von ihrer Einbindung in das ungewöhnliche Vorhaben. Oder um mit einem Zitat eines unbekannten Verfassers aus einem ganz anderen Kontext zu enden: „Wenn es darum geht, den Unterschied zwischen Land und Wasser zu erklären, kann man verschiedene Küstenformen beschreiben und den Unterschied zwischen Land und Wasser entsprechend darstellen. Wer die Aussage ‚Land ist grundsätzlich verschieden von Wasser’ belegen will, wird das Beispiel der Felsklippe im Meer wählen, wer aber zeigen will, dass Land und Wasser sich gegenseitig ergänzen und befruchten können und dass sie oft als Kombination die erstaunlichsten Eigenschaften entwickeln, der wird von Sümpfen, Mooren und Gletschern reden und von dem Zauber, den sie bei richtiger Betrachtung entfalten.“ Impulse 02_2015 91 Publikationen Ist die Würde des Menschen unantastbar? Forscher auf der Suche nach Spuren von Wahrheit und Gewalt Seit einigen Jahren wird die Würde des Menschen neu verhandelt. Kommt die Wiederkehr der Folter? Stehen wir vor einer neuen Form von Gewalt, die als zweckmäßig betrachtet wird? Mehrere Publikationen eines stiftungsgeförderten Projekts sorgen für Aufsehen. Die am Projekt beteiligten Forscher Professor Dr. Reinhold Görling (links), Professor Dr. Johannes Kruse (hier fotografiert im Museum Insel Hombroich während einer Ausstellung vor Jahresfrist zum Thema „Gewalt und Folter“) sowie Professor Dr. Karsten Altenhain (nicht im Bild) haben reichlich publiziert. Zunächst veröffentlichten sie gemeinsam den Band „Wiederkehr der Folter“ (Göttingen: V&R Press 2013); anschließend legte Reinhold Görling noch zwei weitere Werke vor: „Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und Politik der Affekte“ (München: Fink 2011) und „Folterbilder und -narrationen. Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit“ (gemeinsam mit Julia Bee, Johannes Kruse und Elke Mühlheimer, Göttingen: V&R Press 2013). 92 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Auf diesen feierlichen Satz beruft sich der freie Westen gern, wenn er sich gegen die Diktaturen und Tyrannen dieser Welt stellt. Der Satz aus dem ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes bestimmt das moralische und rechtliche Fundament unseres Verständnisses von Gemeinschaft und Staat. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in den deutschen Landen die Folter abgeschafft, kehrte unter den Nazis dann zurück; seit mehr als sechs Jahrzehnten gilt Foltern hierzulande als Tabu. Seit Längerem also scheint Konsens, dass die Menschenwürde kein Gut ist, das man gegen andere aufrechnen kann: Sie markiert eine normative, nicht zu überschreitende Grenze. Formal gilt der Satz aus dem Grundgesetz uneingeschränkt. Doch seit Jahren schwelt eine Debatte, ob sich womöglich Würde gegen Würde aufrechnen lässt. Der Hintergrund ist handfest: Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde folgte bisher, dass man Menschen nicht foltern darf; etwa um – Stichwort Rettungsfolter – ein Geständnis zu erzwingen oder um nützliche Informationen zu erhalten. Mit „Szenen der Gewalt“ legt Reinhold Görling, Professor für Medienwissenschaft mit kulturwissenschaftlicher Orientierung an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, nun auf kompakten zweihundert Seiten eine Monografie speziell zum Verhältnis von Film und Folter vor (Reinhold Görling: „Szenen der Gewalt“. transcript 2014, Bielefeld. ISBN 978-3-8376-2654-4. 216 S. Preis: 29,99 Euro). Darin zieht er ein Resümee über ein Thema, das er selbst gemeinsam jahrelang im Verbund in umfangreicher Weise befragt hat. Es ist eine von inzwischen zahlreichen Publikationen aus dem von der Stiftung seit 2009 geförderten „Schlüsselthemen-Projekt“ zur „Wiederkehr der Folter“. Weitere Pfeiler im Forschungsverbund waren der Düsseldorfer Straf- und Medienrechtler Karsten Altenhain und der Psychiater und Psychotherapeut Johannes Kruse von der Universität Gießen. Der Folter-Begriff, den Görling aus seinem speziellen thematischen Blickwinkel entwirft, erschließt sich vor allem vor dem Hintergrund dieser interdisziplinären Zusammenarbeit. Erneut nähern sich die Forscher dem Begriff von dessen Rändern her, ausgehend von den Szenarien, in denen Folter stattfindet: Krieg, Handlungen staatlicher Gewaltregimes, Terrorismus, Gefängnis, Konzentrationslager. Doch Folter als Handlung entspringt nicht nur diesen Kontexten, sie selbst zersetzt und generiert Verhältnisse neu, indem sie in eine Wechselwirkung mit ihrem Schauplatz tritt. Opfer sind jene, denen der Platz in der Gesellschaft entzogen werden soll. Folter, das wird deutlich, schafft demnach ein Setting, das auf Entortung angelegt ist, das in der extremen Nähe der körperlichen Verletzung für eine größtmögliche Distanzierung Sorge trägt. Mit „Szenen der Gewalt“ macht Görling dieses Verständnis der Folter als Akt der Repräsentation nun noch mal speziell am Beispiel des Films deutlich. Christian Jung Impulse 02_2015 93 Publikationen aus geförderten Projekten der VolkswagenStiftung „generation mix“: Die Jugend kreiert Europas neue Stadtkultur In Europas Städten vollzieht sich eine demografische Revolution – das Ende der „Mehrheitsgesellschaft“ ist eingeläutet. In Amsterdam, London und Brüssel ist das bereits vollzogen, in Deutschland werden Frankfurt, Augsburg und Stuttgart als Erste folgen. Damit einher geht, dass klare ethnische Zuordnungen immer schwieriger sind, Mehrdeutigkeiten und Mehrfachidentitäten gewinnen an Bedeutung. Superdiversity lautet der Fachbegriff dafür. Diesen Übergang zur „Einwanderungsgesellschaft“ haben die meisten (Stadt-) Gesellschaften allenfalls verbal, nicht jedoch mental vollzogen. Wie aber kann die „superdiverse Stadt“ als Gemeinwesen funktionieren und sich ein neues Fundament geben, das gleichberechtigte Teilhabe und Freiheit ermöglicht? Wo findet sich die gemeinsame Basis in einer Stadt, deren übergroße Mehrheit nur noch aus Minderheiten besteht? In ihrem Buch zeigen die Autoren, dass wir gerade an einer entscheidenden Weggabelung stehen: Nur die Städte, die all ihren Talenten einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Jobs und Zugehörigkeit bieten, werden erfolgreich bestehen können. Die Protagonisten des Gelingens sind schon jetzt jene jungen Leute, die die neue urbane Wirklichkeit bereits leben. Die „generation mix“ ist mehrsprachig und interkulturell, sie pflegt das kulturelle Erbe der Eltern und kreiert gleichzeitig die neue Stadtkultur. Jens Schneider, Maurice Crul, Frank Lelie: „generation mix. Die superdiverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen.“ Münster: Waxmann Verlag, 2015. ISBN 978-3-8309-3182-9 Bewegte Jugend: Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Es beginnt mit einzelnen Protesten und wird zum Lauffeuer: Anfang 2011 blickt die Welt wie gebannt auf die Ereignisse im arabischen Raum, wo mit unbändiger Wucht die Rufe nach mehr Freiheit und Demokratie laut werden. Vor allem die westliche Welt zeigte sich überrascht; man hatte nicht für möglich gehalten, dass solche – im Kern zivilgesellschaftlichen – Prozesse derart schnell an Fahrt gewinnen könnten. Die Großstädte Arabiens waren und sind jene prominenten Orte, an denen sich Widerstand und Protest gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Armut und Ausgrenzung artikulieren und öffentlich sichtbar werden. Jugendliche, die Hauptinitiatoren des Arabischen Frühlings, stehen dabei im Mittelpunkt. Die Autoren Jörg Gertel und Rachid 94 Ouaissa betrachten deren alltägliche Handlungsspielräume im Kontext wirtschaftlicher Zwänge, staatlicher Kontrolle und politischer Ordnungen. Die Beiträge zeigen, wie Widerstand und neue Initiativen die aktuellen Gesellschaftsentwürfe verändern und wie neue Vorstellungen von Heimat verhandelt werden. Die intensiven Studien vor Ort bieten einen differenzierten Blick auf das breite Spektrum des Jugendlichseins und Erwachsenwerdens in den Städten der arabischen Welt. Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hrsg.): „Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt.“ Bielefeld: transcript Verlag, 2014. ISBN 978-3-8376-2130-3 Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt Computer vermögen heute ebenso wie der Mensch zu lesen und zu schreiben. Nach Jahrtausenden des Monopols über die Schrift mussten wir diese Bastion im 21. Jahrhundert räumen: eine Entwicklung, die schon Douglas Engelbart, der Erfinder der Computermaus, 1968 vorhergesehen hat. Henning Lobin beschreibt, wie sich Lesen und Schreiben ändern, wenn der Computer uns diese Kulturtechniken immer mehr abnimmt. Wie wirkt sich dies auf Bücher, Bibliotheken und Verlage aus, auf Schule und Universität, Presse und Zensur? Welche Veränderungen auf dem Weg hin zu einer „Digitalkultur“ lassen sich voraussagen? Wie können wir verhindern, zum Spielball der technischen Evolution zu werden? Engelbarts Traum muss heute neu gedeutet werden, soll er sich nicht in einen Albtraum verwandeln. Henning Lobin: „Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt.“ Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2014. ISBN 978-3593-50183-3 Kulturen der Würde. Anerkennung, Sterben, Tod Das Ende des menschlichen Lebens ist in modernen westlichen Gesellschaften zu einer zentralen bioethischen Frage geworden. Menschen möchten „in Würde“ sterben, heißt es in Europa und Nordamerika. Doch ist Berufung auf die „Menschenwürde“ nicht so einheitlich und so eindeutig, wie dieser universale Begriff glauben machen möchte. Den Autoren ist es mit diesem Buch zum einen gelungen, Nuancen und Unterschiede deutlich zu machen, die der Begriffskategorie „Würde“ in verschiedenen Sprachen, Kulturen und Traditionen zukommt. Zum anderen dokumentieren sie Überzeugungen, die sich im Begriff der „Würde“ verdichten. Ein Schwerpunkt liegt auf dem frankokanadischen Raum, wo die Forderung „Mourir dans la dignité“ heißt – mit all den Widersprüchen und Konflikten, die sich dahinter verbergen. So gelingt es den Autoren, den Bedeutungen dieses Begriffs beidseits des Atlantiks Konturen zu verleihen. Christine Baumbach-Knopf, Peter Kunzmann, Nikolaus Knoepffler (Hrsg.): „Kulturen der Würde. Anerkennung, Sterben, Tod. München: Herbert Utz Verlag, 2014. ISBN 978-3-8316-4287-8 Vergessene Texte des Mittelalters Dantes „Göttliche Komödie“ oder die Minnelieder von Walther von der Vogelweide – nur zwei der klangvollen Namen mittelalterlicher Literatur. Manches davon kennt man vom Hörensagen, aus Nacherzählungen, Verfilmungen, aus der WagnerOper oder durch eigene Lektüre. Aber das Mittelalter hat mehr zu bieten als diese wenigen Klassiker. Solche unbekannten Texte dem Vergessen entreißen, wollen die beiden Herausgeber. Unterstützt von zwanzig Experten für mittelalterliche Literatur stellen sie ihre Lieblingstexte verständlich und liebevoll bebildert einer breiten Leserschaft vor. Und da ist einiges versammelt: irische Sagen, ein Loblied auf das Hausschwein und die Erzählung vom Sün- denfall aus der Sicht Evas ebenso wie der Bericht von der Brautfahrt Isabellas von Aragon, die Erzählung vom Ritter mit dem Adler oder eine enzyklopädische Sammlung berühmter Männer und Frauen. Bevölkert sind diese Texte mit ganz wunderlichen Wesen – etwa dem gräulichen Meermönch oder Dämonen, die in ihrer Freizeit die Tora studieren. So ist eine Art Blütenlese an seltsamen, wunderbaren, skurrilen und oft genug höchst erstaunlichen wie vergnüglichen Texten entstanden. Nathanael Busch, Björn Reich (Hrsg.): „Vergessene Texte des Mittelalters.“ Stuttgart: S. Hirzel Verlag, 2014. ISBN 978-3-7776-2248-4 Impulse 02_2015 95 Veranstaltungen Gemeinsam forschen – Verbindung stiften: fünfzig Jahre deutsch-israelische Beziehung In der guten, langen Tradition der israelisch-deutschen Wissenschaftskooperation spielen die VolkswagenStiftung und das Land Niedersachsen eine besondere Rolle – sogar schon etwas länger als fünf Jahrzehnte. Ein Festakt im Schloss Herrenhausen in Hannover. Schlaglichter auf die Israel-NiedersachsenFörderung. Oben: Sebastian Kadener von der Hebrew University of Jerusalem möchte die Funktionsweise der Synapsen von Nervenzellen besser verstehen. Mitte, links: Dr. Dirk Dorfs von der Universität Hannover am Lichtmikroskop. Er ist Spezialist für Solarzellen und mit Sonnenkraft betriebene Laser. Seine Kooperationspartner vom Technion in Haifa sind (Mitte, rechts) Professorin Efrat Lifshitz und Doktorand Jenya Tilchin; sie arbeiten daran, Nanopartikel für die Energiewandlung nutzbar zu machen. Zu dieser Arbeitsgruppe gehören (unten links) Dafna Granot und Nimrod Kruger, die Laserexperimente im optischen Labor machen. Unten rechts: Professor Silvio O. Rizzoli von der Universität Göttingen ist Kooperationspartner von Sebastian Kadener. 96 Vor fünfzig Jahren, im Mai 1965, nahmen Israel und Deutschland diplomatische Beziehungen auf und tauschten erstmals Botschafter aus. Doch schon einige Jahre zuvor hatten Forscher aus Israel und Deutschland den Dialog gestartet und so eine Annäherung zwischen beiden Ländern eingeleitet. In einem Festakt würdigten rund 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und weitere Gäste aus beiden Ländern im März 2015 diese Zusammenarbeit. Die Aufgeschlossenheit der Forscher habe den Weg für die Diplomatie bereitet, sagte Niedersachsens Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajić bei der Veranstaltung im Schloss Herrenhausen. „In Verantwortung für die Gräueltaten des Faschismus und den Völkermord an den europäischen Juden werden die deutsch-israelischen Beziehungen für uns immer einen besonderen Charakter haben“, betonte die Ministerin. Israels Botschafter in Deutschland, Yakov HadasHandelsman, hob hervor, welch entscheidende Rolle die Wissenschaft für den Verständigungsprozess gespielt habe und spiele. Inzwischen arbeite jede Universität in Israel mit deutschen Partnern zusammen; in der Forschung sei Deutschland zweitwichtigster Partner nach den USA. „Vor siebzig Jahren konnte sich niemand vorstellen, dass es nach dem Horror des Holocaust eines Tages Beziehungen zwischen Israel und Deutschland geben würde“, sagte der Botschafter. Auch der Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Wilhelm Krull, erinnerte an das schwierige politi- sche Klima vor rund fünfzig Jahren, in dem sich Verbindungen zwischen Israel und Deutschland nur mit großem Einsatz hätten realisieren lassen. Die Stiftung hatte bereits 1963 – unmittelbar nach ihrem Start – Mittel für israelische Forschungseinrichtungen bewilligt und bald darauf auch den Austausch von Wissenschaftlern gefördert. Diesem Start folgte ein dauerhaftes, vielgestaltiges Engagement für Israels Wissenschaft vonseiten der Stiftung. Seit 1977 existiert zudem unter dem Dach des „Niedersächsischen Vorab“ ein Programm von Stiftung und Land Niedersachsen zur Förderung von Gemeinschaftsvorhaben zwischen israelischen und niedersächsischen Forscherinnen und Forschern. Seitdem wurden knapp 400 Projekte mit insgesamt rund fünfzig Millionen Euro gefördert. Über 1500 Wissenschaftler sind oder waren daran beteiligt. Aus vielen dieser Projekte erwuchsen interessante Perspektiven, nachhaltige Netzwerke und weiterführende Arbeiten, an denen oft auch Nachwuchsforscher beteiligt waren. Zum Jubiläum ist die Broschüre „Gemeinsam forschen – Verbindung stiften“ erschienen, die Projekte aus dieser besonderen Wissenschaftsförderung vorstellt. Die nebenstehenden Bilder stammen aus israelisch-niedersächsischen Kooperationsvorhaben, über die in dem Magazin auf Deutsch und Englisch berichtet wird und die einen Einblick in Breite und Vielfalt der Forschungsaktivitäten geben. Beate Reinhold Impulse 01_2015 97 Veranstaltungen Mit ihren derzeit fünf Veranstaltungsreihen im Schloss Herrenhausen in Hannover verfolgt die Stiftung das Ziel, Wissen in die Gesellschaft zu tragen, Forschern ein Forum für ihren fachlichen Austausch zu geben und die Verbindung von Wissenschaft und diversen Zielgruppen zu intensivieren. Eine Übersicht aller Veranstaltungen sowie Anmeldemodalitäten sind zu finden unter www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen. Einzelne Programmpunkte der – ansonsten als Fachveranstaltungen geschlossenen – Herrenhäuser Konferenzen und Herrenhäuser Symposien können für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Hier ausgewählte Termine der nächsten Monate. Juli 1.7.Herrenhäuser Zukunftsdialog: „Wahlen sind bald – die Jugend lässt's kalt? Politische Beteiligung im 21. Jahrhundert“ 3.7.Herrenhäuser Symposium: „Madonna in Kunst und Musik“ 6.7.-7.7. Symposium „25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung“ 16.7.Herrenhäuser Gespräch: „Stunde Null ? Über radikale Neuanfänge in Musik, Kunst und Literatur“ 30.7.-31.7. Workshop „Governing the Anthropocene“ September 1.9.-3.9. Symposium „Let’s Walk Urban Landscapes” 3.9.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Mobilität: von der Zukunft eines Lebensgefühls“ 16.9.-18.9. Tagung „Philologie und Gesellschaft“ 24.9. Herrenhäuser Gespräch 25.9. Neu gefördert! Die neuen Freigeist-Fellows der VolkswagenStiftung stellen sich vor 25.9.-26.9. Forschungs- und hochschulpolitisches Werkstattgespräch 28.9.Leopoldina Lecture: „Burnout, Angst und Depressionen: Wie können wir psychischen Störungen am Arbeitsplatz begegnen?“ 29.9.-1.10. Nature Herrenhausen Symposium: „Ageing – Cellular Mechanisms and Therapeutic Opportunities” ser äu nh EN e r her SI M SY 98 Herrenhäuser Konferenzen Die Herrenhäuser Konferenzen sind Fachveranstaltungen. Sie fokussieren mit besonderem Aktualitäts- und Zukunftsbezug wissenschaftliche Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz und öffnen neue Forschungsfelder. PO Herrenhäuser Symposien Die Herrenhäuser Symposien – ebenfalls geschlossene Fachveranstaltungen – bieten Forschern eine Plattform, Ideen zu entwickeln und neue Forschungsansätze zu diskutieren. Die Stiftung veranstaltet auch eigene Symposien. Oktober 5.10.-6.10. Workshop Wissenschaftskommunikation: „Handlungsmöglichkeiten unter dem Druck der PR“ 5.10.-7.10. Fortbildungsreihe des ZWM Speyer: „Professionals in Science“ 8.10. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Auf den Spuren guter Ernährung“ 10.10. Hannah Arendt Tag 2015 13.10. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: „ ‚… und dann ein bißchen baedekern‘ – zur Entwicklung von Reiseliteratur und Massentourismus“ 13.10.-14.10. Workshop „Koordination und Kooperation in der Hochschul- und Wissenschaftsforschung“ 19.10.-20.10.Öffentliche Gutachtersitzung zur Auswahl der Projekte in der gemeinsam vom Land Niedersachsen und von der VolkswagenStiftung im Rahmen des Niedersächsischen Vorab getragenen Ausschreibung „Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung“ 20.10. Herrenhausen Late: „Heute schon gelernt? – Wissensvermittlung von Seminar bis Science Slam“ November 2.11. Herrenhäuser Zukunftsdialog 2.11.-3.11. Workshop „Governance of Science“ 9.11.-11.11. Tagung „Genome Editing” (Arbeitstitel) 17.11. Herrenhäuser Forum Politik – Wirtschaft – Gesellschaft: „Zwischen Wohlstand und Widerstand – was erreicht Entwicklungszusammenarbeit?“ 17.11.-19.11. Fortbildungsreihe des ZWM Speyer: „Professionals in Science“ 19.11. Herrenhäuser Gespräch: „Tischlein deck' dich: Rituale und Essenskultur in einer digitalen Welt“ 20.11.-21.11. Herrenhäuser Konferenz: „Long-term Processes of Socio-Economic Development: Stagnation, Growth, Divergence and Crises” 23.11.-24.11. Statussymposium „Forum Experiment!“ 24.11.Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Zwischen Schulbrot und Smartphone – alles gut bei unseren Kindern?“ 24.11.-25.11. Internationale Konferenz: „Lernen von Anderen und seine Grenzen – Migrationsmanagement und Integrationsförderung im internationalen Vergleich“ 25.11.Verleihung Förderpreis Opus primum der VolkswagenStiftung Dezember 1.12.-4.12. 8.12.-9.12. errenhäuser Symposium „Didactics of Mathematics” H Herrenhäuser Symposium „Sustainable Development Goals” GE ser äu enh r her R SP H ÄC E Herrenhäuser Gespräche Mit den Herrenhäuser Gesprächen präsentieren die Stiftung und NDR Kultur aktuelle Themen aus Wissenschaft und Kultur von Bedeutung für die Gesellschaft. Adressat ist hier zuvorderst die wissenschaftsinteressierte Öffentlichkeit. FO ser äu enh r her M RU Herrenhäuser Forum Mit verschiedenen Schwerpunkten begeistert das Herrenhäuser Forum ein breites Publikum für wissenschaftliche Fragen: zu Themen des Zeitgeschehens und Aktuellem aus „Politik – Wirtschaft – Gesellschaft“ und „Mensch – Natur – Technik“. h sen au TE LA nh e err Herrenhausen Late „Herrenhausen Late – ScienceMusicFriends“ zielt auf ein junges Publikum. Experten unterhalten aus überraschender Perspektive originell über Wissensthemen. Der Festsaal im Schloss verwandelt sich in eine Lounge mit kleiner Bühne, DJ und Bar. volkswagenstiftung.de Veranstaltungen Herrenhäuser Gespräche, Foren, Konferenzen … hier finden Sie Informationen über die Vielzahl unserer Veranstaltungen. Newsletter Unser E-Mail-Newsletter informiert Sie regelmäßig über aktuelle Nachrichten und Veranstaltungen der VolkswagenStiftung. Jetzt anmelden! News Aktuelle Nachrichten aus der VolkswagenStiftung, zum Beispiel zu laufenden Forschungsprojekten, neuen Ausschreibungen oder Publikationen Unser Förderangebot Sie suchen eine Förderung? Dann nutzen Sie unsere Fördersuche, um eine passende Initiative für Ihr Forschungsvorhaben zu finden. Mediathek In unserer Mediathek finden Sie Fotos und Bildergalerien, Videos und Audios. sciencemovies In unserem Videoblog sciencemovies.de präsentieren sich acht von der VolkswagenStiftung geförderte Projekte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen. Film ab! 100 Unsere Audio-Angebote Sie haben eine Veranstaltung verpasst? In unseren Podcasts „ListenToScience“ und „ScienceUncut“ stellen wir Ihnen Audio-Mitschnitte unserer Veranstaltungen zum Nachhören zur Verfügung. Gefällt mir! Die VolkswagenStiftung finden Sie auch bei Facebook, Twitter und YouTube. Schauen Sie doch mal vorbei! Neu bei volkswagenstiftung.de Immer informiert Der monatlich erscheinende Newsletter der VolkswagenStiftung informiert Sie über neue Förderinitiativen und anstehende Stichtage sowie aktuell geförderte Projekte, wichtige Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Abonnieren können Sie ihn ganz einfach online durch die Angabe Ihrer E-Mail-Adresse unter www.volkswagenstiftung.de/ newsletter-anmeldung. Selbstverständlich können Sie das Abonnement jederzeit über einen entsprechenden Link in der Fußzeile jeder NewsletterAusgabe oder über die Homepage der VolkswagenStiftung wieder beenden – auch wenn wir natürlich hoffen, dass Sie dranbleiben … Wilhelm Krull zum Ehrenmitglied gewählt Der Bundesverband Deutscher Stiftungen wählt den Generalsekretär der VolkswagenStiftung Anfang Mai 2015 beim Deutschen Stiftungstag zu seinem Ehrenmitglied Das Votum der Mitgliederversammlung des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen fiel einstimmig aus. Die Mitglieder des Verbandes würdigten beim deutschen Stiftungstag, dem alljährlichen Zusammentreffen vieler Akteure aus dem Stiftungswesen, die zahlreichen Verdienste des Stiftungsexperten Dr. Wilhelm Krull: Seit 1996 – also fast zwanzig Jahren – ist er Generalsekretär der VolkswagenStiftung, einer der größten Stiftungen hierzulande. „Wilhelm Krull hat mit seinem Engagement in der Wissenschaftspolitik in Deutschland viele neue Akzente gesetzt. Und er hat sich zugleich nie allein auf dieses Feld zurückgezogen, sondern sich für die Stiftungslandschaft in Deutschland und Europa persönlich sehr engagiert", begründete der Vorstandsvorsitzende Professor Dr. Michael Göring die Auszeichnung. Sie möchten regelmäßig über das Veranstaltungsprogramm der VolkswagenStiftung informiert werden? Dann können Sie sich unter https://veranstaltungen.volkswagenstiftung.de/ in unserem Anmeldeportal registrieren. Der studierte Germanist, Philosoph, Pädagoge und Politikwissenschaftler nimmt neben seinen beruflichen Tätigkeiten in der Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung seit über zwei Jahrzehnten zahlreiche Funktionen in nationalen, ausländischen und internationalen Gremien wahr. In verschiedenen Funktionen engagierte und engagiert sich Wilhelm Krull national und international für das Stiftungswesen: So war er von 2003 bis 2005 Chairman des Hague Club, der Vereinigung der größten europäischen Stiftungen. Den Vorsitz im Vorstand des European Foundation Centre hatte er von 2006 bis 2008 inne. Von 2008 bis 2014 war er Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Gegenwärtig ist Krull Vorsitzender des Stiftungsrats der Universität Göttingen, Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission des Landes Niedersachsen und der Kuratorien des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen, des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Potsdam und Hannover sowie weiterer Max-PlanckInstitute in Potsdam und Radolfzell. Impulse 02_2015 101 Vorgestellt! Eigentlich wollte sie Tierärztin werden, dann Schauspielerin. Mareike Knoke blieb aber zum Glück bei dem, was ihr immer schon am meisten Spaß gemacht hat: dem Schreiben. Reportagen, Features, Porträts, Interviews. Nach dem Germanistikstudium arbeitete sie zunächst als Reporterin einer Lokalredaktion. Weitere Stationen: Redakteurin bei der Berliner Morgenpost, Redakteurin für Hochschulpolitik und Wissenschaft bei der duz (Deutsche Universitätszeitung), seit 2004 freie Journalistin für Wissenschaft und Bildung und Moderatorin von Fachtagungen. Das Thema Forschung und Lehre mit dem weiten Blick auf das Wissenschaftssystem hat sie seitdem nicht mehr losgelassen: Es ist wie eine große Wundertüte, die immer wieder neu gefüllt wird und in der es noch viel zu entdecken gibt. Über ihre Entdeckungen schreibt sie für Printmedien wie Spektrum der Wissenschaft und arbeitet für verschiedene Stiftungen; zugleich produziert sie für den Hörfunk, vor allem für Deutschlandradio. Ina-Jasmin Kossatz arbeitet seit 2013 als freie Fotoredakteurin für das Magazin Impulse. Dem Studium an der Hochschule Hannover mit dem Schwerpunkt Visuelle Kommunikation folgte ein Volontariat zur Bildredakteurin und der Job als Gestalterin für Online und Print bei der renommierten Agentur für Fotos und Reportagen „laif“, wo sie auch die Marketing- und Geschäftsleitung unterstützte. Zurück in Hannover, lehrt Ina Kossatz seit 2012 an der Hochschule Hannover Grundlagen der Fotografie im Studiengang Visuelle Kommunikation. An der Fachhochschule Dortmund unterrichtet sie ebenfalls angehende Fotografen: etwa darin, wie eine Fotoredaktion funktioniert oder wie man sich am freien Markt behauptet. Gelegentlich assistiert sie professionellen Fotografen, um in der Praxis zu bleiben. Wenn Sie hier nun die vierfache Ina K. sehen, dann heißt das nicht, dass die Stiftung das Ad-hoc-Klonen erfunden hat; hingegen handelt es sich um eine Photoshop-Montage mehrerer Lichttests für ein Fotoshooting in der Bremer Uni-Bibliothek. Dr. Vera Szöllösi-Brenig machte nach dem Studienabschluss in Romanistik und Germanistik ein Volontariat beim Bayerischen Rundfunk. Dort und beim Deutschlandfunk in Köln arbeitete sie anschließend als politische Redakteurin. In dieser Zeit promovierte sie über den französischen Romancier Claude Simon. Seit 1999 ist sie bei der Stiftung beschäftigt, betreute dort die jüngst erst beendeten langjährigen Initiativen „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ und „Dokumentation bedrohter Sprachen“. Derzeit verantwortet sie das Small Grants-Programm „Originalitätsverdacht?“ und bereitet aktuell das mögliche künftige Förderfeld „‘Mixed Methods‘ in den Geisteswissenschaften“ vor. Den Geisteswissenschaften und der Wissenschaftspolitik gilt ihr tiefgehendes Interesse, sagt sie von sich. Entsprechend breit ist auch das Spektrum an Disziplinen, das sie in der Stiftung betreut: Sprachwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie Kunst, Theater- und Musikwissenschaften. 102 Impressum Die Stiftung in Kürze Herausgeber VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Telefon: +49 511 8381-0 Telefax: +49 511 8381-344 E-Mail: [email protected] www.volkswagenstiftung.de Die VolkswagenStiftung ist eine eigenständige, gemeinnützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover. Mit einem Fördervolumen von insgesamt etwa 150 Millionen Euro pro Jahr ist sie die größte private deutsche wissenschaftsfördernde Stiftung und eine der größten Stiftungen hierzulande überhaupt. In den mehr als fünfzig Jahren ihres Bestehens hat sie über 30.000 Projekte mit insgesamt mehr als 4,2 Milliarden Euro gefördert. Auch gemessen daran zählt sie zu den größten gemeinnützigen Stiftungen privaten Rechts in Deutschland. Vertreten durch Kuratorium VolkswagenStiftung, vertreten durch den Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull Redaktion (Text und Schlussredaktion) Dr. Christian Jung (cj) Bildredaktion Ina-Jasmin Kossatz Kommunikation VolkswagenStiftung Jens Rehländer (Leitung) Gestaltung Medienteam-Samieske, Hannover Korrektorat Cornelia Groterjahn, Hannover Druck gutenberg beuys feindruckerei gmbh Hans-Böckler-Str. 52 30851 Hannover/Langenhagen Bildnachweis Impulse 2015 Die Fotos und Abbildungen wurden – soweit unten nicht anders angegeben – dankenswerterweise von den jeweiligen Instituten beziehungsweise Hochschulpressestellen zur Verfügung gestellt. Seiten 1, 4 (oben), 22-33, 35: Muhammad Fadli/Jakarta Seite 3: Dennis Börsch, Hannover Seiten 4 (Mitte), 62-71: Sven Döring, Dresden Seiten 4 (unten), 6-14, 16, 52-56, 58, 59, 61: Daniel Pilar, Hannover Seite 15: Inga Dirks, Israel Seite 17: Lukas Gruenke, Hannover/Osnabrück Seiten 19, 93: David Klammer, Köln Seite 20 (links): Ulrich Dahl, Pressestelle TU Berlin Seite 20 (rechts): Ina Zimmermann, HTW Berlin Seite 21: www.ingimage.com/Joyt Seiten 36-44: Kristy Carlson, Bujumbura/Burundi Seite 45: Cira Moro, Konstanz Seite 47: von/über Julia Schroeder, Seewiesen Seite 48: Max Löhning, Berlin Seite 49: Martin Westermann / Christian Kost, Universitätsklinikum Jena Seite 50: SLAC National Accelerator Laboratory, Kalifornien, USA Seite 51: Uwe Bellhäuser, das bilderwerk Seite 57 (oben): Pütz / Seite 57 (unten): Rüdiger Koop, Saarbrücken Seite 60: Britt Schilling, Bonn Seite 73: Martin Kaltenpoth, MPI für chemische Ökologie, Jena Seite 74: privat Seite 75: Breshuk via Wikimedia Commons CC Seite 76: Christopher Honnef, Deutsches Meeresmuseum Stralsund Seite 77: Antje Dittmann, Deutsches Meeresmuseum Stralsund Seiten 78, 91, 102 (Mitte): Helge Krückeberg, Hannover Seiten 81, 82, 84, 86, 88, 90 (Illustrationen): Dorota Gorski, Hannover Seiten 83, 87, 89: Michael Löwa, Hannover Seite 97 (oben, Mitte rechts, unten links): Jonas Opperskalski, Tel Aviv, Israel Seite 97 (Mitte links): Fabian Fiechter, Hannover Seite 97 (unten rechts): Franz Bischof, Hannover Seite 101: Marc Darchinger, Bundesverband Deutscher Stiftungen, Berlin Seite 102 (oben): Christian Dohrmann, Berlin Seite 102 (unten): Ina-Jasmin Kossatz, Hannover Das Gründungskapital der Stiftung wurde von Bund und Land Niedersachsen im Rahmen des Privatisierungsprozesses der heutigen Volkswagen AG bereitgestellt. Es handelt sich bei der VolkswagenStiftung jedoch nicht um eine Unternehmensstiftung. Die Stiftungsgremien sind autonom und unabhängig in ihren Entscheidungen. Erwirtschaftet werden die Fördermittel der Stiftung einerseits – größtenteils zugunsten der „Allgemeinen Förderung“ – aus ihrem Kapital, derzeit circa 2,9 Milliarden Euro. Andererseits stammen sie aus den vom Land Niedersachsen gehaltenen und mit einem Vermögensanspruch der Stiftung versehenen gut 30 Millionen Volkswagenaktien samt ihrer Dividende (Teil des „Niedersächsischen Vorab“). Die VolkswagenStiftung fördert gemäß ihrer Satzung Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre und setzt durch die von ihr bewilligten Mittel gezielte Impulse. Sie entwickelt mit Blick auf zukunftsweisende Forschungsgebiete eigene Förderinitiativen. Diese bilden den Rahmen ihrer Förderaktivitäten und werden im Weiteren als Teil des eigenen Veranstaltungsangebots thematisch aufgegriffen. Mit der Konzentration auf eine begrenzte Zahl von Initiativen sorgt die Stiftung dafür, dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Stiftung dem wissenschaftlichen Nachwuchs sowie jenen Forscherinnen und Forschern, die im Zuge ihrer Arbeit und wissenschaftlicher Kooperationen inhaltliche, kulturelle und staatliche Grenzen hinter sich lassen. Ein Hauptaugenmerk gilt desgleichen der Verbesserung der Ausbildungs- und Forschungsstrukturen in Deutschland. Die Umsetzung der Ziele erfolgt oft im Austausch mit anderen Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung. Impulse 02_2015 103 Wir stiften Wissen VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Telefon 05 11/83 81-0 Telefax 05 11/83 81-344 [email protected] www.volkswagenstiftung.de
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