Zeit um Tabus zu brechen

Datum: 01.07.2015
Zeit um Tabus zu brechen
Die anlagepolitischen Herausforderungen für die 2. Säule haben stark zugenommen. Tiefe Zinsen
und die wegen der demographischen Entwicklung abnehmende strukturelle Risikofähigkeit
schaffen neue Realitäten. Kurz: Das BVG wächst in den 3. Lebensabschnitt. Ist das Leistungsziel
finanziell noch tragbar? Ein Sozialwissenschaftler, ein PK-Experte und zwei Vermögensverwalter
suchen an der 42. AWP-Tagung nach Lösungen.
Die BVG-Branche schlägt radikale Reformen für die 2. Säule vor. Von links nach rechts: Beat Kappeler, Sozialwissenschaftler und Publizist, Josef Bachmann, Geschätsleiter der Pensionskasse der Pwc, Christina Böck, CIO Axa IM, Alfred Roelli, Sprecher für Anlagestrategie Pictet Wealth Management. Bilder: AWP Soziale Sicherheit
Vermögensverwalter warnen: Pensionskassen müssen in Zukunft
deutlich mehr Risiken eingehen, um ihre Soll- und Zielrenditen erreichen zu können. Laut Swisscanto-Umfrage 2015 hat sich die
Differenz zwischen der risikolosen Rendite für 10-jährige Bundesobligationen und der Zielrendite seit 2007 von 1,8 auf 3,5 Prozentpunkte ausgeweitet. «Für Schweizer Vorsorgeeinrichtungen besteht
das Problem in der grossen Differenz zwischen Zielrendite und dem,
was der dritte Beitragszahler - sprich die Finanzmärkte - noch abwirft», sagt Christina Böck, CIO Axa Investment Managers Schweiz.
Die mit dem BVG-Umwandlungssatz implizit verlangte Sollrendite liegt über 4%. Während eine solche Rendite in den Anfängen
des BVG noch mit risikoarmen Anlagen erzielt werden konnte,
bedingt sie heute das Eingehen von substanziellen Anlagerisiken.
Themen-Nr.: 660.003
Abo-Nr.: 660003
Auflage: 3'600
Argus Ref.: 58436620
Datum: 01.07.2015
Alfred Roelli, Sprecher für Anlagestrategie bei Pictet Wealth Management, ist überzeugt, dass es den risikolosen Zins gar nicht
mehr gibt: «In Zukunft dürften Festverzinsliche ein wesentlich
volatileres Verhalten zeigen». Renditeerwartungen von 3 bis 4
Prozent seien optimistisch und setzten ein Portfolio mit einem
Aktienanteil von etwa 40% voraus, so Roelli weiter. Um den neuen Realitäten Rechnung zu tragen, reicht es nicht, jetziges Handeln kritisch zu hinterfragen - es braucht Tabubrüche.
Erster Tabubruch: Alternative Anlagen
Anlagestrategen empfehlen den Vorsorgeeinrichtungen: Die Abneigung gegen alternative Anlageformen muss überdacht werden. Es gelte, sich an der langfristigen Wertschöpfungskapazität
der Wirtschaft zu beteiligen und produktive Anlagen miteinzubeziehen. Böck und Roelli und denken dabei etwa an Kreditanlagen
ausserhalb der Schweiz, Private Equity oder Venture Capital. Wegen gesetzlicher Vorschriften und dem Risikomanagement der
Vorsorgeeinrichtungen kommen risikobehaftete Anlagen bisher
nur bedingt in Frage. In der aktuellen Zinssituation wollen deshalb
nur 22% der Swisscanto-Umfrageteilnehmer Verschiebungen im
Anlageportefeuille vornehmen.
Die Zurückhaltung bei alternativen Anlagen hat verschiedene
Gründe: Gemäss einer aktuellen Studie des Instituts für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen (siehe Seite 1) hat das
Interesse von Pensionskassen an der alternativen Anlagekategorie
Insurance Linked Securities (ILS) zugenommen. Es wird aber auch
deutlich, dass etwa die hohe Komplexität, Transaktionskosten und
eine gewisse Rechtsunsicherheit ein stärkeres Engagement in ILS
verhindern. Ebenso müssten gesetzliche Anpassungen vorgenommen werden, um Venture Capital Investitionen für Pensionskassen
«Rentner erhalten
Leistungen, die sie gar
nicht finanziert haben.»
interessant zu machen. Wie ein solches
Gesetz ausgestaltet sein könnte, zeigt das
Beispiel USA (siehe Seite 6).
Zweiter Tabubruch:
Dynamische Renten für alle
Ein weiterer Effekt der anhaltend tiefen
Zinsen und erhöhten Lebenserwartung ist,
dass die Vorsorgeeinrichtungen gezwungen sind, Renten zunehmend im Umlageverfahren zu finanzieren. «Damit erhalten
die Rentner Leistungen, die sie gar nicht
finanziert haben. Dafür müssen die Jünge-
ren auf Kapital verzichten, das sie dringend für den Aufbau der eigenen Vorsorge benötigen», sagt Josef Bachmann,
Geschäftsführer der Pensionskasse der
Pwc. Für Bachmann führt der Weg aus
dieser Sackgasse über eine dynamische
Altersvorsorge. Nur so könnten Leistungen
der 2. Säule konsequent im Kapitaldeckungsverfahren finanziert werden, ohne
dass sie entweder zu hoch oder zu tief
seien.
Im Pwc-Modell werden die periodischen
Altersleistungen seit 2005 in reduzierte
fixe Renten und einen variablen Bonus auf-
geteilt. Die Renten basieren auf einem
technischen Zins von 1,5%. Die Soll-Ren-
dite auf dem Kapital der Rentner ergibt
sich aus einer Zinsannahme von 2,5%,
zuzüglich einem 0,5%-Zuschlag für Langlebigkeit und 0,2% Verwaltungskosten.
Der jährliche Vergleich zwischen Soll-
und Ist-Rendite ergibt entweder einen
Josef Bachmann
Verlust oder Gewinn. Ergibt sich nach drei
Geschäftsführer Pensionskasse Pwc
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Jahren gesamthaft ein Gewinn, wird der
Bonusteil erhöht. Bei einem Verlust wird
er reduziert. Bachmann möchte noch einen Schritt weiter gehen und Altrentner
in das Modell miteinbeziehen: «Wenn die
dynamische Altersvorsorge nur für Neurentner eingesetzt wird, dauert es lange,
Nach Ansicht des Sozialwissenschaftlers
und Publizisten Beat Kappeler müsste ein
weiteres Tabu gebrochen werden. Für
Kappeler ist das Leistungsziel, die Fortfüh-
rung der gewohnten Lebenshaltung nicht finanzierbar: «Ich bin für den ehrli-
chen Rückbau der unhaltbaren und daher
bis eine Entlastung spürbar wird und Rent- demagogischen Verfassungsgarantie».
Damit die Altersvorsorge auch im 3.
nergruppen werden ungleich behandelt.»
Lebensabschnitt
funktioniert, plädiert er
Bisher gilt jedoch: Laufende Renten kürunter
anderem
für
die längere Erwerbsarzen, kommt nicht in Frage. Kommt hinzu,
beit
der
Älteren.
Sein
Rezept: Lohnkurven
dass es in rechtlicher Hinsicht nicht klar ist,
und
Wochenarbeitszeiten
sollen biomorph
ob eine Kürzung laufernder Renten überwerden,
indem
sie
einen
Höhepunkt mit
haupt zulässig ist. Juristisch ist diese Frage
55
erreichen
und
dann
fallen
dürfen. Zuumstritten. Ueli Kieser, Titularprofessor für
dem
sollte
die
Erwerbstätigkeit
im Alter zu
Sozialversicherungsrecht der Universität
St. Gallen, und Basile Cardineaux, assozi- Rentenverbesserungen führen.
Schliesslich finden die Anlagestrategen
ierter Professor am Lehrstuhl für Arbeitsund Sozialversicherungsrecht der Univer- Böck und Roelli beim ehemaligen Präsisität Freiburg, vertreten die Meinung, dass dent des Schweizer Gewerkschaftsbun-
laufende Renten angepasst werden kön- des, Kappeler, Unterstützung. Auch er
nen, sofern das Reglement der Vorsorge- würde die Anlagegrundsätze aus dem
einrichtung dahingehend geändert wird BVG streichen. Das würde die Diversifikation in alternative Anlagen faktisch erleich(siehe AWP Soziale Sicherheit Nr. 4).
Die regionale Aufsichtsbehörde hat das tern.
Die Lösungsansätze sind vielfältig. Soerweiterte Pwc-Modell hingegen zurückgewiesen. Laufende Renten seien unantastbar. Zeit also, die Rechtsunsicherheit
weit sind sich aber alle Beteiligten einig: Es
braucht radikale Veränderungen. Das Re-
zu klären. Die Pwc ist deshalb ans Bundes- formpaket Altersvorsorge 2020 präsenverwaltungsgericht gelangt. Der Entscheid tiert sich im Vergleich dazu mit dem vom
steht noch aus. Fest steht: Das Urteil der Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen-
Bundesrichter wird den Spielraum, den paket eher als Feuerwehrübung. Unter
Vorsorgeeinrichtungen bei der Wahl ihres einer Reform stellen sich die Beteiligten
Modells zur Verfügung steht, definieren. wesentlich mehr vor.
Susanne Kapfinger
Dritter Tabubruch:
Verfassungsänderung
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