Der mächtigste Drogenboss der Welt entkommt

IM D UNKELN
POLITIK
Es ist der Stoff,
aus dem Legenden
gestrickt werden:
Der mächtigste
Drogenboss der Welt
entkommt durch einen
Tunnel aus einem
Hochsicherheits‑
gefängnis in Mexiko.
Doch was passierte
wirklich? Bestseller­
autor Don Winslow
über Korruption und
die Wahrheiten hinter
der Flucht des Mas‑
senmörders El Chapo
FOTOS: AP (2)
Das aktuellste Bild zeigt Joaquín
El Chapo“ Guzmán Loera noch
im Gefängnis mit kurz geschorenen
Haaren (oben). Das umgebaute
Motorrad (rechts) transportierte
den Abraum beim Tunnelbau auf
Schienen. Doch benutzte es auch
Guzmán bei seinem Ausbruch?
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Don Winslow
Seit 15 Jahren recherchiert der USAutor die Hintergründe des
­Drogenkriegs in Mexiko. Sein neues
Buch „Das Kartell“ beschreibt, wie
El Chapo seinem Machtkampf
Zehntausende Menschenleben opfert.
Das organisierte Verbrechen ist seit
Kindheitstagen ein Thema in Winslows
Leben: Seine Großmutter arbeitete
für den Mafiaboss Carlos Marcello
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Der
mächtigste Drogenboss der Welt spaziert einfach so aus
einem Hochsicherheitsgefängnis.
Und das gleich zweimal.
Vergessen Sie alles, was Sie über mexikanische Drogenbosse zu wissen glauben. Joaquín „El Chapo“ Guzmán
Loera, Boss des übermächtigen Sinaloa-Kartells, ist ein
brillanter, skrupelloser, milliardenschwerer Geschäftsmann, dessen Business nun mal Drogen sind. Er ist ein
Überlebenskünstler.
Seinen Aufstieg in den 80er Jahren hat er sich hart erarbeitet: Anfangs stand er als Killer in Diensten des Kokain-Zars Miguel Ángel Gallardo. Er überlebte den Angriff der US-Drogenbehörde DEA, nachdem deren Agent
Enrique Camarena ermordet wurde; er bewährte sich im
blutigen Krieg gegen Rivalen in Tijuana und schlüpfte
schließlich aus einem brutalen Gefängnis in Mexiko, um
der mächtigste Drogenbaron der Geschichte zu werden.
Seit 15 Jahren verfolge ich Chapos Karriere. Zunächst
beschrieb ich eine fiktive Version von ihm in meinem
Überwachungskameras zeigen
El Chapo in seiner Zelle vor der
Duschkabine – kurz vor der Flucht
Dieser Ausbruch ist
nicht vergleichbar
mit dem Film
Die Verurteilten“.
Chapo hat nicht
jahrelang mit einem
Pickhammer am Mauerwerk ­geschabt
Durch dieses Loch in der
Dusche soll El Chapo in den
Tunnel gestiegen sein
FOTOS: STEPHAN GÖRLICH/IMAGO; REUTERS; SPLASH NEWS; AP; AFP
D
Im Februar 2014 zeigte die
Militärpolizei stolz die Festnahme Guzmáns (unten). Seitdem
saß er im Altiplano-Hochsicher­heits­gefängnis ein, westlich
von Mexico City (oben)
Roman „Tage der Toten“, dann seine Flucht aus dem Knast
im Jahr 2001 in dem Buch „Das Kartell“. Die Ereignisse des
vorletzten Wochenendes geben mir das Gefühl, als wäre
aus der Fiktion längst Realität geworden.
Nachdem Chapo 1993 zum ersten Mal hinter Gitter kam,
saß er immerhin fast acht Jahre einer 20-jährigen Haftstrafe ab, bevor er „flüchtete“ – angeblich in einem
­Wäschekarren, aber vermutlich eher in einem Auto oder
Hubschrauber. Damals hatte er aus seiner Zelle im Puente-Grande-Hochsicherheitsgefängnis das „Four Seasons“
gemacht: mit Kinoabenden, heimlich eingeschleusten
Nutten, Gourmetmenüs, edlen Weinen und Weihnachtsfeiern.
Jetzt wartete Chapo etwas mehr als ein Jahr, bevor er
„flüchtete“ – angeblich aus einer Dusche direkt in seiner
Zelle oder durch eine „Gemeinschaftsdusche“ hinein in
einen Tunnel und dann weiter auf einem umgebauten
Motorrad, das auf Schienen fuhr.
Ich habe keine Zweifel, dass es einen Tunnel gab, aber
ich bezweifle doch sehr, dass Chapo auf diesem Weg
geflüchtet ist. Zumindest nicht ohne Hilfe. Falls es
wirklich eine Gemeinschaftsdusche war, wie sollte ihm
da die Flucht gelingen? Hat er unter dem Strahl gestanden, auf etwas gezeigt und den Wärtern zugebrüllt:
„Schaut doch mal da drüben!“, um dann unerkannt ein
Gitterrost anzuheben und zu verschwinden?
Und keinem soll es aufgefallen sein, dass ein Häftling,
und zwar der – nach Osama bin Laden – meistgesuchte
Mann der Welt, plötzlich weg ist? Abgesehen davon:
­Warum besaß der Insasse eines Hochsicherheitsgefängnisses eine eigene Dusche in seiner Zelle? (Andererseits,
wenn seine jetzige Zelle gleichermaßen luxuriös ausgestattet war wie seine vorherige Anstaltsunterkunft, handelte es sich wohl eher um eine Suite mit Schlafzimmer,
Bad und einem Kühlwagen voller Feinkost.)
Will man uns ernsthaft erzählen, dass keiner etwas gesehen oder gehört hat, während unter dem Hochsicherheitstrakt ein 1,5 Kilometer langer Tunnel gegraben wurde – mit Beleuchtung, Lüftungsanlage und Schienen? Hm.
Chapos „Flucht“ im Jahr 2001 hat den Drogenboss angeblich 2,5 Millionen US-Dollar gekostet. Das schreibt
Malcolm Beith in seinem Buch „El Chapo – Die Jagd auf
Mexikos mächtigsten Drogenbaron“. Ich kann mir zwar
vorstellen, dass die Preise seitdem gestiegen sind, aber
Geldsorgen hat Chapo ohnehin nicht. Er verfügt über ein
Milliardenvermögen, ungeheure Macht und Einfluss.
Dieser Ausbruch ist nicht vergleichbar mit dem Roman
„Der Graf von Monte Christo“ oder dem Film „Die Verurteilten“. Chapo hat nicht jahrelang geduldig mit einem
Pickhammer am Mauerwerk geschabt, um sich seinen
Weg aus der Altiplano-Haftanstalt zu bahnen. Wenn er
tatsächlich durch den Tunnel entkommen ist, dann nur
mit einer bewaffneten Eskorte. Höchstwahrscheinlich
war die Truppe zusammengesetzt aus Gefängniswärtern
und seinen eigenen Leuten, wenn die Vergangenheit,
wie Shakespeare schrieb, tatsächlich „ein Vorspiel für die
Zukunft ist“.
Ich wette, er ging durch die Vordertür. Der Tunnel war
lediglich ein fadenscheiniges Ablenkungsmanöver, damit die mexikanischen Behörden ihr Gesicht wahren
konnten. Und das Motorrad – immerhin eine deutliche
Verbesserung im Vergleich zum Wäschekarren der ersten
Flucht. Es wird sogar gemutmaßt, dass er im Hubschrauber entkommen sei – so wie ich es fiktiv in meinem Roman „Das Kartell“ geschildert habe.
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Wenn alles wirklich genauso abgelaufen ist wie bei seiner letzten Abreise, dann ist Chapo nicht „geflüchtet“.
Vielmehr checkte er aus seinem Hotel aus und zahlte die
Rechnung mit Bestechung, Einschüchterung und Erpressung. Chapo hat sicherlich eine Menge Geschichten auf
Lager über Geldlieferungen an hochrangige mexikanische Beamte. Denen ist es vermutlich lieber, er ist als
Flüchtling in den Bergen von Sinaloa oder Durango unterwegs statt als Denunziant, der sie schlimmstenfalls bei
der US-Staatsanwaltschaft verpfeift.
Und genau hier wird die Korruption auf allerhöchster
Ebene interessant.
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Die Flucht verstärkt
sogar noch seinen
Ruf als Volksheld à
la Robin Hood. Kinder
werden danach
streben, der nächste
Chapo Guzmán zu sein
Einblicke in den Tunnel zeigen,
dass Guzmán die Konstruktion nie
allein hätte bauen können
Während Fernsehreporter für
Zuschauer in aller Welt den Ausbruch
Guzmáns nacherzählten (oben),
schrieb die mexikanische Regierung
ein Kopfgeld von 3,8 Millionen
Dollar auf ihn aus (unten)
Auf dieser Baustelle mitten auf
einem Feld haben Guzmáns Helfer
angefangen zu graben
FOTOS: EDUARDO VERDUGO/AP; AFP; ALEJANDRO AYALA/CORBIS; MARIO VAZQUEZ/CORBIS
as mexikanische Drogenbarone am meisten fürchten, ist die Auslieferung an die
Vereinigten Staaten. Dort könnten sie
nämlich aufgrund des sogenannten Kingpin-Gesetzes zu Haftstrafen zwischen 15
Jahren und lebenslänglich verurteilt werden. Diese Haftstrafen verbüßen sie dann
in richtigen Hochsicherheitsgefängnissen: in düsteren
Zellen, die sie einmal am Tag unter schwerster Bewachung
für eine Stunde Hofgang verlassen dürfen. In diesen Knästen dürfen sie auch nur dreimal die Woche duschen – und
zwar ohne Tunnel-Vergünstigungen.
Während Drogenbosse in mexikanischen Haftan­stalten
hinter Gittern ihr Imperium oft noch weiter kontrollieren können, ist das aus einem amerikanischen „Supermax-Bau“ unmöglich. Dort können sie nicht so leicht
­miteinander kommunizieren, und von hier ist auch noch
kein Schwerstkrimineller jemals ausgebrochen.
Das ist schlicht unvorstellbar.
Deswegen kämpfen Mexikos Drogenbosse im Wort­­sinn bis aufs Messer, um sich gegen eine Abschiebung zu
wehren. Sobald sie in Fußeisen die Grenze in die USA überqueren, ist alles vorbei. Seit 1987 steht Chapo Guzmán in
den Staaten unter Anklage. In Mexiko wurde er zweimal
verhaftet, ausgeliefert wurde er nie.
Aber wissen Sie, wer ausgeliefert wird?
Chapos Feinde.
Beispielsweise der ehemalige Chef des Golf-Kartells,
Osiel Cárdenas, und auch Benjamín Arellano Félix vom
Tijuana-Kartell. Beide wanderten auf schnellstem Wege
in Gefängniszellen in Texas und Colorado, weil es die
US-Strafverfolger, die mexikanische Regierung und
Chapo Guzmán so wollten.
Und wissen Sie, wer jetzt die Geschäfte am Golf und in
Tijuana kontrolliert?
Richtig! Chapo Guzmáns Sinaloa-Kartell.
Chapo hat die Macht, die Beziehungen und den Einfluss, seine Rivalen in die amerikanische Vorhölle zu
verfrachten, während er dieselben Stellhebel nutzt, um
seinen Aufenthalt in Mexiko so lange hinzuziehen, bis er
„flüchten“ kann.
Er war wohl dabei, einen Deal zu machen. Entweder mit
den mexikanischen Behörden, damit sie seine Auslieferung vereiteln oder hinauszögern, oder – falls das nicht
funktioniert hätte – mit den US-Strafverfolgern, bei
denen er seine ehemaligen mexikanischen Verbündeten
in Regierungskreisen verpfeifen könnte.
Es scheint, als habe er sich für die erste Alternative entschieden.
Mexiko ist ein wunderschönes Land mit großartigen
Menschen. Leider wurden sie noch nie von Politikern
regiert, die ihrer würdig sind. Dazu ist die systembeding-
te Korruption auf allen Ebenen inzwischen zu tief
und breit verwurzelt. Man kann sich nur schwer des
Eindrucks erwehren, dass das Land zum Drogenstaat
verkommen ist.
Abseits von wirtschaftlicher Korruption gibt es jedoch
eine weitere Erklärung für die offensichtliche Leichtigkeit, mit der Chapo zuletzt „flüchten“ konnte. Unter den
Journalisten, die sich intensiv mit den Drogenkartellen
beschäftigen, hält sich bereits länger eine These: Sie behaupten, die mexikanische Regierung würde das SinaloaKartell begünstigen im Krieg zwischen den Drogenhändlern. Es heißt, Regierungs- und Polizeibeamte stünden auf
der Gehaltsliste des Kartells. Und die Regierung soll
­Chapo und seinen Partner, Ismael „El Mayo“ Zambada
García, für die vernünftigsten aller Kartellführer halten.
Zwar liegt die Messlatte dabei nicht sehr hoch. Doch verglichen mit den wahnsinnig gewalttätigen „Zetas“ oder
den blutrünstigen Tijuana-, Juárez- und Golf-Kartellen,
betrachtet die Regierung das Sinaloa-Kartell als das weitaus geringere Übel. Chapo und seine Gefolgsleute sind
ohne Zweifel des Massenmordes schuldig, bekanntlich
kooperieren sie aber auch mit der Politik, um die Menge
der Entführungen und Erpressungen zu verringern und
den Menschenhandel einzudämmen.
Die Theorie besagt, dass die mexikanische Regierung
ein Kartell zum Gewinner machen wollte – und sich für
Sinaloa entschieden hat. Deutlicher Beweis dafür ist die
geringe Anzahl der Verhaftungen und Beschlagnahmungen unter den Mitgliedern der Bande im Vergleich zu den
anderen Drogenorganisationen. Die viel gepriesene
Gefangennahme von Chapo Guzmán mag zunächst
dagegensprechen. Dafür spricht aber wiederum, dass er
jetzt, nach knapp einem Jahr, die Anstalt wieder verlassen hat. Das sieht nach abgekartetem Spiel aus.
Im Drogenkrieg hat also wieder mal, und womöglich
mithilfe der Regierung, das Sinaloa-Kartell gewonnen.
Damit hat Mexiko nach Jahren der grauenhaften Gewalt,
die mindestens hunderttausend Menschen das Leben
kostete, zu einem relativen Frieden gefunden. Ver­
ständlicherweise ist die mexikanische Regierung verzweifelt bemüht, diesen „Pax Narcotica Sinaloa“
(Drogenfrieden von Sinaloa) zu erhalten. In Tijuana
steigt die Zahl der Drogenmorde schon wieder, und eine
gewalttätige, relativ junge Organisation, die „New
­Generation Jalisco Cartel“, greift nach der Macht. Gut
möglich, dass Chapo Guzmán mit seinem Einfluss und
seinem Prestige für die Regierung als Flüchtiger nütz­
licher ist als im Gefängnis.
Wie dem auch sei, Chapo ist draußen.
Wieder mal.
Das ist schade. Die „Flucht“ verstärkt sogar noch seinen Ruf als Volksheld à la Robin Hood. Es werden Lieder
auf ihn komponiert und gesungen. Kinder werden diese
Songs hören und danach streben, der nächste Chapo Guzmán zu sein.
Aber dieser Mann ist kein Held und schon gar kein
­Robin Hood – er ist ein Massenmörder.
Bei seiner letzten Flucht löste Chapo beim Versuch, sein
Imperium wieder zusammenzufügen, einen jahrzehntelang andauernden Krieg aus, der unsägliches Leid über
das Land brachte, Tausende von Waisen hinterließ, Gemeinden verwüstete und Seelen zerstörte.
Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Denn dieser
Tunnel hat gar kein Ende.
Übersetzung: Annette Streck
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