IM D UNKELN POLITIK Es ist der Stoff, aus dem Legenden gestrickt werden: Der mächtigste Drogenboss der Welt entkommt durch einen Tunnel aus einem Hochsicherheits‑ gefängnis in Mexiko. Doch was passierte wirklich? Bestseller autor Don Winslow über Korruption und die Wahrheiten hinter der Flucht des Mas‑ senmörders El Chapo FOTOS: AP (2) Das aktuellste Bild zeigt Joaquín El Chapo“ Guzmán Loera noch im Gefängnis mit kurz geschorenen Haaren (oben). Das umgebaute Motorrad (rechts) transportierte den Abraum beim Tunnelbau auf Schienen. Doch benutzte es auch Guzmán bei seinem Ausbruch? 23.7.2015 47 Don Winslow Seit 15 Jahren recherchiert der USAutor die Hintergründe des Drogenkriegs in Mexiko. Sein neues Buch „Das Kartell“ beschreibt, wie El Chapo seinem Machtkampf Zehntausende Menschenleben opfert. Das organisierte Verbrechen ist seit Kindheitstagen ein Thema in Winslows Leben: Seine Großmutter arbeitete für den Mafiaboss Carlos Marcello Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Der mächtigste Drogenboss der Welt spaziert einfach so aus einem Hochsicherheitsgefängnis. Und das gleich zweimal. Vergessen Sie alles, was Sie über mexikanische Drogenbosse zu wissen glauben. Joaquín „El Chapo“ Guzmán Loera, Boss des übermächtigen Sinaloa-Kartells, ist ein brillanter, skrupelloser, milliardenschwerer Geschäftsmann, dessen Business nun mal Drogen sind. Er ist ein Überlebenskünstler. Seinen Aufstieg in den 80er Jahren hat er sich hart erarbeitet: Anfangs stand er als Killer in Diensten des Kokain-Zars Miguel Ángel Gallardo. Er überlebte den Angriff der US-Drogenbehörde DEA, nachdem deren Agent Enrique Camarena ermordet wurde; er bewährte sich im blutigen Krieg gegen Rivalen in Tijuana und schlüpfte schließlich aus einem brutalen Gefängnis in Mexiko, um der mächtigste Drogenbaron der Geschichte zu werden. Seit 15 Jahren verfolge ich Chapos Karriere. Zunächst beschrieb ich eine fiktive Version von ihm in meinem Überwachungskameras zeigen El Chapo in seiner Zelle vor der Duschkabine – kurz vor der Flucht Dieser Ausbruch ist nicht vergleichbar mit dem Film Die Verurteilten“. Chapo hat nicht jahrelang mit einem Pickhammer am Mauerwerk geschabt Durch dieses Loch in der Dusche soll El Chapo in den Tunnel gestiegen sein FOTOS: STEPHAN GÖRLICH/IMAGO; REUTERS; SPLASH NEWS; AP; AFP D Im Februar 2014 zeigte die Militärpolizei stolz die Festnahme Guzmáns (unten). Seitdem saß er im Altiplano-Hochsicherheitsgefängnis ein, westlich von Mexico City (oben) Roman „Tage der Toten“, dann seine Flucht aus dem Knast im Jahr 2001 in dem Buch „Das Kartell“. Die Ereignisse des vorletzten Wochenendes geben mir das Gefühl, als wäre aus der Fiktion längst Realität geworden. Nachdem Chapo 1993 zum ersten Mal hinter Gitter kam, saß er immerhin fast acht Jahre einer 20-jährigen Haftstrafe ab, bevor er „flüchtete“ – angeblich in einem Wäschekarren, aber vermutlich eher in einem Auto oder Hubschrauber. Damals hatte er aus seiner Zelle im Puente-Grande-Hochsicherheitsgefängnis das „Four Seasons“ gemacht: mit Kinoabenden, heimlich eingeschleusten Nutten, Gourmetmenüs, edlen Weinen und Weihnachtsfeiern. Jetzt wartete Chapo etwas mehr als ein Jahr, bevor er „flüchtete“ – angeblich aus einer Dusche direkt in seiner Zelle oder durch eine „Gemeinschaftsdusche“ hinein in einen Tunnel und dann weiter auf einem umgebauten Motorrad, das auf Schienen fuhr. Ich habe keine Zweifel, dass es einen Tunnel gab, aber ich bezweifle doch sehr, dass Chapo auf diesem Weg geflüchtet ist. Zumindest nicht ohne Hilfe. Falls es wirklich eine Gemeinschaftsdusche war, wie sollte ihm da die Flucht gelingen? Hat er unter dem Strahl gestanden, auf etwas gezeigt und den Wärtern zugebrüllt: „Schaut doch mal da drüben!“, um dann unerkannt ein Gitterrost anzuheben und zu verschwinden? Und keinem soll es aufgefallen sein, dass ein Häftling, und zwar der – nach Osama bin Laden – meistgesuchte Mann der Welt, plötzlich weg ist? Abgesehen davon: Warum besaß der Insasse eines Hochsicherheitsgefängnisses eine eigene Dusche in seiner Zelle? (Andererseits, wenn seine jetzige Zelle gleichermaßen luxuriös ausgestattet war wie seine vorherige Anstaltsunterkunft, handelte es sich wohl eher um eine Suite mit Schlafzimmer, Bad und einem Kühlwagen voller Feinkost.) Will man uns ernsthaft erzählen, dass keiner etwas gesehen oder gehört hat, während unter dem Hochsicherheitstrakt ein 1,5 Kilometer langer Tunnel gegraben wurde – mit Beleuchtung, Lüftungsanlage und Schienen? Hm. Chapos „Flucht“ im Jahr 2001 hat den Drogenboss angeblich 2,5 Millionen US-Dollar gekostet. Das schreibt Malcolm Beith in seinem Buch „El Chapo – Die Jagd auf Mexikos mächtigsten Drogenbaron“. Ich kann mir zwar vorstellen, dass die Preise seitdem gestiegen sind, aber Geldsorgen hat Chapo ohnehin nicht. Er verfügt über ein Milliardenvermögen, ungeheure Macht und Einfluss. Dieser Ausbruch ist nicht vergleichbar mit dem Roman „Der Graf von Monte Christo“ oder dem Film „Die Verurteilten“. Chapo hat nicht jahrelang geduldig mit einem Pickhammer am Mauerwerk geschabt, um sich seinen Weg aus der Altiplano-Haftanstalt zu bahnen. Wenn er tatsächlich durch den Tunnel entkommen ist, dann nur mit einer bewaffneten Eskorte. Höchstwahrscheinlich war die Truppe zusammengesetzt aus Gefängniswärtern und seinen eigenen Leuten, wenn die Vergangenheit, wie Shakespeare schrieb, tatsächlich „ein Vorspiel für die Zukunft ist“. Ich wette, er ging durch die Vordertür. Der Tunnel war lediglich ein fadenscheiniges Ablenkungsmanöver, damit die mexikanischen Behörden ihr Gesicht wahren konnten. Und das Motorrad – immerhin eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum Wäschekarren der ersten Flucht. Es wird sogar gemutmaßt, dass er im Hubschrauber entkommen sei – so wie ich es fiktiv in meinem Roman „Das Kartell“ geschildert habe. 4 23.7.2015 49 Wenn alles wirklich genauso abgelaufen ist wie bei seiner letzten Abreise, dann ist Chapo nicht „geflüchtet“. Vielmehr checkte er aus seinem Hotel aus und zahlte die Rechnung mit Bestechung, Einschüchterung und Erpressung. Chapo hat sicherlich eine Menge Geschichten auf Lager über Geldlieferungen an hochrangige mexikanische Beamte. Denen ist es vermutlich lieber, er ist als Flüchtling in den Bergen von Sinaloa oder Durango unterwegs statt als Denunziant, der sie schlimmstenfalls bei der US-Staatsanwaltschaft verpfeift. Und genau hier wird die Korruption auf allerhöchster Ebene interessant. W 50 23.7.2015 Die Flucht verstärkt sogar noch seinen Ruf als Volksheld à la Robin Hood. Kinder werden danach streben, der nächste Chapo Guzmán zu sein Einblicke in den Tunnel zeigen, dass Guzmán die Konstruktion nie allein hätte bauen können Während Fernsehreporter für Zuschauer in aller Welt den Ausbruch Guzmáns nacherzählten (oben), schrieb die mexikanische Regierung ein Kopfgeld von 3,8 Millionen Dollar auf ihn aus (unten) Auf dieser Baustelle mitten auf einem Feld haben Guzmáns Helfer angefangen zu graben FOTOS: EDUARDO VERDUGO/AP; AFP; ALEJANDRO AYALA/CORBIS; MARIO VAZQUEZ/CORBIS as mexikanische Drogenbarone am meisten fürchten, ist die Auslieferung an die Vereinigten Staaten. Dort könnten sie nämlich aufgrund des sogenannten Kingpin-Gesetzes zu Haftstrafen zwischen 15 Jahren und lebenslänglich verurteilt werden. Diese Haftstrafen verbüßen sie dann in richtigen Hochsicherheitsgefängnissen: in düsteren Zellen, die sie einmal am Tag unter schwerster Bewachung für eine Stunde Hofgang verlassen dürfen. In diesen Knästen dürfen sie auch nur dreimal die Woche duschen – und zwar ohne Tunnel-Vergünstigungen. Während Drogenbosse in mexikanischen Haftanstalten hinter Gittern ihr Imperium oft noch weiter kontrollieren können, ist das aus einem amerikanischen „Supermax-Bau“ unmöglich. Dort können sie nicht so leicht miteinander kommunizieren, und von hier ist auch noch kein Schwerstkrimineller jemals ausgebrochen. Das ist schlicht unvorstellbar. Deswegen kämpfen Mexikos Drogenbosse im Wortsinn bis aufs Messer, um sich gegen eine Abschiebung zu wehren. Sobald sie in Fußeisen die Grenze in die USA überqueren, ist alles vorbei. Seit 1987 steht Chapo Guzmán in den Staaten unter Anklage. In Mexiko wurde er zweimal verhaftet, ausgeliefert wurde er nie. Aber wissen Sie, wer ausgeliefert wird? Chapos Feinde. Beispielsweise der ehemalige Chef des Golf-Kartells, Osiel Cárdenas, und auch Benjamín Arellano Félix vom Tijuana-Kartell. Beide wanderten auf schnellstem Wege in Gefängniszellen in Texas und Colorado, weil es die US-Strafverfolger, die mexikanische Regierung und Chapo Guzmán so wollten. Und wissen Sie, wer jetzt die Geschäfte am Golf und in Tijuana kontrolliert? Richtig! Chapo Guzmáns Sinaloa-Kartell. Chapo hat die Macht, die Beziehungen und den Einfluss, seine Rivalen in die amerikanische Vorhölle zu verfrachten, während er dieselben Stellhebel nutzt, um seinen Aufenthalt in Mexiko so lange hinzuziehen, bis er „flüchten“ kann. Er war wohl dabei, einen Deal zu machen. Entweder mit den mexikanischen Behörden, damit sie seine Auslieferung vereiteln oder hinauszögern, oder – falls das nicht funktioniert hätte – mit den US-Strafverfolgern, bei denen er seine ehemaligen mexikanischen Verbündeten in Regierungskreisen verpfeifen könnte. Es scheint, als habe er sich für die erste Alternative entschieden. Mexiko ist ein wunderschönes Land mit großartigen Menschen. Leider wurden sie noch nie von Politikern regiert, die ihrer würdig sind. Dazu ist die systembeding- te Korruption auf allen Ebenen inzwischen zu tief und breit verwurzelt. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass das Land zum Drogenstaat verkommen ist. Abseits von wirtschaftlicher Korruption gibt es jedoch eine weitere Erklärung für die offensichtliche Leichtigkeit, mit der Chapo zuletzt „flüchten“ konnte. Unter den Journalisten, die sich intensiv mit den Drogenkartellen beschäftigen, hält sich bereits länger eine These: Sie behaupten, die mexikanische Regierung würde das SinaloaKartell begünstigen im Krieg zwischen den Drogenhändlern. Es heißt, Regierungs- und Polizeibeamte stünden auf der Gehaltsliste des Kartells. Und die Regierung soll Chapo und seinen Partner, Ismael „El Mayo“ Zambada García, für die vernünftigsten aller Kartellführer halten. Zwar liegt die Messlatte dabei nicht sehr hoch. Doch verglichen mit den wahnsinnig gewalttätigen „Zetas“ oder den blutrünstigen Tijuana-, Juárez- und Golf-Kartellen, betrachtet die Regierung das Sinaloa-Kartell als das weitaus geringere Übel. Chapo und seine Gefolgsleute sind ohne Zweifel des Massenmordes schuldig, bekanntlich kooperieren sie aber auch mit der Politik, um die Menge der Entführungen und Erpressungen zu verringern und den Menschenhandel einzudämmen. Die Theorie besagt, dass die mexikanische Regierung ein Kartell zum Gewinner machen wollte – und sich für Sinaloa entschieden hat. Deutlicher Beweis dafür ist die geringe Anzahl der Verhaftungen und Beschlagnahmungen unter den Mitgliedern der Bande im Vergleich zu den anderen Drogenorganisationen. Die viel gepriesene Gefangennahme von Chapo Guzmán mag zunächst dagegensprechen. Dafür spricht aber wiederum, dass er jetzt, nach knapp einem Jahr, die Anstalt wieder verlassen hat. Das sieht nach abgekartetem Spiel aus. Im Drogenkrieg hat also wieder mal, und womöglich mithilfe der Regierung, das Sinaloa-Kartell gewonnen. Damit hat Mexiko nach Jahren der grauenhaften Gewalt, die mindestens hunderttausend Menschen das Leben kostete, zu einem relativen Frieden gefunden. Ver ständlicherweise ist die mexikanische Regierung verzweifelt bemüht, diesen „Pax Narcotica Sinaloa“ (Drogenfrieden von Sinaloa) zu erhalten. In Tijuana steigt die Zahl der Drogenmorde schon wieder, und eine gewalttätige, relativ junge Organisation, die „New Generation Jalisco Cartel“, greift nach der Macht. Gut möglich, dass Chapo Guzmán mit seinem Einfluss und seinem Prestige für die Regierung als Flüchtiger nütz licher ist als im Gefängnis. Wie dem auch sei, Chapo ist draußen. Wieder mal. Das ist schade. Die „Flucht“ verstärkt sogar noch seinen Ruf als Volksheld à la Robin Hood. Es werden Lieder auf ihn komponiert und gesungen. Kinder werden diese Songs hören und danach streben, der nächste Chapo Guzmán zu sein. Aber dieser Mann ist kein Held und schon gar kein Robin Hood – er ist ein Massenmörder. Bei seiner letzten Flucht löste Chapo beim Versuch, sein Imperium wieder zusammenzufügen, einen jahrzehntelang andauernden Krieg aus, der unsägliches Leid über das Land brachte, Tausende von Waisen hinterließ, Gemeinden verwüstete und Seelen zerstörte. Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Denn dieser Tunnel hat gar kein Ende. Übersetzung: Annette Streck 2 23.7.2015 51
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