Luzia`s Rede

 Es ist eine grosse Not hier zu stehen. Ich weiss nicht wie ich Sie ansprechen soll, weiss nicht wie anfangen, weil ich nicht hier sprechen will. Ich will gar nicht hier sein, und ich will nicht, dass irgendjemand von uns da ist. Weil ich immer noch nicht glauben will, dass Luca gestorben ist. Gestern bin ich nach Kandern gekommen und es ist zum Schreien. Weder in der Stadt noch im Haus oder Garten der Vogelbachs gibt es einen Ort oder eine Ecke, die nicht mit einer Luca‐Geschiche verbunden wäre. Luca war ‐wie jeder Mensch‐ eine einzigartige Person, bei ihm war das einzigartige einfach etwas leichter zu entdecken, weil er in seiner Eigen‐Art ein toller, sehr liebenswürdiger und schräger Vogel war. Meine letzte Begegnung mit Luca war vor zwei oder drei Wochen. Er hat mich angerufen, als ich gerade meine zwei Mädchen ins Bett gebracht hatte. Ich war an dem Abend total erledigt, und hatte nach seinem zweiten Anruf Angst, dass das laute Schellen die Kinder wieder aufweckt und habe deshalb den Hörer neben das Telefon gelegt. Diese unschöne Abfuhr, die ich ihm als Letztes erteilt habe, tut mir heute extrem leid. Und doch ist diese Begegnung irgendwie typisch für Luca. Er hat es einem in flüchtigen Begegnungen nicht leicht gemacht. Ich war Luca nie so nahe, wie in der Zeit, als wir den Film gedreht haben. Ich finde, Luca gut zu kennen, hiess ihn zu bewundern und in meinem Fall‐ ihn zu lieben. Mit Luca zu leben hiess zu lernen. Genauer hin zu gucken, lernen zu verstehen, lernen zu akzeptieren und seinen Horizont als die eigene Horizonterweiterung zu begreifen. Wenn Luca z.B. lernte sich mitzuteilen, dann musste man mit ihm lernen, das zu verstehen. Was für ein Geschenk wenn das geklappt hat. Ich kenne niemanden auf dieser Welt mit so einem Durchhaltewillen. Wenn meine Kinder ein paar Monate brauchen um zu lernen, wie man Socken anzieht, so dauerte es bei Luca Jahre. Aber mit einer Beharrlichkeit und Ausdauer ‐ von der ich wünschte ich hätte sie‐ hat er es so lange probiert, bis er es konnte. Claudia sagte mir mal, sie wusste nicht, dass ein Mensch überhaupt so oft hinfallen kann, wie Luca hingefallen ist, bis er laufen konnte. Aber Luca hat es geschafft. Ich weiss noch wie Luca mir während der Dreharbeiten für den Film einmal unbedingt zeigen wollte, wie er Fahrrad fahren kann, also bin ich raus mit ihm. Keinen Moment hätte ich mich getraut, das zu filmen, weil ich eine solche Angst hatte um Luca. Bis ich kapiert habe, er kann das, er weiss das er es kann und er ist stolz drauf. Und so haben wir es das nächste Mal gefilmt. Es wurde für mich zu einer der Schlüsselszenen. Luca ging alleine raus, wusste um die Gefahr der Lastwagen, fuhr auf seinem Fahrrad, manchmal zum Fürchten wackelig und schnell, aber wenn er hinfiel ‐ und natürlich fiel er hin‐ dann stand er wieder auf, bestieg das Rad und fuhr weiter. So war Luca und so hat er eigentlich fast alles geschafft, was er wollte. Das machte das Leben mit ihm mitunter auch wahnsinnig anstrengend. Luca Grenzen zu setzen war ein unerhörter Kraftakt. Wenn ich mir diese Auseinandersetzungen manchmal angeguckt habe, die Luca mit Claudia, Peter und seinen Geschwister führte , dann konnte ich nicht umhin zu denken: Ich weiss woher Luca seinen Willen und seine Kraft hat. Luca hatte das Glück in eine starke Familie geboren zu werden. Mit starken Menschen. Eines blieb ihm aber leider verwehrt. Das Sprechen. Seba sagte mal , es wäre alles sehr viel leichter, wenn Luca sprechen könnte. Aber das konnte er nicht. Das war sein Käfig, aus dem er nicht raus konnte. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen Luca unbedingt in die normale Schule wollte, nicht in die Behindertenschule. Als er in Nikos Klasse Gastsitzen konnte, musste er dann lernen zu akzeptieren, dass er das nicht kann. Ich glaube, das war sehr hart für Luca. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass Luca um seine Behinderung wusste und an den Grenzen, die sie ihm aufzwang, litt. Das war himmeltraurig zu spüren, aber Luca hat das verkraftet und bewältigt. Das war seine Lebensleisung. Luca lebte intensiv, er lebte risikoreich und vor allem lebte er sehr, sehr gerne. Und er hätte gerne noch weitergelebt. Diese Lebensfreude schöpfte Luca aus dem Leben, dass ihm seine Familie ermöglicht hatte ‐dessen bin ich mir ganz sicher. Und so bin ich versucht für Luca zu sprechen, und Euch zu danken, für das grosszügige Vertrauen und den tiefen Respekt mit dem ihr Lucas Leben begleitet habt. Ihr habt ihn immer für voll genommen. Im Guten genau so wie im Schlechten. Wenn er lieb war, genau so wie wenn er genervt hat. Keine Samthandschuhe für Luca. Die Art und Weise wie Ihr Luca gefordert und gefördert habt, die Freiheit, die ihr im gewährt habt, das habe ich immer bewundert. Und am meisten habe ich bewundert, mit welcher freundlichen, selbstverständlichen Gelassenheit ihr Lucas eigene Art der Umwelt zugemutet habt. Nur in diesem freien Geist und Umfeld konnte Luca so selbstbewusst und eigenständig werden wie er es eben war. Eine Selbstständigkeit über die Luca sich wie ein König freute, die ihm unendlich kostbar war. Luca ging stolz und freundlich durch die Welt und auf die Menschen zu. Er suchte sich Freunde und Freundinnen und er fand sie. Etwas Schöneres kann man einem Kind nicht auf den Weg geben. Und ich bin mir sicher, ihr habt ihm das schönst mögliche Leben beschert, das ein Kind haben kann. Uns allen ist das ein Anliegen Euch das wieder und wieder zu sagen, nur habe ich gemerkt dass das für Euch kein Trost ist , weil es eine Selbstverständlichkeit war für Euch.. Und jetzt müssen wir von diesem Kind, das schon gar kein Kind mehr war, sondern ein stolzer Bengel mit sieben Barthaaren, jetzt müssen wir von diesem Luca Abschied nehmen. Claudia sagte einmal, Luca ist ein anderthalb Kind. Er forderte viel und er gab viel Und mir wird ganz elend bei dem Gedanken, dass wir alle ‐ vor allem aber Claudia, Peter, Sebastian, Niko und Sophie lernen müssen ohne ihn zu leben. Und ich möchte Euch fünfen versichern, dass wir mit Trost und Anteilnahme für jeden einzelnen von euch da sind. Aber heute, so sagte mir Claudia, wolle sie nicht, dass der Trost für Sophie, Niko, Sebastian, Peter und sie im Vordergrund stünde. Den brauchen sie auch nach heute noch lange. Heute solle Luca noch einmal im Mittelpunkt stehen. Seine Seelengrösse und seine Würde. Und so möchte ich sie bitten mit den Vogelbachs in einem Moment der Stille jetzt von Luca Abschied zu nehmen.