penthesilea - Landestheater

PENTHESILEA
Heinrich von Kleist
Materialmappe
VORARLBERGER LANDESTHEATER
Spielzeit 2015/16
PENTHESILEA
Heinrich von Kleist
Trauerspiel
Penthesilea
Hanna Binder
Achill
Felix von Bredow
Prothoe
Isabel Hindersin
Meroe
Alexandra Riemann
Asteria
Camilla Nowogrodzki
Odysseus
Mathias Kopetzki
Diomedes
Markus Subramaniam
Antilochus
Maximilian Laprell
Regie
Jan Steinbach
Bühne
Frank Albert
Kostüme
Lisa Däßler
Dramaturgie
Dirk Olaf Hanke
Premiere am 18. September 2015 19:30 Uhr Großes Haus
MATINEE: 13. September 2015, 11.00 Uhr, T-Café
Weitere Aufführungen: 22/09, 07/10, 10/10, 15/10, 25/10, 30/10
Stückeinführungen: 07/10, 30/10, 18.45 Uhr, Kleines Haus
VORARLBERGER LANDESTHEATER
Spielzeit 2015/16
Der Autor
Heinrich von Kleist erscheint heute als moderner Charakter, der an der Wende vom 18. Zum
19. Jahrhundert in die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland geriet
und, obwohl aus einer märkischen Adelsfamilie stammend, zeitlebens instabile Lebensverhältnisse hatte. Aus der fortwährenden Krisenerfahrung heraus entwickelte er seine Ideen
und seine wechselnden Lebensentwürfe. Gesellschaftliches Reformdenken und literarische
Experimente gehen bei Kleist Hand in Hand. Schon als Fünfzehnjähriger tritt er in die
Preußische Armee ein und scheidet sieben Jahre später als Leutnant wieder aus, er studiert
Philosophie, Physik, Mathematik und Staatswissenschaft in seiner Geburtsstadt Frankfurt
(Oder) und interessiert sich zeitlebens für Technik, Bildung und Verwaltung.
Kleist war ein Nomade, er reiste viel und hatte zahlreiche, ständig wechselnde Wohnsitze.
Seine erzählenden literarischen Werke wie seine Theaterstücke sind geprägt durch Extreme;
sowohl in der Darstellung von menschlichen Bindungen und ihrem Scheitern, als auch in
seinem radikalen Formwillen. Kleists Protagonisten handeln und scheitern in der Realität,
das macht Kleists Werke bis heute für Leser in aller Welt so attraktiv. Kleist war auf vielen
Gebieten umtriebig und leidenschaftlich, sein Glücksstreben und sein Ideal, sich als freier
Schriftsteller durchzusetzen, waren ihm Antriebsfeder. Er sehnte sich nach Ruhm, den er zu
Lebzeiten jedoch nicht erlangte. Seine nervöse Rastlosigkeit fand erst durch seinen in
„unaussprechlicher Heiterkeit“ inszenierten Freitod ein Ende.
Biographie
1777 Am 18. Oktober (laut Eintragung in das Kirchenbuch der Garnison, nach eigener Angabe am 10.
Oktober) wird Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist in Frankfurt an der Oder geboren. Er ist der älteste
Sohn des Stabskapitäns und späteren Majors Joachim Friedrich von Kleist und dessen zweiter Frau
Juliane Ulrike, geb. von Pannwitz.
1788 Am 18. Juni Tod des Vaters. Kleist wird u.a. in Berlin von dem Prediger Samuel Heinrich Catel
(1758-1838) unterrichtet.
1792 Am 1. Juni tritt Kleist als Gefreiterkorporal in das Bataillon des Regiments Garde Nr. 15b in
Potsdam ein. Am 20. Juni Konfirmation in Frankfurt an der Oder.
1793 Am 3. Februar Tod der Mutter. Anfang März reist Kleist nach Frankfurt am Main, wohin sein
Regiment zur Teilnahme am Rheinfeldzug gegen Frankreich verlegt worden war.
1795 April: Separatfrieden zwischen Frankreich und Preußen. 11. Juli: Rückkehr nach Potsdam.
1797 Am 7. März wird Kleist Sekondeleutnant.
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1798 Gemeinsam mit dem Regimentskameraden Rühle von Lilienstern (1780-1847) nimmt Kleist
Unterricht in Deutsch und Mathematik in einem Offiziersquartett spielt Kleist die Klarinette.
1799 Im April quittiert Kleist den Militärdienst und studiert Physik, Mathematik und hört Vorlesungen
über Philosophie, Kulturgeschichte und Naturrecht.
1800 Anfang des Jahres verlobt sich Kleist mit der Frankfurter Generalstochter Wilhelmine von Zenge
(1780-1852). Im Sommer bricht er sein Studium ab und geht zur Vorbereitung auf den preußischen
Staatsdienst nach Berlin. Er beschäftigt sich intensiv mit den Philosophien Kants und Rousseaus.
1801 Sog. „Kantkrise“. Von Juli bis Ende November hält Kleist sich in Paris auf, reist dann nach Basel.
1802 Bis Oktober weilt Kleist in der Schweiz. In diese Zeit fällt der Beginn seiner schriftstellerischen
Arbeit. Im Mai löst er die Verlobung mit Wilhelmine von Zenge.
1803 Von April bis Juli ist Kleist in Dresden. Von Dresden aus unternimmt er bis Oktober mit dem
Freund Ernst von Pfuel eine Reise nach Bern, Mailand, Genf und Paris. Ende November bricht Kleist
in Mainz zusammen und wird mehrere Monate von dem Republikaner, Arzt und Schriftsteller Georg
Wedekind behandelt.
1804 Anfang Juni kehrt Kleist nach Preußen zurück.
1805 Ab Mai arbeitet Kleist als Diätar unter dem Reformer Hans Jakob von Auerswald an der
Domänenkammer in Königsberg und besucht finanz- und staatswissenschaftliche Vorlesungen.
1806 Im August scheidet Kleist aus dem Staatsdienst aus. Am 14. Oktober besiegt Napoleon
Preußen; dieses wird größtenteils von Frankreich besetzt.
1807 Von Januar bis Juli befindet sich Kleist in französischer Gefangenschaft. Nach seiner
Freilassung Ende Juli begibt er sich nach Dresden.
1808 In Dresden gibt Kleist zusammen mit dem Philosophen und Staatstheoretiker Adam Heinrich
Müller die Monatsschrift „Phöbus. Ein Journal für die Kunst“ heraus. Er ist häufig zu Gast im Hause
Christian Gottfried Körners. Im Juli lernt Kleist Ludwig Tieck kennen.
1809 Von Ende April bis Oktober hält Kleist sich in Österreich auf, meistens in Prag. Im November
kehrt er nach Preußen zurück.
1810 Ab Februar ist Kleist ständig in Berlin. Ab Oktober gibt Kleist die erste Tageszeitung Berlins, die
„Berliner Abendblätter“ heraus. Konflikte mit der Zensur.
1811 Am 30. März erscheint die letzte Ausgabe der „Berliner Abendblätter“. Kleist hat freundschaftlichen Umgang mit dem Berliner Romantikerkreis (Arnim, Brentano, Fouqué, Rahel Levin) und Kontakte zu Reformpolitikern (Altenstein, Gneisenau). Er unternimmt verzweifelte Versuche zur Existenzsicherung und zum Wiedereintritt in die preußische Armee. Am 21. November gemeinsamer Freitod
mit Henriette Vogel (geb. 1780) am Kleinen Wannsee.
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Das Stück
Heinrich von Kleist erzählt in PENTHESILEA von Leidenschaften, die sich in Maßlosigkeit
und Wahn verwandeln. Lange vor Freuds Psychoanalyse beleuchtete er so die
erschreckende Abgründigkeit der menschlichen Psyche. Krieg und Liebe, Verstand und
Gefühl – unvereinbare Prinzipien prallen in diesem Klassiker aufeinander und reißen alle
Figuren wie in einem heillosen Sturm hinweg. Nichts ist mehr gewiss: Worte werden zu
Taten, Küsse zu Bissen.
Die Handlung
Es herrscht Krieg zwischen Griechenland und Troja. Bis das Heer der Amazonen auftaucht,
sind die Fronten klar. Dann ändert sich alles, denn die Kriegerinnen um ihre Königin
Penthesilea stürmen auf das Schlachtfeld und wenden sich gegen beide Kriegsparteien. Sie
stürzen sich mit voller Wucht in die Schlacht.
Der Amazonenstaat ist ein Land, in dem nur Frauen leben. Das Gesetz gebietet den
Amazonen sich nur zu Fortpflanzungszwecken mit Männern zu verbinden. Der potentielle
Partner muss auf dem Schlachtfeld gesucht und überwunden werden. Mädchen, die diesen
Verbindungen entspringen, bleiben bei den Amazonen und werden zu neuen Kriegerinnen
ausgebildet, Jungen werden entweder getötet, oder weggegeben. So bleibt das System
erhalten. Die kultische Handlung, das sogenannte Rosenfest, steht nun bald wieder an. Alles
ist wie gewohnt, doch da geschieht Unfassliches: Penthesilea verliebt sich in Achill und
versucht ihn zu besiegen. Doch sie unterliegt dem griechischen Helden. Da sie in diesem
Kampf bewusstlos wurde, weiß sie hiervon jedoch nichts. Und Achill spielt das Spiel, um das
Penthesileas Gefährtin Prothoe ihn bat, mit: Verliebt, wie er ist, gibt er vor, von ihr besiegt
worden zu sein. Doch Penthesilea erfährt die Wahrheit und fordert ihn erneut zur Schlacht.
Achill, der sich nun wirklich besiegen lassen will, wird von der Amazonenkönigin im
Blutrausch getötet und zerrissen. Wieder bei Verstand realisiert sie ihre Tat und begeht
Selbstmord.
Erst 1896, 65 Jahre nach Kleists Suzid im Jahre 1811, wurde dieser Klassiker über
Leidenschaften, die sich in Maßlosigkeit und Wahn verlieren, uraufgeführt. Ein Text, der von
der erschreckenden Abgründigkeit der menschlichen Psyche erzählt.
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Anmerkungen zur Regiekonzeption
Der Regisseur Jan Steinbach erzählt den Fall Penthesilea. Aus der Rückschau versuchen
die Akteure das unfassliche Geschehen zu begreifen. Wie kam es dazu, dass Krieg und
Liebe, Verstand und Gefühl, diese unvereinbaren Prinzipien, die Heinrich von Kleist in
seinem Text so radikal aufeinanderprallen lässt, die handelnden Figuren wie in einem Sturm
hinwegreißen konnten? Warum verkehrten sich alle Gewissheiten, wurden Worte zu Taten,
Küsse zu Bissen?
Zu Beginn sieht man die Überlebenden Amazonen und Griechen wie sie fassungslos das
unglaubliche Geschehen zu begreifen suchen. Analog zu den epischen Berichten, die Kleist
in PENTHESILEA immer wieder als erzählerisches Moment benutzt, berichten diese
Überlebenden von der Tragödie. Je lebendiger ihre Erinnerung wird, umso lebhafter steigen
sie in die Handlung ein, erwachen Penthesilea und Achill wieder zum Leben. Der Ort, an
dem sie sich versammelt haben, könnte eine Hotelhalle sein, im kalten Licht aber auch ein
Krankenhaus oder gar eine luxuriöse Leichenhalle.
Liebe als Jagd und Eroberung
Traditionell ist in der männlichen Welt die Auffassung von Liebe als Eroberung weit
verbreitet. Es gilt, eine Festung einzunehmen, und die Metaphorizität dieser Wendung
sollte nicht überschätzt werden. Eroberung ist Sache der Gewalt. In der PENTHESILEA
begegnet diese Form der Liebe im Bild der Jagd, auf der sich beide Protagonisten
befinden, und zwar sowohl in der Rolle des Jägers wie in der des Gejagten. Besonders
explizit artikuliert Achill die hier angesprochene Auffassung der Liebe:
ACHILL: [...] den Wagen dort
Nicht ehr zu meinen Freunden will ich
lenken, Ich schwör’s, und Pergamos nicht
wieder sehn, Als bis ich sie zu meiner Braut
gemacht,
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.
Es steht hier also keine Zuneigung im Mittelpunkt, sondern erstens der Wunsch, sein
Gegenüber zu besitzen und zweitens der Druck, sich beweisen zu müssen – und zwar eher
auf Kosten der Geliebten als zu ihrem Guten. Ja, Achill kalkuliert gar den Tod Penthesileas
ein. Liebe erscheint so als Kampf der Geschlechter – ein Gedanke, den Feministinnen
heute aufgreifen, indem sie konsequent die Rolle der Angegriffenen mit der des Angreifers
tauschen. Insofern ist Penthesilea ein feministischer Prototyp, denn sie verhält sich genau
so. Sie hegt die gleichen Gedanken und Mordgelüste wie Achill, wenn sie sagt:
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Ich nur, ich weiß den Göttersohn zu fällen.
Hier dieses Eisen soll, Gefährtinnen,
Soll mit der sanftesten Umarmung ihn,
(Weil ich mit Eisen ihn umarmen muss!)
An meinen Busen schmerzlos
niederziehn.
Ohne Zweifel ist Emanzipation ein wichtiger Prozess in der PENTHESILEA. Freilich
handelt es sich hierbei um eine negative Emanzipation: Denn indem Kleist die Geschlechterrollen vertauscht, stattet er die Frau Penthesilea mit den unschönen Eigenschaften des
Mannes aus. Wenn Emanzipation nur eine Identität von Mann und Frau bedeutet, ist mit ihr
nichts gewonnen. Schon gar nicht, wenn gerade das Schlechte Nachahmung findet.
Anthony Stephens versteht Penthesileas Mordlust auch als Kritik an den herrschenden
Geschlechterverhältnissen, die eine äußerste Objektivierung der Frau durch den Mann
mit sich gebracht und ihren extremsten Ausdruck im Familienrecht Fichtes gefunden
habe. Somit wird Penthesileas Sadismus als Reaktion auf Achills Lieben, das sich als
Besitzen-Wollen und Sich-Beweisen versteht, deutbar.
Übermaß an Liebe
Es war ein Mord aus Liebe, beteuert Penthesilea. Die Amazonen, allen voran
Penthesileas treue Begleiterin Prothoe, schließen sich diesem Glauben an. Meroe präzisiert
ihre Aussage:
PROTHOE mit Zärtlichkeit: Und doch war es die Liebe, die ihn kränzte?
MEROE: Nur allzufest –!
Ein Übermaß an Liebe wird also für den grauenhaften Tod Achills verantwortlich
gemacht. Eine Auffassung, nicht weit entfernt von der Aristotelischen Ethik, wonach recht
zu handeln das Einhalten des rechten Maßes bedeutet. Das klingt simpel, doch das
Stück gibt Hinweise darauf, dass Penthesilea genau dort ihre Schwäche hat: sie ist
maßlos. Besonders drastisch demonstriert das der vierzehnte Auftritt. Dort glaubt
Penthesilea zuerst, dass sie von Achill gefangengenommen wurde, womit sie völlig Recht
hat. Ihre Klagen über das Schicksal wollen kein Ende nehmen. Als sie jedoch von der
lügenden Prothoe erzählt bekommt, es verhalte sich umgekehrt, sie habe Achill überwunden, bricht sie sofort in überschwängliche Euphorie aus:
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Ihr Säfte meiner Jugend, macht euch auf,
Durch meine Adern fleucht, ihr
jauchzenden, Und lasst es einer roten
Fahne gleich,
Von allen Reichen dieser Wangen
wehn: Der junge Nereidensohn ist
mein!
Penthesilea schwankt im Verlauf der Dramenhandlung von einem Extrem zum anderen.
Beides ist ihr gleich schädlich, wie Prothoe feststellt: „Freud ist und Schmerz dir, seh
ich, gleich verderblich, / Und gleich zum Wahnsinn reißt dich beides hin.“ Der Wahnsinn
wiederum ist zu allem fähig – auch zur Einverleibung Achills durch Penthesilea.
Als Grund für ihr Unvermögen, Maß zu halten, lässt sich der Triebstau anführen, dem
sie durch das Amazonengesetz ausgesetzt ist. Ist die Liebe der Amazonen schon auf das
Rosenfest beschränkt, so leidet ihre Königin unter noch strikteren Reglementierungen.
Gewalt als Sprache der Liebe
Gerhard Neumann hat die Sprache der Liebe im Werk Kleists untersucht. Er unterzieht die
PENTHESILEA einer Diskursanalyse und stellt fest, dass, während Achill in seinen Reden
auf die Anakreontik rekurriert und den patriarchalischen Diskurs pflegt, Penthesilea von
einer Körpersprache Gebrauch macht, um sich zu artikulieren. Warum? Penthesilea
selbst gibt ansatzweise Auskunft: „Sie ist mir nicht, / Die Kunst vergönnt, die sanftere,
der Frauen!“ Freilich eine etwas unbefriedigende Begründung.
Überzeugender erscheint eine Begründung über folgenden Umweg. Gesten haben im
Werk Kleists ungemein hohen Stellenwert. Woran es der komplexen Sprache gebricht –
zwischen Menschen vermitteln zu können – das vermögen oft schon ganz einfache
Körperbewegungen. Denn Gestik und Mimik reflektieren unmittelbar Seelenzustände
nach außen. Sie tun es deshalb, weil nicht die Instanz der Rationalität zwischengeschaltet
ist, was für die Sprache gilt. Überhaupt zeigen sich Gefühle bei Kleist stets im Handeln.
Kleist zieht der inneren Darstellung von Gedanken ihre totalisierte Externalisierung vor: Die
Psychomachie, welche in allen Dramenfiguren Kleists wütet, wird auf die große
Leinwand der Handlung projiziert, so dass sich das Innere in der optischen Opulenz der
Bühnenhandlung entfaltet, ja sich ganz darin auflöst. Es ist denn auch kein Zufall, dass
kaum ein Stück aus der Feder Kleists existiert, in dem nicht eine Schlacht zumindest
peripher in Erscheinung träte.
Als Penthesilea erkennt, dass mit Reden nicht weiterzukommen ist – die Dialoge mit
Achill statisch bis unergiebig – bedient sie sich der ihr anerzogenen Körpersprache, um das
Schweigen der Worte zu überwinden. Diese Körpersprache ist die Gewalt. Ein Beispiel:
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ACHILL: [...] Brautwerber schickt sie mir, gefiederte,
Genug in Lüften zu, die ihre Wünsche
Mit Todgeflüster in das Ohr mir raunen.
Stellt die Körpersprache in den anderen Stücken Kleists den letzten Ort möglicher
Kommunikation dar, so scheitert in der Penthesilea endlich auch sie – vielleicht, weil sie
sich allzu sehr auf Gewalt beschränkt. Gewalt ist eben nur verkrüppelter Ausdruck von
Gefühlen. Das Prügeln eines Menschen ist nicht ohne Weiteres als stummer Schrei nach
Liebe erkennbar, selbst wenn es tatsächlich einer ist. Und so bleibt auch Penthesileas
Gewalt ein inadäquates Vehikel für das Gefühl – und sei es noch so edel.
Texte zur Diskussion
Imagination des Weiblichen
Kleist Dramen stellen das Phantasma dar, das im 19. Jahrhundert als Hysterika in
Erscheinung tritt. Es ist eine der Gestalten, die aus dem Diskurs der Sexualität entspringen.
Dieser Diskurs spaltet die Geschlechterdifferenz in eine Vielzahl von Sonderphänomenen
auf. Es gibt nur noch Einzelphänomene, die es sorgfältig zu beobachten und aufzuzeichnen
gilt. Wie Kleists Dramen zeigen, fehlt dabei besonders den Frauen das Wissen über ihr
Geschlecht.
Da es keine Worte für die weibliche Lust mehr gibt, muss man versuchen, sie an ihren
Körpern abzulesen. Ihre Gebärdensprache gibt ebenso unerlässliche Aufschlüsse über das
weibliche Seelenleben wie die Geständnisse, die man ihnen im Schlaf (siehe „Das Käthchen
von Heilbronn“ IV.2) entlockt. Was Dichter und Philosophen als weibliche Natur benennen,
sind in Wahrheit die Effekte ihrer eigenen Diskurse. Denn die Hysterika findet man nicht
einfach vor, sie wird vielmehr durch die Reden der anderen erzeugt. Und damit auch
niemand über die Notwendigkeit des richtigen, das heißt, gewalttätigen Verhaltens
gegenüber Frauen im Zweifel bleibt, stellt Kleist der unterworfenen Hysterika das Schreckbild
der Furie Penthesilea gegenüber.
Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die
Strategie der Befreiungskriege. Freiburg, 1987, S. 208
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Staat und Individuum
Die Wildheit der Amazonen zu den Auffassungen
»Die Wildheit der Amazonen ist nicht ursprünglich, sondern Antwort auf Barbarei, eine
sekundäre Urtümlichkeit, verkehrte Modernität. Man könnte an eine Tragödie von der
Emanzipation der Frau denken - ein Gedanke, der im Umkreis der Romantiker nicht
abwegig ist -, erschiene bei Kleist nicht, wie bei Schiller und Goethe, sinnbildlich in der
Frau eine Dimension des Menschlichen, die den Menschen überhaupt konstituiert: seine
Unverfügbarkeit. Nur aus ihr kann er Person in freier Kommunikation werden, deren
Inbegriff Liebe ist. Dass Kleist in eine scheinbar archaische Schicht zurücktastet, aus der
doch die Aktualität des Menschen kommt, zeigt, wie tief ihm problematisch geworden ist,
was der Klassik noch gegeben bleibt: die Möglichkeit des Menschen, in seiner Welt
Person zu sein.
Gemessen an der Geschichte der Amazonen stehen die Griechen auf der Stufe, auf der
die Amazonen als Ehefrauen ihrer skythischen Ehemänner vor dem Einbruch der
äthiopischen Eroberer lebten. Weil ihnen im Zugriff dieser Barbaren auch das Moment
brutaler Verfügung in den untergegangenen Zuständen erfahrbar wurde, weil ihnen, indem
sie sich als verfügbare Beute vorfanden, der Anspruch auf Unverfügbarkeit aufging, gibt es
für sie kein Zurück in die untergegangene Welt; es gibt aber auch keine tragfähige Brücke
von den Amazonen zu den Griechen, in denen dieser untergegangene Zustand noch
Gegenwart ist. Zwischen Amazonen und Griechen ist nur Krieg, aber keine geistige
Auseinandersetzung; sie wird allein im Inneren des Amazonentum zu fassen.
Nicht die Griechen, vielmehr die Amazonen sind in diesem Drama das Maß der
Humanität noch in deren Verfehlung; darin ist es im Kern antiklassisch. Umgekehrt ist
die Unfähigkeit der Griechen, das Amazonenrum zu fassen, das Maß ihrer Inhumanität.
Nur weil der Amazonenstaat über sich hinausweist schon in seiner Konstitution, kann
Penthesilea als seine Königin aus seiner Mitte entspringen; nur weil er und allein er über
sich und den bestehenden Weltzustand hinwegträgt, kann und muss sich andererseits
Penthesilea so tief mit ihm identifizieren, dass sie nur sich mit ihm zerstörend den Bann
lösen kann, der über ihm und der Welt liegt.
Wie die Personalität bei Kleist in der Unverfügbarkeit des Menschen gründet und aus ihr
hervorgebracht werden muss, ist ihr Grund auch der Vernunft unverfügbar. Bewusstsein
ist als reflexives Bewusstsein auf eine vorgängige, als totale und unmittelbare auch
uneinholbare Selbst- und Welterfahrung bezogen. In dem Maße aber, in dem in
„Penthesilea“ ein Weltzustand der Verkehrung dargeboten ist, der noch die Versuche,
ihn aufzuheben, übergreift, wird der vorrationale „Zustand unser, welcher weiß”,
(H.v.Kleist, „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“) zum Refugium
und einzigen Ort, an dem unbewusst das Richtige gewusst werden kann. Hier ist die
letzte Begründung dafür, dass Kleist Aufklärung vorab im Mythos formuliert.
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Wenn die Feststellung richtig ist, dass im Staatsvertrag des Amazonenstaates ein
Aufklärungsmoment wohnt, bietet sich hier die nur scheinbar absurde Zuspitzung an,
dass bei Kleist im vorrationalen Medium Aufklärung als Richtung auf Personalität und
Kommunikation überwintert: auch im Amazonenstaat liegt die Richtung auf Humanität ja
im Impuls, der dem Staatsvertrag zugrunde liegt, nicht in diesem selbst, wenn er auch
einzig in ihm - verstellt -vernehmlich wird.«
Gerhard Kaiser: Mythos und Person in Kleists „Penthesilea“. In: G. K .: Wandrer und Idylle.
Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried
Keller. Göttingen, 1977. S. 209, 214, 224-226.
Liebe und Gewalt
Kleist hat das düstere Geschichtsbild zweier Kulturen entworfen, die gleichermaßen
von inhumaner Gewaltpraxis geprägt sind, in denen jeweils ein Teil der Menschheit nur
so Subjekt zu werden meint, indem er einen anderen Teil zum Objekt erniedrige. Dem
düsteren Geschichtsbild ist freilich ein utopisches Gegen-Bild negativ vorgeschrieben. Mit
dem Trauerspiel gehe die utopische Hoffnung auf einen Gesellschaftszustand einher, der
mit der menschlichen Natur korrespondieren möge. Mit der menschlichen Natur
wohlbemerkt, nicht allein mit der weiblichen oder bloß der männlichen, denn die eine
versagte im Patriarchat der Griechen wie die andere im Matriarchat der Amazonen. Die
menschliche Natur gibt es geschichtlich gesehen aber nur in weiblicher oder männlicher
Ausprägung, so dass das postulierte Gegen-Bild in der Tat auf Utopisches, nicht
Vorhandenes zielt. Die zivilisatorische Ordnung, die gelingendes menschliches Dasein und
gelingende Liebe gewährleistet, müsste auf eine menschliche Natur gegründet sein, die es
geschichtlich noch nicht gibt, die es gesellschaftlich-geschichtlich erst zu schaffen gilt.
Diese Natur kann gewiss nicht darin bestehen, sich wie die Amazonen der „Penthesilea“
eine Brust auszureißen, um den Körper halb männlich, halb weiblich zu gestalten. Der
Mensch als androgynes, halb weibliches, halb männliches Wesen mag vorstellbar sein,
schwerlich doch in der grotesken leiblichen Form der Kleistschen Amazonen. Denkbar
scheint solche Androgynie eher in der Weise der Entwicklung, die Achilles in dem
Schauspiel durchläuft. Er wandelt sich mit seiner Liebe zu Penthesilea, um sich schließlich
von der griechischen Herrschaftskultur zu lösen und einen bedeutsamen symbolischen Akt
zu vollziehen: er legt den Phallus ab. Er begegnet Penthesilea unbewaffnet, hat alle
phallischen Gewaltinstrumente wie Schwerter, Dolche, Pfeile abgelegt und will sich ihr
hingeben. Sein tragisches Versehen besteht freilich darin zu übersehen, dass
symbolische (wie sprachliche) Akte missverständlich sein können - jedenfalls in der
geschichtlichen Entwicklungsstufe, in der wir genötigt sind zu leben. Und er hat etwas
übersehen, das für ihn umso frappierender werden musste: dass Penthesilea durch die
geschichtliche Leistung der Amazonenrevolution ebenso der Phallus gegeben war. So
trifft ihn am Ende ihr tödlicher Pfeil, und im tragischen Erkennen kann er nur nochmals die
utopische Hoffnung auf das Fest der Liebe wachrufen, dem im geschichtlichen Jetzt kein
Ort beschieden ist:
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Penthesilea! meine Braut! was tust du?
Ist dies das Rosenfest, das du versprachst?
Dirk Grathoff: Liebe und Gewalt. Überlegungen zu Kleists „PENTHESILEA“ anlässlich der
Berliner Rosenfest-Feier der Freunde Carlo Tató und Carlo Quartucci. Berlin 1984. S. 105. Mit freundlicher Genehmigung von Dirk Grathoff, Oldenburg.
Nachweise:
Die „Texte zur Diskussion“ sind entnommen aus:
Erläuterungen und Dokumente, Heinrich von Kleist, Reclam, Stuttgart 2007
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