RECHT UND GERECHTIGKEIT NACH DEM ZIVILISATIONSBRUCH? DIE ERFAHRUNG VON AUSCHWITZ UND DER GRÖNING-PROZESS ÉVA FAHIDI-PUSZTAI (BUDAPEST) FR | 27. 11. 2015 | 19.30 UHR ZUR GESELLSCHAFTLICHEN UND JURISTISCHEN WIRKUNGSGESCHICHTE DER „NÜRNBERGER RASSEGESETZE” IN DEUTSCHLAND DR. CHRISTOPH KREUTZMÜLLER (BERLIN) FR | 11. 12. 2015 | 19.30 UHR Mit dem juristischen Erbe des „Dritten Reiches“ hatten sich nach 1945 beide Teile Deutschlands zu befassen. Sie taten dies auf sehr unterschiedliche Weise. Die Systemkonfrontation im Zuge des Kalten Krieges beeinflusste den strafrechtlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit intensiv. Anhand der Auschwitz-Prozesse in West- und Ostdeutschland lassen sich die Versuche der gegenseitigen Einflussnahme gut nachvollziehen. Auch in den Verfahren zum Tatkomplex Buchenwald und Mittelbau-Dora, die von DDR-Seite als Teil der „Westarbeit“ gegen den politischen Gegner interpretiert wurden, ist diese Instrumentalisierung zu politischen Zwecken greifbar. Während die vielen SED-Kampagnen gegen die in der Tat skandalösen Kontinuitäten brauner Seilschaften in der Bundesrepublik einen zentralen Impuls für das Einsetzen systematischer Ermittlungen in der Bundesrepublik bildete, blieben diese Nachforschungen in der DDR weitgehend aus. Ungeachtet aller politischen Unterschiede gab es aber auch Gemeinsamkeiten: So machte sich eine „Schlussstrichmentalität“ sowohl in der west- als auch in der ostdeutschen Bevölkerung breit. Das Leben Éva Fahidi-Pusztais, Jg. 1925, überschatten die nationalsozialistischen Verbrechen noch immer. Sie wurde in Debrecen/Ungarn als Tochter eines großbürgerlichen Holzhändlers geboren. 1936 konvertierte die Familie zum Katholizismus. Seit Ende der 1930er Jahre galten in Ungarn immer strengere rassistische und antisemitische Gesetze, die auch die Fahidis zunehmend aus der Gesellschaft ausschlossen. Am 27. Juni 1944 wurde die Familie in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Bei der Selektion trennte der berüchtigte SS-Arzt Josef Mengele sie für immer. Mutter und Schwester wurden unmittelbar durch Giftgas ermordet, der Vater starb an den Bedingungen im Lager. Mitte August 1944 überstellte die SS Éva Fahidi zur Zwangsarbeit in der Granatenproduktion in das Buchenwald-Außenlager Münchmühle bei Allendorf. Bei Kriegsende entkam sie von einem Todesmarsch. Im November 1945 kehrte Éva Fahidi nach Debrecen zurück. Ihr Elternhaus bewohnten inzwischen Fremde. In der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft schloss sie sich den Kommunisten an. Sie lernte ihren späteren Ehemann kennen, der ihre Ideale teilte. Der Neuanfang gestaltete sich schwierig und entbehrungsreich. Erst allmählich erhielt sie bessere Beschäftigungen und war schließlich im Außenhandel für das ungarische Stahlkombinat tätig. Heute lebt Éva Fahidi-Pusztai in Budapest. Erst seit den 1990er Jahren ist es ihr überhaupt möglich, über ihre Verfolgungserfahrungen zu sprechen. Ungeachtet ihres fortgeschrittenen Alters setzt sie sich unermüdlich zugunsten der Ahndung und Erinnerung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen ein – auch und gerade angesichts der jüngsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in ihrer ungarischen Heimat. Sie gehört dem Beirat ehemaliger Häftlinge des KZ Buchenwald an der Stiftung sowie dem Internationalen Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos an. 2011 erschienen unter dem Titel Die Seele der Dinge ihre Lebenserinnerungen. 2012 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen, 2014 die Ehrenbürgerwürde von Stadtallendorf. Als Nebenklägerin war sie unmittelbar am gerade zu Ende gegangenen Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg beteiligt. Doch inwieweit lässt sich für Éva Fahidi-Pusztai nach Auschwitz und Buchenwald überhaupt Gerechtigkeit herstellen? Bereits im Zuge der Machtübergabe an die Nationalsozialisten Anfang 1933 kam es in Deutschland zu antisemitischen Ausschreitungen. Von NSDAP-Mitgliedern organisierter „Volkszorn“ und der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April heizten die Stimmung weiter auf. Die am 15. September 1935 vom Reichstag einstimmig verabschiedeten „Nürnberger Gesetze“ waren ein weiterer Ausgrenzungsschritt. Juden verloren nunmehr alle politischen Rechte, Eheschließungen zwischen ihnen und Nichtjuden wurden unter Strafe gestellt. Die einen Monat später erlassene Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz definierte, wer als „jüdischer Mischling“ Reichsbürger bleiben bzw. wer als „Jude“ davon ausgeschlossen werden solle. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung begrüßte diese Maßnahmen. In den folgenden Jahren schränkten eine Vielzahl weiterer Gesetze und Verordnungen die Rechtsstellung der Juden zusätzlich ein. Nachdem 1939 zunächst im besetzten Polen der Judenstern eingeführt worden war, mussten ihn ab dem 19. September 1941 auch Juden im Reichsgebiet tragen. Vor diesem Hintergrund trafen sich am 20. Januar 1942 15 hochrangige Vertreter der nationalsozialistischen Reichsregierung und SS-Behörden, um nach der Ausgrenzung die systematische Ermordung und Vernichtung auch der in Deutschland lebenden Juden zu organisieren. Dr. Christian Dirks, Jg. 1971, ist Historiker und Ausstellungsmacher. Er promovierte zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der DDR und veröffentlichte seine Arbeit 2006 unter dem Titel „Die Verbrechen der anderen“. Auschwitz und der Auschwitz-Prozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZArzt Dr. Horst Fischer. 2005 bis 2007 als Projektkoordinator der Stiftung Jüdisches Museum Berlin tätig, ist er seit 2008 geschäftsführender Gesellschafter der Kreuzberger BERGZWO GmbH. Er realisierte zahlreiche Ausstellungen und Publikationen, u.a. für das Auswärtige Amt, die Bertelsmann-Stiftung, das Deutsche Historische Museum, die Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, die Stiftung Berliner Mauer oder das Stasi-Museum Berlin. Christoph Kreutzmüller, Jg. 1968, ist Kurator des Jüdischen Museum Berlin. Nach einer Lehre zum Bankkaufmann schloss er ein Lehramtsstudium in Geschichte und Englisch ab. 2004 schloss er seine Promotion zum Finanzplatz Amsterdam und den deutschen Großbanken 1918 bis 1945 ab. Anschließend koordinierte er das Projekt Jüdische Gewerbebetriebe in Berlin 1930 bis 1945, aus dem die preisgekrönte Publikation Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930-1945, Berlin 2012 hervorging. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz organisierte er u. a. die Konferenz zum 80. Jahrestag der „Nürnberger Gesetze“. Neben zahlreichen Aufsätzen war er auch an den Bänden Berlin 1933-1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus, München 2013 sowie Ein Pogrom im Juni. Fotos antisemitischer Schmierereien in Berlin (1938), Berlin 2013 beteiligt. DAS PROGRAMM 16. Oktober 2015 19.30 Uhr DR. WOLFGANG FORM 30. Oktober 2015 19.30 Uhr DR. KLAUS BÄSTLEIN 6. November 2015 19.30 Uhr DR. CHRISTIAN DIRKS 27. November 2015 19.30 Uhr ÉVA FAHIDI-PUSZTAI 11. Dezember 2015 19.30 Uhr DR. CHRISTOPH KREUTZMÜLLER Alliierte Kriegsverbrecherprozesse und die juristische Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen im deutsch/deutschen Vergleich. Tatsachen, Legenden und ein verhängnisvoller Betriebsunfall Geschichtspolitik und NS-Strafverfolgung im deutsch/deutschen Systemkonflikt: Verfahren zu Auschwitz, Buchenwald und Mittelbau-Dora Recht und Gerechtigkeit nach dem Zivilisationsbruch? Die Erfahrung von Auschwitz und der Gröning-Prozess Zur gesellschaftlichen und juristischen Wirkungsgeschichte der „Nürnberger Rassegesetze” in Deutschland Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora www.werkraum-media.de GESCHICHTSPOLITIK UND NS-STRAFVERFOLGUNG IM DEUTSCH/DEUTSCHEN SYSTEMKONFLIKT: VERFAHREN ZU AUSCHWITZ, BUCHENWALD UND MITTELBAU-DORA DR. CHRISTIAN DIRKS (BERLIN) FR | 6. 11. 2015 | 19.30 UHR TouristInformation Gesellschaft für Wirtschaftsförderung, Kongress- und Tourismusservice 16. | 30. OKTOBER 6. | 27. NOVEMBER 11. DEZEMBER 2015 JEWEILS 19.30 UHR TOURIST-INFORMATION WEIMAR VORTRAGSREIHE Landeszentrale für politische Bildung Thüringen der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen in Verbindung mit dem Förderverein Buchenwald e. V. und der Stadt Weimar 80 Jahre nach der Verkündung der nationalsozialistischen „Nürnberger Gesetze“ Förderverein Buchenwald e. V. Kontakt: Gedenkstätte Buchenwald Ansprechpartner: Dr. Philipp Neumann-Thein Telefon: 03643/430 156 E-Mail: [email protected] www.buchenwald.de Tourist-Information Weimar GmbH NATIONALSOZIALISMUS UND JUSTIZ 1933 BIS 2015 GRUSSWORT DES OBERBÜRGERMEISTERS DER STADT WEIMAR STEFAN WOLF VORTRAGSREIHE Liebe Weimarerinnen und Weimarer, sehr geehrte Gäste unserer Stadt, Bereits in die Vorbereitung und Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland waren zahlreiche Juristen eingebunden. Sie dehnten die Rechtsauslegung und Strafpraxis gemäß ihrer weltanschaulichen Orientierung aus und nahmen unmittelbar Einfluss auf die rassistische Ausgestaltung der deutschen Gesellschaft. Die im Auftrag Adolf Hitlers ausgearbeiteten und am 15. September 1935 in Nürnberg verkündeten „Rassegesetze“ degradierten Jüdinnen und Juden ganz offiziell de jure zu Menschen minderen Rechts. „Furchtbare Juristen“ fanden sich überall: in der Regierung ebenso wie in Ministerien, Verwaltungen, Ämtern und Behörden. Hans Frank sorgte für die Gleichschaltung der Justiz in Deutschland und wurde als Generalgouverneur zum „Schlächter von Polen“, Hans Globke gehörte zu den Mitverfassern und Kommentatoren der „Nürnberger Gesetze“, Ernst Kaltenbrunner und Werner Best führten im Reichssicherheitshauptamt u. a. die Aktivitäten der Gestapo und der in den besetzten Ostgebieten mordenden „Einsatzgruppen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Juristen nur in Ausnahmefällen für ihre Beteiligung an den NS-Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Die meisten von ihnen setzten ihre Karrieren nahezu ungebrochen fort – mit jahrzehntelangen Nachwirkungen auf das Rechtssystem der Bundesrepublik: Männer wie Best und Globke nahmen hinter den Kulissen Einfluss auf Gesetzgebung und Gerichtsverfahren. Sie erschwerten so ebenso erfolgreich die Strafverfolgung von NS-Tätern wie die Entschädigung ihrer Opfer. Dadurch ging nicht zuletzt auch die überwiegende Mehrheit der NS-Täter aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora straffrei aus. Die wenigen bundesrepublikanischen Verfahren mussten engagierte Staatsanwälte wie Fritz Bauer gegen erhebliche Widerstände durchsetzen. Die DDR wiederum ordnete die Verfolgung von NS-Tätern eigenen politischen Prämissen unter. Zwar trug beispielsweise das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seit Anfang der 1950er Jahre auch umfangreiche Unterlagen zu NS-Tätern zusammen. Für deren konkrete Verwendung waren aber keineswegs nur Kriterien der Strafverfolgung ausschlaggebend. So verfügte das MfS beispielsweise seit Anfang 1969 über detaillierte Kenntnisse zum in der BRD lebenden, mutmaßlichen Thälmann-Mörder Erich Gust. In Ostberlin wurde aber entschieden, nicht dessen Verurteilung anzustreben, sondern den weiterhin ungeklärten Mordfall im deutsch/deutschen Systemkonflikt propagandistisch auszunutzen. Den 1967 bis 1969 in Essen geführten Prozess zum Der preußische Justizminister Hanns Kerrl (Mitte) mit Rechtsreferendaren in Jüterbog im August 1933 (Bundesarchiv, Bild 102-14899 / Fotograf: Georg Pahl / Lizenz CC-BY-SA 3.0) Tatkomplex KZ Mittelbau-Dora versuchte die SED-Führung ebenfalls für ihre Zwecke zu funktionalisieren. Nachdem 1979 der Deutsche Bundestag die Verjährung für Mordfälle zwischen 1933 und 1945 endgültig aufgehoben hatte, veränderten sich nach 1990 die Rahmenbedingungen für die Verfolgung von NS-Verbrechern noch einmal nachhaltig. Doch erst die weitere juristische Auslegung von Mittäterschaft in den Konzentrations- und Vernichtungslagern nach der Jahrtausendwende ermöglichte die jüngsten Strafprozesse gegen John Demjanjuk und Oskar Gröning. Die meisten Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen konnten sie nicht mehr erleben. Im Rahmen der Reihe greifen ausgewiesene Experten die geschilderte Problematik in ihren Vorträgen anhand konkreter Beispiele auf und stehen anschließend dem Publikum für Rückfragen und Diskussion zur Verfügung. Mit Éva Fahidi-Pusztai konnte auch eine Überlebende von Auschwitz und Buchenwald gewonnen werden. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern berichtet sie über die juristischen Möglichkeiten und Grenzen der Ahndung von NS-Verbrechen. in seinem Buch „Der Fall Collini“ schildert Ferdinand von Schirach, übrigens ein Enkel des in Weimar aufgewachsenen Nazi-Verbrechers Baldur von Schirach, folgenden Dialog zwischen einem jungen und einem älteren Anwalt, die über die Ermordung eines Nazi-Schergen Jahrzehnte nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reiches verhandelt hatten: Der Ältere: „Richter dürfen nicht danach entscheiden, was gerade politisch korrekt erscheint. Wenn Meyer [der Nazi-Scherge] damals richtig handelte, können wir ihm auch heute keinen Vorwurf machen.“ … „Ich glaube, Sie täuschen sich“, erwidert der jüngere Anwalt. „Was Meyer getan hat, war immer objektiv grausam. Dass Richter der Fünfzigerund Sechzigerjahre vielleicht für ihn entschieden hätten, ändert daran nichts. Und wenn sie es heute nicht mehr täten, heißt das nur, dass wir weitergekommen sind.“ Der Ältere darauf: „Genau das meine ich: Zeitgeist. Ich glaube an die Gesetze, und Sie glauben an die Gesellschaft. Wir werden sehen, wer am Ende recht behält.“ Dieser kurze Dialog zeigt auf, vor welchen Problemen die deutsche Justiz in ihrem Selbstverständnis heute noch angesichts der auch von ihr mit verschuldeten Verbrechen im sogenannten Dritten Reich steht. Millionen Deutsche hatten während der Nazizeit geschwiegen, Hunderttausende das Böse aktiv unterstützt – darunter fast die gesamte deutsche Richterschaft. Neben vielen anderen mahnen „Die furchtbaren Juristen“ von Ingo Müller uns und besonders auch die deutsche Justiz noch heute, dies nicht zu vergessen. Wo wären wir ohne Fritz Bauer, dem es Anfang der 1960er Jahre gelang, die Auschwitz-Prozesse auf den Weg zu bringen und damit auch eine harte Diskussion über Justiz und Juristen des „Dritten Reiches“? Dass dies keine Themen von gestern sind, hat der Gröning-Prozess in den vergangenen Monaten noch einmal sehr deutlich gezeigt. Ich freue mich, nicht zuletzt als Jurist, vorrangig jedoch als Oberbürgermeister der mit der Nazidiktatur auf das Unseligste verbundenen Stadt Weimar, dass in der anstehenden Vortragsreihe „Nationalsozialismus und Justiz“ neben vielem anderen auch diese Aspekte eingehend beleuchtet werden. Ihnen, den Veranstaltern und den Beteiligten der diesjährigen Reihe wünsche ich spannende Vorträge und erhellende Diskussionen. Ihr Stefan Wolf, Oberbürgermeister der Stadt Weimar ALLIIERTE KRIEGSVERBRECHERPROZESSE UND DIE JURISTISCHE VERFOLGUNG VON NS-VERBRECHEN IN DER BUNDESREPUBLIK DR. WOLFGANG FORM (MARBURG) FR | 16. 10. 2015 | 19.30 UHR DIE STRAFVERFOLGUNG VON NS-VERBRECHEN IM DEUTSCH/DEUTSCHEN VERGLEICH. TATSACHEN, LEGENDEN UND EIN VERHÄNGNISVOLLER BETRIEBSUNFALL DR. KLAUS BÄSTLEIN (BERLIN) FR | 30. 10. 2015 | 19.30 UHR Schon während des Zweiten Weltkrieges diskutierten Politiker, Diplomaten und Juristen der Alliierten über die Verfolgung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen. Mit der Moskauer Deklaration (Oktober 1943) wurde statuiert, dass solche Verbrechen in den Regionen strafrechtlich verfolgt werden sollten, in denen sie begangen wurden. Den Umgang mit Hauptkriegsverbrechern vertagte man auf eine spätere gemeinsame Entscheidung. Sie wurden dann in Nürnberg und Tokio vor Gericht gestellt. Nach der Befreiung Europas sind in Deutschland und allen ehemals besetzten Ländern Tausende alliierte Kriegsverbrecherprozesse geführt worden. Aber auch in den vier Besatzungszonen haben deutsche Gerichte NS-Verbrechen strafrechtlich verfolgt. Sie waren bis Anfang der 1950er Jahre ausschließlich für Verfahren mit deutschen und staatenlosen Opfern zuständig. Das änderte sich mit der zunehmenden rechtlichen Autonomie der jungen Bundesrepublik deutlich. Zug um Zug erweiterten die Anklagebehörden ihren Fokus. Wichtige Meilensteine sind 1958 der Ulmer Einsatzgruppen- und der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965. Endpunkte sind die Verfahren wegen der Mitwirkung an Verbrechen in den Konzentrationslagern gegen Demjanjuk, Gröning u. a. ab 2011. Die Darstellung der Strafverfolgung von NS-Verbrechen lebt von Legenden. So wurde etwa die „Zentrale Stelle“ in Ludwigsburg 1958 weniger „zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ geschaffen; vielmehr sollte sie Ermittlungen gegen als „kleine Befehlsempfänger“ eingestufte Täter einschränken. In der DDR bestimmte das MfS keineswegs die NS-Strafverfolgung. Und es gab auch kein „Reservoir“ von NS-Tätern zur Propaganda gegen die BRD. Dort wurden allerdings tatsächlich zahllose „Befehlsempfänger“ nicht juristisch verfolgt, weil sie lediglich auftragsgemäß gemordet hatten. So gesehen kam es bei John Demjanjuk zu einem verhängnisvollen Betriebsunfall. Juristisch ist sein Fall, wie der von Oskar Gröning, ein Debakel, weil kein Tatnachweis geführt werden konnte. Gerade angesichts dieser unter breitestem öffentlichem Interesse gleichsam als „Schauprozesse“ geführten Verfahren muss an das weitgehende Versagen der westdeutschen Justiz bei der NS-Strafverfolgung erinnert werden. Der Vortrag stützt sich dabei auf die Forschungen des niederländischen Strafrechts-Experten Professor Dr. Christiaan Frederik Rüter. Er ist Herausgeber der berühmten „Amsterdamer Sammlung“, die alle 3224 west- und ostdeutschen Urteile wegen NSTötungsverbrechen umfasst. Dr. Wolfgang Form ist Mitbegründer und seit 2003 Geschäftsführer des Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg. Sein Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und des Öffentlichen Rechts schloss er 1986 mit dem Diplom ab. Anschließend war er Wissenschaftlicher Angestellter in Stadtallendorf, an der Universität Mainz und dem Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden. Als Projektleiter des Fachbereichs Rechtswissenschaften betreute er mehrere Drittmittelprojekte zur NS-Justiz in Deutschland und Österreich. Wolfgang Forms Forschungsschwerpunkte sind unter anderem NS-Justiz und -Militärjustiz sowie Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu seinen bekanntesten Publikationen gehört NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938-1945 (hg. in Zusammenarbeit mit Wolfgang Neugebauer und Theo Schiller). Dr. Klaus Bästlein, Jg. 1956, ist Volljurist und promovierter Historiker. Er wuchs in Nordfriesland auf und studierte an der Freien Universität (FU) Berlin. Er war bei der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der Justizbehörde Hamburg und der Senatsverwaltung für Justiz in Berlin angestellt. Seit 2008 ist er Referent für politischhistorische Aufarbeitung beim Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, daneben Tagungsleiter der Deutschen Richterakademie. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören Vom NS-Täter zum Opfer des Stalinismus. Dr. Walter Linse. Ein deutscher Jurist im 20. Jahrhundert, Berlin 2008 und Der Fall Mielke. Die Ermittlungen gegen den Minister für Staatssicherheit der DDR, Baden-Baden 2002. Demnächst erscheint unter dem Titel NS-Verbrechen ohne Ahndung seine Gesamtdarstellung des Umgangs mit der NS-Gewaltkriminalität.
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