Fortbildung Palliativversorgung eines jungen Mannes mit einer l ebenslimitierenden neurometabolischen Erkrankung Mukopolysaccharidose Typ IIIA Dagmar Weise | Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Göttingen Der Patient und der bisherige Verlauf seiner Erkrankung Der Patient Jan-Niklas war zum Zeitpunkt der Aufnahme in eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) 19 Jahre alt. Er lebte im Haus seiner Eltern und wurde hauptsächlich von seiner Mutter versorgt. 16 Stunden am Tag war ein häuslicher Pflegedienst vor Ort. Auch wurde er von seiner Großmutter beschäftigt und versorgt. Jan-Niklas hat eine 5 Jahre jüngere Schwester, welche gesund ist. Bis zum Alter von 1 ½ Jahren entwickelte sich Jan-Niklas normal. Als Säugling zeigte er ein geringes Schlafbedürfnis und schrie häufig. Mit 2 Jahren fielen ausbleibende Fortschritte in der Sprachentwicklung und ständige Unruhe auf. Mit 3 Jahren führte die klinische Symptomatik mit typischem fazialen Aspekt, dauerhafter Unruhe sowie Verlust sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten zur Verdachtsdiagnose einer Mukopolysaccharidose Typ III (SanfilippoSyndrom), die dann biochemisch durch Nachweis einer Defizienz der HeparanS-Sulfamidase gesichert wurde (MPS3A). Mit 5 Jahren zeigte sich eine deutliche Regression mit Entwicklung einer spastischen Bewegungsstörung. Im Laufe der nächsten Jahre verlor er die Gehfähigkeit. Noch im Grundschulalter traten dann die ersten zerebralen Anfälle auf, neben tonisch-klonischen Anfällen wurden auch häufig Myoklonien beobachtet. Die Epilepsie war schwer behandelbar. Es bestand aufgrund des neurologischen Krankheitsbildes eine Ernährungs- 100 Die Mukopolysaccharidose Typ III (Sanfilippo-Syndrom) Die Mukopolysaccharidose Typ III (Sanfilippo-Syndrom) ist eine lysosomale Speichererkrankung mit klinisch nicht unterscheidbaren, aber genetisch und biochemisch distinkten 4 Subtypen (A – D). Diese Subtypen treten in verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Prävalenz auf. Bei dem in Mitteleuropa relativ häufigen, besonders schwer verlaufenden Typ IIIA (MPS3A) führen autosomal-rezessiv vererbte (homozygote oder compound heterozygote) Mutationen im N-Sulfoglucosamin-Sulfohydrolase (SGSH)-Gen auf Chromosom 17q25.3 zu einer Defizienz des Enzyms Heparansulfat-Sulfatase (N-Sulfoglucosamin Sulfohydrolase). Infolge dieses Enzymmangels wird das Mukopolysaccharid Heparansulfat nicht regulär abgebaut, sondern in den Lysosomen der Zellen angehäuft. Die klinische Symptomatik beginnt meist mit 2 – 6 Jahren und ist durch Verhaltensstörungen (Unruhe, Aggressivität, Schlafstörungen), zunächst Entwicklungsretardierung, dann Verlust bis dahin erworbener motorischer, sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten, Epilepsie und relativ milde Dysmorphien (Vergröberung der Gesichtszüge, buschige Augenbrauen mit Synophrys, dickes, sprödes Haupthaar) gekennzeichnet. Es entwickeln sich eine Hepatosplenomegalie und eine Dysostosis multiplex (u. a. ovaläre thorakolumbale Wirbelkörper), jeweils in milder Ausprägung. Diarrhoe und Otitis media sind häufig. Die Erkrankung nimmt einen unaufhaltsam progredienten Verlauf, führt zu Demenz mit ausgeprägter Unruhe, schwerer spastischer Tetraparese, Schluckstörung und vollständiger Pflegebedürftigkeit. Eine kausale Therapie ist nicht bekannt, die meisten MPS3A-Patienten versterben im zweiten oder dritten Lebensjahrzehnt. störung, ab seinem 10. Lebensjahr wurde Jan-Niklas über eine PEG-Sonde ernährt. Im Verlauf der Erkrankung hatte sich eine chronische respiratorische Insuffizienz entwickelt. Mit 14 Jahren wurde bei zunehmender Obstruktion der oberen Atemwege und erschwerter Sekretmobilisierung in den unteren Atemwegen ein Tracheostoma angelegt. Bedingt durch die Speichererkrankung und durch eine obstruktiv-re striktive Lungenerkrankung bestand nun eine Herzinsuffizienz. Jan-Niklas zeigte mit 19 Jahren eine spastische Tetraparese, aufgrund des fort- schreitenden Charakters der Erkrankung wurden auch Zeichen einer Bulbärparalyse immer deutlicher. Er war bettlägerig und konnte nur mit einem Rollstuhl mit angepasster Sitzschale mobilisiert werden (Abb. 1). Symptomatische Therapie Alle für Jan-Niklas getroffenen Maßnahmen wurden zur Kontrolle der leidvollen Symptome eingesetzt. Neben den zu Beginn heilpädagogischen und später physiotherapeutischen Maßnahmen wurden früh verschiedene Medikamente zur Be- Kinderärztliche Praxis 86, 100 – 104 (2015) Nr. 2 www.kipra-online.de Fortbildung handlung der Unruhe, der Schlafstörung, der spastischen Bewegungsstörung und der Epilepsie eingesetzt. Über viele Jahre zeigten die meisten Präparate nur eine unzureichende Symptomkontrolle. Die Familie suchte daher zahlreiche Spezialambulanzen auf. Auch wurde Jan-Niklas mehrfach stationär aufgenommen und behandelt, zuletzt im Alter von 18 Jahren. JanNiklas zeigte zu diesem Zeitpunkt deutliche Herzinsuffizienzzeichen und ein Lungenödem. Neben einer Diuretikatherapie und ACE-Hemmer-Gabe wurde nun eine Morphintherapie begonnen. Der Patient wurde auch vorübergehend in einem Hospiz aufgenommen. Nachdem in der Region eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung aufgebaut wurde, konnte Jan-Niklas im Frühjahr 2011 in diese SAPV-Betreuung aufgenommen werden. Ziele der Palliativversorgung Ein Ziel der Versorgung war die Minderung leidvoller Symptome bei einer komplexen Symptomatik bestehend aus Unruhe, schmerzhafter spastischer Bewegungsstörung und epileptischen Anfällen, Schlafstörungen und zunehmend pulmonalen und kardialen Beeinträchtigungen. Ein weiteres Ziel war die Vermeidung weiterer Krankenhausaufenthalte und das Erreichen einer bestmöglichen Versorgung im häuslichen Rahmen. Dabei sollte auch eine Entlastung der Mutter erreicht werden, sodass ihr mehr Zeit für ihre gesunde Tochter zur Verfügung steht. Eine Empfehlung zum Vorgehen in Notfallsituationen lag vor. Dabei hatte sich die Familie dazu entschieden, bei Jan-Niklas im Falle einer akuten, lebensbedrohlichen Situation auf lebensverlängernde Maßnahmen wie Beatmung und Reanimation sowie invasive Therapien zu verzichten. Verlauf der Palliativversorgung Epilepsie und spastische Bewegungsstörung Zunächst erfolgte eine Anpassung der antikonvulsiven und antispastischen Therapie. Dabei wurde als ein antikonvulsives Abb. 1: Der Patient mit Sanfilippo- Syndrom (Muko polysaccharidose Typ IIIA) im Alter von 19 Jahren mit schwerer spastischer Bewegungsstörung und Demenz. Medikament bewusst Carbamazepin gewählt, welchem neben einer sedierenden auch eine analgetische Wirkung bei neuropathischen und zentralen Schmerzen zugeschrieben wird. Eingesetzt wurden Carbamazepin mit 42 mg/kg/d, Primidon mit 30 mg/kg/d, Lamotrigin mit 8 mg/kg/d und Tetrazepam mit 5 mg/kg/d. in denen schwierig zu unterbrechende Myoklonien als leidvolles Symptom gedeutet wurden. Trotz seiner längeren Halbwertszeit hat sich das Benzodiazepin Clonazepam als hilfreiches Bedarfsmedikament erwiesen. Midazolam oder Lorazepam zeigten eine unzureichende Wirkung. Sedierung: Clonazepam 0,06 mg/kg b. B. Schmerzen Eine Schmerztherapie erfolgte mit Morphin als Retardpräparat. Bei Bedarf, zum Beispiel bei Atemnot im Rahmen von pulmonalen Infektionen, erfolgte zusätzlich die Gabe von Morphintropfen: Morphin als MST 1 mg/kg/d verteilt auf 3 Gaben. Pulmonale und kardiale Beeinträchtigung Bedingt durch die zunehmende Immobilisierung und durch die antispastische und sedierende Medikation kam es zu einem vermehrten Sekretverhalt in den Atemwegen. Zusätzlich bestand aufgrund der Speichererkrankung eine restriktive Lungenfunktionsstörung sowie bei Herzinsuffizienz die Neigung zu einem Lungenödem. Neben regelmäßigen A temtherapien Unruhe Trotz dieser Medikation traten bei Jan- Niklas immer wieder Unruhephasen auf, Wesentliches für die Praxis . . . Was kann die ambulante Palliativversorgung erreichen? ◾◾ Eine für alle Beteiligten zufriedenstellende ambulante Versorgung gelingt nur durch eine enge Zusammenarbeit aller Versorgenden. ◾◾ Regelmäßige Beratungen und ein Austausch mit dem häuslichen Pflegeteam und die Einbindung des Hausarztes in die Versorgung sind wichtige Bestandteile der ambulanten Palliativversorgung. ◾◾ Durch die ambulante Palliativversorgung konnte Jan-Niklas in seinen letzten beiden Lebensjahren komplett häuslich versorgt werden. Dies verbesserte die Lebensqualität des Patienten und seiner Familie. Kinderärztliche Praxis 86, 100 – 104 (2015) Nr. 2 www.kipra-online.de 103 Fortbildung s owohl durch den ambulanten Pflegedienst als auch durch eine Physiotherapeutin erfolgten Inhalationsbehandlungen und bei Bedarf eine medikamentöse Sekretolyse. Zusätzlich wurde die Diuretikabehandlung auf Furosemid und Spironolacton eingestellt. Die Furosemidgaben mussten bei Ödementwicklung immer häufiger bedarfsweise auf 3 bis 4 mg/kg/d angehoben werden. Bei Herzinsuffizienz erfolgte eine ACE-Hemmer Gabe. Behandlung von pulmonalen und kardialen Beschwerden: Atemtherapie und Inhalationen, Acetylcystein b. B., Furosemid 2 mg/kg/d, Spironolacton 1,5 mg/kg/d, Ramipril 0,06 mg/kg/d. Infektionen Neben diesen dauerhaften Therapien erfolgten im Verlauf immer wieder antibiotische Behandlungen von Atemwegsinfektionen sowie Wundversorgungen an der Haut. Die Ernährung über die PEG wurde angepasst und auf eine höherkalorische 104 Sondenkost umgestellt. Hierdurch verbesserte sich das Unterhautfettgewebe des Patienten. Auch die Hilfsmittelversorgung wurde verbessert, u. a. durch Bereitstellung einer Anti-Dekubitus-Matratze. Jan-Niklas starb im Alter von 20 Jahren im Kreise seiner Familie und im Beisein einer Palliativ-Pflegekraft. Weiterführende Literatur 1. Beck M (2011) Lysosomale Speichererkrankungen. In: Aksu F (Hrsg.) Neuropädiatrie. Bremen, UNI-MED, 457 – 85 2. ACT: The Association for Children with Life-threatening or Terminal Conditions and their Families and The Royal College of Paediatrics and Child Health (2003 und 2009) A Guide to the Development of Childrens´s Palliative Care Services, 2nd and 3rd Ed., ACT, Bristol (UK) 3. Friedrichsdorf S (2011) Palliativmedizin in der Neuropädiatrie. In: Aksu F (Hrsg.) Neuropädiatrie. Bremen, UNI-MED, 685 – 704 4. Hunt A, Burne R (1995) Medical and nursing problems of children with neurodegenerative disease. Palliative Medicine 9: 19 – 26 5. Malcolm C, Forbat L, Anderson G, Gibson F, Hain R (2011) Challenging symptom profiles of life-limiting conditions in children: a survey of care professionals and families. Palliative Medicine 25 (4): 357 – 364 6. Cleary MA, Wraith JE (1993): Management of mucopolysaccharidosis type III. Archives of disease in childhood 69: 403 – 406 7. Hauer J (2011) Treatment of Persistent Pain and Irritability in Children with Neurological Impairment. Neuropädiatrie 10 (1): 7 – 14 8. Nicholson BD (2004) Evaluation and treatment of central pain syndromes. Neurology 62 (Suppl. 2): S30 – S36 9. Hugel H, Ellershaw JE, Dickman A (2003) Clonazepam as an adjuvant analgesic in patients with cancer-related neuropathic pain. Journal of Pain and Symptom Management 26 (6): 1073 – 1074 Korrespondenzadresse Dr. Dagmar Weise Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsmedizin Göttingen Robert-Koch-Straße 40 37075 Göttingen Tel.: 05 51/39-1 03 58 Fax: 05 51/39-1 32 45 E-Mail: [email protected] Kinderärztliche Praxis 86, 100 – 104 (2015) Nr. 2 www.kipra-online.de
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