Anka Muhlstein über Louis Begley

Anka Muhlstein über Louis Begley
Die Einladung über meinen Mann, Louis Begley, zu sprechen, habe ich nicht ohne Bedenken angenommen. Über Louis zu sprechen ist für mich nicht leicht, wir sind beide sehr zurückgezogene
Menschen, Louis würde mich vermutlich sogar verschlossen nennen; und die Tatsache, dass er
über die Idee, eine Biographie zu schreiben, nur lacht und ein resoluter Romanschreiber ist, ist
kein Zufall. Es ist wahr, er bringt sich selbst in seine Bücher ein – wie alle Schriftsteller – aber sie
für autobiographisch zu halten, wäre ein Fehler. Also was erzähle ich Ihnen? Ich habe mir gedacht,
ich konzentriere mich auf die Frage der Sprache, die, wie ich glaube, die interessanteste Verbindung zwischen dem persönlichen und dem professionellen Aspekt des Schreibens ist.
Die meisten von Ihnen wissen, dass Louis, in Polen geboren, mit 13 Jahren in die Vereinigten Staaten emigrierte und zum Englischen erst kam, nachdem er in einer anderen Sprache gesprochen,
gelesen und geschrieben hat. Natürlich ist er nicht der einzige Schriftsteller in dieser Kategorie.
Man denkt sofort an seinen Landsmann Joseph Conrad, der beschloss lieber in Englisch als in
Französisch oder Polnisch zu schreiben, obwohl er Englisch erst mit 21 Jahren lernte. Und an
Nabokov, aber Nabokov ist ein wackeliges Beispiel, seine erste Sprache war in Wirklichkeit Englisch und als Kind konnte er wohl besser Französisch als Russisch. Aber alle Fälle sind verschieden. Was mir am stärksten auffällt, wenn ich über Louis‘ Arbeit nachdenke, ist, dass er in Englisch
schreibt aber andere Sprachen zur Verfügung hat, die er sehr eigenwillig verwendet (und wenn ich
Sprachen sage, dann meine ich nicht nur die Sprache selbst, sondern die literarische Kultur des
jeweiligen Landes). Ich möchte damit beginnen, darzulegen, wie er sich des Französischen bedient,
der Sprache, die wir beide miteinander sprechen.
Tatsächlich begann unsere Freundschaft unter dem Patronat von Proust. Wir trafen einander
zum ersten Mal in Frankreich, wo Louis einige Tage im Haus meiner Schwester in der Provence
verbrachte. Unsere Besuche überschnitten sich zwei Tage und das war genug für mich, um von
seinem Charme ziemlich angetan zu sein. Aber ich kehrte zurück nach Paris und er nach New
York. Wie konnte ich ihn je wiedersehen? Hier taucht Proust als ein seltsamer Amor auf. Ich hatte
gerade mein erstes Buch veröffentlicht, ein dünner Band zum 100. Geburtstag von Proust. Obwohl
ich keine Ahnung hatte, ob Louis Proust mochte oder sogar nur je gelesen hatte, riskierte ich es
und schickte ihm das Buch. Er bedankt sich mit einem wunderschönen Brief, der mich überzeugte,
dass er den französischen Meister mindestens so gut kannte wie ich. So begann unsere zweisprachige Korrespondenz, ich schrieb französisch, er englisch. Zwei Jahre später waren wir verheiratet
und machten uns auf einen zweisprachigen Weg.
Ich verrate Ihnen ein paar persönliche Details, um diesen Aspekt unseres Lebens verständlich zu
machen. Wir waren beide vorher schon einmal verheiratet und wir hatten beide Kinder aus diesen
Ehen. Louis hat zwei Söhne und ich habe eine Tochter und zwei Söhne. Der Entschluss zu heiraten
war leicht, in welcher Stadt wir leben wollten, war schwieriger: sollte es Paris sein oder New York?
Das Problem war nicht beruflicher Natur. Louis konnte im Pariser Büro seiner New Yorker Kanzlei
arbeiten (tatsächlich hatte er bereits, bevor wir uns trafen, einmal drei Jahre mit seiner Familie
in Paris gelebt). Und ich konnte überall schreiben. Die Wurzel des Problems lag im Wohlergehen
unserer Kinder, die im Alter zwischen 16 und 9 Jahren waren. Louis konnte nach seiner Scheidung
mit seinen Sprösslingen nicht nach Frankreich ziehen, ich hingegen konnte mit meinen in Amerika
leben. Also trafen wir diese Entscheidung. Und wir reihten uns ein in die 49% der New Yorker, die
zu Hause nicht Englisch sprechen. Louis und ich sprechen miteinander immer französisch; mit
seinen Kindern spricht er immer englisch; mit meinen Kindern sprechen wir beide immer französisch; und die Begley Kinder, die recht gut französisch konnten, demonstrierten Teamgeist und
sprachen französisch mit ihren neuen Stiefgeschwistern bis diese englisch konnten. Die junge
Generation wechselte bald ins Englische, aber Louis und ich kommunizieren bis heute nur auf
Französisch. Aber dennoch lebten wir nicht in einer französischen Blase. Alle Kinder besuchten
amerikanische Schulen, alle unsere Freunde waren Amerikaner; wir lasen die New York Times,
obwohl ich ein Abonnement einer französischen Zeitschrift behielt. Waren wir eine amerikanische
Familie, was immer das bedeutet, wo es doch so viele verschiedene Amerikas gibt? Ich denke, unsere Freunde und ganz sicher die Freunde unserer Kinder wunderten sich über unsere Förmlichkeiten, das strenge Festhalten an Familienmahlzeiten, unsere vollkommene Ignoranz dem Sport
gegenüber und darüber, dass es im Wohnzimmer keinen Fernseher gab. Wir waren sicher keine
typischen Amerikaner, wir waren aber auch keine Franzosen; wir waren New Yorker mit einer Privatsprache, Französisch.
Hat sich dieser leichte Umgang mit der französischen Sprache und Kultur in Louis‘ Arbeit gezeigt?
Ja, ganz sicher, mehr oder weniger offensichtlich. Ich glaube mit Ausnahme von Lügen in Zeiten
des Krieges und Wie Max es sah kommt in jedem seiner Romane eine französische Episode vor.
Zunächst verwenden seine Charaktere sehr oft französische Wörter, entweder für einen komischen
Effekt wie in Schmidt, wo M. Mansours Lieblingsausdruck pas de problème ist oder das Mot juste.
In der Familie bemühen wir uns, nicht zu vermischen und bei der Sprache zu bleiben, in der wir
die Unterhaltung begonnen haben, aber oft kann ein Wort in einer anderen Sprache die Bedeutung
besser zum Ausdruck bringen oder ist lustiger. Louis‘ Romanfiguren, die gebildeten, ein bisschen
altmodischen, machen das gerne; sie machen einen tour d’horizon, sind au courant in allen möglichen Dingen, nehmen nicht alles au tragique und beobachten amüsiert das Treiben der haute
bourgeoisie. Und natürlich können Sie alle eine französische Speisenkarte lesen, schätzen einen
Grands-Echézeaux 71, wissen, dass man bei Wein immer den Jahrgang nennt, um die Qualität zu
bestimmen. Sie bestellen nicht einfach Champagner, sie bestellen Krug 75. Sie wissen, dass Le
Canard die französische Satire-Zeitung ist und l’affaire de l’Observatoire eine mysteriöse Episode in
Mitterands politischer Karriere - und Pech, wenn der Leser das nicht weiß.
Aber noch wichtiger ist die Tatsache, dass, obwohl seine Romanhelden nach Brasilien, China, Japan, Italien, Großbritannien, Belgien und in die Schweiz reisen, es tendenziell Frankreich ist, wo sie
verweilen. Seine ausländischen Romanfiguren sind üblicherweise Franzosen. Und die wichtigsten
und interessantesten sind Französinnen. Und was für ein unterschiedlicher Haufen diese Damen
sind. Da ist die komplizierte, unglückliche Véronique in Der Mann, der zu spät kam; es stimmt, sie
ist eine halbe Amerikanerin, an einem amerikanischen College erzogen, aber sie ist mit einem
Franzosen verheiratet, lebt in Frankreich, kommt aus einem Business–Milieu (ein Milieu, das Louis
in seiner Arbeit als auf internationale Fälle spezialisierter Anwalt sehr gut kennengelernt hatte)
und die ganze Affäre zwischen ihr und Ben, dem Hauptprotagonisten des Romans, spielt in Paris.
Dann ist da Léa, das „Bad News“-Mädchen aus Schiffbruch, die einen völlig anderen Typ verkörpert, sie ist eine Journalistin vom Vogue Typ. Léa ist sehr direkt, eine echte Männerfresserin. Im
Laufe der Geschichte erkennt man, dass sie die Ehe von North zerstören wird und – ich weiß nicht,
ob sie alle das Buch gelesen haben, also werde ich das Ende nicht verraten, außer Sie zu warnen:
es ist nicht schön. Nicht immer bekommen die Französinnen in Louis‘ Welt, was Sie wollen. Mit
Alice im letzten Schmidt Roman wurde wieder ein anderer Typ kreiert. Alice ist erwachsener als
Véronique oder Léa, eine ruhige Verführerin, als sie eintrat, ihre vollkommen aufrechte Haltung,
die Art, wie sie den Kopf mit dem schweren, zum Knoten geschlungenen oder im Nacken mit einer
Spange zusammengehaltenen Haar hoch trug und sie hatte die unerschütterlich guten Manieren
einer Diplomatentochter. Sie hat einen ernsthaften Job als Lektorin und ist, nicht überraschend, so
literarisch gebildet, dass sie sich, um ihre eigenen Gefühle zu erklären, ganz natürlich erdichteter
Charaktere bedient. Ich weiß nicht, ob Sie alle die Romane im Kopf haben, also gebe ich Ihnen ein
paar Informationen. Alice hatte eine ruhige und friedliche Ehe bis sie entdeckte, dass ihr Mann homosexuell ist. Sie möchte ihre Ehe gerne retten, ihren Mann zurückgewinnen, aber sie weiß nicht
wie. Und als sie Schmidt die Geschichte erzählt, bedient sie sich zur Illustration einer Geschichte von Balzac, La Cousine Bette. Sie erinnert Schmidt daran, dass sich die Geschichte um Baron
Hulot dreht, einen unverbesserlichen Schürzenjäger; er ist besessen von einer schrecklichen Frau,
deren Ansprüche die Familie buchstäblich ruinieren: seine Frau, die schöne und tugendhafte Adeline, ist verzweifelt und ruft: Was tun sie denn für die Männer, diese filles? – diese Huren, würde
man wohl sagen. Warum kann ich es nicht lernen, ganz gleich, was es ist? Ich will es für ihn tun,
wenn ich ihn nur damit glücklich machen kann, wenn ich ihn nur halten kann!
Und, wie Alice folgert: es gelang ihr nicht, so wenig wie es mir gelingt. Was hätte ich tun sollen?
Der Punkt ist, dass Alice, wie Louis, ihr Autor, über literarische Personen so spricht als wären
es lebendige Menschen. Louis und ich tun das die ganze Zeit, besonders mit Proust, Balzac oder
Trollope, weil man nie aufhört neue Interpretationen Ihrer Schöpfungen zu finden und so tratschen
wir über sie als wären sie Familienmitglieder. Aber ich schweife ab. Kehren wir zurück zu Alice
und Schmidt. Wieder beginnt die Liebesgeschichte in Paris, aber in einem anderen Stadtteil, mit
anderen Charakteren (in diesem Roman beschreibt Louis die Welt der in Paris arbeitenden amerikanischen Anwälte und Banker und der französischen Verlagswelt). Es ist hinreißend zu sehen, wie
vollständig Schmidt in Paris zu Hause ist. Eine Passage in Schmidts Bewährung mag ich besonders gerne: Schmidt wohnt in einem ungenannten Pariser Palais, aber Pariser erkennen sofort das
Crillon, das Luxushotel an der Place de la Concorde, und überlässt sich seinen Erinnerungen an
die Stadt. (Ich werde Ihnen eine kurze Passage vorlesen, damit Sie eine Idee von Louis Paris bekommen, und kehre dann zu den Französinnen zurück:
Es war noch früh am Nachmittag. Er trat auf die Terrasse, um sich von der Sonne wärmen zu
lassen. Den ganzen Morgen über hatte es geregnet, und trotz des tief brodelnden Verkehrs lag ein
frischer Frühlingshauch in der Luft. Wenn er an seine Parisaufenthalte dachte, erinnerte er sich in
der Hauptsache an lange Streifzüge. Immer, schon beim ersten Parisbesuch als Student, war er
unermüdlich durch die Stadt gewandert und hatte sich durch nichts abhalten lassen, weder durch
Hitze oder Regen noch durch Müdigkeit oder die Blasen, die sich so leicht über der Hacke an der
Stelle bilden, wo der Schuh an der Sehne reibt; manchmal hatte er ein bestimmtes Baudenkmal
oder einen bestimmten Ort finden oder wiederfinden wollen, manchmal lag ihm nur daran, Zeit in
einem besonderen Quartier zuzubringen, oft war sein Flanieren ganz planlos gewesen, er war zufrieden herumgeirrt, bis die Zeit ihm davonlief oder seine Beine ihn nicht mehr tragen wollten, so
dass er gezwungen war, innezuhalten und einen der wunderbar genauen Stadtpläne zu studieren,
die in jeder Metrostation hängen. Der dicke rote Punkt zeigte ihm, wo er war. Der Rest war einfach.
Die Französinnen sind im allgemeinen die Liebesobjekte des Romanhelden, aber nicht immer. In
Mistlers Abschied gibt es eine Nebendarstellerin, Tante Elisabeth, eine wunderbare französische
Dame im bestimmten Alter (sie war die Geliebte von Mistler‘s Vater), weise und großzügig, von ihrer
Familie streng kontrolliert - einer sehr typisch französischen bürgerlichen Familie, die fürchtet,
dass sie ihr Vermögen vielleicht nicht ihren Neffen und Nichten hinterlassen würde, also den esprit
de famille missachtet. Ich möchte darauf hinweisen, dass Henry in Ehrensachen, als er beschließt
sein Leben grundlegend zu ändern, mit dem Umzug in die Provence einen klaren Schnitt macht,
mit einer französischen Frau, einem französischen Namen und mit einem französischen Sohn.
Frankreich ist also ganz klar das fremde Land, in dem Louis sich an vielen verschiedenen Orten
sehr wohl fühlt, und in vielen verschiedenen Milieus. Das sind die Eigentümlichkeiten, die wohl
jedem Leser auffallen. Aber es gibt noch mehr französische Hinweise, die nicht so offensichtlich
sind, und die haben hauptsächlich mit Literatur zu tun. Da ist zum Beispiel in Der Mann, der zu
spät kam diese versteckte Homage an Proust. In jenem Absatz, in dem der Erzähler die Veränderung, die Zeit und Wohlstand in die Beziehung von Ben gebracht haben, mit einem Mann, Sean,
beschreibt, der ihn schon lange fasziniert hat. Plötzlich hatte sich sein Charme vollkommen verströmt, wie Parfum in einer offen gelassenen Flasche. Diese Metapher hätte Proust entzückt.
Jouve ist ein Schriftsteller, den Louis enorm bewundert, für seinen „außerordentlichen Witz, seine
Schnelligkeit, seine entschlossene Freiheit und seine an Grausamkeit grenzende Härte“. Jouve
wird in den Vereinigten Staaten kaum gelesen, (ich weiß nicht, ob er in Deutsch überhaupt gelesen
wird), und tatsächlich wird er auch in Frankreich nicht so viel gelesen, dass man einfach auf seine
Arbeit verweisen könnte. Ich gehe jetzt wieder zu Der Mann, der zu spät kam zurück, wo das Thema der Schmach so wichtig ist; hier macht Louis seine Leser mit Jouve bekannt, indem er haargenau einen seiner Romane „Le Monde Désert“ evoziert. Ben, der Protagonist in Louis Roman,
ist Jouves Dichtung enorm zugetan. In „Le Monde Désert“ sieht er eine Metapher seiner eigenen
Schändung und Jacques de Todi’s Selbstmord im Jouve Roman wirft den Schatten seines eigenen
Endes voraus. Jouve war für Louis auch ein Mutmacher in der Beschreibung von Sexszenen. Und
es gibt auch eine stilistische Beziehung zwischen den beiden Arbeiten: die verkürzt erscheinenden
Beschreibungen und, sogar noch augenfälliger, die Verwendung der Gegenwart in bestimmten
Passagen, die dem Roman die Dringlichkeit eines Galopps aufzwingen.
Ein drittes Beispiel, wie Louis französische Schriftsteller in seine Romane einbaut, ist seine Verwendung von Balzac. Manchmal sehr offen, wie z.B. in dem von mir schon genannten Beispiel aus
La Cousine Bette in Schmidts Einsicht. Manchmal versteckt: In Ehrensachen heiratet Margot, eine
reiche Erbin und Henrys große Liebe, einen französischen Schriftsteller, ein mittelloser Dichter,
der Lebon heißt, ein sehr gewöhnlicher Familienname, sein Vater war Apotheker in Chatelleraut.
Warum evozieren diese beiden gewöhnlichen Details Balsac? Nun, Lucien de Rubempré in Balsacs Illusions Perdues ist ebenfalls ein mittelloser Dichter, der seinen Namen von Chardon in den
eleganter klingenden Rupempré verwandelt, auch sein Vater ist Apotheker in der gleichen Provinz
und, wie Jean du Roc, schließt er sich einer reichen Frau an. Im selben Roman schreibt Louis, um
die Bedeutung der Familie Sainte-Terre hervorzuheben, dass das Oberhaupt der Familie der Duc
de Grandlieu ist. Da sind wir wieder im Balsac Territorium. In „La Comédie Humaine“ ist der Duc
de Grandlieu der Gipfel der aristokratischen Welt. Das sind nur kleine Details, es ist nicht wichtig,
wenn der Leser diese Insider-Witze nicht wahrnimmt. Aber ich erwähne sie, um zu zeigen, wie
Frankreich sowohl offensichtlich als auch versteckt in Louis Romanen präsent ist.
Französisch ist nicht Louis einzige Privatsprache, er hat auch andere. Eine, die er nicht mit vielen
teilt, ist das Italienisch des 16. Jahrhunderts, die Sprache Dantes.
Auf unserem ersten gemeinsamen Flug installierten wir uns in unseren Sitzen, das Flugzeug hob
ab, ich schaute aus dem Fenster und als ich mich zu ihm umdrehte, las Louis in einem kleinen,
sehr zerschlissenen, blauen Buch. Es war eine kleine Ausgabe des Inferno. Damals sah ich es
zum ersten, aber nicht zum letzten Mal. Dante ist Louis‘ beständigster Begleiter. Wann immer er in
einem Flugzeug, in einem Zug reist, auf einem Flughafen festsitzt, holt er das Büchlein heraus. Oft
liest er ein paar cantos, bevor er schläft. Ich gebe zu, ich kenne Dante nicht, also würde ich die Anspielungen auf die Commedia nicht bemerken, außer sie sind so offensichtlich wie in Erinnerungen
an eine Ehe oder er hat mich darauf hingewiesen. Manche seiner gebildeten Leser aber jubilieren
über die Tatsache, dass Ehrensachen 33 Kapitel hat (die Commedia hat 33 cantos) und dass der
Roman mit dem Bild der Sterne am Himmel endet. Oder dass Mistlers alter College-Freund ihn in
Venedig mit einem wundervoll passenden Siete voi qui, Ser Tomasso anspricht, eine Anspielung auf
ein Zusammentreffen Dantes mit seinem alten Lehrer Brunetto Latini. Er ist überrascht, ihn in einer Gruppe von Homosexuellen, die ewig unter einem Feuerregen im Kreis laufen, anzutreffen und
begrüßt ihn mit den Worten Siete voi qui, Ser Brunetto. Wenn der Leser diesen Hinweis versteht,
schließt er daraus sofort, dass Mistlers Freund homosexuell ist. Eine viel elegantere und subtilere
Art die sexuelle Neigung einer Figur einzuführen als es plump zu benennen, aber es setzt voraus,
dass der Leser hellwach und literarisch gebildet ist.
Selbstverständlich aber ist Louis wichtigste andere Sprache seine Muttersprache und das ist
Polnisch. Ich erzählte Ihnen am Anfang dieses Gesprächs über unser amerikanisches Leben mit
einem französischen Drall. Meine Schwiegermutter lebte in einer anderen Welt. Meine Schwiegermutter lebte in der Stadt, zehn Minuten von uns entfernt, aber wenn ich sie besuchte, wurde ich an
einen anderen Ort transportiert, in ein kleines Polen. Als ich sie 1973 traf, hatte sie schon 26 Jahre
in New York gelebt, etwas weniger als ihr halbes Leben, sie hatte in New York gearbeitet und tat
es noch, sie sprach perfekt englisch, las amerikanische Literatur, liebte amerikanische Filme und
New Yorker Theater und dennoch war an ihr nichts Amerikanisches. An ihrer Wand hingen Bilder
von polnischen Künstlern, alle ihre Freunde waren polnische Juden, die entweder rechtzeitig vor
dem Krieg entkommen waren oder, wie sie, mit grauenvollen Erfahrungen überlebt hatten. Ihre Ferien verbrachte sie gerne, nicht weit von der Stadt, in einer von Polen geführten Pension und natürlich kochte sie polnische Speisen. Zu meiner großen Freude - denn das waren auch die Lieblingsgerichte meines Vaters, auch ein polnischer Jude - verwöhnte sie uns mit Bigos, dem fantastischen
polnischen Sauerkraut, gefüllten Kohlrolladen und Kutteln.
Mit mir und den Enkelkindern sprach sie englisch, aber mit Louis fiel sie schnell zurück ins Polnische. Das war ihre natürliche Sprache, die Sprache, die sie immer zu Hause gesprochen hatten,
die Sprache vieler Gedichte, die er auswendig kannte, die Sprache, in der er träumt, in der er zählt,
eine Sprache sowohl literarisch als auch vollständig an seine Kindheit gekoppelt, d.h. an die Vergangenheit, eine Sprache, die er außerhalb seiner Mutter Haus kaum benutzt. Und dennoch hat
er nie aufgehört die neuesten polnischen Romane und Gedichte zu lesen. (Adam Mickiewicz, das
Symbol großer polnischer Literatur, der Dichter Zbigniew Herbert und vor allem der Schriftsteller
und Dramatiker Witold Gombrowicz sind ihm so wichtig wie seine liebsten amerikanischen, englischen oder französischen Autoren). Und Polnisch hat eine kaum wahrnehmbare Spur in seiner
englischen Sprache hinterlassen. Ich sage das, obwohl ich es selbst nicht höre. Aber Menschen,
die sich auf Akzente besser verstehen als ich, erkennen die polnische Muttersprache.
Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich selten daran denke, wie viel Louis seine Muttersprache
möglicherweise vermisst. Er ist kein Mann, der in der Vergangenheit lebt, sondern im Gegenteil
sehr in der Gegenwart verhaftet. Ich weiß, wie erfüllt er ist, als amerikanischer Romanautor und
wie sehr er die Schönheit und den Reichtum der englischen Sprache liebt. Eine Begebenheit aber
hat mich bewegt: vor etwa 20 Jahren, anlässlich der Veröffentlichung von Lügen in Zeiten des
Krieges auf Polnisch unternahmen wir eine Polenreise und Louis machte seine übliche Runde der
Interviews. Eines Abends, nach einer Lesung, fragte ihn jemand aus dem Publikum, ob er noch
ein Gedicht aus seiner Kindheit auswendig könne. Augenblicklich begann er ein Gedicht namens
Locomotiva vorzutragen, über einen Eisenbahnwaggon und Menschen, die Kielbasa, die polnische
Wurst, essen. Julian Tuwim, einer der größten polnischen Dichter der Zwischenkriegszeit, hat es
geschrieben. Und jedes Kind aus Louis Generation konnte es auswendig. Plötzlich begann der ganze Raum die Zeilen mit ihm zu sagen und ich sah wie sein Gesicht einen Ausdruck reinster Wonne
annahm. Trotz all des Horrors war die Verbindung nicht vollkommen zerrissen.
Was bedeutet es in einer angeeigneten Sprache zu schreiben? Und ich sollte erwähnen, dass englisch nicht einmal die zweite Sprache war, die Louis lernte. Er lernte deutsch während des Krieges
und russisch während der 18 monatigen sowjetische Besetzung Polens, also war englisch seine
dritte Sprache. Und auch französisch lernte er sehr früh.
In Harvard studierte er im Hauptfach Englisch, beteiligte sich aktiv an Harvards Literaturzeitschrift
und schrieb einige Kurzgeschichten. Aber er verfolgte diesen Weg nicht, weil er, wie er mir sagte,
dachte, er habe nichts zu erzählen oder vielleicht zu viel: das Material in seinen Händen war damals zu schmerzhaft für ihn. Außerdem hatten die brennenden Erfahrungen seiner frühen Jahre
in Polnisch stattgefunden und jetzt schrieb er englisch. Die Diskrepanz war damals zu schwierig,
um sie zu bewältigen, also entschloss er sich, Jus zu studieren. Wie die meisten von Ihnen wahrscheinlich wissen, hatte er eine lange und sehr erfolgreiche Karriere als New Yorker Anwalt. Er
schrieb unzählige Schriftsätze, Urteile, Verträge und Benachrichtigungen mit einer Präzision und
Klarheit, die ihm sehr dienlich waren, als er plötzlich in seinen Fünfzigern das Gefühl hatte, er hätte etwas zu sagen. Und also begann er zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt war sein Englisch nicht
nur das perfekte Englisch, dass man von einem Top-Anwalt erwarten durfte, es war auch mannigfaltig, idiomatisch und umgangssprachlich, wenn nötig. Er profitierte von seiner Zeit in der US
Armee (und brachte mich immer zum Lachen, wenn er seinen Kommandos brüllenden schwarzen
Sergeant imitierte), er profitierte von den Unterhaltungen mit seinen amerikanischen Kindern, die
ihn über Geschmack, Vokabular und Lieblingssongs der jüngeren Generation auf dem Laufenden
hielten und blieb durch die Interaktionen mit jungen Kollegen, Sekretärinnen und Boten der Firma
auf der Höhe der zeitgemäßen englischen Sprache, - natürlich auch durch seine unglaubliche Begabung, neue Ausdrücke aufzuschnappen. Er behauptet, er stelle sich gerne in einer Schlange an,
in Geschäften oder im Kino, um zuzuhören, wie die Menschen von der Straße sprechen. Im Dialog
der jungen Frauen der ersten Schmidt Bücher ist das deutlich (ich denke ganz besonders an Charlotte im ersten Schmidt), Arbeiter, wie Brian zum Beispiel, der sanfte,
leicht bekiffte junge Mann, der zeitweise als Handlanger für Schmidt arbeitet, die polnischen Putzfrauen, ebenfalls in Schmidt.
Und dennoch, auch ein sehr feines Ohr, ein außergewöhnlich subtiler Sinn für Stil und ein sehr
reichhaltiges Vokabular tilgen nicht vollkommen die Schwierigkeiten, in einer eigentlich fremden Sprache zu schreiben. Und ich finde, um über dieses Thema zu sprechen, muss ich zwischen
Lügen in Zeiten des Krieges , dem Buch über seine Kindheit als kleiner Bub in Polen während des
Krieges, und den neun anderen Romanen, den amerikanischen Romanen, unterscheiden. Und ich
meine damit, dass diese neun alle in Amerika spielen, dass die Mehrheit der Charaktere Amerikaner sind und die politischen Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, die USA betreffen.
Lügen in Zeiten des Krieges spielt in Polen; alle Charaktere sind Polen mit Ausnahme einiger
Deutscher. Der Roman ist nicht autobiographisch, sondern basiert auf den Erinnerungen an das,
was Louis geschehen ist und Menschen, die ihm ihre Geschichte erzählt haben. Der wichtige
Faktor ist, dass alles in Polen geschieht. Wie schreibt man eine Geschichte, an die man sich in
einer anderen Sprache erinnert, auf Englisch? Und Englisch und Polnisch sind in der Färbung der
Kindersprache sehr verschieden. Das Polnische liebt Verkleinerungsformen. In Englisch kann eine
Catherine Kate, ein Thomas Tom genannt werden, eine Mother ist eine Mom oder eine Mommy,
aber da ist es schon zu Ende. Im Polnischen gehen die Kosewörter weiter, eine Mutter ist Matka,
Mama, Mamusia, Mamunia; Louis ursprünglicher Vorname war Ludwig: seine Mutter nannte ihn
nie anders als Ludusz. Bei ihren alten Freunden hieß er Ludek. Der kleine Bub im Buch heiß Maciek. Im Polnischen vermittelt Maciek eine unmittelbare Bedeutung, denn in einem beliebten Lied
ist es der Name eines kleinen Buben, der stirbt. Im Englischen assoziiert man mit diesem Namen
nichts. Und dann ist da natürlich die Frage des „Du“ und „Sie“. Für einen Polen würde es sehr
künstlich wirken, ein englisch sprechendes Kind wiederzugeben. Diese große Hürde nahm Louis
im Buch, indem er nur indirekte Dialoge verwendete. Nachdem er über das Thema des jüdischen
Überlebens geschrieben hatte – und es nicht zu unternehmen, war nach diesen so schwer verwundenden und zeichnenden Kriegsjahren undenkbar-, gab er das polnische Thema und den Horror
des Krieges auf, um sich den großen menschlichen Themen zuzuwenden, die er in den darauffolgenden Romanen erforschte: die Macht des Eros, die Auswirkung von Tod, Alter, Reichtum, die
bizarren Zufälligkeiten des Lebens. Aber für meinen Teil ist die Geschichte von Lügen in Zeiten des
Krieges noch nicht vorbei. Das Buch war ein großer und unmittelbarer Erfolg und viele Übersetzungen folgten. Jetzt überwacht Louis die Übersetzungen seiner Bücher in Sprachen, die er versteht, sehr genau. Er war nie zufrieden mit den französischen; mit den deutschen Übersetzungen
ist er viel glücklicher, weil dieselbe Übersetzerin, Christa Krüger, alle gemacht hat. Louis vertraut
ihr vollkommen, bewundert ihre Ernsthaftigkeit und ihren Stil und schätzt sich sehr glücklich, die
deutschen Übersetzungen in ihren Händen zu wissen und dennoch… ein Autor erkennt seine Bücher nie ganz in den Übersetzungen. Die Worte auf den Seiten sind nicht seine Worte, die Wendung
der Phrasen sind nicht seine. Das Buch ist dann gleichzeitig sein Buch und doch etwas anderes.
Lügen in Zeiten des Krieges wurde 1995 ins Polnische übersetzt, und zum ersten Mal sah ich Louis
wirklich glücklich: das ist das Buch, das ich selbst hätte schreiben können, sagte er. Und dann
wandte er sich anderen Dingen zu und anderen Problemen.
Ich glaube, die meisten Menschen wären sehr überrascht, wenn man Ihnen sagte, dass Schreiben
auf Englisch für Louis nicht vollkommen natürlich war, und zu recht. Er kam in New York 1947
nach einer sehr sporadischen Erziehung an. Während der Kriegsjahre hatte er gar keinen Unterricht, außer einigen Stunden bei einer außerordentlich mutigen Lehrerin, die damit ihr Leben
riskierte, und dem Lesen polnischer Romane und Gedichte mit seiner Mutter. Danach war er ein
Jahr auf einem Krakauer Gymnasium. Während der anschließenden Monate in Paris versuchten die Eltern gar nicht, ihn einzuschulen und ließen ihn die Stadt erkunden. Endlich in New York
angekommen, ging er auf eine sehr gute High School und begann aufzuholen. Er holte so schnell
auf, dass er 1949, also nur zwei Jahre später, einen New York weiten Kurzgeschichten-Wettbewerb
unter der Schirmherrschaft der Universität New York gewann und Harvard ihm ein Stipendium
anbot. Und, wie schon gesagt, dort studierte er englische Literatur und schloss mit summa cum
laude ab. Kritiker haben manchmal ein Problem mit Louis‘ Themen, vor allem mit der Tatsache,
dass die meisten seiner Geschichten in „guten Gegenden“ angesiedelt sind. (Sie scheinen die
Tatsache zu ignorieren, dass es besser ist über ein Milieu zu schreiben, mit dem man vertraut ist
und dass die Suche nach der menschlichen Wahrheit, nach der Beschreibung der menschlichen
Natur genauso gut am Charakter eines Anwaltes wie an dem eines Lastwagenchauffeurs erfolgen kann. Ein Roman ist besser, nuancierter und interessanter, wenn der Autor ein Feld beackert,
das er kennt). Immer aber loben alle Kritiker seinen Stil, sein Gefühl für den Rhythmus der englischen Sprache und dennoch ist Louis über sein Schreiben immer besorgt. Nicht, wenn es sich um
Amtliches oder Sachliteratur handelt, da schreibt er schnell und sicher; und es scheint mir, unter
solchen Umständen macht ihm auch Zeitdruck nichts aus. Die Unzufriedenheit beginnt, wenn er
Romane schreibt, und was er auf dem Schirm sieht, nagt an ihm und zwingt ihn, zu ändern und zu
korrigieren und wieder zu ändern, jeden Satz, jeden Absatz, bevor er weiterfahren kann. Es stimmt,
es gibt nur sehr wenige Schriftsteller, die nicht ständig korrigieren. Proust, natürlich, mit seinen
unleserlichen, mit Korrekturen übersäten Manuskripten ist ein extremes Beispiel. Aber Balzac,
der schnell schreiben musste, da seine Romane in Fortsetzungen erschienen und der immer spät
war, korrigierte seine Manuskripte genauso gnadenlos. Andererseits schrieb Victor Hugo ohne zu
zögern und Trollope auch. Bei Louis ist es so, dass er meint, nicht über die natürliche Spontanität, das instinktive Erfassen, wie man sich ausdrucken würde, zu verfügen, über die Freiheit eines
Schriftstellers, der in seiner Muttersprache schreibt. Mit den Korrekturen seines Lektors ist er
nicht immer einverstanden, tatsächlich ist er fast nie damit einverstanden, denn letztendlich drückt
er sich ohnehin genauso aus, wie er es möchte (und schließlich, wie er sagt, ist es sein Buch und
nicht das seines Lektors). Aber das zwingt ihn, das Buch immer wieder besonders sorgfältig zu
lesen, obwohl die englische Sprache vollkommen seine eigene geworden ist.
Manchmal frag ich mich, ob nicht ich Teil des Problems bin und ob er nicht, wenn er zu Hause
englisch spräche, mit einer gebildeten amerikanischen Frau, inzwischen frei wäre von all diesen
Ängsten. Aber ich bin froh, dass er sich über seine französische Seifenblase nicht zu ärgern scheint
und sich offensichtlich keine Kursänderung wünscht.
(Aus dem Englischen von Elisabeth Samuel)