Skript zur Vorlesung

Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch
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Vorlesung 5
Genetische Drift − Koaleszenz. Man kann sich dem Thema „genetische Drift“ mit zwei
(Betrachtungs)Ansätzen nähern: Drift als (genealogischer) Koaleszenzprozess oder als fluktuierende
Allelfrequenzen. Koaleszenz meint das „Zusammenfließen“ von genetischen Linien zu einem letzten
gemeinsamen Vorfahren (most recent common ancestor, MRCA) meint also gleichsam einen
„Stammbaum“ von Allelen, in dem die Abstammung bestimmter Genkopien (Allele) einer Population
nachvollziehbar ist („Futuyma“ Abb. 10.1). Ein solcher Koaleszent („Stammbaum“) beschreibt die
Genealogie einer Stichprobe von Individuen retrospektiv. In der Abb. 10.1 sollen Mutationen, also die
Entstehung neuer Allele wohl nicht vorkommen, da es hier einzig um genetische Drift geht. Ganz
grundsätzlich gehen eben wegen Evolution natürlich alle Allele einer Population auf ein einziges
„Vorfahr-Allel“ zurück, wenn man nur lang genug in die Vergangenheit zurückgeht. Wenn Genealogien
von zwei Allelen zusammentreffen oder verschmelzen ist das gleichsam ein "Koaleszenz-Ereignis".
Die Abb. zeigt einen Fall mit 2 Allelen, die anfänglich beide mit der Frequenz 50% vorlagen und von
denen dann eines der beiden durch Gendrift fixiert wurde. Fixierung: Ein Allel erreicht die Frequenz
von 100% in einer Population, die damit monomorph für dieses Allel ist. In der Abb. soll der
„Misserfolg“ von Genkopien Nachkommen zu hinterlassen rein zufällig sein (vgl. o. Stichprobenfehler).
Die Abb. veranschaulicht evtl. auch, dass die Wahrscheinlichkeit einer Fixierung von der
Ausgangsfrequenz abhängt. (In unserem Fall hätte das andere Allel also ebenfalls mit 50%iger
Wahrscheinlichkeit fixiert werden können.)
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Genetische Drift − Koaleszenzzeit in Generationen. Bei konstanter Populationsgröße N haben wir,
wenn wir von einem haploiden Organismus ausgehen, N Genkopien. Es werden 2 Kopien zufällig
gezogen: Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Kopien den selben Elter haben, beträgt 1/N. Damit ist
die Wahrscheinlichkeit verschiedene Eltern zu haben (logischerweise) = 1 - (1/N). Da sich
Wahrscheinlichkeiten multiplizieren ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Kopien den selben
(2-1)
„Großelter“ hatten (Koaleszenz vor 2 Generationen) = (1/N) × [1 - (1/N)] = (1/N) × [1 - (1/N)]
. Die
(G-1)
Wahrscheinlichkeit für Koaleszenz vor G Generationen ist dann also (1/N) × [1 - (1/N)]
. Je kleiner
die Population, desto größer die „Wahrscheinlichkeit für frühe Koaleszenz“:
G=1
N = 5 0,2
N = 10 0,1
G=2
0,16
0,09
G=3
0,128
0,081
Im Mittel (Erwartungswert) beträgt die Koaleszenzzeit eines “Zufalls-Kopienpaares” N Generationen
für den haploiden Fall und 2N Generationen bei Diploiden. Der Erwartungswert für eine
Koaleszenzzeit aller Kopien – also nicht nur eines Paares – ist 2N Generationen (haploid) bzw. 4N
Generationen (diploid). Anders ausgedrückt: Falls ein Allel durch genetische Drift fixiert wird, kann
man statistisch (!) erwarten, dass dies 2N (haploid) bzw. 4N (diploid) Generationen dauert.
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Genetische Drift − Zufällige Änderung von Allelfrequenzen. Man kann die genetische Drift auch
(weniger genealogisch und traditioneller) als zufällige Änderung von Allelfrequenzen betrachten.
Annahme: Wir haben eine konstant (!) große Population mit N Individuen (kein Genfluss bzw.
Mutationen) und zwei Allele A1 und A2 mit Frequenzen p bzw. q = 0,5. In der nächsten Generation liegt
p bzw. q irgendwo zwischen 0 und 1, z.B. 0,43, weil wir eben eine endlich große Population haben
und sich die Allelfrequenzen durch den Stichprobenfehler (s.o.) ändern können. (Sie können auch
gleich bleiben, aber eben auch rein zufällig). Falls nach einer Generation tatsächlich der Wert 1 oder 0
erreicht ist, ist ein Allel fixiert und weiterhin passiert hier dann nichts mehr. Wenn keine Fixierung
erreicht ist, dann folgt das „gleiche Spiel“ noch mal: In der nächsten Generation liegt p bzw. q wieder
irgendwo zwischen 0 und 1. Das geht solange bis ein Allel (rein zufällig) fixiert ist.
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Genetische Drift − Computersimulationen. Mit Hilfe von Computersimulationen kann man sich die
Gesetzmäßigkeiten der genetischen Drift veranschaulichen. Die Abb. 10.3 im „Futuyma“ macht
deutlich, dass Allelfrequenzschwankungen in kleinen Populationen stärker sind und dass Allelverluste
bzw. Fixierungen hier (statistisch) schneller erfolgen. Mit dem Programm „AlleleA1”, das Sie dort
finden, wo auch das Skript abgelegt ist, können und sollten Sie unbedingt selber mal solche AlleldriftSimulationen durchführen.
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Genetische Drift − Wahrscheinlichkeiten. Die Abb 10.4. (A) im „Futuyma“ zeigt die
Wahrscheinlichkeitsverteilung der Frequenz für ein Allel an, das zu „Driftbeginn“ die Frequenz 0,5
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hatte: Nach kurzer Zeit (0,1N Generationen) ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Frequenz sich noch
nahe im Bereich von 0,5 bewegt größer als nach 0,2N bzw. mehr Generationen. Nach 2N
Generationen ist jede Allelfrequenz zwischen 0 und 1 gleich wahrscheinlich. (Das ist übrigens eine
Abbildung, die auf den „Drift-Veteranen“ Kimura zurückgeht, s.o.) Ohne Herleitung, aber wichtig!: Die
Wahrscheinlichkeit einer Fixierung eines Allels entspricht seiner Frequenz: Ein seltenes Allel kommt
also auch „schnell mal abhanden“; die Wahrscheinlichkeit, dass ein sehr häufiges Allel (zufällig) fixiert
wird ist „relativ“ hoch.
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Genetische Drift − Heterozygotie. Angenommen, in einer Population gibt es keinen Genfluss und
keine Mutationen, sondern nur genetische Drift. In einer solchen Population nimmt zwangsläufig der
Heterozygotiegrad ab, da es durch genetische Drift zu Fixierungen bzw. Allelverlusten kommt.
Bei den Allelfrequenzen p = q = 0,5 (für die Allele A1 und A2) erwartet man nach der Hardy-WeinbergGleichung folgende Genotypfrequenzen: A1A1 = 0,25, A1A2 = 0,5 und A2A2 = 0,25, bei p = 0,45 und q =
0,55 folgende: A1A1 = 0,2025, A1A2 = 0,4950, A2A2 = 0,3025. Die Heterozygotenfrequenz H ist maximal
bei p = q = 0,5 und nimmt ab, je näher sich die Allelfrequenz des einen Allels an den Wert 1 annähert:
H = 2p × q = 2p × (1- p). Auch hier bestimmt wieder die Populationsgröße die Schnelligkeit des
Effekts: Bei N = 20 ist schon etwa nach 200 Generationen keine Heterozygotie mehr zu erwarten, bei
N = 100 erst nach etwa 500 Generationen. Die Abnahmerate der Heterozygotie kann daher als ein
Maß für den Einfluss der genetischen Drift in einer Population dienen.
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Genetische Drift − Durchschnittliche Heterozygotie nach einem Gründereffekt. Nach einem
Gründereffekt (s.o.) nimmt die durchschnittliche Heterozygotie zunächst stark ab, da wir es ja eben mit
einer kleinen Gründerpopulation zu tun haben, in der die genetische Drift zur Abnahme des
durchschnittlichen Heterozygotiegrads der Population führt. (Je kleiner die Gründerpopulation, desto
schneller.) Falls die Population auch gleichzeitig mit der Populationswachstumsrate r wächst, kommt
es nach der mehr oder weniger drastischen Abnahme der durchschnittlichen Heterozygotie zu einer
Art „Gleichgewicht“ und die durchschnittliche Heterozygotie in der Population ist konstant. Durch
Mutationen, bei denen neue Allele entstehen, kann nach sehr vielen Generationen die
durchschnittliche Heterozygotie wieder zunehmen.
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Evolution durch genetische Drift. Folgende zusammenfassenden Punkte zur genetischen Drift sind
zu internalisieren (!): Schwankungen der Allelfrequenzen führen zu Allelfixierungen bzw. -verlusten.
Genetische Variation an einem Locus (Heterozygotie) geht durch genetische Drift verloren: H = 2p ×
(1- p). Die Wahrscheinlichkeit für eine Fixierung entspricht der („momentanen“) Allelfrequenz.
(Populationen mit gleichen Ausgangsfrequenzen haben verschiedene Schicksale.) Die Frequenz
eines neuen Allels ist „nur“ 1/(2N): In einer großen Population „verschwindet so ein Allel also relativ
leicht“. Drifteffekte treten schneller in kleinen Populationen auf: Die Mittlere Fixierungszeit für ein
neues Allel beträgt 4N Generationen bei Diploiden. Genetische Drift kann als Nullhypothese dienen,
solange es keine Hinweise gibt (Gegenhypothese), dass ein anderer Evolutionsfaktor, z.B. Selektion,
die Beobachtungen besser erklären kann (vgl. auch Beispiel der Nacktmulle oben).
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Genetische Drift − Effektive Populationsgröße. Die Auswirkung von Drifteffekten hängt von der
Populationsgröße N ab (s.o.). In realen Populationen geht es hier nicht um die ZensusPopulationsgröße (Bestandsgröße) N, also die reine Individuenzahl, sondern um die effektive
Populationsgröße Ne: Anzahl der Individuen einer idealen Population mit demselben Ausmaß von
genetischer Drift wie die tatsächliche Population. Ideal meint hier, dass alle Individuen in gleicher
Weise an der Fortpflanzung teilnehmen. N und Ne sind natürlich meist verschieden: Babys sind Teil
von N, aber nicht von Ne. Folgend, Gründe für Ne kleiner als N. − Nachkommenzahl variiert (stark):
Beim Nördlichen See-Elefant (Mirounga angustirostris, Pazifikküste N-Amerikas) paaren sich nur
wenige (konkurrenzstärkste) Männchen in einer Population („Futuyma“: Abb. 10.5). − Anzahl von
Männchen und Weibchen ist ungleich, also nicht 1:1 (z.B. bei Bienen): Ne bei 20 Männchen und 80
Weibchen ist z.B. 64. − Überlappende Generationen: Wenn sich Nachkommen mit ihren Eltern
paaren, ist die effektive Zahl weitergegebener Gene reduziert. − Den größten Einfluss haben wohl
fluktuierende Populationsgrößen: Nach 5 Generationen mit nacheinander 100, 20, 25, 150 und 125
paarenden Erwachsenen ist Ne ca. 70 (harmonisches Mittel), nicht 110 (arithmetisches Mittel).
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Genetische Drift in realen Populationen. 1956 führte Peter Buri ein Laborexperiment zur
genetischen Drift mit Fruchtfliegenpopulationen durch („Futuyma“: Abb. 10.7). 107 „Start“75
Populationen mit jeweils 8 Männchen und 8 Weibchen waren heterozygot für zwei Allele, bw und bw ,
75
75
75
die die Augenfarbe beeinflussen: bw bw (Augen hellbraun), bwbw (Augen braun), bw bw (Augen
rot). Für 19 Generationen wurde nun jede der 107 Populationen konstant gehalten, indem immer
wieder 8 Männchen bzw. Weibchen aus der Population für die nächste Generation zufällig gezogen
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wurden. Die Abb. zeigt den zeitlichen Verlauf der Häufigkeitsverteilung der 16 anfänglich vorhandenen
75
bw -Allele: Zunächst erfolgt eine Gleichverteilung später dann, wie theoretisch zu erwarten, ist in den
meisten Populationen ein Allel fixiert. McCommas & Bryant (1990) zeigten in einem Laborversuch mit
Hausfliegen den theoretisch zu erwartenden Einfluss von genetischen Flaschenhälsen auf die
durchschnittliche Heterozygotie: Aus natürlichen Populationen wurden 1, 2 bzw. 16 Paare (zufällig)
gezogen. Jede Population konnte dann bis zur Größe N = 1000 wachsen und anschließend wurden
wieder 1, 2, bzw. 16 Paare (zufällig) gezogen. Diese Prozedur erfolgte 5 mal nacheinander. Nach
jedem Bottleneck-Ereignis wurden an 5 Loci Isoenzymanalysen durchgeführt: Die durchschnittliche
Heterozygotie nahm nach jedem genetischen Flaschenhals ab, je kleiner die Ausgangspopulation
desto stärker. Die Messwerte entsprachen dabei theoretisch zu erwartenden Werten. Bei
Isoenzymanalysen an Populationen des Nördlichen See-Elefanten (Mirounga angustirostris) fanden
Bonnel & Seelander (1974) überraschenderweise keine (!) Variation an 24 Isoenzym-Loci, obwohl die
Population vergleichsweise groß war (N = 30000). Dieser Befund wurde durch den Einfluss eines
rezenten genetischen Flaschenhalses erklärt, der mit historischen Daten korreliert: Im 19. Jahrhundert
wurden die Tiere wegen ihres Trans so stark durch die Jagd dezimiert, dass nur noch sehr wenige
Individuen überlebten (1890er: N = 20, Ne < 20, s.o.).
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Inzucht („inbreeding“). Eine Voraussetzung für ein andauerndes Hardy-Weinberg-Gleichgewicht ist,
dass in der Population Panmixie vorherrscht (zufällige Paarungen zwischen allen Mitgliedern einer
Population). Das ist z.B. nicht der Fall, wenn es in einer Population Inzucht gibt: Sexuelle
Fortpflanzung zwischen verwandten Individuen kommen häufiger vor als zufällige Paarungen mit
nichtverwandten Populationsmitgliedern. Genkopien in den Gameten sind dann mit größerer
Wahrscheinlichkeit identisch, eben durch ihre gemeinsame Abstammung, als in Gameten, die sich bei
Zufallspaarungen ergeben. Auch Inzuchtphänomene wurden natürlich mathematisch von
Populationsgenetikern beschrieben. (Bei größerem Interesse informiert die „Box 9B“ im „Futuyma“
gerne über den Wandel von Genotypfrequenzen durch Inzucht.) Hier sei nur der Inzuchtkoeffizient F
erwähnt, der die Wahrscheinlichkeit angibt, dass beide Allele an einem Locus vom selben Vorfahr
stammen. Dieser Koeffizient geht auf Sewall Wright (1889−1988), einen der Begründer der
Populationsgenetik, zurück. Wright (1922): Coefficients of Inbreeding and Relationship. Eine
Eigenschaft von (reiner) Inzucht ist, dass hier – im Gegensatz zur genetischen Drift – nur Genotypund nicht Allelfrequenzen verändert werden. Durch Inzucht erfolgt eine Abnahme von Heterozygotie:
Das kann man sich anschaulich machen, wenn man sich den Fall von größter Inzucht, nämlich
Selbstbefruchtung klarmacht: Ein heterozygoter Genotyp A1A2 mit sich selbst gekreuzt ergibt 4
Kombinationen: A1A1, A1A2, A2A1 und A2A2. Nach einer Generation Inzucht ist die Frequenz der
Heterozygoten also halbiert und bei jeder weiteren Generation mit Selbstbefruchtung würde sie weiter
verringert werden.
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Aufgaben
♦ Erklären Sie, warum der Heterozygotiegrad einer Population durch genetische Drift abnimmt.
♦ Spielen Sie ausgiebig mit dem Programm AlleleA1 herum. Überprüfen Sie durch Ausprobieren, ob
die Fixierungswahrscheinlichkeit tatsächlich der Allelfrequenz entspricht.
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