Die Flucht des mexikanischen Drogenbosses El Chapo

Die Flucht des mexikanischen Drogenbosses El Chapo: Hintergründe,
Implikationen, Folgen
Karl-Dieter Hoffmann, September 2015
Als im Februar 2014 die Ergreifung des weltweit bekanntesten Drogenhändlers
gelang, zog das Ereignis auch außerhalb von Mexiko viel Aufmerksamkeit auf
sich. Ungleich mehr internationales Interesse erregte dann allerdings die
spektakuläre Flucht von Joaquín El Chapo Guzmán aus dem 60 km westlich der
Hauptstadt gelegenen Hochsicherheitsgefängnis Altiplano in den
Abendstunden des 11. Juli 2015. Für die mexikanischen Medien handelt es sich
um „die Flucht des Jahrhunderts“ (fuga del siglo). Auch wenn das 21.
Jahrhundert noch recht jung ist, erscheint diese Etikettierung alles andere als
gewagt, wenn man die außergewöhnlichen bis geradezu unglaublichen
Umstände und Details dieses Gefängnisausbruchs betrachtet. Der von den
Kumpanen des Anführers des Sinaloa-Kartells konstruierte Tunnel von ca. 1,5
km Länge, der El Chapo in die Freiheit führte, stellt unabhängig von seiner
kriminellen Zweckbestimmung ein veritables technisches Meisterwerk dar.
Ohne die jahrzehntelange Erfahrung der Drogenschmuggler aus Sinaloa im Bau
von Tunneln unterhalb der Grenze zu den USA wäre der Plan zur Befreiung von
El Chapo durch einen unterirdischen Gang wohl kaum realisierbar gewesen. Vor
allem die Art und Weise dieser Flucht sowie die Tatsache, dass der Drogenboss
im Jahr 2001 schon einmal aus einem Hochsicherheitsgefängnis entkommen
war, erhöhten das Ausmaß der Blamage für die mexikanische Regierung auf ein
Maximum. Galt die Festnahme von El Chapo im Februar 2014 als bislang
größter Erfolg der Maßnahmen der Regierung Peña Nieto gegen das
organisierte Verbrechen, entwickelte sich die Nachricht von dessen erneuter
Flucht binnen weniger Stunden zu einem Desaster für das innenpolitische und
internationale Prestige des mexikanischen Staatsapparats. Der enorme
Ansehensverlust hätte sich nur dann vermindern lassen, wenn es den
Sicherheitskräften geglückt wäre, des flüchtigen Kartellchefs innerhalb relativ
kurzer Zeit nach seiner Befreiung wieder habhaft zu werden. Trotz intensiver
Such- und Kontrollaktionen durch ein fünfstelliges Aufgebot an Polizisten und
Soldaten, der Aussetzung eines hohen Kopfgelds sowie der Verbreitung von
Fahndungsfotos und –flyern in Millionenauflage ist dies nicht gelungen. Mit
1
jedem zusätzlichen Tag, den El Chapo seit dem 11. Juli auf freiem Fuß verbracht
hat, scheint sich die Chance auf seine erneute Ergreifung verringert zu haben.
Nachdem Guzmán Anfang 2001 aus der Haftanstalt Puente Grande
(Bundesstaat Jalisco) entfliehen konnte, sollte es 13 Jahre dauern, bis er seinen
staatlichen Häschern schließlich ins Netz ging. Zudem ist sein Kompagnon an
der Spitze des Sinaloa-Kartells, El Mayo Zambada, bisher noch niemals gefasst
worden. Von daher lässt sich die Wahrscheinlichkeit, dass El Chapo einmal
mehr für längere Zeit seinen kriminellen Aktivitäten wird frönen können, wohl
höher einstufen als die Chance auf einen kurzfristigen Fahndungserfolg der
mexikanischen Strafverfolgungsbehörden.
Die schier unglaublichen Details der fuga del siglo
Wäre der am 11. Juli erfolgte spektakuläre Ausbruch des in einem
Hochsicherheitsgefängnis untergebrachten Drogenbosses Inhalt eines
Hollywood-Films, würde man die entsprechenden Sequenzen als fiktive
Inszenierung wahrnehmen, die wenig Gemeinsames mit Geschehnissen in der
tatsächlichen Lebenswelt für sich zu beanspruchen vermag. Das reale Drama
für die mexikanische Regierung nahm seinen Lauf als drei Monate nach der
Verhaftung Guzmáns und seiner Überstellung in die vermeintlich sicherste
Haftanstalt des Landes ein Strohmann des Sinaloa-Kartells in Sichtnähe der
Einrichtung ein 5 ha großes Grundstück erwarb und bar bezahlte, auf dessen
Terrain rasch ein einstöckiges Gebäude hochgezogen wurde, dass fortan als
Tarnung für die Grabung des Tunnels diente. Der Bau des Hauses erfolgte ohne
Baugenehmigung – nichts Außergewöhnliches im mexikanischen bzw.
lateinamerikanischen Kontext.
Der Tunnel Richtung Altiplano-Gefängnis verlief in einer Tiefe von 10 bis 15
Metern. Die Distanz zur Oberfläche stellte sicher, dass Arbeitsgeräusche nicht
oder allenfalls schwach zu hören waren. Die Konstrukteure hatten Glück mit
der
Beschaffenheit
des
perforierten
Erdreichs,
die
keinerlei
Abstützungsmaßnahmen erforderlich machte. Bei einer Breite von ca. 75 cm
betrug die Höhe des Stollens 1,70 m, so dass ihn der 1,65 m große Drogenboss
in aufrechter Haltung durchqueren konnte. Die bergbauliche Solidität der
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unterirdischen Trasse lässt darauf schließen, dass die Arbeiten nicht unter
Zeitdruck erfolgten. Um das abgebaute Material schnell und einfach
wegzuschaffen, setzten die Bauleute ein auf Schienen laufendes Lastengefährt
ein, das von einem umgebauten Motorrad geschoben wurde. Insgesamt
wurden knapp 2.000 m³ Erdreich mit einem geschätzten Gewicht von 3.000 t
aus dem Tunnel gekarrt. Der gesamte Aushub scheint auf dem Grundstück rings
um das Gebäude verteilt worden zu sein, ohne dass diese Aufschüttungen
irgendwelchen Argwohn erregt hätten: dass den Angehörigen des rund einen
km entfernt gelegenen Militärstützpunkts nichts auffiel, ist einigermaßen
verständlich, hingegen ist weniger begreiflich, warum die täglichen
Kontrollflüge von Helikoptern über das Terrain rings um die Haftanstalt
keinerlei Verdachtsmomente lieferten. Damit ging das Kalkül von Guzmáns
Fluchthelfern auf, dass diese Vorgehensweise ein geringeres Sicherheitsrisiko
barg als die Alternative eines mehrere Hundert Lastwagenladungen
umfassenden Abtransports des Aushubs.
An der Decke des Stollens verlief parallel zu einer Leitung, die der
Sauerstoffzufuhr diente, ein Stromkabel, das über eine Kette von Lampen eine
ausreichende Beleuchtung der Anlage gewährleistete. Die benötigte Elektrizität
stammte aus einem vier t schweren Generator, der in einer Grube tief
unterhalb des Tarngebäudes untergebracht war. Für die Professionalität der
Konstrukteure spricht insbesondere die Tatsache, dass der am Ende des
Tunnels senkrecht nach oben getriebene 10 m hohe und mit einer Leiter
ausgestattete Schacht exakt unter der engen Duschstelle in El Chapos Zelle
ankommt – der einzigen Stelle in dem kleinen Raum, die von der
ununterbrochen sendenden Überwachungskamera (aus Gründen der
Intimsphäre) nur partiell erfasst wird. Ein ca. 50 x 50 cm großes Stück des
Betonbodens der Dusche war ausgesägt worden; die in den letzten Sekunden
vor der Flucht aufgezeichneten Bilder der Kamera zeigen, wie sich Guzmán in
der Dusche bückt: das dürfte der Moment sein, in dem er das ausgelöste
Betonstück (wohl mit Hilfe von unten) nach oben kippt und an die Duschwand
lehnt. Er kehrt zu seinem Bett zurück, setzt sich kurz hin, um die Schuhe fester
zu schnüren, geht dann erneut zur Dusche und verschwindet einen Augenblick
später aus dem Blickfeld.
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Es ist vollkommen undenkbar, dass die Initiatoren des Tunnelprojekts eine
solche Präzisionsarbeit ohne die Kenntnis der detaillierten Baupläne der
Haftanstalt hätten leisten können. Diese sind verständlicherweise offiziell
streng geheim. Wer für den Verrat verantwortlich ist, lässt sich nicht leicht
feststellen, weil neben einigen staatlichen Stellen auch mehrere Privatfirmen,
die in den letzten Jahren Umbau- und Renovierungsarbeiten in dem Gefängnis
durchgeführt haben, über Kopien der Baupläne verfügen. Sachverständige
nehmen an, dass die Baupläne als Grundlage dafür dienten, den präzisen
Tunnelverlauf mittels GPS-Technik zu bestimmen. Da dieses satellitengestützte
Navigationssystem außerhalb der Gefängnismauern – fixer Ausgangspol war
der Eingangsschacht zu dem Geheimgang - zum Einsatz kam, konnten die
Messungen ohne größeres Risiko durchgeführt werden. Für das untertägige
Vorantreiben des Fluchtkorridors waren in jedem Fall hochpräzise
Ortungsverfahren erforderlich, um den anvisierten Endpunkt nicht zu
verfehlen.
Zu
den
zahlreichen
fiktional
anmutenden
Kuriositäten
dieses
Gefängnisausbruchs zählt auch die durch die Tageszeitung La Jornada unter
Berufung auf regierungsamtliche Stellen verbreitete Nachricht, dass sich
mehrere Häftlinge aus dem Trakt, in dem auch El Chapo einsaß, in den letzten
Tagen vor dessen Flucht über Baulärm beschwert hätten, ohne dass das
Gefängnispersonal auf die Klagen reagierte. Diese Information stimmt mit der
Einschätzung von Experten überein, die den Zeitaufwand für den Bau des
Schachts, der die Zelle Guzmáns mit dem Tunnel verbindet, auf drei Tage
veranschlagen. Andererseits haben zahlreiche von den Medien befragte
Personen, die in den Wochen vor dem 11. Juli das Gefängnis als Besucher (vor
allem Angehörige und Anwälte) betreten hatten, darauf hingewiesen, dass in
der Einrichtung quasi ständig irgendwelche Renovierungsmaßnahmen
stattfanden, die einen gewissen Lärmpegel verursachten. Nicht zu bezweifeln
ist, dass die seit Mitte 2014 im Gang befindliche Modernisierung des
Wasserleitungssystems, die auch aufwändige Aktivitäten im unmittelbaren
Außenbereich des Gefängnisses einschloss, eine betriebsame Atmosphäre
erzeugte, welche die Realisierung des Plans der Tunnelbauer des SinaloaKartells begünstigte.
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Warum Joaquín Guzmán die Flucht gelang: eine fatale Mischung aus Korruption
und Inkompetenz
Weil die Konstrukteure des Fluchttunnels die Baupläne des Gefängnisses
gekannt haben müssen, stellt die Realisierung des Projekts nicht nur in
technischer Hinsicht, sondern auch in punkto Informationsbeschaffung eine
Meisterleistung dar. Die völlig außergewöhnlichen Umstände der Befreiung El
Chapos legen den Schluss nahe, dass hier Korruption oder auch Androhung von
Gewalt in einem erheblichen Umfang und auf verschiedenen Ebenen im Spiel
war. Welche Ausmaße die Bestechung im konkreten Fall besaß und wie weit
nach oben sie in der staatlichen Hierarchie vorgedrungen war, wird
wahrscheinlich nie vollständig ans Licht kommen. Weil Korruption ein
integraler Bestandteil des Geschäfts mit illegalen Rauschmitteln darstellt und
weil Bestechung und Bestechlichkeit in Staat und Gesellschaft Mexikos
traditionell weit verbreitet sind, besteht die Neigung, korrumpierende
Praktiken auch dann zu vermuten, wenn das eigentliche Problem auf
Inkompetenz und Ineffektivität beruht. Auch wenn letztere häufig nur
scheinbar vorliegen, weil in Wirklichkeit Korruption dahintersteckt, treten diese
Missstände durchaus auch in Reinform auf. Als Beispiel lässt sich die höchst
professionelle Arbeit der Spurensicherung an Tatorten mit Todesopfern des
gnadenlosen Konkurrenzkampf der Drogenkartelle anführen, die im Regelfall
völlig folgenlos bleibt, so dass die Geschichte der notorischen impunidad
(Straflosigkeit) kontinuierlich fortgeschrieben wird.
Nüchtern betrachtet war El Chapo beim jüngsten Gefängnisausbruch in
deutlich geringerem Maße auf Helfer innerhalb der Anstalt angewiesen als
beim Entweichen aus Puente Grande im Jahre 2001. Damals hatte er sich in
einem Transportkarren versteckt, der schmutzige Wäsche zur Abholung durch
eine externe Wäscherei aus der Haftanstalt beförderte. Mehrere Dutzend
Bedienstete der Einrichtung wurden der Beihilfe angeklagt und erhielten
Haftstrafen.
Die Tatsache, dass das Personal im Kontrollzentrum des Gefängnisses Altiplano
erst 18 Minuten nach der Flucht feststellte, dass der Monitor nur die leere Zelle
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ihres prominentesten Häftlings zeigte, muss nicht unbedingt auf Bestechung
zurückgehen, unabhängig davon, dass es sich um eine Verletzung der
Dienstpflichten handelt. Die Bilder aus der Zelle von Guzmán wurden auch im
Dokumentationszentrum der Bundespolizei in Mexiko-Stadt empfangen, und
auch dort blieb das Verschwinden des Drogenbosses zunächst unbemerkt.
Während der Direktor der Haftanstalt entlassen und nach der Vernehmung von
ca. 40 der dort Beschäftigten drei Personen wegen mutmaßlicher
Unterstützung des Geflohenen in Haft kamen, suspendierte der Innenminister
den
für
die
Kontrolle
der
Überwachungsmonitore
in
der
Dokumentationszentrale zuständigen Geheimdienstchef der Bundespolizei
wegen Korruptionsverdachts.1 Ende August wurde bekannt, dass das SinaloaKartell auch die Nationale Sicherheitsbehörde (CISEN) infiltriert hatte; drei
Mitarbeiter kamen in Haft. Während der Vorsitzende der nationalen
Sicherheitskommission Rubido seinen Hut nehmen musste, überstand der
angeschlagene Innenminister Osorio Chong auch die Anfang September 2015
durchgeführte Kabinettsumbildung.
Die Liste der von diversen staatlichen Stellen zu verantwortenden
Versäumnisse und Missstände, welche die Umsetzung der Fluchtpläne El
Chapos erleichtert oder eventuell erst möglich gemacht haben, ist umfangreich
und provoziert somit geradezu zwangsläufig die Vermutung, dass hier vieles
nicht mit rechten Dingen zuging.
- Die bereits erwähnte Professionalisierung des Sinaloa-Kartells im Bau von
Schmuggeltunneln hätte den Verdacht, dass eine solche Fluchtvariante
auch von El Chapo in Erwägung gezogen werden könnte, keineswegs
abwegig erscheinen lassen und von daher entsprechende Vorkehrungen
nahegelegt. Seit 1990 sind in Kalifornien und Arizona nahe des
Grenzzauns über 100 Tunnel mit z.T. hohem technischen Standard
entdeckt worden, deren Urheberschaft mehrheitlich dem Sinaloa-Kartell
zugeschrieben wird und die Joaquín Guzmán die Bezeichnung El Señor de
los Túneles (Herr der Tunnel) eingebracht haben. Im Raum Nogales
1
Am 20. September erging Haftbefehl gegen den entlassenen Gefängnisdirektor, der dann kurioserweise in die
Haftanstalt Altiplano überstellt wurde. Zwei Tage zuvor war die bis Mitte Juli als nationale Koordinatorin für die
Bundesgefängnisse zuständige Staatsbedienstete ebenfalls inhaftiert worden. (Excelsior, 21.09.2015)
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konnten in den vergangenen 15 Jahren innerhalb eines 3 km langen
Abschnitts, in dem die Wohngebiete auf beiden Seiten dem Grenzzaun
ungewöhnlich nahe kommen, mehrere Dutzend unterirdische Korridore
(von denen indes keiner auch nur annähernd so lang war wie der zu
Guzmáns Zelle) ausfindig gemacht werden. Mit der Zahl der in einem
solch engen Gebiet entdeckten Tunnel nimmt die Aufmerksamkeit der
Sicherheitskräfte (zumindest auf Seiten der USA) zu, was den Bau neuer
Schmuggelstollen
erschwert
und
mithin
verbesserte
Vorsichtsmaßnahmen und innovative Tarnmethoden erforderlich macht
– aus diesem immer größer werdenden Erfahrungsschatz konnten sich
auch die Befreier von El Chapo bedienen.
Joaquín Guzmán nutzte Tunnel indes nicht nur zum Transport von
illegalen Drogen (in die USA), Waffen und Geld (nach Mexiko), sondern
auch zur eigenen Sicherheit. Kurz vor seiner Verhaftung Ende Februar
2014 identifizierten Sicherheitskräfte im Stadtgebiet von Culiacán
(Sinaloa) nicht weniger als acht Anwesen und Häuser als (unter falschen
Namen registriertes) Eigentum des Drogenbosses, die ihm wechselweise
als Unterschlupf gedient hatten; in jedem dieser Gebäude wurden
Geheimgänge gefunden, als deren Verbindung das städtische
Kanalisationssystem fungierte.
Auch wenn diese Fakten offensichtlich keine Bedenken in der
mexikanischen Regierung über mögliche Ausbruchspläne von Guzmán
geschürt haben, hätte die Flucht von drei hochrangigen Mitgliedern des
Sinaloa-Kartells aus einem Gefängnis in Culiacán durch einen eigens für
diesen Zweck gegrabenen 100 m langen unterirdischen Gang Ende Mai
2014 als Warnzeichen gedeutet werden müssen. Einer solchen
Fluchtoption hätte schon die Unterbringung Guzmáns in einer Zelle in
der ersten oder zweiten Etage der Haftanstalt oder ein häufiger
Zellenwechsel einen Riegel vorschieben können. Letzteres ist auch in
Mexiko bei Schwerverbrechern gängige Praxis. Nicht im Fall von El
Chapo, der seit dem Tag seiner Einlieferung während der gesamten Zeit
in ein und demselben Haftraum im Parterre des Gebäudes untergebracht
war.
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- Auch die zumeist durch Recherchen von Journalisten aufgedeckten
Unregelmäßigkeiten und Missstände in der Haftanstalt Altiplano, die der
Bezeichnung „Hochsicherheitsgefängnis“ Hohn sprechen, haben ein
günstiges Umfeld für die Realisierung der fuga del siglo geschaffen.
Schon 2013 war die damalige Direktorin der Einrichtung entlassen
worden, nachdem bekannt geworden war, dass der dort einsitzende
frühere Anführer der berüchtigten Bande Los Zetas eine
Tanzveranstaltung gesponsort hatte, für die eine landesweit bekanntes
Musikquintett aus Tijuana verpflichtet worden war.2 Mit Geld und
Einschüchterungspraktiken hatte sich Treviño Morales Einfluss unter
Häftlingen und dem Personal der Anstalt verschafft. In der
Vergangenheit gelangte das Gefängnis als Schauplatz von
Auftragsmorden mehrfach in die Schlagzeilen, eines der Opfer war der
Bruder von El Chapo, Arturo Guzmán, im Jahre 2004. Dass in der Anstalt
Drogen gehandelt und konsumiert werden, bedarf eigentlich keiner
Erwähnung, weil dies nicht nur in mexikanischen Gefängnissen gang und
gäbe ist.
Entgegen der offiziellen Behauptung soll es im Spezialtrakt, wo die
gefährlichsten Kriminellen untergebracht sind, doch möglich gewesen
sein, Anrufe über Mobiltelefone zu tätigen. Zwar ist es Gefangenen
verboten, solche Geräte zu besitzen, einige Wachleute sollen jedoch
bereit gewesen sein, gegen gute Bezahlung ihre Telefone für kurze Zeit
zur Verfügung zu stellen. Lt. Medienberichten betrug der Verkaufswert
von illegal eingeschleusten Mobiltelefonen 150.000 Pesos (ca. 8.000 €).
Die Häftlinge konnten freilich auch über ihre Besucher mit der
Außenwelt kommunizieren. Während seines 16-monatigen Aufenthalts
im Altiplano-Gefängnis hat El Chapo nicht weniger als 500 Besuche
erhalten. Auch kam er in den Genuss einiger Privilegien, die allerdings
nicht das Ausmaß der Vorzugsbehandlung während der Haftzeit vor
seiner ersten Flucht annahmen: anders als die restlichen Häftlinge
musste er seinen Kopf nicht kahlrasieren; kam seine Frau zu Besuch,
brauchte sie sich nicht in der Warteschlange anzustellen, sondern erhielt
2
Die Ex-Direktorin der Haftanstalt wurde Mitte September verhaftet und inhaftiert. (Excelsior, 21.09.2015)
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sofortigen Zugang, auch durfte sie mehr erwachsene Begleiter
mitbringen, als dies die Vorschriften zuließen. Nicht ausgeschlossen
werden kann, dass sich unter den Besuchern auch Beteiligte am
Fluchttunnelprojekt befanden.
- Nach Guzmáns Verschwinden zitierten viele Medien verschiedene
ehemalige und aktive Mitarbeiter der US-Drogenpolizei DEA, die
behaupteten, über frühe Anzeichen für Fluchtpläne Guzmáns verfügt und
entsprechende Warnungen an die zuständigen mexikanischen Stellen
weitergegeben zu haben; von offizieller mexikanischer Seite wurden
diese Aussagen dementiert – Informationen dieser Art habe man nie
erhalten.
- Am 8. Mai 2015 hatte El Chapos Sohn Iván Guzmán auf Twitter gepostet:
„Ich verspreche Euch, der General wird bald zurück sein“. Fünf Tage vor
dem Tag des Ausbruchs twitterte er „Für den, der zu warten weiß, wird
das Gewünschte wahr“. Angesichts der Tatsache, dass Iván Guzmán und
dessen Bruder Alfredo über das besagte Internetportal nach der
Verhaftung ihres Vaters der Regierung „Vergeltung“ angedroht hatten,
ist es bemerkenswert, das mexikanische Geheimdienststellen, wenn sie
denn überhaupt Notiz von diesen kryptischen Botschaften nahmen,
anscheinend keinen Verdacht schöpften..
Die mexikanische Regierung: Bis auf die Knochen blamiert
Zu den vielen Gerüchten, die seit der Flucht El Chapos in der mexikanischen
Öffentlichkeit zirkulieren, gehört auch die Vermutung, die Befreiungsaktion sei
von höchster Stelle wenn schon nicht initiiert, dann zumindest geduldet
worden, weil der Drogenboss vor Gericht Informationen über sein
Unterstützernetzwerk hätte preisgeben können, was zahlreiche Politiker und
staatliche Amtsträger in arge Bedrängnis gebracht hätte. Der Logik dieser These
folgend, ginge von einem El Chapo auf freiem Fuß eine geringere (politische)
Gefahr aus als von einem inhaftierten. Verweist man diese Deutung in die
Sphäre abwegiger Spekulationen, kann das Unheil, das der in sein kriminelles
Metier zurückgekehrte Kartellchef anzurichten vermag, kaum die Dimension
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des politischen Imageschadens erreichen, den seine spektakuläre Flucht für die
Regierung ausgelöst hat. Vor allem der Präsident selbst zog in dieser
Angelegenheit viel Hohn und Spott auf sich, weil er nach der Verhaftung
Guzmáns im Februar 2014 in einem Interview auf die Frage, ob eine neuerliche
Flucht El Chapos denkbar sei, geantwortet hatte, dies wäre, falls es geschehen
sollte, ein „unverzeihlicher Fehler“, um im nächsten Satz zu versichern, dass
von staatlicher Seite alles Mögliche getan werde, um eine Wiederholung der
Geschehnisse von 2001 zu verhindern. Wenige Monate später hatte der
damalige Generalstaatsanwalt, von Reportern auf die Möglichkeit einer
Auslieferung des prominenten Kriminellen an die USA angesprochen, sich
dahingehend geäußert, dass eine solche Option sich nur dann aufdrängen
würde, wenn das Risiko einer Flucht aus dem Gefängnis bestünde. Der
Botschafter Mexikos in den USA, Eduardo Medina Mora, der unter Peña Nietos
Vorgänger das Amt des Generalstaatsanwalts bekleidet hatte, kommentierte
die Frage eines neuerlichen Fluchtrisikos mit dem Sprichwort „Once bitten,
twice shy“ (sinngemäß: einmal und nie wieder) und begründete seine
Überzeugung mit dem Verweis auf Fortschritte, welche die Justiz seit dem
Entweichen des Capos aus der Haftanstalt Puente Grande gemacht habe. Es
war alles andere als verwunderlich, dass die politisch Verantwortlichen nach
dem 11. Juli 2015 von den Medien bei jeder sich bietenden Gelegenheit an
diese Aussagen erinnert wurden.
Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Calderón praktizierte Mexiko unter
Präsident Peña Nieto bislang eine zurückhaltende Ausweisungspolitik.
Unabhängig davon kam der Causa El Chapo ein ganz besonderer Symbolgehalt
zu. Aus Sicht der PRI-Regierung hätte sich das Land vor der internationalen
Öffentlichkeit eine Blöße gegeben, wenn der bekannteste aller mexikanischen
Kriminellen an die USA überstellt worden wäre. Indem Guzmán in Mexiko
selbst vor Gericht gestellt und abgeurteilt würde, wollte man nach innen und
außen ein Zeichen der Souveränität setzen und gleichzeitig demonstrieren,
dass der heimische Rechtsstaat an Leistungsfähigkeit gewonnen habe. Die
Flucht El Chapos machte dieses Kalkül mit einem Schlag zunichte. Auch hierbei
wirkten sich die außergewöhnlichen Umstände des Gefängnisausbruchs nicht
unwesentlich auf die Dimension des Schadens für das Ansehen des gesamten
staatlichen Systems der Strafverfolgung aus.
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Das eklatante Versagen des Staatsapparats beschränkt sich indes nicht auf die
Unfähigkeit, den Drogenboss hinter Gittern zu halten. Kurze Zeit nachdem er
entwichen war, wurde bekannt, dass die Justiz während der Zeit seiner
jüngsten Haft keine nennenswerten Erfolge bei der Erfassung und
Beschlagnahmung der ungeheuren materiellen und monetären Reichtümer
verzeichnen konnte, die er im Laufe seiner kriminellen Laufbahn angehäuft hat.
Lediglich die in Culiacán im Frühjahr 2014 als dessen Eigentum identifizierten
Immobilien sowie die dort befindlichen Wertgegenstände (Kraftfahrzeuge u.a.)
wurden konfisziert. Unter Berufung auf Geheimdienstermittlungen bezifferte
das investigative Wochenmagazin Proceso die Zahl der legalen Unternehmen,
die von Strohmännern Guzmáns gemanagt und zumeist zur Geldwäsche
genutzt werden, allein für Mexiko auf 242. Das US-Schatzamt, das seit 2007
Indizien und Informationen über das ausgedehnte finanzielle Imperium und die
operativen Netzwerke El Chapos sammelt, kommt (bislang) auf insgesamt 288
Firmen, die in den unterschiedlichsten Branchen (Immobilien, Restaurants,
Hotels, Agrarbetriebe, Fluglinien u.a.) aktiv und z.T. im lateinamerikanischen
Ausland (u.a. Kolumbien, Ecuador, Guatemala) angesiedelt sind. Der
bekannteste Drogenhändler der Welt dürfte daher auch der finanziell am
besten ausgestattete flüchtige Straftäter auf dem Globus sein.
Die erfolgreiche Aktion zur Befreiung Guzmáns stellt den Kulminationspunkt in
einer Reihe von medienträchtigen Ereignissen dar, die geradezu zwangsläufig
eine Korrektur der innenpolitischen Agenda der Regierung Peña Nieto
herbeiführen mussten. Der PRI-Präsident hatte seit Beginn seiner Amtszeit die
Taktik verfolgt, der durch den blutigen Konflikt zwischen den Drogenkartellen
hervorgerufenen Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit weniger offizielle
Beachtung zu schenken als sein Vorgänger Calderón. Dadurch sollte die
Bedrohlichkeit des Problems in der Wahrnehmung durch die Bevölkerung
relativiert werden. Stattdessen propagierte Peña Nieto die Bekämpfung der
Alltagskriminalität sowie vor allem Maßnahmen zur Verbesserung der
Wirtschaftslage als prioritäre Anliegen seiner Amtszeit. Allmählich fallende
Mordraten begünstigten diese politische Linie. Mit dem Skandal um den
fragwürdigen Erwerb einer Villa durch seine Ehefrau begannen die
Popularitätswerte des Staatschefs zu sinken. Dieser Trend beschleunigte sich
infolge der zögerlichen und hilflos anmutenden Reaktion der Regierung im
11
Falle der 43 vermissten Lehramtsstudenten von Ayotzinapa (Bundesstaat
Guerrero) im September 2014, der auch international für Aufsehen sorgte.
Diese wurden von Mitgliedern eines regionalen Drogensyndikats verschleppt
und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet. Drei Monate
zuvor waren in Tlatlaya (Bundesstaat Mexico) 22 angebliche Delinquenten
durch das Militär getötet worden. Dazu kamen in der Folgezeit weitere
Ereignisse, wie die Verschleppung von mindestens 17 Zivilisten in Chilapa
(Guerrero) durch eine in der Region aktive Bande unter den Augen der lokalen
Sicherheitskräfte im Mai 2015. Solche Vorfälle offenbarten die prekäre
Situation der öffentlichen Sicherheit in vielen Landesteilen, die engen
Verbindungen zwischen lokalen Amtsträgern und Gruppen des organisierten
Verbrechens und mithin die immensen rechtsstaatlichen Defizite. Wohl um zu
demonstrieren, dass er sich den Problemen, die der Bevölkerung besonders am
Herzen liegen, fortan ernsthafter widmen will, stellte der Präsident in seinem
dritten Rechenschaftsbericht (1.9.2015) die Flucht Joaquín Guzmáns sowie den
Fall Ayotzinapa3 ganz an den Anfang seiner Ausführungen.
Was den Rückgang der Mordraten seit 2012 angeht, die Peña Nieto als Ergebnis
diverser staatlicher Initiativen und Programme deutet, muss darauf
hingewiesen werden, dass die spürbare Verminderung der Gewaltkriminalität
in den Bundesstaaten entlang der Grenze zu den USA auf die relative
Beruhigung einiger Konfliktherde im Kartellkrieg zurückgeht, zu der die
Maßnahmen der Regierung nur wenig beigetragen haben.
Die Reaktionen in der mexikanischen Gesellschaft
Wenige Stunden nachdem Radio- und TV-Stationen die ersten Meldungen über
den Gefängnisausbruchs Guzmáns verbreitet hatten, tauchten im Internet die
ersten narcocorridos (Musikstücke im norteño-Stil, in denen die Taten von
bekannten Drogenhändlern bzw. –gangs besungen werden) auf, die das
3
Nachdem die Bundesstaatsanwaltschaft kurz zuvor ihre Ermittlungen in dem Fall intensiviert hatte, konnte
Mitte September der zweite Mann der Bande Guerreros Unidos, der die Verschleppung und Ermordung der 43
Studenten sowie das Verbrennen ihrer Leichen angeordnet haben soll, in Taxco gefasst werden. Angeblich
hatte die Bande die Jugendlichen irrtümlich für Mitglieder der rivalisierenden Gruppe Los Rojos gehalten. An
der Bluttat waren auch Mitglieder der Munizipalpolizei beteiligt. (Excelsior, 18.09.2015)
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verblüffende Ganovenstück thematisierten. In den Tagen nach der Flucht
fanden im online-Handel angebotene T-Shirts und Kappen mit dem Konterfei
des flüchtigen Kartellchefs (nicht nur in Mexiko, sondern auch in den USA)
reißenden Absatz. Dies sind wohl die skurrilsten Beispiele aus dem breiten
Spektrum der Reaktionen auf das die mexikanischen Medien tagelang
beschäftigende Ereignis.
Auffällig war, dass in den dokumentierten Äußerungen und Kommentaren der
breiten Öffentlichkeit und in diversen Internetportalen keineswegs Empörung,
sondern eher Sarkasmus und schwarzer Humor vorherrschten. Dies lässt sich
wohl als nachvollziehbare Reaktion einer Bevölkerung deuten, die das
Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der politischen Institutionen längst
verloren hat. Viele Menschen zeigten sich in Befragungen wenig überrascht,
dass El Chapo ein zweites Mal aus staatlicher Obhut entwischen konnte. Schon
nach dessen Ergreifung im Februar des Vorjahres hatte in Umfragen mehr als
die Hälfte der Interviewten diese Möglichkeit als sehr wahrscheinlich
bezeichnet. In einer Anfang August 2015 durchgeführten Befragung äußerten
mehr als drei Viertel der interviewten Personen die Ansicht, Helfer aus dem
Staatsapparat hätten Guzmáns Flucht möglich gemacht. Über die Hälfte
schätzte die Chance, den flüchtigen Kriminellen erneut zu fassen, als äußerst
gering ein.
Die öffentlichen Reaktionen bestätigten zudem, dass eine nicht unbedeutende
Minderheit der Mexikaner eine gewisse Bewunderung für den Drogenboss
hegt. Dies hängt zweifelsfrei mit dem mythischen Status zusammen, der El
Chapo bereits vor seinem zweiten spektakulären Gefängnisausbruch anhaftete;
während dieser Zeit soll der meistgesuchte Verbrecher des Landes lt.
Medienberichten mehrfach seinen Verfolgern nur knapp entwischt sein. Ob die
vielen über ihn kursierenden Geschichten allesamt der Wahrheit entsprechen,
ist für die Legendenbildung relativ unerheblich. Aufgrund des ausgeprägten
Mangels an Helden in der realen Politik ergötzt man sich auf makabre Weise an
einem „Anti-Helden“. In seiner Heimatregion im Hochland Sinaloas gilt er u.a.
aufgrund diverser wohltätiger Aktionen für die lokale Bevölkerung als eine Art
Robin Hood. Dort verfügt er über ein zuverlässiges Netz an Vertrauten,
Unterstützern und Informanten. In Culiacán hatten nach seiner letzten
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Verhaftung mehr als 1.000 Personen für seine Freilassung demonstriert. El
Chapos öffentliches Image wird auch dadurch geprägt, dass er nicht persönlich
mit Mordtaten in Verbindung gebracht wird und die von ihm angeführte
kriminelle Vereinigung weniger stark in Alltagsdelikte (v.a. Entführung und
Erpressung) verstrickt zu sein scheint als andere große Banden.
In Kombination mit der nicht enden wollenden Serie von Korruptionsskandalen
sind es einmal mehr die irreal erscheinenden Umstände von Guzmáns Flucht,
die verständlich machen, dass ein nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung
bereit ist, allen möglichen abstrusen Thesen Glauben zu schenken, deren Logik
den gesunden Menschenverstand Lügen straft. Dazu gehört z.B. die
Behauptung, der im Februar 2014 Festgenommene und im Juli 2015 Geflohene
sei nicht der wirkliche El Chapo, sondern ein Doppelgänger gewesen. In der
bereits erwähnten Umfrage von Anfang August bezweifelten 40% der
Befragten die offizielle Fluchttunnelversion und zeigten sich überzeugt, dass
der Drogenboss die Haftanstalt durch den Haupteingang verlassen habe. Es
wäre verfehlt, derartige Standpunkte schlicht als Ausdruck von Ignoranz
abzutun, diese ist zwar fraglos präsent, vermischt sich hier allerdings mit
einem indirekten Misstrauensvotum für die politisch Verantwortlichen.
Auswirkungen auf die Beziehungen zu den USA
Die Verärgerung in Washington über die schlechte Nachricht aus Mexiko war
zweifellos sehr groß, nicht zuletzt deshalb, weil diverse staatliche Stellen der
USA im Februar 2014 (insbesondere vermittels Geheimdienstinformationen)
maßgeblich zur Ergreifung Guzmáns beigetragen hatten. Im Gegensatz zu
vielen kritischen Stimmen aus dem Kongress oder von Seiten der DEA
verzichtete die Administration Obama in ihrer offiziellen Reaktion auf negative
Äußerungen und bot der mexikanischen Regierung stattdessen jede
gewünschte Unterstützung bei der Suche nach dem geflohenen Drogenboss an.
Von US-Seite war nach der Verhaftung El Chapos mehrfach Interesse an einer
Auslieferung des Kartellchefs bekundet worden; nachdem aber mehrere
hochrangige Repräsentanten der mexikanischen Exekutive und Judikative
solchen Bestrebungen eine eindeutige Absage erteilt hatten, zögerte
14
Washington die Übermittlung eines formalen Auslieferungsantrags hinaus. Als
das Gesuch Ende Juni 2015 in Mexiko-Stadt einging, stand der Fluchttunnel
kurz vor seiner Fertigstellung. Damals lehnte der zuständige mexikanische
Richter den Antrag aus formalen Gründen ab. Drei Wochen nach der Flucht
wurde das Gesuch erneut der Justiz vorgelegt; diesmal machte das Gericht den
Weg für eine Auslieferung frei – für den Fall, dass der Capo des Sinaloa-Kartells
erneut in Staatsgewahrsam geraten sollte.
Der wesentliche Grund, warum die mexikanische Regierung das Angebot der
USA ignorierte, umfangreiche Hilfe bei der Fahndung nach dem flüchtigen
Drogenboss zu leisten (u.a. durch den Einsatz von Drohnen), entspringt wohl
demselben politischen Kalkül, das der Erfüllung des US-Auslieferungsbegehrens
entgegenstand: hätte man das Unterstützungsangebot angenommen und El
Chapo wenig später erneut stellen können, würde dies wahrscheinlich im Inund Ausland so wahrgenommen, als sei Mexiko alleine nicht in der Lage, eine
solche Aufgabe zu meistern. Dabei schwang zweifelsfrei die Hoffnung auf einen
baldigen Erfolg der eigenen Fahndungsmaßnahmen mit. Jenseits dieses aus
mexikanischer Sicht besonders sensiblen Falls dürfte die bislang praktizierte
Form der bilateralen drogenpolitischen Zusammenarbeit kaum Veränderungen
erfahren. Trotz des sich durch eine unendliche Serie von negativen Erfahrungen
aufdrängenden Verdachts, dass bei der Flucht El Chapos im großen Maße
Korruption im Spiel war, betonte DEA-Chef Rosenberg, dass es auf
mexikanischer Seite genügend staatliche Institutionen gebe, mit denen man
vertrauensvoll kooperieren könne – was könnte er öffentlich auch anderes
sagen?
Neben der zwischenstaatlichen Relevanz hat die Figur des entflohenen
Drogenbosses aus Sinaloa noch eine weitere Dimension für das Verhältnis der
beiden so ungleichen Nachbarländer. Zumindest für den politisch konservativ
eingestellten Teil der US-Bevölkerung und mithin für den Großteil der
Wählerklientel der Republikaner – aber in einem unbekannten Maß wohl auch
darüber hinaus - erscheint El Chapo als nahezu ideale Verkörperung all dessen,
was man mit Mexiko an negativen Eigenschaften in Verbindung bringt:
Rückständig, gewalttätig, schlitzohrig, durch und durch korrupt, als Staat
weitgehend funktionsuntüchtig. Nur kurze Zeit nachdem der republikanische
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Präsidentschaftsanwärter Donald Trump mexikanische Arbeitsimmigranten
pauschal als Drogenhändler, Vergewaltiger und Kriminelle diffamiert hatte, bot
der Skandal um die Flucht des Drogenbosses eine geeignete Folie, um diese
Invektiven zu bestätigen. In letzter Konsequenz personifiziert er die
vermeintliche Berechtigung der Furcht vieler weißer US-Amerikaner vor einer
großen „braunen“ Invasion aus dem Süden. Der Gedanke, dass El Chapo in
nicht unbedeutendem Maße auch ein Geschöpf der verfehlten Drogenpolitik
der USA darstellt, vermag in das starre Gehäuse solcher Vorurteile,
Simplifizierungen und Bedrohungsvorstellungen nicht vorzudringen.
El Chapo ist zurück: Was bedeutet dies für den mexikanischen Drogenkrieg?
In US-Medien kamen nach dem 11. Juli mehrfach frühere Mitarbeiter der DEA
zu Wort, die für Mexiko zuständig oder dort lange Zeit im Einsatz waren und
auf die Frage nach den Konsequenzen von El Chapos Flucht einen Anstieg der
Gewalt im Konflikt zwischen den Drogenbanden prognostizierten. Diese These
lässt sich kaum dadurch in Frage stellen, dass es in den ersten beiden Monaten
nach dem Vorfall keinerlei Anzeichen für einen solchen Trend gibt. Vielmehr
liegt dieser Einschätzung eine massive Überbewertung der Machtfülle und des
Handlungsspielraums eines einzelnen Drogenbosses zugrunde, auch wenn es
sich bei El Chapo fraglos um den prominentesten und vielleicht auch den relativ
wirkungsmächtigsten Repräsentanten des organisierten Verbrechens in Mexiko
handelt. Die Triebkräfte, welche die Dynamik des Drogenhandelsgeschäfts und
des rücksichtslosen Konkurrenzkampfs der Kartelle bestimmen, sind viel zu
stark, träge und komplex, als dass sie vom Einfluss einer einzelnen kriminellen
Führungsfigur nennenswert beeinflusst werden könnten.
Nach der Verhaftung und während des 16-monatigen Aufenthalts von El Chapo
gab es keine Indizien dafür, dass die Geschäfte des Sinaloa-Kartells schlechter
liefen als zuvor – ganz im Gegenteil: Viele professionelle Beobachter der Szene
schätzen die Organisation heute eher stärker ein als vor zwei Jahren. Die
mexikanische Kartelllandschaft hat sich in den letzten zehn Jahren beträchtlich
verändert. Dazu trug maßgeblich die durch massiven Gewalteinsatz
ermöglichte Übernahme der ehedem von den Kartellen von Tijuana und Ciudad
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Juárez kontrollierten Grenzregionen durch das Sinaloa-Kartell bei. Sah es vor
einigen Jahren noch so aus, dass allein die Los Zetas-Bande die Bastionen der
Sinaloa-Organisation ernsthaft bedrohen könnte, hat erstere zwischenzeitlich
deutlich an Einfluss und para-militärischer Schlagkraft verloren.
Heute gilt das Sinaloa-Kartell als die relativ stärkste unter den mexikanischen
Drogenhandelsorganisationen. Keine andere kriminelle Gruppe schmuggelt
mehr Marihuana, Kokain, Heroin und Methamphetamin über die Grenze zu den
USA. Der Wettbewerbsvorteil gegenüber rivalisierenden Banden dürfte
zumindest partiell in der besonderen Organisationsstruktur begründet sein,
handelt es sich dabei doch um einen eher losen und flexiblen Zusammenschluss
mehrerer Syndikate, weshalb auch oft die Bezeichnung „Föderation“ benutzt
wird. Dieses Charakteristikum vermag wohl auch zu erklären, warum es im
Gegensatz zu anderen Drogenbanden, deren Anführer verhaftet oder getötet
wurden, im Sinaloa-Kartell nach dem Ausfall Guzmáns nicht zu einem Streit
über die Nachfolge an der Spitze der Hierarchie kam. Dieser Umstand verleiht
auch der Annahme, dass es sich bei El Chapo und El Mayo Zambada um zwei
mehr oder weniger gleichberechtigte Führungsfiguren der Föderation handelt,
zusätzliche Überzeugungskraft.
Insbesondere während der Amtszeit von Präsident Calderón (2006-2012) ließen
rivalisierende Drogensyndikate immer wieder verlauten, dass El Chapo und das
Sinaloa-Kartell über wichtige Unterstützer in der Regierung verfügen würden
und deshalb in ungleich geringerem Maße als konkurrierende Gruppen von den
staatlichen Gegenmaßnahmen betroffen seien. Die Tatsache, dass sich unter
den Festnahmen im Drogenhandelsmilieu relativ wenige Angehörige der
Sinaloa-Föderation befanden, fiel auch neutralen Chronisten des Drogenkrieges
auf. Wenngleich die Ergreifung El Chapos nicht recht in dieses konspirative
Deutungsschema passen will, hat seine Flucht am 11. Juli dem Generalverdacht
einer engen Liaison zwischen dem Syndikat aus Sinaloa und staatlichen Stellen
neue Nahrung zugeführt.
Laut einem umfangreichen Report der mexikanischen Qualitätszeitung El
Universal (6.1.2014) soll es in den vergangenen Jahren zahlreiche Kontakte
zwischen Agenten der US-Drogenpolizei DEA und Führungsfiguren des SinaloaKartells gegeben haben. Es ging dabei vordringlich um die Beschaffung von
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Informationen über konkurrierende Drogenbanden, die von den
Sicherheitsbehörden beider Länder als weitaus gefährlicher als das SinaloaKartell eingestuft wurden. Eine solche Vorgehensweise entspricht der vielfach
geübten Praxis in der internationalen Terrorismusbekämpfung: man kooperiert
mit Gruppen oder Regierungen, die als das vermeintlich kleinere Übel gelten.
Würde man mehr über solche sinistren Kontakte, Absprachen und
(temporären) Allianzen wissen, müsste ein Teil der Geschichte des
mexikanischen war on drugs wohl neu geschrieben werden. Möglicherweise
verlaufen die Fronten in diesem blutigen Konflikt gar nicht so, wie man es
gemeinhin wahrnimmt, und vielleicht würde dann auch der jüngste
Gefängnisausbruch El Chapos in einem anderen Licht erscheinen.
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