Sprechen Ost- und Westdeutsche immer noch eine andere Sprache?

Sprechen Ost- und Westdeutsche immer
noch eine andere Sprache?
Am 12. September 1990, zehn Monate nach dem Mauerfall, trafen sich die Außenminister der DDR
und der BRD mit ihren französischen, amerikanischen, britischen und sowjetischen Kollegen, um
den sogenannten Zwei-Plus-Vier Vertrag zu unterzeichnen. Dies ebnete den Weg für die deutsche
Wiedervereinigung, die ungefähr einen Monat später, am 3. Oktober – dem Tag der Deutschen
Einheit – mit dem offiziellen Beitritt der fünf ostdeutschen Staaten zur BRD vollendet wurde.
Diese Ereignisse liegen nun 25 Jahre zurück und, während Deutschland sich darauf vorbereitet, am
Samstag das Jubiläum seiner Wiedervereinigung zu feiern, kann man erwarten, dass die deutsche
Presse an dieses besondere Datum wieder wie gewohnt mit einer Unzahl an Artikeln erinnern wird,
um die vermeintlichen Unterschiede, die zwischen Ost und West noch immer bestehen sollen, zu
untersuchen. In der Vergangenheit haben sich die Diskussionen häufig um die Frage gedreht, ob die
ostdeutsche Wirtschaft endlich mit der westlichen aufgeschlossen hat (nein, hat sie nicht), aber wie
steht es eigentlich mit dem sprachlichen Erbe der DDR?
Deutsch war natürlich die offizielle Sprache, die sowohl in der DDR als auch der BRD gesprochen
wurde. Aber trotzdem waren die beiden Staaten nicht nur durch eine geopolitische Grenze
voneinander getrennt. DDR-Politiker waren auch daran interessiert, eine sprachliche Barriere zu
errichten, indem sie einen Wortschatz prägten, der sie von ihren feindlichen Nachbarn
unterscheiden sollte, was oftmals zu aberwitzigen Ergebnissen führte.
Eine sprachliche Teilung?
Es ist vermutlich wenig überraschend, dass die Sprache dieser Zeit auch häufig die sozialistische
Ideologie des DDR-Regimes abbildete. Zum Beispiel war die offizielle Bezeichnung für die DDR
in Übereinstimmung mit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung des ostdeutschen Staates
Arbeiter-und-Bauern-Staat. Ähnlich wurde auch die Mauer offiziell Antifaschistischer Schutzwall
genannt. Der Begriff Schutzwall ist defensiv konnotiert und wird daher hier euphemistisch
verwendet. Es wird der Eindruck vermittelt, die Menschen in der DDR müssten vor einer äußeren
Gefahr geschützt werden.
Sozialistische Ideologien drangen auch in den alltäglichen Sprachgebrauch ein. Der DDRWortschatz unterschied sich recht deutlich von dem der BRD, da man absichtlich Wörter aus dem
Russischen entlehnte, während das westdeutsche Vokabular mit Amerikanismen überfüllt war, was
die politische Ausrichtung des jeweiligen Landes widerspiegelte. Während im Westen
beispielsweise ein Raumfahrer als Astronaut bezeichnet wurde, um ein vielzitiertes Beispiel zu
bemühen, sagte man im Osten Kosmonaut, welches dem Russischen космона́вт entspricht. An den
Wochenenden verbrachten die DDR-Bürger außerdem Zeit in ihrer Datsche, vom Russischen дача,
oder nahmen an einem Subbotnik (Russisch суббота 'Samstag') teil, einem (nicht ganz)
freiwilligem Arbeitseinsatz.
Neben den vielen Wörtern aus dem Russischen war eine Eigenart der DDR-Sprache, dass sie von
verschachtelten technischen Begriffen durchsetzt war. Eine Kantine wurde so als Werkküche
bezeichnet, aus einer Schwimmhalle wurde die ähnlich politisch aufgeladene Volksschwimmhalle
und wenn man eine Beilage im Restaurant bestellen wollte, musste man nach einer
Sättigungsbeilage fragen. Es gab auch keine Krankenhäuser, sondern Polikliniken, und als Schüler
ging man auf die Polytechnische Oberschule, den verbreitetsten Typus im Schulsystem der DDR.
Da der Staat den Atheismus fördern wollte, sollten Wörter mit religiösen Konnotationen möglichst
vermieden werden. Also wurde das Weihnachtsgeld in Jahresendprämie umgetauft. Eine
Entscheidung, die zu der satirischen Wortprägung geflügelte Jahresendsfigur als Bezeichnung für
den Weihnachtsengel geführt hat. Der Begriff hat natürlich nie Einzug in den aktiven
Sprachgebrauch gefunden. Seine einzige Funktion war, die eigentümliche Sprachpolitik der DDR
zu parodieren.
Das sprachliche Erbe der DDR
Als jemand, die in einem wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen ist, hören sich solche
Wörter für mich genauso fremd und skurril an, wie sie vermutlich auch für jemanden aus dem
Westen klingen. Natürlich haben viele dieser Begriffe ihre Funktion verloren, als die
wirtschaflichen und politischen Veränderungen nach dem Zusammenbruch der DDR einsetzten. Der
Ausreiseantrag wurde so in dem Moment obsolet, als die Grenzen geöffnet wurden und die Leute
die Freiheit bekamen, zwischen Ost und West zu reisen. Man wird auch Schwierigkeiten haben,
irgendwo im heutigen Osten noch einen Intershop, also einen Einzelwarenladen, dessen Produkte
nur mit konvertierbaren Währungen bezahlt werden konnten, zu finden. Wenn nun aber so viele
Wörter aus dem aktiven Sprachgebrauch verschwunden sind, gibt es denn überhaupt noch welche,
die den Mauerfall überlebt haben?
Also zunächst einmal gehe ich, wenn ich meine Einkäufe erledigen möchte, in den Supermarkt.
Vielen Ostdeutschen sind die Bezeichnungen Konsum und Kaufhalle aber auch noch vertraut. Deren
Verwendung beschränkt sich allerdings ausschließlich auf den ländlichen Bereich im Osten. Auch
benutze ich immer noch eher eine Plastetüte als eine Plastiktüte, um meine Einkäufe zu verstauen.
Besonders diese beiden Begriffe mögen einem Außenstehenden harmlos erscheinen, für Deutsche
ist die Plaste/Plastik-Frage allerdings ein nationales Reizthema. (Ich höre an dieser Stelle auf, ohne
noch weiter darauf einzugehen.)
Bei Zeitangaben sollte man auch vorsichtig sein. Es wird immer noch oft angenommen, dass Viertel
Neun oder Dreiviertel Neun anstatt Viertel nach Acht oder Viertel vor Acht zu sagen, eine
ostdeutsche Eigenheit sei. Ich habe viele Diskussionen mit Freunden aus dem Westen erlebt, bei
denen versucht wurde die Logik hinter den Aussagen zu erklären – oftmals ohne Erfolg. Dass dies
ein Ost/West Problem sei, ist so allerdings nicht ganz richtig. Im Osten versteht und benutzt man
generell beide Formen, aber es sind tatsächlich regionale Varianten, die auch in Teilen
Westdeutschlands existieren.
Leistungskontrolle und Kurzkontrolle sind schon eher Begriffe, die einem Westdeutschen unbekannt
sein dürften. In ostdeutschen Schulen bezeichnen wir so noch heute Klassenarbeiten oder kurze
Tests. Wir hatten außerdem einen Polylux in der Schule; das ist der genereische Begriff für einen
Overheadprojektoren, der auch heute noch weit verbreitet ist. Dieses Wort ist tatsächlich so beliebt
im Osten, dass ich mich erinnern kann, wie ein Universitätsprofessor gründlich verspottet wurde,
als er das Gerät mit dem gängigeren Namen Overheadprojektor bezeichnete.
Zusammenwachsen
Obwohl diese Begriffe aus der früheren DDR noch heute benutzt werden, wäre es falsch,
anzunehmen, dass ihre Verwendung ausschließlich auf den Osten der Republik beschränkt sei. Viele
der Beispiele, die hier genannt wurden, sind einem Westdeutschen wahrscheinlich genauso bekannt
und einige sind auch in das gesamtdeutsche Lexikon eingegangen. Ossi und Wessi sind als
Bezeichnung für Ost- und Westdeutsche beispielsweise nie aus dem Vokabular verschwunden.
Heute werden sie allerdings oft nur noch als Beleidigung des jeweils anderen verwendet.
In den Medien und im Alltagsgebrauch wird häufig von Ostdeutschland und Westdeutschland
gesprochen, wenn die wirtschaftlichen oder sozialen Unterschiede, die angeblich zwischen beiden
Teilen des Landes noch bestehen sollen, angesprochen werden. Es wurden aber auch Versuche
unternommen, die beiden Begriffe durch die neutraleren Bezeichnungen neue (Bundes-) Länder und
alte (Bundes-) Länder zu ersetzten. Einer der Gründe hierfür ist, dass sich Länder wie Thüringen
oder Mecklenburg-Vorpommern geografisch gar nicht im Osten des Landes befinden, sondern
mittel- und norddeutsche Bundesländer sind. Auch erscheinen die Namen, wenn sie nicht in einem
historischen Kontext genannt, sondern auf die heutige politische Lage bezogen werden,
anachronistisch, beinhalten sie doch den Verweis auf eine Teilung, die seit 25 Jahren nicht mehr
existiert.
Dieser recht knappe Überblick ist natürlich keineswegs vollständig. Das Thema des
Sprachgebrauchs der DDR ist so umfassend, dass es schon ganze Bücher gefüllt hat. Wenn du
Deutsch sprichst und dir weitere Ost-West-Unterschiede einfallen, kannst du sie gerne mit uns im
Kommentarbereich teilen.