Der Rücken ist Ausdruck unserer Psyche

Interview - Rückenschmerzen
"Der Rücken ist Ausdruck unserer Psyche"
27. Dezember 2015
Viele Deutsche klagen über Schmerzen im Kreuz. Dabei ist bei vielen der Rücken eigentlich in Ordnung und viele Operationen unnötig, sagt der Mediziner Martin
Marianowicz - Bild: obs
von Thorsten Firlus-Emmrich
Viele Deutsche klagen über Schmerzen im Kreuz. Dabei ist bei vielen der Rücken eigentlich in Ordnung und
viele Operationen unnötig, sagt der Mediziner Martin Marianowicz im Interview.
WirtschaftsWoche: Herr Marianowicz, die Höhe des Krankengeld hat sich seit 2006 verdoppelt. Eine der
wichtigen Ursachen sind Rückenleiden. Haben wir wirklich so viel mehr Rückenbeschwerden?
Martin Marianowicz: Ja, haben wir. Das ist meine klare Einschätzung nach 30 Jahren als Orthopäde.
Woran liegt das?
Da gibt es zwei große Faktoren. Der erste ist, das unsere Arbeits- und unsere Freizeitwelt tatsächlich
rückenfeindlicher geworden ist als es früher war. Eigentlich sollte man meinen, dass durch den Rückgang
schwerer körperlicher Arbeit, die Rückenbelastung weniger geworden ist. Aber genau das Gegenteil ist der Fall.
Der zweite Teil ist, dass Rückenschmerzen und insbesondere chronische Rückenschmerzen, die die höchsten
Kosten verursachen, nicht einmal eine Veränderung am Rücken voraus setzen.
Zur Person
Martin Marianowicz ist Facharzt für Orthopädie, Chirotherapie und Sportmedizin und seit 1995 ärztlicher
Direktor der Privatklinik Jägerwinkel am Tegernsee. Zudem ist er Präsident der Sektion Zentral- und
Osteuropa des World Institute of Pain. 2012 erschien sein erstes Buch "Die Marianowicz-Methode. Mein
Programm für einen schmerzfreien Rücken."
Die Menschen, die Rückenschmerzen haben, sind gar nicht organisch krank?
Der Rücken ist auch Ausdruck unserer Psyche. Schmerzen werden im Kopf wahrgenommen. Es gibt zwei
erschütternde Zahlen: Von den 70jährigen haben 92 Prozent einen Bandscheibenvorfall und nahezu alle
Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule. Das heißt: Die haben physische Veränderungen aber keinen
Schmerz.
Und die andere Zahl?
Von den Menschen, die Schmerzen haben, besitzen je nachdem welche Quellen sie lesen, zwischen 60 bis 80
Prozent gar keinen Befund. Ihr Rücken ist also eigentlich in Ordnung. Diese Zahlen zeigen die Problematik. Wir
sind so gepolt, dass wir denken, einem Rückenschmerz geht eine Erkrankung des Rückens voraus. Aber das ist
einfach nicht so. Ein Organ ist aber immer bei der Entstehung von Rückenschmerzen beteiligt und das ist das
Gehirn.
Alltagstipps für einen starken Rücken
 Gewichte verteilen
Wer schwere Lasten trägt, sollte sie nicht auf einer Seite tragen, sondern auf beide Seiten der Schultern,
beziehungsweise des Rückens, verteilen oder eben von Zeit zu Zeit abwechseln.
 Haltung ändern
Wer den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzt, dem tun abends oft die Schultern weh und der Rücken ist
verspannt. Auch hier gilt: Häufiger mal die Sitzposition wechseln, hilft Muskelverspannungen zu vermeiden.
 Schreibtisch gut aufbauen
Auch die richtige Anordnung von Bildschirm, Tastatur, Stuhl und Tisch kann die Haltung beeinflussen. Wer
sich über die richtigen Abstände informiert, kann so eine Fehlhaltung vermeiden und ebenfalls den Rücken
entlasten.
 Bewegung
Die beste Medizin für eine gesunde Wirbelsäule ist und bleibt Bewegung. Egal wofür man sich entscheidet,
der meiste Sport ist gut für den Rücken. Natürlich gibt es aber besondere Rückentrainings, auf die man
zurückgreifen kann. Übrigens sind Walken, Skilanglauf und Radfahren neben richtigen Rückenschulungen
am besten geeignet, um den Rücken zu stärken.
Es arbeiten immer weniger Menschen in Deutschland an körperlich fordernden Berufen, aber viele an
Schreibtischen. Diese klagen häufig über Rückenprobleme. Haben die heutigen Mitarbeiter, die am
Schreibtisch tätig sind auch mehr Rückenleiden als die Menschen vor 20 Jahren?
Eindeutig ja. Der Bürojob hat sich ja noch weiter automatisiert. Wenn sie früher einen Bürojob hatten, dann
mussten sie mal aufstehen, um zu kopieren, einen Brief wegzubringen oder eine Akte in den Schrank zu legen
oder rauszuholen. Das fällt immer weiter weg. Die Folge: Sie sitzen noch längere Stunden, ohne sich
zwischendurch zu bewegen. Heute müssen viele Menschen gar nicht mehr aufstehen für Ihre Arbeit.
Dafür gibt es immer mehr Activity Tracker, die einen dazu auffordern.
Ganz genau. Für den Rücken ist das dauerhafte Sitzen das Schlimmste von allem. Wenn Sie sechs bis sieben
Stunden sitzen, dann unterbinden sie in der Zeit den Stoffwechsel des Rückens. Und das ist sicher ein Grund für
die Zunahme der echten Rückenkranken. Es werden nicht nur die tragenden Strukturen des Rückens nicht
versorgt, sie haben auch eine Unterentwicklung der Muskulatur. Das ist ein geniales eingespieltes System, aber
das braucht nicht nur einen guten Knochen. Der gute Knochen nützt gar nichts, wenn er nicht von einer guten
Muskulatur unterstützt wird. Da sind wir wieder bei der Freizeitwelt.
Was machen wir da falsch?
Da machen wir auch immer weniger Dinge mit Bewegung. Auch bei Jugendlichen ist das leider so, dass sie ihre
Freizeit immer mehr sitzend verbringen. Da wird noch eine Riesenlawine auf uns zukommen.
Rückenübung im Büro
Schmerzfrei bei der Arbeit
Sie haben nun ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Den Rücken selbst heilen“. Sie sagen, 80 Prozent aller
Operationen an der Wirbelsäule sind überflüssig. Es ist weder das erste Buch zu dem Thema, noch sind die
Übungen, die sie empfehlen neu. Warum braucht es noch so ein Buch?
In der Tat, es gibt Dutzende Bücher mit Übungen, die gibt es in vielen Zeitschriften und die sind ja auch gut.
Aber das allein wird dem Problem nicht gerecht. Die Menschen müssen verstehen, dass sich der Ausdruck eines
Rückenschmerzes nicht reduzieren lässt auf ein Röntgenbild. Die Menschen verstehen das oft nicht, die zucken
nur noch mit den Achseln, nachdem sie beim x-ten Arzt waren und die zehnte Therapie nicht angeschlagen
hat. Mein Buch richtet sich an Menschen, die verzweifelt sind, die von Arzt zu Arzt gelaufen sind und
unheimliche Kosten verursachen und nichts davon hilft. Es ist wichtig, das Stigma zu durchbrechen. Es gibt jene
Patienten, da finden sie im Kernspintomographen eine Ursache und jene, da kann der Arzt nichts entdecken –
aber für unser System sind beide gleich krank. Und von der Selbsteinschätzung sind auch beide gleich krank,
denn Rückenschmerzen sind eine Selbsteinschätzung. Mir geht es darum, eine Basis zu geben für
psychosomatische Schmerztherapie. Angst ist ein Riesentherapie vom Schmerzgefühl.
Wer ist für Sie eigentlich rückenkrank? Jemand mit einer feststellbaren Abnutzung oder Bruch?
Für mich ist jeder ein Rückenkranker, der von sich sagt, er habe Schmerzen im Rückenbereich und er leide. Ein
Rückenproblem ist für mich nicht, wenn es bei einem Menschen irgendwo mal im Rücken ziept. Erst wenn der
Mensch sagt, ich leide, dann beginnt für mich die Rückenkrankheit. Dann muss ich erforschen, bis zu welchem
Grad es ein organisches Problem ist und zu welchem Grad nicht. Aber Muskelverspannungen, die auch zu
Rückenschmerzen führen, können Ursachen haben wie Überlastung und Stress. Da kommen sie mit einer
Operation nicht weit.
Sie geben Tipps zur Ernährung und ausführliche Hinweise zu verschiedenen Meditationstechniken, die
üblicherweise nicht Teil der Schulmedizin sind und von Krankenkassen zum Beispiel auch nicht bezahlt
werden.
Das ist das Fatale – aber in der Rückenmedizin gilt, dass alles recht hat, was hilft. Wenn eine ältere Dame zu mir
sagt, dass es ihr gut tut, wenn sie Quarkwickel bekommt, dann hat sie recht. Dann muss ich ihr nicht sagen,
dass das nicht sein kann. Wenn ein Patient sagt, ihm helfe etwas, dann ist das richtig. Deswegen habe ich mich
aller Dinge bemächtigt, von denen ich aus 30 Jahren Erfahrung weiß, dass viele Menschen berichten, dass es
ihnen damit besser geht.
Nun steigt die Zahl der Rückeneingriffe dennoch kontinuierlich und sie gehört zu den häufigsten Operationen
in Deutschland. Wer möchte die denn? Der Patient oder der Arzt?
Ein Skandal. Ja. Unser System hat es geschafft, die Wahrheit zu verschleiern. Langsam ändert sich die
Wahrnehmung und woher kommt die Änderung? Nicht aus dem Gesundheitssystem selbst, sondern durch die
Medien. Die Menschen werden aufgeklärt und kritischer. Es hat erst sehr lange gedauert, bis man den
Menschen vermitteln konnte, dass Rückenprobleme mit Operationen behoben werden. Ganz früher wurden
Rückenschmerzen konservativ behandelt. Das hat etwa 50 Jahre gedauert, bis die Menschen eine Operation als
normale Methode ansahen. Ich brauche heute manchmal fünf bis zehn Minuten, um zu erklären, dass ein
Bandscheibenvorfall als Diagnose nicht gleichbedeutend ist mit einer Operation. So weit hat es das System
geschafft. Der Bandscheibenvorfall ist die klassischste aller orthopädischen Behandlungen und die Domäne der
Konservativen. Daraus ist eine der häufigsten Operationen Deutschlands geworden.
Gerade sitzen!
Unauffällige Gymnastikübungen fürs Büro
Aber wer ist denn nun Schuld? Patient oder Arzt?
Die Patienten wollen es deswegen, weil es Ihnen so beigebracht wurde. Er vertraut dem Arzt. Und er will eine
schnelle Lösung. In einem technisch geprägten Land ist die vermeintlich mechanische Lösung des Problems
etwas, das den Menschen einleuchtet. Von diesen vielen Operationen, die wir haben, ist aber jede zweite
erfolglos! Nicht, weil sie schlecht gemacht ist. Nein – nicht erfolgreich, weil der Patient sagt: „Es geht mir nicht
besser.“ Das ist nicht erfolgreich. Erfolgreich ist nur, wenn der Patient sagt: „Es geht mir besser.“ Da hilft es
nicht, wenn das Bild aus dem Kernspintomographen zeigt, dass die vermeintliche Ursache gelöst würde. Die
Ärzte haben selber natürlich ein Interesse an Operationen. Die operierenden aber auch zum Teil diejenigen, die
nicht selber operieren.
Warum?
Sie müssen sehen, dass ein konservativ behandelnder Arzt wirtschaftlich kaum überleben kann. Und es gab
sicher Vergütungsnetzwerke, wo es besser war, einen Patienten einzuweisen als ihn zu behandeln. Unser
Vergütungssystem zwingt einen fast wider jede Vernunft zur Operation. Umsätze können sie nur generieren
durch operative Tätigkeiten. Ein konservativ behandelnder Orthopäde bekommt für einen Kassenpatienten
keine dreißig Euro im Quartal. Eine Operation bringt ein Mehrfaches. Es besteht über keine Verhältnismäßigkeit
mehr zwischen konservativer Behandlung und Operation. Deswegen sehen wir diese Entwicklung. Die
Krankenhausbetreiber üben zusätzlich Druck aus, dass möglichst viel operiert wird. Viele große Krankenhäuser
können nur überleben, wenn sie eine große orthopädische operative Abteilung haben. Mit der Kindermedizin
verdienen sie kein Geld. Wenn ich manche Verträge von Kollegen in meinem Alter sehe, dann lesen sich die wie
Verträge von Autohändlern in einem großen Autohaus. Da gibt es Targets, die vereinbart werden, Boni für
Überschreitungen. Die großen Krankenhausbetreiber haben sicher kein Interesse, daran etwas zu ändern.
Andernfalls kann ich nicht verstehen, warum da nicht irgendwann einmal an den Schrauben gedreht wird.
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Kann der Patient selber einschätzen, ob eine OP nötig ist und sie gegebenenfalls ablehnen?
Der Patient geht zunächst mal zum Arzt, nicht weil er misstrauen will, sondern weil er vertraut. Das ist die
Grundeinstellung des Menschen. Es geht ja keiner zum Arzt, weil der denkt, dem glaube er nicht. Ich bin ein
konservativ behandelnder Arzt, aber wenn ich wollte, bekomme ich den Patienten zur OP.
Wie das?
Dazu muss man im Kopf behalten, dass nach allen gängigen Definitionen der chronische Rückenschmerz ein
Schmerzleiden ist. Das Symptom selber wird zur Krankheit. Wenn sie in diesem Gebiet umgehen, dann müssten
sie besser mit dem Wort umgehen können als mit dem Messer. So werden die jungen Mediziner aber gar nicht
ausgebildet. Wenn sie Dinge sagen wie „Au, wie schaut denn Ihr Rücken aus!“, „Da werden Sie mal im Rollstuhl
landen.“
Oder „Da werden Sie vielleicht keine Kinder mit haben können.“ – das wirkt. Das wird ja alles den Patienten
erzählt. „Wenn Sie ein Unfall beim Skifahren haben, dann sind Sie vielleicht querschnittgelähmt.“ Wenn sie
Schmerzen bei einem Patienten dauerhaft verfestigen wollen, dann sagen Sie genau solche Sachen. Es ist etwas
ganz anderes, als wenn sie sagen: „So schauen Rücken in Ihrem Alter halt aus. Aber jeder zweite läuft so ohne
Schmerzen. Warum sollten Sie nicht dazugehören?“. Dann habe ich eigentlich schon mehr therapiert als wenn
ich dem ein Messer reinstecke.