Nächtliches Gedankengewitter

Coverstory
,
Nächtliches
Gedankengewitter
Wir verschlafen ein Drittel unseres Lebens und wissen jedoch
nicht viel über das Kino, das sich in der Nacht – wenn man denn
kein Tagschläfer ist – in unserem Kopf abspielt. Luxemburg
schläft schlecht. Schlafmittel gehören zu den meistgekauften
Medikamenten in unserem Land. revue geht dem Schlaf nach.
Text: Mady Lutgen ([email protected]) / Fotos: Philippe Reuter, Kaspars Grinvalds/Fotolia, ALDECAstudio/Fotolia,
Gretel S. Diaz
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revue 05/2016 15
Coverstory
C
onny schaut zum zehnten
Mal auf den Wecker. Es ist
zwei Uhr in der Nacht. Die 40-Jährige kann
mal wieder nicht einschlafen. Das geht
schon seit Wochen so. Immer wieder geht
sie in Gedanken ihre Alltagsprobleme durch
und findet keine Ruhe. Dann stresst sich die
Bankangestellte selber, um endlich einzuschlafen, da sie zweifelt, ob sie ohne Schlaf
den folgenden Arbeitstag bewältigen kann,
und wird nervös. Diese Nacht bekommt die
Schlafgestörte wieder keinen ausreichenden
Schlaf. „Jeder von uns kann mindestens
einmal in seinem Leben nicht ein- oder
durchschlafen, erst dann bemerken wir,
was Schlaf überhaupt bedeutet, wie es ist,
wenn man nicht gut schläft, und wie selbstverständlich wir ihn erleben“, erklärt der
luxemburgische Schlafforscher Daniel Neu.
Aber warum schlafen wir denn überhaupt? Jeden Tag entstehen in unserem
Körper Hunderte Millionen Zellen. Die Zellteilung läuft in Ruhephasen bis zu zehnmal
schneller ab. Alte, verbrauchte Zellen werden entsorgt, andere repariert. Im Besonde-
ren während des Schlafes reparieren sich bestimmte Körper- und Nervenzellen. Nachts
verarbeitet unser Gehirn zudem die Erlebnisse des Tages, und auch das Immunsystem
regeneriert sich. Das Gehirn entsorgt vor allem im sogenannten Tiefschlaf verschiedene
Abbauprodukte des Stoffwechsels. Erlerntes
wird besser gespeichert. Das Unbewusste
dringt durch und wir verarbeiten unsere
Emotionen. Deshalb können verstärkt Ängste auftauchen, welche tagsüber verdrängt
werden. Ein Drittel der Träume kann dadurch negative Gefühle beinhalten.
Schlafmittel sind die mitunter meist gekauften Medikamente in Luxemburg. „Es
gibt jedoch gar kein Medikament, das einen,
mit Garantie, sofort schlafen lässt. Schlaf
kann man nicht per Knopfdruck erzwingen, genauso wenig wie den Wachzustand.
Das sind regelmäßig wechselnde und größtenteils autonome Prozesse unseres Hirns.
Medikamente können einen sedieren, aber
nicht von einem Moment auf den anderen in
den Schlaf versetzen. Außerdem ist weniger
Schlaf ohne Schlafmittel vermutlich durch-
aus gesünder als viel Schlaf (Sedierung) mit
einem Medikament. Ab und zu kann man, in
bestimmten Fällen, auch zu gewissen Schlafmitteln greifen, es sollte aber die Ausnahme
bleiben“, erläutert Dr. Neu, Chefarzt des
Schlaflabors des Universitätsklinikums Brugmann der Freien Universität Brüssel (U.L.B.).
Sobald sich körperliche oder psychische
Symptome bemerkbar machen, kann man
von einer Schlafstörung sprechen. Die am
meisten verbreiteten Störungen sind die
Insomnien. „Es gibt die einen, denen alles
egal ist. Diese gehen auch locker mit einer
Schlafstörung um. Andere machen sich darüber Gedanken und dann kann können Teufelskreise entstehen. Phasen, in denen man
schlecht schläft, gehören aber wahrscheinlich auch zum Leben dazu“, gibt Daniel Neu
zu bedenken. Auch nicht jeder, der in der
Nacht aufwacht, ist schlafgestört. Das mehrfache Aufwachen gehört sogar in gewisser
Weise zum Schlafzyklus dazu. Wir vergessen das Aufwachen aber meistens, vor allem
wenn es weniger als zwei bis drei Minuten
andauert. Bis zu 15 Mal können wir so in
Schlaf oder Wachzustand
Menschen durchleben immer wieder drei Phasen: Den Wachzustand, die REMSchlafphase (englisch von Rapid Eye Movement) und die Nicht-REM-Schlafphase.
Hauptsächlich während der REM-Phase träumen wir und unser Körper ist
gelähmt, damit wir die Sachen, die wir träumen, nicht wirklich tun. In der
Tiefschlafphase, die während der Nicht-REM-Schlafphase stattfindet, gibt es auch
Hirnaktivitäten, die Träumen ähneln, aber eher Gedanken sind. In diesem Zustand
können wir auch schlafwandeln, was an sich kein schlimmes Problem darstellt.
Man sollte nur sichergehen, dass man sich oder anderen keinen Schaden zufügen
kann. Das Schlafwandeln kommt vor allem häufig bei Kindern vor. Unser Gehirn
ist nie ausgeschaltet, das heißt, dass wir immer in irgendeiner Form mental aktiv
sind. Jedoch nur in der REM-Phase träumen wir die richtigen Geschichten, an
die wir uns beim Aufwachen auch erinnern können. Manche Menschen können
sich nie an ihre Träume erinnern. Die Tiefschlafphase dauert am Anfang des
Schlafstadiums am längsten, die REM-Phase ist dann am kürzesten. Dies ändert
sich in den frühen Morgenstunden, dann werden die REM-Phasen länger bis wir
aufwachen. Ein Schlafzyklus, welcher aus den Nicht-REM-Phasen Tiefschlaf und
Leichtschlaf sowie der REM-Phase besteht, dauert ca. 90 Minuten. Dieser Zyklus
wiederholt sich dann mehrmals durch die ganze Nacht.
Hypnogramm
Typisches Schlafverhalten bei Erwachsenen
Wachphase
REM-Phase
leichter Schlaf
Nicht-REMPhase
„ Schlaf kann
Tiefschlaf
man nicht per
Knopfdruck
erzwingen.
Uhrzeit/Stunden
0.00
1.00
2.00
3.00
4.00
5.00
6.00
7.00 8.00
“
Daniel Neu, Somnologe
Nonstop: Dr. Daniel Neu
und sein Team arbeiten
rund um die Uhr im
Schlaflabor der Universitätsklinik
Brugmann in Brüssel
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einer Nacht wach werden. Der Schlafzyklus
kann sich auch ganz individuell umstandsbedingt verändern, z.B. bei Müttern, welche
mehrfach in der Nacht durch ihr Baby aufgeweckt werden.
„ In Luxemburg
mangelt es
nicht an
Schlafgestörten.
“
Gil Wirtz, Pneumologe
„Unser Gehirn holt sich letztlich aber
meistens immer das, was es minimal
braucht. So kann ich auch nicht sagen, ab
welchem Zeitpunkt und wann wir genau
sterben würden, wenn wir als Mensch gar
nicht schlafen würden. Erstens habe ich
niemanden gefunden, der ein solches Experiment in letzter Konsequenz mitmachen
würde, und zweitens ist ein solches Experiment (kontrollierter, tagelanger, vollständiger Schlafentzug) ethisch nicht verantwortbar“, verlautet es von Dr. Neu. „Vor allem
Studenten machen gerne während der Examenszeit ganze Nächte durch, aber haben
sie nicht manchmal auch Sekundenschlaf,
von dem sie nichts mitbekommen haben?
Das kann man also nicht genau sagen. Außerdem hängt das auch wieder von Person
zu Person ab“, bemerkt der Somnologe.
Nach drei Stunden haben wir übrigens
den für uns wertvollsten Schlaf meist gänzlich absolviert. Es gibt Langschläfer, welche
bis zu elf Stunden schlafen und Kurzschläfer,
welchen drei Stunden reichen. Die meisten
Menschen schlafen zwischen sechs einhalb
und acht Stunden. „Wie viel Schlaf wir
brauchen, hängt auch von unserer Genetik
ab und kann nicht ab- oder antrainiert werden“, so Daniel Neu. In das Schlaflabor der
Universitätsklinik werden Patienten mit den
unterschiedlichsten Schlafstörungen eingewiesen – es gibt über 85 verschiedene Diagnosen – und weiterführend behandelt. Die
Ursachen für die Probleme können ganz unterschiedlicher Natur sein. Dr. Neu und sein
Team beobachten die Schlafenden während
einer ganzen Nacht, zeichnen die Hirnstromaktivität, Muskelaktivität, Atemwegsfunktion, Herzrhythmus mit Infrarot-Videografien
auf und messen auch den Sauerstoff- und
Karbondioxidgehalt im Blut. „Vor allem chronischen Insomniepatienten raten wir, einen
Therapeuten oder Schlafcoach aufzusuchen.
Hier hilft vor allem eine speziell angepasste
Verhaltenstherapie“, lässt uns der Schlafexperte wissen.
Auch in Luxemburg gibt es Schlaflabors,
im „Centre Hospitalier“ in Luxemburg-Stadt,
in Niederkorn und in Wiltz. Im Durchschnitt
muss ein Patient mindestens ein halbes Jahr
auf ein Bett im Labor warten. „In Luxemburg mangelt es nicht an Schlafgestörten“,
betont der Pneumologe Dr. Gil Wirtz. Mehr
als die Hälfte aller Schlafstörungen sind Vorboten oder Begleitsymptome psychischer
Erkrankungen. Bei fast allen Formen können
Gut besucht: Mehr als ein halbes Jahr
muss man auf ein Bett im Schlaflabor
des „Centre Hospitalier Luxembourg“ warten.
Ein spezielles Gebiss für die Nacht kann
manchen Schlaf-Apnoe-Erkrankten helfen.
Hier finden Sie Hilfe bei Schlaflosigkeit
Qualvolle Erholung
• www.sleeplikeababy.lu
Die 34-jährige Carole leidet seit zehn Jahren an einer Schlafphobie. Sie hat Angst vor dem Schlaf.
• „Clinique des Troubles Emotionnels“
im „Centre Hospitalier de Luxembourg“
Tel.: +352 4411-6370
Fax: +352 4411-6371
E-Mail: [email protected]
Wann hat sich die Angst bemerkbar gemacht?
Als ich Studentin war und in der Nacht vor einem Examen
meine erste richtige Panikattacke erlebte, war plötzlich auch
die Angst vor dem Schlafen da.
• Schlaflabor im „Centre Hospitalier de Luxembourg“
Tel.: +352 4411-6199
Fax: +352 4411-6952
E-Mail: [email protected]
• Sleep Laboratory & Unit for Chronobiology
Brugmann University Hospital – Université Libre de Bruxelles
Tel.: +32 2 477 25 54
Fax: +32 2 477 21 62
Wie hat sich diese Phobie auf Ihr Leben ausgewirkt?
Die ersten Jahre nach dieser schrecklichen Erfahrung schlief ich
nur, wenn ich es vor Müdigkeit nicht mehr aushielt, dann immer
nur zwei bis drei Stunden. Jetzt, nach zehn Jahren mit dieser
Krankheit, kann ich noch immer nicht mit anderen Menschen
zusammen in einem Raum schlafen. Die Angst besteht mal mehr,
mal weniger. Manchmal schlafe ich auch ganz normal, dies aber
leider sehr selten.
Sie haben durch diese Panik auch Angst,
nicht schlafen zu können?
Wenn ich nicht schlafen will, kommt zusätzlich der Druck,
den Tag darauf mit wenig Schlaf nicht zu schaffen.
Was machen Sie gegen diese Angst?
Ich habe schon etliche Therapien hinter mir. Eine
Gruppentherapie im „Centre Hospitalier“ hat mir geholfen,
besser mit der Angst umzugehen. Wenn es mir gut geht, kann
ich auch schlafen. Die EMDR-Traumatherapie soll mir in Zukunft
Linderung der Symptome bringen. Es geht darum, an die Wurzel
des Traumas zu gelangen und diese dann zu verarbeiten.
Was ist das Schlimmste für Sie?
Wenn ich erzähle, dass ich Angst vor dem Schlaf habe,
versteht das keiner, da die meisten Menschen den Schlaf
als angenehm empfinden.
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da die Patienten sich wohlfühlen sollen. „Natürlich schlafen die Menschen hier nicht so
gut wie bei sich zuhause, doch jeder schläft
irgendwann ein und ich kann meine Untersuchungen fortsetzen“, vermerkt Wirtz.
Ein- und Durchschlafstörungen auftreten.
Oft betroffen sind Menschen mit Depressionen, bei denen neben Ein- und Durchschlafstörungen ganz typisch ein Erwachen
in den frühen Morgenstunden stattfindet,
nach welchem die Patienten nicht wieder
einschlafen können. Bei Angstzuständen
ist das Einschlafen stark gestört. Aber auch
neurologische Erkrankungen wie Multiple
Sklerose, Parkinson, Epilepsien und Gehirntumore oder ein Schlaganfall führen zu
Schlafstörungen. Bei dem „Restless Legs“Syndrom lassen ruhelose Beine zwischen
fünf und zehn Prozent der Bevölkerung in
ihrem Leben nicht einschlafen.
Nächtliche Atmungsstörungen betreffen zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung.
Schnarchen, ein Alarmsymptom für nächtliche Atmungsstörungen, ist sogar noch wesentlich häufiger, muss aber nicht gesundheitsschädlich sein und kann nur den Schlaf
des Partners stören. Während des Schlafes
erschlafft die Muskulatur, auch die der Atemwege, was das Schnarchen auslösen kann.
Christine Hansen startete vor kurzem ihr
Schlafcoaching für Babys und wird in Zukunft
auch Erwachsene beraten: „Ich werde oft angesprochen, ob ich auch Erwachsene beim
Schlaf coachen kann. Der Alltagstress lässt
uns auch in der Nacht keine Ruhe. Es gibt
Nachteulen und Lerchen. Jeder hat einen
anderen Rhythmus. In unserer Gesellschaft
„ Eine Besserung des Schlafes
Alles Wissenswerte über
das Schlummern
Keine Ausnahme
Schlafmittel sind
die mitunter
meist gekauften
Medikamente in
Luxemburg.
Menschen, die schnarchen, weisen aber
während des Schlafens nicht selten auch
Atempausen auf. Während solcher Pausen,
die als Apnoen bezeichnet werden, kommt
es zu einer Abnahme des Sauerstoffgehalts
im Blut. Solche Atempausen, die bei schwer
betroffenen Patienten viele hundert Mal pro
Nacht vorkommen, stören nicht nur den
Schlaf, sondern führen jedes Mal zu einer
erheblichen Stressreaktion mit Ausschüttung von Stresshormonen. „Solche Apnoen
sind gefährlich für die Gesundheit, können
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere Bluthochdruck, hervorrufen und durch
die starke Müdigkeit die Lebensqualität des
Patienten beeinflussen“, erklären Wirtz und
Neu. Den Apnoen-Leidenden kann mit einer
Beatmungsmaske geholfen werden, die Lebensqualität verbessert sich. Die Zimmer im
Schlaflabor ähneln denen aus einem Hotel,
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wird unser natürlicher Rhythmus leider
nicht berücksichtigt. Wenn eine Nachteule
früh morgens aufstehen muss, liegt das nicht
in ihrer Natur“, erklärt sie. Auch soll jeder,
der Schlafprobleme hat, sich an eine strikte
Schlafhygiene halten. „Für einen gesunden
Schlaf muss man sich mit sich selbst auseinandersetzen, das ist für viele nicht einfach“
bemerkt die junge Mutter. Doch der Schlaf
kann, laut Hansen, positiv durch ihr Coaching beeinflusst werden. „Eine Besserung
tritt nicht sofort ein, ist aber nach einiger Zeit
spürbar.“
tritt nicht sofort ein, ist aber
nach einiger Zeit spürbar.
“
Christine Hansen, Schlafcoach
Auch Tiere sind nicht immer wach. Giraffen schlafen zum Beispiel nur 30 Minuten
am Tag, manche Fledermäuse dagegen 20 Stunden. Selbst Insekten machen ein
Nickerchen. Wale und Delfine können mit einer Gehirnhälfte schlafen und mit der
anderen wach sein. Sogar Fische ruhen sich aus.
Die verschiedenen Traumarten
Erlebnisträume: In ihnen verarbeiten wir die Erlebnisse eines Tages.
Körperträume: Sie sind oft als Warnungen aufzufassen, gesundheitliche Störungen und
Krankheiten können sich in ihnen mitteilen.
Angst- und Alpträume: Hier kommen unterbewusste Ängste hoch. Oft werden wir
verfolgt, fallen in den Abgrund oder träumen vom Tod.
Glücksträume: Sie treten häufig als Ausgleich auf, wenn wir im Alltag Enttäuschungen
hinnehmen mussten.
Luzidträume: Bei einem luziden Traum ist dem Menschen bewusst, dass er träumt.
Tipps für einen erholsamen Schlaf
• Legen Sie sich nur schlafen, wenn Sie richtig schläfrig sind
• Wenn Sie nicht einschlafen können, stehen Sie wieder auf
und gehen Sie einer Aktivität nach
• Stehen Sie wenn möglich immer zur gleichen Zeit auf
• Essen Sie nicht mehr spät abends
• Das Bett sollte nur zum Schlafen und zum Sex genutzt werden
• Trinken Sie keinen Alkohol und nehmen Sie keine Drogen vor dem Zubettgehen
• Schauen Sie sich keine Filme an, kurz bevor Sie schlafen gehen
• Arbeiten Sie nicht am Laptop vorm Schlafen
• Treiben Sie mindestens zweimal die Woche Sport
• Das Smartphone sollte nicht in Reichweite liegen
• Bei Schlaflosigkeit ruhig bleiben: Der Körper holt sich den Schlaf, den er braucht,
machen Sie sich nicht nervös
• Schauen Sie nicht auf die Uhr während der Nacht
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