Migrationsgeschichten (bei 20 TNs 4 Gruppen mit ausreichend Exemplaren der Geschichten) „Diese Erfahrung, dass du keinen Platz hast in der Welt“ (J. aus Israel) Geboren wurde ich in Bethlehem. Meine Eltern lebten eigentlich woanders, mussten aber wegen einer Volkszählung in den Geburtsort meines Vaters gehen, eben nach Bethlehem. Damals war meine Mutter schwanger mit mir. Meine Mutter erzählt mir manchmal, wie schwierig das in Bethlehem damals war, denn wegen dieser Volkszählung waren zu viele Leute in dem kleinen Ort und niemand hatte ein Zimmer frei. Schließlich kam ich wohl in einem Stall zur Welt! Auch wenn meine Eltern mich sehr liebten, von heute aus betrachtet, macht mich der Gedanke traurig, dass Menschen nicht einmal für eine schwangere Frau einen würdigen Platz finden, an dem sie ihr Kind bekommen kann. Meine Eltern haben mir erzählt, dass sie bald nach meiner Geburt mit mir nach Ägypten flohen, weil alle kleinen Jungen in Bethlehem umgebracht werden sollten. Klingt unglaublich, ich weiß. Wenn du vor der Wahl stehst: entweder hierbleiben und dein Kind wird umgebracht oder flüchten, dann ist Flucht allemal besser. Und dass obwohl du nicht weißt, was du auf der Flucht essen und trinken, wo du schlafen kannst und wer dich aufnehmen wird, wie du Geld verdienen kannst, um deine Familie zu ernähren usw. Obwohl ich noch ganz klein war, als das alles passierte und ich dann eigentlich relativ friedlich groß wurde, hat mich diese Geschichte schon geprägt. Ich weiß eben, dass es sein kann, dass jemand einfach so versucht dich oder deine Familie umzubringen. Ich weiß eben, dass es Situationen gibt, in denen Menschen flüchten müssen. Und ich weiß eben auch, dass andere Menschen Fremden nicht immer menschlich begegnen; ich weiß, dass Schwangere manchmal in einem Stall gebären müssen. Dieses Wissen, diese Erfahrung, dass du keinen Platz hast in der Welt, dass du zu viel bist, die hat mein Leben geprägt. „Eine Frau muss stark sein!“ (A. aus dem kurdischen Teil der Türkei) Ich stamme aus einer Familie mit acht Geschwistern, fünf Mädchen und drei Jungen. Nach der Grundschule, die fünf Jahre dauerte, hatte ich gute Noten und eine Empfehlung meines Lehrers, dass ich weiter zur Schule gehen solle. Am letzten Schultag saß ich mit meinem Zeugnis zusammen mit meiner Familie am Mittagstisch und mein Vater fragte: „Ist deine Schule beendet?“ Ich bejahte und er sagte: „O.k., dann kannst Du jetzt zu Hause bleiben, deine Schulzeit ist beendet.“ Damals war ich so zehn, elf Jahre alt. Deshalb blieb ich zu Hause, ich habe meiner Mutter geholfen. Statt so zu leben, ohne Beruf, ohne Schule, nur im Haushalt, ein Leben ohne viel Bedeutung, dachte ich, ist es besser, einen Mann zu heiraten und wenigstens frei mit einem Ehemann zusammenzuleben. Und nach ein paar Vorschlägen kam ein Mann, der mit meinem Schwager befreundet war. Er war 32 Jahre alt, ich 15 Jahre. Nach der Hochzeit war es wie immer. Was er sagte, musste gemacht werden. Neun Monate nach der Hochzeit bekam ich das erste Kind, wir sind kurz danach nach Istanbul umgezogen, haben zwei, dreimal die Wohnung gewechselt und sind auch in eine andere Stadt gezogen. Als ich vier Kinder hatte, wurde mein Mann wegen seiner politischen Meinung verhaftet und kam mehr als ein Jahr ins Gefängnis; auch noch nach dem Gefängnis wurde er beobachtet. Und dann gab es Gerichtsverhandlungen und meinem Mann drohte eine Strafe von 18 Jahren. Damals hat er sich entschlossen, nach Deutschland zu flüchten. Und ich war wieder mit den Kindern allein. Das dauerte ungefähr zwei Jahre. Zwei Jahre später durften wir auch nach Deutschland kommen. Deutschland, das war dann mein dritter Lebensbeginn. Mit vier Kindern hatten wir am Anfang eine 40 m²-Wohnung. Mein Mann war den ganzen Tag im Sprachkurs. Ohne Kenntnisse, ohne Sprache musste ich alles machen. Langsam lernte ich einige Worte. Und ich war für die Kinder da, für die Deutschland auch ein fremdes Land war. Sie brauchten das Gefühl, dass sie nicht allein sind. Meine Kinder sind jetzt schon einigermaßen groß. Nun kann ich auch etwas für mein Leben erreichen. (A. hat sich als erste Person in der Familie scheiden lassen und arbeitet in einer Evangelischen Einrichtung zur Betreuung alter Menschen.) „Migration war der einzige Weg“ (C. aus den Philippinen) Ich hatte an der Universität Bauingenieurwesen studiert, aber es war schwer für eine Frau, in diesem Bereich einen Job zu finden. Mein Mann hatte auch nicht immer Arbeit. Wir haben auf den Philippinnen keine Versicherung und keine Hilfe vom Staat. Mein Vater bekam Lungenkrebs und brauchte teure Medikamente und meinen Kindern musste ich die Schule bezahlen. Migration war der einzige Weg, meiner Familie eine gute Zukunft zu geben. Meine Schwester ist mit einem Deutschen verheiratet. Sie hat gesagt, ich kann hierher kommen. Damals war meine Tochter gerade vier Monate alt und ich bin alleine nach Deutschland gereist und als Touristin geblieben. Hier habe ich dann für eineinhalb Jahre gearbeitet. Dann wollte ich wieder zurück. Ich dachte, vielleicht reicht das Geld schon für ein gutes Leben. Aber dann habe ich noch ein Mädchen und einen Jungen bekommen. Mein Mann hatte zu dem Zeitpunkt zwar eine Arbeit, aber das Geld reichte nicht aus. Da habe ich entschieden, dass ich wieder nach Deutschland fahre und es nochmal versuche. Die Familie, bei der ich schon einmal gearbeitet hatte, wollte mich auch gerne halten. Und dann bin ich zehn Jahre geblieben. Seit 1987 habe ich hier zehn Jahre gelebt, ohne meine Kinder zu sehen. Ich habe immer nur gehört, wie es ihnen gerade geht, was sie gerade machen. Sie haben nur meinen Mann. Aber ich musste streng mit mir bleiben, ich habe mir gesagt, ich bleibe hier, bis die Kinder vielleicht in der Hochschule oder so sind. Aber als die Kinder in der Hochschule waren, brauchten sie noch mehr Geld. Ich arbeite fünf Tage die Woche, jeden Tag sechs bis sieben Stunden. Ich habe keinen bezahlten Urlaub und auch an Feiertagen oder in den Ferien bekomme ich keinen Lohn. Ich habe mehrere Arbeitsstellen. Mit meiner Schwägerin wohne ich in einer kleinen Wohnung. Die Kinder sagen immer, ich muss zurück in unsere Heimat. Aber für mich ist es auch schwierig, ich habe nun mehrere Leben und mein Leben ist auch hier. Wenn ich zurückkehre, wird es sein, wie zu der Zeit, als ich nach Deutschland gekommen bin, ich werde fremd sein. Ich habe mich schon sehr an Deutschland gewöhnt, an die Sprache, die Kultur und wie die Deutschen leben. Vielleicht muss ich irgendwann zurück, aber wenn ich eine Chance dazu bekomme, dann will ich wirklich hier bleiben. Das schönste wäre, hier legal arbeiten zu können, dass meine Kinder auch hierher kommen und legal arbeiten könnten. „Ich habe lange gebraucht, um wieder anzukommen“ (L aus Deutschland) Richtig migriert bin ich eigentlich nicht, weil ich nach der Schule nur ein Jahr im Ausland war. Von Anfang an wusste ich, dass ich nicht länger bleiben würde. Mir war klar, dass ich in die Welt hinaus ziehen und dabei ‚etwas Gutes tun‘ wollte. Und ich wollte herausfinden, ob ich später wirklich Lehrerin werden möchte. Das Land hat die Hilfsorganisation für mich ausgesucht; gekommen bin ich nach Äthiopien. Das liegt in Ostafrika. Ich habe dort ca. 10 Monate gelebt und zwei Kinder von deutschen EntwicklungshelferInnen in allen Fächern unterrichtet. Man bekommt dazu Material zugeschickt von sog. ‚Fernschulen‘. Die deutschen Kinder konnten in Äthiopien keine Schule besuchen, weil die staatlichen Schulen dort nicht so gut ausgestattet und zu viele Kinder in einer Klasse sind und auch anderer Stoff gelehrt wird als bei uns in Deutschland. Äthiopien ist ein sehr schönes Land und im Hochland ist es gar nicht so heiß, eigentlich ähnlich wie in Deutschland. Man isst dort Injera, einen Fladen, der so ähnlich aussieht wie Crepes, aber sauer schmeckt wie Sauerteigbrot. Ich habe gern unterrichtet. Nur fremd kam ich mir sehr vor. Am meisten hat mich meine Hautfarbe gestört: Ich konnte nirgendwo unbeobachtet hingehen; immer war ich die Ausländerin, der man auch noch von weitem ansah, dass sie von einem anderen Kontinent stammte. Manchmal habe ich mir so sehr gewünscht, wenigstens für eine Stunde mal eine dunklere Hautfarbe zu haben. Einen Kulturschock habe ich aber erst bekommen, als ich wieder in Deutschland war. Das hatte viele Ursachen; vor allem begann das Studium mit all seiner Anonymität an einer großen Uni. Das war quasi das komplette Gegengefühl zu Äthiopien: Plötzlich war eine unscheinbare kleine Nummer unter vielen tausend anderen. Und mich überforderte das massenhafte Angebot in den Geschäften. Manchmal hat mich der Gedanke fertig gemacht, dass es mir in Deutschland so gut geht, während andere sehr rechnen müssen, um im Notfall den Arzt bezahlen können. Mit diesem Gedanken konnte ich lang nicht leben; ich habe mich schuldig gefühlt. Ich kenne auch FSJlerInnen, die nach ihrem Auslandsjahr keine Schwierigkeiten hatten, sich wieder einzuleben, aber ich habe lange gebraucht, um wieder anzukommen. „Ihnen wurde Gleichberechtigung, Arbeit und Bildung versprochen… alles“ (O. aus Serbien) Ich stamme aus Serbien; mein Vater ist Serbe, meine Mutter kommt aus Kroatien. Ich selbst habe keine Migrationsgeschichte, aber meine Mutter wanderte während des Krieges aus Kroatien aus. Sie hat mir ein paarmal davon erzählt, wie sie sich damals als Flüchtling fühlte. Sie erzählte mir, dass es sehr hart gewesen war für sie, weil sie nur mit ihrer kleinen Schwester fortging und meine Mutter für sie beide sorgen musste. Als sie nach Serbien kamen, war es schwer für sie, in der Gesellschaft anzukommen, weil sie als Kroatinnen diskriminiert wurden: man beschimpfte und beleidigte sie und man tratschte über sie. Bevor sie nach Serbien kamen, sagte man ihnen, dass alles wunderbar sein würde. Ihnen wurde Gleichberechtigung, Arbeit und Bildung versprochen… alles… aber die Realität sah sehr, sehr anders aus. „Brichst du aus dem Kreislauf aus?“ (aus dem Jugendaustauschprogramm zwischen Serbien und Dtl. „Who am I and who are you?“) „Dieselbe Kirche, dieselben Bäume vor den Häusern, dieselbe Straße, die durch das Dorf führt. Deine Mutter kennt alles davon, deine Großmutter und deine Urgroßmutter. Seit hunderten von Jahren. Einige Menschen kamen zu deiner Familie hinzu, andere gingen weg, aber der Hauptanteil blieb hier. Wirst du ein Teil davon bleiben? Oder wirst du die Chance ergreifen und aus dem Kreislauf ausbrechen, rausgehen, etwas neues sehen, eine andere Kirche, andere Bäume, andere Straßen, die durch Orte führen, welche du nicht kennst. Du denkst an deine Mutter. Sie hat die Chance ergriffen, zog um nach Berlin. Vielleicht konnte sie sich auch nicht vorstellen, ihr gesamtes Leben hier zu verbringen, aber sie ist gescheitert. Wie fühlt sie sich jetzt? Ist sie zufrieden? Würde sie die Vergangenheit ändern, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte? Du hast sie niemals gefragt.“ Hier kannst du eigene Migrationserfahrungen oder Erfahrungen von Aufbruch und FremdSein aufschreiben: Quellennachweise der Migrationsgeschichten: 1: Jesus von Nazareth, unter Verwendung von Roloff, Jürgen: Jesus. Wissen Beck’sche Reihe, München 5. Auflage 2012, 56f. 2: „Eine Frau muss stark sein!“ (A. aus dem kurdischen Teil der Türkei) und 3: „Migration war der einzige Weg“ (C. aus den Philippinen) gekürzt und bearbeitet aus: Ferenschild, Sabine (Hg. Südwind e.V. – Institut für Ökonomie und Ökumene): „Am Anfang war es schwer.“ Migrantinnen erzählen aus ihrem Leben, Siegburg 2013, 14ff und 19ff. 4: unveröffentlichtes Protokoll 5 Olja aus Serbien und 6 (anonym); Migrationsgeschichte aus dem Jugendbegegnungsprojekt zwischen Kraljevo (Serbien) und Halle (Deutschland): Who am I and who are you? vom Friedenskreis Halle. Die Geschichten sind zum Teil fiktiv, weil sie das Ergebnis eines kreativen Prozesses der Jugendlichen darstellen, nachdem intensiv über Migration diskutiert wurde und die Jugendlichen sich zu zweit über ihre Familiengeschichten interviewt haben. (Eigene Übertragungen aus dem englischen Original)
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