Rede des Laudators

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Die Honigprotokollanten
Rede zum Kleistpreis für Monika Rinck
Heinrich Detering
Monika Rincks Texte bewegen sich, bewegen uns auf Achterbahnen durch Zeiten und
Sprachen, durch Wissensbestände und Medienwelten. Sie entstehen in Zusammenarbeit mit
Musikern und Bildkünstlern, als Songtexte und als Kinderbücher, als die mit Sabine Scho und
Ann Cotten inszenierten Performances der Rotten Kinck Schow, als Übersetzungen ungarischer
und slowenischer Poesie ins Deutsche, sie entstehen in Versen und in Essays. Eigenart und Rang
dieser Texte sind in der Gegenwartslyrik ohne Beispiel und Vergleich: So könnte ich anfangen,
und so könnte ich dann noch einige Zeit weiter reden und loben –
aber auf Monika Rinck kann man keine Laudatio halten. Dass über ihre Schriften schon soviel
Kluges und Subtiles geschrieben worden ist, dass eine Rede wie diese nur dahinter
zurückbleiben kann, dumm und unsubtil – das, meine Damen und Herren, ist nicht das
Schlimmste. Schlimmer ist, dass sie selber in ebendiesen Schriften schon die meisten
Redeweisen durchgespielt hat, auch die des Redens über Poesie, des Lobens und des
Verwerfens, der selbstreflexiven Scherze, der akademischen und der antiakademischen, der
phallogozentrischen und der dekonstruktiven Gesten. Gerade in dem Augenblick, in dem der
Lobwillige erwägt, ob er Monika Rinck, die Unabhängige, Eigenständige, nicht eine „Diva“
nennen könnte, liest er in ihren unter dem Titel Risiko und Idiotie gesammelten Streitschriften:
„der
Idiot“
nenne
„Diva“
alle
„geistesgegenwärtige
Ablehnung
von
falschen
Kooperationsangeboten“.
Da ich ein Idiot bin, wie er in ihrem Buche steht, rede ich also vorerst lieber nicht von Monika
Rinck. Sondern von Kleist. Nicht von dem Dramatiker und Erzähler, den jeder zu kennen
glaubt, sondern vom Poeten gleichen Namens, den fast keiner kennt. Liest man im KleistHandbuch über Kleists Poesie nach, dann erfährt man, dass fast alle Lebensthemen und alle
sonderbar widerspenstigen Verfahren seines Schreibens in seinen Gedichten auf engstem Raum
versammelt erscheinen. Denn worum geht es hier? Um – so lese ich – Gewalt und Grazie,
Körperlichkeit und Sprechen und Verstummen, in einem unablässig mit den Perspektiven und
Positionen experimentierenden Schreiben, das auch die eigene Autorschaft zugleich
emphatisch zur Geltung bringt und im selben Atemzug wieder aufhebt, in oft brüsken Wechseln
der Sprecherrollen und – diese Formulierung gefällt mir besonders – einer Dynamik des
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Dialogischen, die sich jederzeit als Parodie, Pastiche, Kontrafaktur artikulieren kann. Über die
Penthesilea, bei deren Vollendung er doch Tränen vergossen hatte, höhnt Kleist im Epigramm:
„Heute zum ersten Mal mit Vergunst: die Penthesilea, / Hundekomödie; Acteurs: Helden und
Köter und Fraun.“
In Kleists wenigen Gedichten kommen Stanzen und Blankverse, elegische und
epigrammatische Distichen einander in die Quere, begegnet die klassische Festigkeit liedhaftem
Pathos, steht Lehrgedicht neben Legende, Hohn neben Hymnen. Theaterszenen finden sich
hier: Der Schrecken im Bade, gleichermaßen Gedicht und szenische Performance, und, am
entgegengesetzten Rande des Dramas, Kleists schönstes Gedicht, auch das kürzeste: ein
Einsilbler, das letzte Wort des Amphitryon, mit dem das Drama in seiner letzten Sekunde ganz
und gar lyrisch wird, Alkmenes unergründliches „Ach!“
Noch dort, wo Kleists Lyrik sich zur vehementesten Eindeutigkeit entschlossen hat, in der
blutrünstigen Vaterländerei des Hasspredigers von Germania an ihre Kinder, führt die
Argumentationslogik ihrer Versatzstücke in eine literarische Aporie – eine Aporie, die man
auch ‚romantische Selbstaufhebung‘ nennen könnte, zum Beispiel in Das letzte Lied, dessen
Sänger am Ende „weinend die Leier aus den Händen“ legt. Der Dichter Kleist ist nur da ganz
Dichter, wo er spielt. Und er kann nur ganz ernsthaft sein, indem er spielt.
Das gilt am allermeisten dort, wo er, der preußische Krieger und Mann, die Geschlechterrollen
auf den Kopf stellt, wie er es in Der Schrecken im Bade von den Alpengipfeln sagt. Wenn dort
die nackt badende Grete von ihrer Freundin Johanna „in Fritzens Röcken“ und mit „Fritzens
rauher Männerstimme“ begehrt wird und wenn der Autor Kleist seinen eigenen Liebesbrief an
den nackt badenden Freund Ernst in diese Szene transformiert, dann zeigt er, wie mit der
Ordnung der Geschlechter auch die romantische Welt verdreht wird, „Wie sich der Alpen Gipfel
umgekehrt, / In den krystallnen See danieder tauchen!“ Der krystallne See, das ist Kleists
Gedicht hier. Und der eben noch so kriegerische Dichter selber präsentiert sich, umwegig aber
unmissverständlich, als: eine deutsche Lyrikerin.
„Selig sind die Lyrikerinnen, denn sie werden die Streitkräfte übernehmen.“ Monika Rinck
hat das geschrieben: „Selig sind die Lyrikerinnen. / Sie werden euch das Springen beibringen,
die Panik, die Wonne, den Schreck. / … Sie werden weder Stoiker noch Zyniker sein. / Selig
sind die Lyrikerinnen, denn sie werden die Streitkräfte übernehmen.“ Dass Kleists krystallner
See auch in ihren Honigprotokollen von ferne widerscheint, unter der Überschrift Der See,
verwundert nicht – so wenig wie die Metamorphosen, denen die Schreibende darin unterliegt:
Erst ist sie Alge, dann das Schilf am Ufer, endlich der Himmel, der Ufer und See von oben
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sieht. Eine Idylle, lautete die Genrebezeichnung bei Kleist; „die auf den Kopf gestellte, von
oben bis unten verdreckte Idylle“ betrachtet Monika Rinck, in einem anderen Gedicht.
„Hört ihr das? So höhnen Honigprotokolle“: Als hätten sie den Dichter Kleist gelesen, so
höhnen sie, Seite für Seite in Monika Rincks gleichnamigem Gedichtband, fast immer mit
ebendiesem Eingangsvers. Sie höhnen, so kommentiert die Honigprotokollantin, „zuckersüß“,
„rotgolden“, dann wieder „schneeweiß und überblau“, aber auch „glänzend, schwarz,
dressiert“. Sie höhnen auf Deutsch und auf Englisch, Hark! Hear, how honey chronicles mock;
und was sie verhöhnen, das ist alles, was an den ausschwärmenden und in den Gedichtstock
heimkehrenden Sprach-Bienen hängengeblieben ist an Bilderpollen, an romantischem
Blütenstaub und an klebrigem Gerede. Die Honigprotokolle, das sind (so schreiben sie selber)
„Wörter in Verwendung“. Es sind die schriftlichen Niederschläge potentiell alles Gesagten, des
Wahns und der Wahrheiten und der Gegenden dazwischen. Darum sind sie so verwirrend
beweglich zwischen Komik und Panik, Wonne und Schreck. Darum auch fallen die Versmaße
einander manchmal ins Wort – wie es eines dieser Gedichte selber notiert: „Gemischte
Daktylen, hüpfende Rhythmen, Weltinnenhall des Binnenreims.“ Die Honigprotokolle sind der
Weltinnenhall, weil sie (wieder in den Worten der Honigprotokollantin) „alles, was geschieht,
/ notieren und zur Wiederaufführung bringen“ – allerdings, so die Überschrift dieses Gedichts,
als Farce.
Aber der Seite für Seite fortgesetzte, der auf die Spitze getriebene und durch alle Wirbel der
Selbstreflexion gejagte, der in Versen und Zeichnungen, in wechselnden Sprachen und
schließlich, notabene, im vierstimmigen Kanon gesetzte Hohn der Honigprotokolle: er ist von
der ersten bis zur letzten Silbe erfüllt von der Romantik. Von der Romantik lautet die Überschrift
des der Farce gleich benachbarten Gedichts. Dieser Hohn ist die als Aggression einhertanzende
Selbstironie, die verspottet, was sie liebt und was sie unmöglich findet: „Stehe inmitten der
Sorge. Sei dein eigener Hohn.“ Kleist, der Romantiker, der seine zartesten Erfindungen in
seinen Gedichten gerade so verspottet, die Penthesilea wie die Marquise von O.: Kleist ist ein
Honigprotokollant wie Monika Rinck. Er ist neben Brentano der nächstverwandte
Honigprotokollant vor ihr. Hier wie dort kommt die Farce vor der Romantik, weil sie Von der
Romantik kommt. „Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, das sind diese wehen Lieder, /
Zusammenbruch, und genau so liegen bleiben“, höhnt Monika Rincks Romantikprotokoll über
so, schreibt sie, „winselweiches Glück“ und „reine Affirmation“. „Hör zu“, sagt sie, „ich sag es
ein einziges Mal: Hast du einen Freund hienieden, / trau ihm nicht zu dieser Stunde.“ Dass sie
im Misstrauen gegenüber der Romantik eins ist mit dem hier zitierten Eichendorff, das gehört
zu den Pointen des Gedichts, die wie immer zugleich Antipointen sind.
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Wo die „wehen Lieder“ gesungen wurden, ist am Ende des Gedichts eine
Alptraumwaldeinsamkeit zu sehen, durch die, in den letzten Zeilen, die letzten Fragmente
Eichendorffs verstreut sind, zertrümmert nach Kleist’scher Manier: „Ich krieche. Romantik.
Überwältigung, / die ich begrüßen kann. Es ist schon spät, es wird schon kalt. Wald. Wald.“
Aus diesem Wald ist kein Entkommen in Monika Rincks Gedichten, so wenig wie aus dem Eis
von Caspar David Friedrichs visionären Übergängen aus dem Diesseits ins Jenseits. Das
Unternull der Romantik heißt ein früheres Gedicht, es beginnt mit den Versen: „das war das
höchste eis. krass, caspar david. / kathedrale mittenrein geschnitzt, es taut ihr / ihren nassen
schlund hinab. atemnehmend. / ein senkrechter gletscher, flaschenhals“, und dann geht das
Spiel wieder los mit dem Sprach- und Bildmaterial, die Albernheit, der Scherz, der Nonsens,
bis zum letzten Satz: „das ganze ist fatal.“
Weil sie dem Ganzen misstrauen, gleich ob es das Wahre oder das Falsche oder bloß fatal ist,
weil sie aber doch auf das Ganze hinaus-, weil sie im romantischen Wortsinn aufs Ganze gehen:
darum treiben die Honigprotokolle Hohn und Spott mit allem, was heilig ist, mit allem, was sie
sagen. Am Ende ist es gar nicht das Allerheiligste, das sie verhöhnen, sondern nur das Sagen.
Als neulich in der wunderbaren Reihe Poesiealbum ein Heft mit Gedichten von Monika Rinck
erschien, lautete die erste Überschrift: Sinn und Gegensinn (Sang und Antigesang).
Mit der Aggression der Gedichte Monika Rincks verhält es sich, glaube ich, wie mit der
Aggression der Gedichte Kleists. Anmut und Würde erscheinen in Tateinheit mit albernen
Scherzen, als Parodie und Provokation, weil es eine verletzbare Zartheit ist, die sie hervorbringt
und auf die sie zielt. Wie Kleist die Tonfälle und Sprachwelten adaptiert und, schon indem er
sie miteinander in Kontakt bringt, persifliert, so beziehen Monika Rincks Honigprotokolle ihren
Honig aus dem Hohn. Und immer haben ihre Entstellungen etwas Traumhaftes, sind sie tief
und wundersam musikalisch, in der Schönheit des Klangs wie auch in der Vielfalt der Bezüge,
deren Netz sich bei jeder Lektüre anders zeigt. Dass diese Dichterin auch buchstäblich Musik
machen würde, hätte man schon aus ihren Gedichtbüchern folgern können. Kleist hätte es
bestimmt gesagt – heute, am 22. November 2015, da der Tag der heiligen Cäcilie auf den
Totensonntag fällt.
Meine Damen und Herren: Von Kleists Gedichten hat man gesagt, sie zeigten eine
bemerkenswert agonale Grundstruktur, weil sie ihre Vorlagen nicht nachahmten, sondern
gegensinnig abwandelten, entstellten, ihnen gleichsam nach-schreibend ins Wort fielen. So
steht es jedenfalls im Gedicht-Artikel im Kleist-Handbuch, und dem will ich schon zustimmen,
weil ich es selber geschrieben habe. Dass man auf Monika Rincks agonale Texte keine Lobrede
halten kann: das ist schon einer der Gründe, aus denen ich sie für den diesjährigen Kleistpreis
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vorgeschlagen habe – sie, die in der Gegenwartslyrik ohne Vergleich und Beispiel sind. „DIVA
nennt der Idiot ein Prinzip, das der geistesgegenwärtigen Ablehnung von falschen
Kooperationsangeboten zugrunde liegt.“ So steht es in Monika Rincks Streitschriften. Sollte
ich hier falsche Kooperationsangebote gemacht haben, werden sie, da bin ich unbesorgt, schon
geistesgegenwärtig abgelehnt werden. Der Verehrung des Idioten, dessen Rede hiermit endet,
für die Diva, über die er spricht, täte das nicht den geringsten Abbruch.