so. DIGITAL Laufend unter Strom Muskeln aus der Steckdose: Bisher musste man dafür in ein Fitnessstudio gehen. Eine Firma aus Frankfurt entwickelt aber einen elektrischen Anzug, mit dem man überall trainieren kann – zum Bruchteil des bisherigen Preises. Ein Probelauf. VON AGNIESZKA KRUS (FOTOS/VIDEO) UND MARKUS WERNING (TEXT) Sonntag, 17. Mai 2015 vVvvvvv so.digital Laufend unter Strom N ach vier Tagen lassen die Schmerzen endlich nach. So einen Muskelkater hatte ich lange nicht mehr. Schon gar nicht in meinen Oberschenkeln. Als wäre ich einen Berg hinaufgestrampelt oder hätte an einem Sechs-Tage-Rennen teilgenommen. Stattdessen habe ich gerade einmal zehn Minuten auf einem Ergometer trainiert. Aber ich trug dabei einen speziellen Anzug, und Strom floss durch meinen Körper. Dadurch war das Training deutlich anspruchsvoller – und sehr viel intensiver, als ich es erwartet hatte. Aber es war auch mein erstes Elektromyostimulationstraining (EMS). Trainieren wie die Leistungssportler « Das Verfahren ist nicht neu. Es wird schon lange in der Physiotherapie eingesetzt, um Muskeln zu erhalten oder wieder aufzubauen. Leistungssportler trainieren ebenfalls unter Strom, zum Beispiel Usain Bolt und Timo Boll. Immer mehr Fitnessstudios bieten EMS auch für Hobbysportler an. Sie versprechen ihren Kunden ein Training, das nur 20 Minuten dauert und trotzdem genauso viel bringt wie ein Work-out über eine volle Stunde oder mehr. Nur ist es dafür bisher notwendig gewesen, dass der Zum Starten des Videos aufs Bild tippen Sonntag, 17. Mai 2015 vvVvvvv so.digital Laufend unter Strom Sportler eine Weste mit Elektroden anlegt und im Studio verkabelt wird. Eine junge Firma aus Frankfurt am Main will das jetzt aber ändern. Das Start-up Wearable Life Science hat einen Kom pressionsanzug entwickelt, der die Muskeln genauso mit Stromstößen stimuliert wie die Weste im Studio. Nur dass der Sportler sich mit dem Anzug frei bewegen kann: Er kann damit durch den Park laufen oder über das Trainigsgelände radeln. Er kann auch Golf, Tennis oder Fußball spielen, boxen oder Gewichte heben. Jede Sportart sei mit ihrem Anzug möglich, und zwar an jedem Trainingsort, sagen die Firmengründer. Wohin mit den Kabeln? « Genau das ist ihr Ziel gewesen, als sie sich 2013 zusammentaten. Damals bereitete sich Philipp Schwarz auf einen Triathlon vor. Im Fitnessstudio von Kay Rathschlag machte er Übungen – unter Strom, um die Intensität zu steigern. „Allerdings störten die Kabel“, erzählt Schwarz. Beim eigentlichen Triathlon lernten sie noch Patrick Thumm kennen, einen Sportwissenschaftler, der ebenfalls mit EMS VERSTÄRKUNG Dem Anzug ist seine Technik nicht anzusehen: Überall, wo ein Wabenmuster zu sehen ist, sind Elektroden integriert. Der Strom stimuliert die Muskeln, dadurch wird das Training verstärkt. so.digital Laufend unter Strom vvvVvvv trainierte. Sie holten sich Unterstützung von einer Modedesignerin, einem Schneider sowie einem Elektroingenieur und machten sich an die Arbeit. sonntag interview „Die große Herausforderung war es, die Elektroden und Kabel so gut im Stoff zu verstecken, dass sie praktisch kaum auffallen“, erklärt Rathschlag. Es ist ihnen gelungen: Auf den ersten Blick unterscheidet sich ihr Anzug nicht von einem normalen Kompressionsanzug. Er liegt eng an und ist angenehm zu tragen. Nur dass an mehreren Stellen Elektroden eingenäht sind: an den Armen, den Beinen, in der Brust, am Bauch und am Rücken. Und dass an der Seite ein Gerät hängt: die Steuerungseinheit. Bei körperlicher Anstrengung leiten Nerven elektrische Impulse an die Muskeln, die sich daraufhin zusammenziehen. Beim EMS-Training kommt der Befehl an die Muskeln nicht (allein) vom Gehirn, sondern (zusätzlich) von außen durch niedrigen Reizstrom. Deshalb empfiehlt der Sportmediziner Dr. Heinz Kleinöder: „Fangen Sie vorsichtig an.“ Er leitet die Abteilung Kraftdiagnostik und Bewegungsforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Der Trainingseffekt wird verstärkt « Sie hat die Größe eines Smartphones, ist aber leichter. Beim Probelauf durch den Park fiel sie nicht auf. Das unscheinbare Gerät ist wichtig: Die Steuerungseinheit versorgt die Elektroden mit Strom und reguliert, in welcher Stärke die Muskeln von der Elektrizität bearbeitet werden. Das entscheidet der Sportler über eine App auf seinem Smartphone. Dafür wählt er die Körperstellen aus »EMS wirkt wie ein Booster« Herr. Dr. Kleinöder, was bewirkt der Reizstrom? Der Strom wird über Elektroden appliziert, erreicht die peripheren Nerven und stimuliert sie, zusätzlich zu der natürlichen Kontraktion, wenn Sie zum Beispiel dem Muskel den Befehl geben, den Arm zu beugen. Dieses Verfahren ist etabliert und wird seit vielen Jahren in der Reha in Krankenhäusern angewandt. Wenn Patienten immobil sind, bekommen sie Strom appliziert. Dadurch wird die Kontraktion des Muskels, also der Spannungszustand hervorgerufen, damit der Muskel erhalten bleibt und sich nicht zurückbildet. BITTE SCROLLEN Sonntag, 17. Mai 2015 Sonntag, 17. Mai 2015 vvvvVvv so.digital Laufend unter Strom und tippt auf Plus oder Minus, um die gewünschte Intensität einzustellen. Dann startet er mit seinen Übungen, und entweder verstärkt er mit dem Strom die Wirkung seines Trainings, oder er stimuliert damit Muskeln, die er sonst vernachlässigen würde. Läufer oder Radfahrer könnten zum Beispiel ihre Rumpfmuskulatur trainineren, erklären die Firmengründer. Kraftsportler müssten dagegen nicht noch mehr Gewicht auflegen, um einen größeren Trainingseffekt zu erzielen. Fußballer wiederum könnten ihre Schusskraft erhöhen. Und Menschen mit wenig Zeit hätten die Möglichkeit, etwas für ihre Gesundheit tun, ohne mehrmals pro Woche in ein Fitnessstudio gehen zu müssen. Um sich zu verausgaben, reichen sogar zehn Minuten aus, wie ich auf dem Ergometer gemerkt habe. Übermut tut selten gut « Zuerst spürte ich ein Kribbeln und Prickeln. Dann glaubte ich, ein harter Wasserstrahl würde meine Oberschenkel bearbeiten. Übermütig erhöhte ich trotzdem die Intensität des Stromimpulses. Wahrscheinlich wäre es vernünftiger STEUERUNG Die Elektronikeinheit wird an der Seite des Anzugs befestigt, stört aber nicht. Die wiederaufladbare Lithiumbatterie reicht nach Angaben des Herstellers für zwei Stunden Training aus. Sonntag, 17. Mai 2015 vvvvvVv so.digital Laufend unter Strom gewesen, mit einer geringeren Dosis weiterzuradeln. Zwar mache ich mehrmals pro Woche Sport, aber nicht auf einem Fahrrad. „Ich vermute, dass Sie auf dem Ergometer Muskelpartien beansprucht haben, die vorher weniger trainiert wurden“, sagt Tobias Braun, Facharzt für innere Medizin. „Das ist typisch für EMS.“ Das ist auch gut – solange man es nicht übertreibt. „Der Anreiz ist groß, den Stromimpuls immer noch eine Nummer höher zu drehen“, sagt Braun. Deshalb empfiehlt er das Training unter Anleitung eines Fachmanns – so lange, bis man selbst genug Erfahrung hat. Das sehen die Frankfurter genauso. Darum wollen sie Programme in die App integrieren, mit denen auch Anfänger trainieren können, ohne sich zu überfordern. Anspruchsvollere Einstellungen sollen dagegen erst freigeschaltet werden, wenn der Sportler an einer Einführung teilgenommen hat oder von einem Fachmann betreut worden ist. Auf Dauer billiger « Aber spätestens dann wird man nicht mehr in ein Fitnessstudio gehen müssen, um mithilfe von Strom Muskeln BEDIENUNG Über die App lassen sich Frequenz, Intensität und Dauer des Trainings einstellen. Sie wird auch verschiedene Programme bieten, zum Beispiel solche, die Einsteiger nicht überfordern. so.digital Laufend unter Strom vvvvvvV aufzubauen. EMS könnte dadurch noch beliebter werden. Der Anzug wird zwar 1300 Euro kosten, wenn er in den nächsten Monaten auf den Markt kommt. Aber für eine stationäre EMS-Anlage müsse man zehnmal so viel bezahlen, sagen die Entwickler. Sie wollen deshalb Personaltrainer und Fitnessstudios von ihrem Produkt überzeugen. Der Anzug ist waschbar, er kann also von verschiedenen Personen getragen werden. Den Massenmarkt wollen die Frankfurter aber auch erreichen. Unrealistisch ist das nicht. Trotz des Anschaffungspreises. In vielen Studios kosten 20 Minuten EMSTraining 25 Euro. Wer also mindestens einmal pro Woche unter Strom stehen möchte, bezahlt im Jahr insgesamt 1200 Euro. Für 100 Euro mehr bekommt er seinen eigenen Anzug. Und wenn er nur die Muskeln in den Beinen oder die in den Armen und Schultern ansprechen will, wird er die passenden Kleidungsstücke dafür auch schon für mehrere Hundert Euro bekommen, kündigen die Firmengründer an. So ganz unrecht haben sie deshalb nicht, wenn sie von der „revolutionärsten Sportbekleidung der vergangenen Jahrzehnte“ sprechen. N sonntag interview »Es gibt Ausschlusskriterien« Als Mediziner sieht Tobias Braun ein großes Potenzial in EMS. Trotzdem rät der Facharzt für innere Medizin einigen Menschen von dem Training ab. Der Berliner berät das Start-up Wearable Life Science. Herr Dr. Braun, nach zehn Minuten EMS-Training auf einem Ergometer hatte ich vier Tage lang Muskelkater. Habe ich zu intensiv trainiert? Das kann sein. Grundsätzlich ist Muskelkater aber nicht ungewöhnlich, wenn Sie mit einer neuen Sportart oder einer neuen Trainingsmethode beginnen. Als Sie das erste Mal intensiv gelaufen sind, hatten Sie wahrscheinlich auch einen Muskelkater in den Beinen. Das gehört dazu. Sind Sie Radler? Nein, gar nicht. Dann vermute ich, dass Sie auf dem Ergometer Muskelpartien beansprucht haben, die vorher weniger trainiert wurden. Das ist typisch für EMS. Es ist eine sehr effektive und intensive Trainingsmethode, mit der Sie Muskelgruppen ansprechen können, die Sie sonst nicht BITTE SCROLLEN Sonntag, 17. Mai 2015
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