(NZZ 05/2013) Jochen Jung Was einst Lesung war, heisst heute Auftritt: Die Autorendarsteller Es geht ihm nicht gut, dem Buch, es fühlt sich so altmodisch. Es ist ins Gerede gekommen, kaum dass es versucht hat, in der sich verändernden Medienwelt mitzuhalten. Verändert das E-Book die Idee Buch? Und verändert sich am Ende, parallel dazu, die Rolle des Autors? Der Buchhandel macht sich Gedanken. Der Zwischenbuchhandel macht sich Gedanken. Die Verlage machen sich Gedanken. Alle machen sich Gedanken – vor allem über sich selbst. Die Kritiker machen sich natürlich auch Gedanken, das ist ihr Beruf, aber nicht über sich selbst. Das taten sie früher gern, jetzt aber nicht mehr, jetzt machen sie sich lieber Gedanken über die andern. Düstere naturgemäss. Fehlen noch die Autoren. Aber die machen sich ja sowieso Gedanken, das ist ihr Beruf, Gedanken über das Leben an sich, vor allem aber über ihr nächstes Buch. Und nicht zuletzt über ihren nächsten Auftritt. Denn Autoren, die ihren Beruf ernst nehmen, sind längst auch Autorendarsteller. Es ist ja schön und gut, ein Buch geschrieben zu haben, aber es muss auch vermittelt werden, und das kann man nicht allein der Anzeigenabteilung des Verlages überlassen. Da muss der Autor schon selber ran, und das bedeutet: Der Autor, glücklich, aus seiner Schattenexistenz heraustreten zu dürfen, tritt auf. Dichter zum Anfassen Früher nannte man das Lesung, das ist lange her und war die Sache mit dem Tisch, der Stehlampe, dem Blumenstrauss und dem Glas Wasser. Die Buchhändlerin sagte noch eben an, wie das Buch hiess, aus dem gleich vorgelesen würde, und dann wurde eben vorgelesen, und da das nun einmal die wenigsten können, war das zwar oft sehr authentisch, aber sonst – kurz und gut: Es war oft lang und schlecht. Also hat man sich gesagt: Wenn schon schlecht, dann lieber kurz. Und in der übrigen Zeit soll er/sie halt etwas erzählen, und wir machen vorweg oder zwischendurch oder sowohl als auch ein sogenanntes Gespräch, das ist noch viel authentischer und bitte nicht zu verwechseln mit dem gefürchteten Satz am Schluss: «Hat vielleicht noch jemand eine Frage?» Man nannte das Begegnungen oder auch – eher etwas unappetitlich – Dichter zum Anfassen, und das geschah zu der Zeit, als man den Buchhandelskunden die damals offenbar noch weit verbreitete Schwellenangst dadurch zu nehmen versuchte, dass die Buchhändlerinnen sich in den hintersten Bereich des Ladens verzogen und dort so taten, als seien sie auch nur grad mal so zufällig im Laden. Und den Lesern nahmen die Autoren die Scheu vor ihren Büchern, indem sie das Komplizierte und Experimentelle begruben und das Leben so nacherzählten, dass man es ohne Umstände als das eigene wiedererkannte. Damals lernte man die Autorinnen und Autoren kennen als kluge, vernünftige, wunderliche oder hochfahrende Menschen, zugänglich die einen, eher verschlossen die anderen, alle offen für Komplimente und alle dankbar für die paar hundert Franken oder Mark, die ihnen im Hinterzimmer ausgehändigt wurden. Im Grossen und Ganzen waren alle nett, oder anders gesagt: Sie waren wie du und ich. Anschliessend ging – ach was: geht man mit ihnen ins nächste bessere Wirtshaus, denn all das ist im Ganzen und Grossen ja immer noch so. Jetzt sind die Autoren natürlich immer noch Autoren, allerdings sind sie als solche heute entweder gar nichts oder (wenn auch nur bescheiden) Prominente, und Prominente machen sich ja auch Gedanken, über die Politik oder das Internet, die Rolle des Mannes in der Küche, den Klimawandel, Migranten und so weiter, und was Prominente so im Kopf haben, will die Welt wissen, sie ist so. Wenn die Promis Autoren sind, wird dann manchmal auch echt über Literatur geredet, dann kommt noch das Fachmännische hinzu, und alle haben etwas gelernt. Das ist inzwischen richtig beliebt geworden, weswegen jetzt schon jede zweite Kreisstadt einen Stadtschreiber oder ein Literaturfestival hat, und der Terminkalender vieler Autoren so rappelvoll ist, dass sie sich echt Gedanken über ihr nächstes Buch machen müssen. Früher hatten sie dann und wann eine Lesung, zu der sie fuhren, heute nehmen sie sich eine Auszeit, um am nächsten Buch zu arbeiten. Überall werden sie als alte Bekannte begrüsst, die Hoppe und die Zeh, der Walser und der Wagner oder vielmehr beide Wagner (um nicht zu sagen: alle drei). Überall sind sie und immer wieder, und das Einzige, was sie nicht mehr sind: Sie sind nicht mehr anders. Sie wollen keine Aura mehr haben. Ein schwieriges Thema, ich weiss. Einerseits sind wir ja froh, dass wir keine Heiligen der Literatur mehr haben müssen, nicht mehr so was wie Rilke oder gar George oder, noch schlimmer, Gerhart Hauptmann. Botho Strauss und Peter Handke, die letzten approbierten Dichter, die hüten ihre Aura und verweigern sich dem Betrieb. Sie sind, gewissermassen, Auslaufmodelle. Aber hat es nicht auch was, wenn ein Dichter wirkt wie ein Dichter? Redet wie ein Dichter? Womöglich sogar aussieht wie ein Dichter? Selbst wenn niemand sagen könnte, wie ein Dichter denn bitte auszusehen hat. Die Physiognomie von Handke brauchte keinen Warhol, um eine Ikone zu werden. Der Blick von Frisch, der Schnauz von Grass, die Pfeife von Lenz, die Brauen von Walser, die ältere Generation wusste immerhin, dass sie uns Köpfe schuldig war, die vier sahen eben nicht von ungefähr nicht so aus wie Böll. Ein Drittes aufblitzen lassen Nun denn, die Zeiten Lavaters oder der Phrenologie sind sowieso vorüber, und schon gar nicht wollen wir einer Dichtermaskerade das Wort reden. Die Sache ist eben nur die, dass die Berufsauffassung heutiger Autoren und unser Bedürfnis nach dem Ausserordentlichen nicht mehr so richtig zusammenpassen wollen. Denn auch wir Leser machen uns ja unsere Gedanken, und wir würden doch überhaupt kein Buch mehr aufschlagen, wenn wir nicht nach etwas suchen würden, was deutlich anders ist als wir, was mehr weiss, mehr sagen kann als wir, ja was womöglich Welten kennt, die wir noch nie gesehen haben. Gewiss, Autoren wollen/sollen uns auch unterhalten, und wenn sie eine Meinung haben zur EU, zur Kita, zu USA und NSA und NSU, sollen sie es sagen dürfen. Entscheidend bleibt, dass sie uns auf etwas hinweisen, was wir allein nicht wahrgenommen hätten, und sei es auf den Frosch, der gerade quer über den Weg hüpft, den wir mit Schuhgrösse 46 geradeaus gehen. Aber da wollen wir nicht nur den Frosch gezeigt bekommen, sondern zugleich durch die Sprache und die Form den Prinzen, der in ihm steckt. Eines der häufigsten Epitheta in der Verlagswerbung ist seit längerem das Wort «verstörend». Nichts Besseres scheint sich einem Roman nachsagen zu lassen, offenbar warten wir alle darauf, endlich einmal wieder verstört zu werden. Ach, wenn die nur wüssten, was sie da sagen – denn tatsächlich kann uns ja nichts Besseres widerfahren, als dass uns jemand im Alltag stört, uns aufstört und von mir aus verstört: Nicht indem er uns seine Meinung zur Kita sagt, nicht indem er uns einen neuen Vampir-Alien präsentiert oder die lustige Geschichte seiner Ehe, ja nicht einmal, indem er uns in Gender-Fragen den Weg weist. Sondern indem er mehr ist als ein Zeitgenosse, indem er macht, was nur er kann, was ihn von all den Meinungsmachern und lustigen Vögeln unterscheidet, was ihn anders sein lässt. Und zwar, indem er Wörter und Sätze so zu fügen weiss, dass sie funkeln und leuchten und wir uns so wahrzunehmen beginnen, wie wir es uns nie gedacht, ja nicht einmal hätten träumen lassen. Ist es nicht die Aufgabe der Kunst, also auch der Literatur, zwischen Abbild und Unterhaltung «gefälligst» ein Drittes aufblitzen zu lassen, in Konkurrenz zu Natur und Religion, den beiden anderen schwächelnden Sinnreflektoren? Braucht es nicht ständig Hinweise, die uns stellvertretend für die immer etwas undeutlichen Inhalte die umso deutlichere Form gibt? Ist nicht, entscheidender als Meinung und Geschichtenerfinden, das Hervorrufen von Schönheit das, was Autoren ihren bedürftigen Lesern (und den Storytellern der Tagesmedien) weit voraus haben? Autorinnen und Autoren erzählen die Welt, und wenn sie wirklich gut sind, können sie es so, dass diese Welt sich wiedererkennt und gleichzeitig nicht wiedererkennt, weil sie bis zu diesem Moment noch keine Ahnung davon hatte, dass sie so ist wie im Spiegel und gleichzeitig so wie hinter dem Spiegel. Und vor allem, ganz simpel: dass sie ein Text ist, an den jemand Hand angelegt hat, damit es ein schöner Text werde. Man meint doch, schon so manchem Autor, so mancher Autorin während einer Lesung beim ZwischendurchAufblicken die Frage angesehen zu haben: Warum sitzt ihr, die ihr doch auch bequem, wenn nicht weitaus bequemer zu Hause in eurem eigenen Wahrnehmungstempo meinen Text zu euch nehmen könntet, vor meiner Nase und schaut mich an, als wär ich des Rätsels Lösung? Was seht ihr da vor euch? Was wollt ihr von mir? Jochen Jung, Jahrgang 1942, ist Leiter der Verlags Jung und Jung in Salzburg sowie Schriftsteller. Zuletzt erschien 2012 im HaymonVerlag die Geschichte «Wolkenherz».
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