evangelisch-lutherische dom-gemeinde pastorin

EVANGELISCH-LUTHERISCHE DOM-GEMEINDE
PASTORIN MARGRIT WEGNER
Predigt über Offenbarung 3, 14-22 am Buß- und Bettag
18. November 2015
Im Abenddunkel auf einem Platz außerhalb von New York, ein Aussichtspunkt, von dem aus man mit einem einzigen Blick die Wohnungen von acht Millionen Menschen umfassen kann.
Die Riesenstadt in der Ferne dort ist eine lange glitzernde Wehe, ein
seitlich gesehener Spiralnebel.
Drinnen im Spiralnebel werden Kaffeetassen über die Theke geschoben, die Schaufenster betteln die Vorbeigehenden an, ein Gewimmel von Schuhen, die keinerlei Spuren hinterlassen.
Die kletternden Feuerleitern, die Fahrstuhltüren, die zusammengleiten, hinter Türen mit Sicherheitsschlössern ein ständiger Stimmenschwall.
Zusammengesunkene Leiber dösen in den Wagen der Untergrundbahn, den vorwärts rasenden Katakomben.
New York, ein Gedicht. Die Stadt in den Worten des Poeten, eines Sehers, eines Lauschenden. Megacity, Menschenmassen, Mythos. New York, Paris, Damaskus, die großen Städte,
die Orte, in denen Menschen leben – von weitem millionenfaches Glitzern und Funkeln. Faszination oder falscher Schein?
Laodizea mit den Augen des Sehers: Eine andere Stadt, eine andere Zeit. Aber ganz ähnlich
der Blick: Aus der Ferne schaut einer auf die glitzernde Stadt, auf das Gewimmel der Menschen, die vorbeigehen, ohne Spuren zu hinterlassen, schaut auf Verkehr und die Läden, auf
Gewinn und Verlust, Verbrechen und Strafe, Leben und Tod: Dem Engel der Gemeinde in
Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der
Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm
bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch
kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe
genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm,
blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist,
damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du
sehen mögest. Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei
nun eifrig und tue Buße! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das
Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir
auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe
mit meinem Vater auf seinen Thron. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Wer Ohren hat zu hören, der höre – ja, was? Drohung und Feuer, Angstschrei und tödliche
Stille? Katastrophenszenario, blutige Phantasie? Braucht es nicht zuerst Augen, die Bilder zu
erfassen? Ganz schwindelig wird einem, so rauschen die Bilder auf uns zu und an uns vorbei. Flackernde, funkelnde, blitzende Einzelheiten, die sich in der Menge verwirbeln und
kaum erfassen lassen, nicht aus der Ferne und nicht aus der Nähe. Der Engel, der Zeuge,
Gottes großes Amen. Die Stadt, die Gemeinde, die lau ist, was soll das? Kann eine Stadt lau
sein? Heiß ganz bestimmt, und New York ist sicher mehr the hottest place als Lübeck oder
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Laodizea, aber wer oder was ist lau? Alle Bürger und Bewohner und ich mitten drin? Wer lau
ist und gleichgültig, wer keine Tiefe hat und keine Sehnsucht mehr, wer leer ist und langweilig, wird ausgespien von Gott? Ausgespuckt und weggewischt…? Auch was dagegen hilft, ist
kaum zu verstehen. Konsum pur, wörtlich genommen? Gold kaufen, im Feuer geläutert,
weiße Kleider, Augensalbe. Was für eine Einkaufsliste gegen Bedürftigkeit und Blindheit. So
sei nun eifrig und tue Buße! War ja klar am Buß- und Bettag. Klar, dass die Abrechnung
am Ende steht: Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. Bilder vom
Freitagabend in Paris: War das Züchtigung? War das Strafe? Ich weigere mich, an so einen
Gott zu glauben. So ist das niemals gemeint. Was ist daran liebevoll? Doch im Predigttext
steht einer vor der Tür und drängt und will zu mir, will zu uns, ausgerechnet. Will Gemeinschaft und Essen und Trinken, und am Ende den Thron nicht nur für sich, sondern für uns,
das Ziel, die Entscheidung.
Wer Ohren hat zu hören, der spürt: In der Offenbarung, in diesem Predigttext, da guckt einer
von Ferne, von außen, mit Abstand auf das ganze Gerenne und den Trubel, auf gutgemeinte
Bemühungen und Wohlstand und Besitzstandwahrung und auch auf all die Angst, die Hektik,
die Katastrophenmeldungen. Er schaut und er fragt: Spürt ihr eigentlich noch, was ihr tut?
Merkt ihr eigentlich, worum es geht? Hört ihr eigentlich noch hin in all dem Geklingel und Gerausche, das euch ständig umgibt? Oder habt ihr das Hören verlernt? Das Hören auf die
Dichter und die Propheten, auf den Klang der Welt, auf die Stille, auf die Töne, auf das Wort
– auf Gott? Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt
nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.
Der schwedische Dichter Tomas Tranströmer, der große Dichter der Stille, unterbricht seine
Beschreibung der flirrenden, wimmelnden Großstadt New York mit den Worten:
Ich weiß auch - ohne jede Statistik -, dass jetzt in irgendeinem Zimmer in der Ferne dort Schubert gespielt wird und dass für jemanden
diese Töne wirklicher sind als all das andere.
Mitten im Hupen, Türenknallen, Lachen und Rennen ein Moment der Ruhe. Zwischen Polizeisirenen und Kaufhausmusik ein fast unwirklicher Klang und darin ein Innehalten. So beschreibt es dieser Dichter, dem der Schlaganfall vor 25 Jahren die Stimme verschlug.
Auf wieviel wir uns verlassen müssen, um unseren Alltag leben zu
können, ohne durch die Erde zu sinken! […]
Uns auf die Schweigeversprechen und auf das einverständige Lachen
verlassen, uns darauf verlassen, dass die Unglückstelegramme nicht
uns gelten und dass der jähe Axthieb von innen nicht kommt.
Uns auf die Radachsen verlassen, die uns auf den Motorgelenken mitten in den dreihundertmal vergrößerten Bienenschwarm aus Stahl
tragen.
Aber nichts von dem da ist eigentlich unseres Vertrauens wert.
Die fünf Streicher sagen, dass wir uns auf etwas anderes verlassen
können. Und sie begleiten uns ein Stückchen auf dem Weg dorthin.
So, wie wenn im Treppenhaus das Licht ausgeht und die Hand - vertrauensvoll - dem blinden Geländer folgt, das durchs Dunkel führt.
Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass
du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß, sagt der Seher im letzten Buch der Bibel. Du bist hilflos und blind und ahnst es nicht mal, weil du vergessen hast, dass du ein Geländer im Dunkeln brauchst und Stille in der Stadt. Weil du vergessen hast, innezuhalten und
anzuhalten und zu lauschen auf den Klang der Streicher, der Welt und der Schrift. Merkst du
noch, was du tust? Bist du warm oder kalt? Was ist deine Haltung, hast du eine? Ist Sehnsucht in dir? Hast du noch Hoffnung für dich und die Welt? Was rührt dich im Innersten an?
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Und die vielen, die Menschen kaufen und verkaufen und glauben, alles lasse sich kaufen, die erkennen sich hier nicht wieder.
Nicht ihre Musik. Die lange Melodie, die in allen Verwandlungen sie
selbst ist, mal glitzernd und weich, mal rau und stark, Schneckenspur und Stahltrosse.
Das eigensinnige Summen, das uns gerade jetzt
die Tiefen
hinaufbegleitet.
So beschreibt es der Dichter. Es gibt einen Weg aus der Tiefe. Es gibt einen Weg aus der
gleichgültigen, lauwarmen, manchmal so gemütlichen Komfortzone in unserer heilen Glitzerwelt. Einen Weg heraus aber eben auch aus dem Dunkel der Angst und der lähmenden
Furcht dieser Tage in den Städten, die mit einem Mal so verwundbar sind. Ein Klang führt
heraus und hinauf. Ein Ton. Eine Hoffnung. Ein Wort. Dieser verrückte Gedanke: Es könnte
auch anders sein. Das Wissen: Ich könnte auch anders sein. Der Mut, neu zu beginnen. Die
Sehnsucht nach einem Frieden, der alle umfasst. Die Hoffnung, dass Gott dabei hilft. Dann
da ist ja einer und wartet. Der Seher schreibt und verkündet, was Gott sagt: Siehe, ich stehe
vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun,
zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Und
da, im Klang dieser Worte und in den zarten Farben des Bildes, das da aufscheint, da ist er
zu ahnen, der „halbfertige Himmel“, den der Dichter so beschreibt:
Die Mutlosigkeit unterbricht ihren Lauf.
Die Angst unterbricht ihren Lauf.
Der Geier unterbricht seinen Flug.
Das eifrige Licht fließt hervor,
sogar die Gespenster nehmen einen Schluck.
Und unsre Malereien kommen zutage,
die roten Tiere unsrer Eiszeitateliers.
Alles beginnt sich umzublicken.
Wir gehen in der Sonne zu Hunderten.
Jeder Mensch eine halboffne Tür,
die in ein Zimmer für alle führt.
Der unendliche Boden unter uns.
Das Wasser leuchtet zwischen den Bäumen.
Der Binnensee ist ein Fenster zur Erde.
Jeder Mensch eine halboffene Tür, sagt der Dichter. Schon jetzt und schon hier, denn die
Sehnsucht ist ja da, das Licht, diese Ahnung und Hoffnung und der Wunsch nach Veränderung und Frieden.
Jeder Mensch eine halboffne Tür, die in ein Zimmer für alle führt. Siehe, ich stehe vor der
Tür und klopfe an, sagt Gott. Und wir sagen: Herein.
Amen
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