Haben Tiere Rechte

Menschenrechte für Menschenaffen
Dieter Birnbacher
1. Alte und neue Argumente für und gegen Tierrechte
Die Forderung nach Rechten für Tiere ist keineswegs neu. Bereits zu Hochzeiten der
Aufklärung, genauer: im Jahr 1787, forderte Wilhelm Dietler in einem in Mainz erschienenen
Traktat mit dem Titel "Gerechtigkeit gegen Thiere" die Anerkennung von Tierrechten ein.
Die Autorin des Nachworts zur Neuausgabe von 1997, Manuela Linnemann, vermutet, dass
Dietler als erster den deutschen Terminus "Tierrechte" verwendete. 1 Diese Rechte sollten
nach Dietler nicht so weit gehen, dass es dem Menschen verboten wäre, Tiere zu seiner
Nahrung und zu seiner Sicherheit zu töten. Aber der Mensch solle die Tiere lediglich "auf die
schnellste, gelindeste, schmerzenloseste Art" töten dürfen. Auch dürfe er sie nicht allein zum
Zweck des Vergnügens jagen oder seine Launen an Haustieren abreagieren.
Während es sich bei den von Dietler postulierten Rechten um moralische, nicht unmittelbar
justiziable Rechte handelte, wurde kurz darauf für Tiere auch die Anerkennung juridischer,
gesetzlicher oder anderweitig im Rechtssystem verankerter Rechte gefordert. Einer der ersten
war der Hegelianer Karl Christian Friedrich Krause, bekannt durch den südamerikanischen
"Krausismo". In Vorlesungsmanuskripten, die vermutlich zwischen 1820 und 1830
entstanden und später unter dem Titel "System der Rechtsphilosophie" herausgegeben
worden sind, spricht Krause von dem "Recht der Thierheit im Verhältnisse zu dem Rechte
der Menschheit" und weist den Tieren ein "bestimmtes Gebiet ihres Rechts" zu, zu dem u. a.
das Recht auf leibliches Wohlbefinden, das Recht auf Schmerzlosigkeit und sogar das Recht
auf die "erforderlichen Lebensmittel" gehörten. 2
1 Wilhelm Dietler: Gerechtigkeit gegen Thiere, Mainz 1787. Neudruck Bad Nauheim 1997.
2 Karl Christian Friedrich Krause: Das System der Rechtsphilosophie, hrsg. von Karl David August Röder,
Leipzig 1874, 246.
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Seit den Anfängen bei Dietler und Krause sind Rechte der Tiere immer wieder gefordert
worden, und – ähnlich wie in der Geschichte der Menschenrechte – mit in der Zeit
zunehmendem Umfang. Während Krause noch vor dem ethischen Vegetarismus haltmachte
und lediglich forderte, dass Naturgebilde "bloß für Vernunftzwecke insoweit als Mittel
angewandt, gebraucht und verbraucht werden, als es zugleich der Wesenheit und Würde der
Natur gemäß ist", haben spätere Tierschutzdenker und -aktivisten wie Henry Salt, Albert
Schweitzer und Leonard Nelson den weiteren Schritt getan und für Tiere – mit
unterschiedlichen Begründungen – zusätzlich auch ein Lebensrecht im Sinne eines Rechts,
nicht getötet zu werden, postuliert. Seitdem ist der Begriff "Tierrechte" und insbesondere der
Begriff "Tierrechtler" für die Vertreter dieser Rechte unauflösbar mit der Forderung nach
einer weitgehenden Ausdehnung der im allgemeinen Menschen zugestandenen Rechte auf
Tiere verbunden, einschließlich des Rechts auf Lebens, des Rechts auf Schutz vor
Gefangenschaft und des Rechts auf einen würdeangemessenen Umgang.
Zugleich hat eine Ausweitung der geforderten Tierrechte in formaler und prozeduraler
Hinsicht stattgefunden,. Nicht nur ist der Inhalt der geforderten Rechte zunehmend
angereichert worden, die Forderung nach Anerkennung objektiver Rechte für Tiere im Sinne
eines rechtlichen Schutzes bestimmter tierischer Rechtsgüter ist zum Teil auch durch die
Forderung nach der Anerkennung subjektiver Rechten ergänzt worden, d. h. durch die
Zuerkennung einer durch Fürsprecher wahrzunehmenden Klagebefugnis in eigener Sache.
Dennoch stößt Redeweise von "Rechten der Tiere" und erst recht gegen das Vorhaben,
Tieren Rechte oder sogar Grundrechte zuzusprechen, immer wieder auf tiefsitzende
Bedenken und Vorbehalte.
Eines der immer wiederkehrenden Argumente lautet, dass Rechte nur haben kann, wer diese
auch kennen und geltend machen kann. Dazu sind auch die höchstentwickelten Tiere nicht in
der Lage.
- 3 Dagegen ist zu sagen, dass diese Bedingung ist klarerweise zu anspruchsvoll ist. Sie trifft
nicht einmal auf dauerhaft unmündige Menschen zu, denen wir ebenfalls Rechte zusprechen.
Auch verfügen nicht alle Angehörigen der Gattung Mensch über die Fähigkeiten, die die
Vertreter dieses Arguments bei Tieren vermissen: Handlungsfähigkeit, Ich-Bewusstsein oder
Moralfähigkeit.
Ebenso verbreitet ist ein zweites, bis in die Antike zurückgehende Argument: Tiere könnten
deshalb keine Rechte haben oder in anderer Weise "am Gesetz teilhaben", weil sie mit dem
Menschen keinen Vertrag schließen können. Insofern könnten sie nicht zur
Rechtsgemeinschaft des Menschen gehören. 3 Eine sehr grundsätzliche Formulierung dieses
Einwand gibt der griechische Umweltethiker Protopapadakis in einer neueren Publikation:
Aufgabe der Ethik sei die Koordination von Handlungen innerhalb einer moralischen
Gemeinschaft. Moralische Normen seien von Menschen für Menschen geschaffen, um ihre
gemeinsamen Angelegenheiten zu regeln. Wie entstehen innerhalb dieser Gemeinschaft aber
moralische Rechte? Durch einen impliziten Gesellschaftsvertrag (covenant of ethics). Erst
dieser ermögliche es, Rechtsansprüche gegeneinander geltend zu machen. Moralische Rechte
seien Instrumente (tools) für Wesen, die in vertragliche Verhältnisse zueinander eintreten
können. Insofern seien Rechte und Gerechtigkeit Begriffe, die auf das Tier-MenschVerhältnis grundsätzlich nicht anwendbar seien. 4
Es ist jedoch nicht zu sehen, warum Rechte – moralische wie juridische – nicht auch
unabhängig von einem realen oder möglichen Vertragsschluss zugesprochen werden können.
Damit Tiere als Teil der moralischen Gemeinschaft des Menschen betrachtet werden können,
reicht ihre passive Mitgliedschaft aus. Dasselbe gilt für menschliche Föten, Schwachsinnige
oder Angehörige zukünftiger Generationen. 5
3 Vgl. Günter Erbel: Rechtsschutz für Tiere. Eine Bestandsaufnahme anläßlich der Novellierung des
Tierschutzgesetzes, Deutsches Verwaltungsblatt 1986, 1235-1258, 1253.
4 Evangelos D. Protopapadakis: Animal rights, or just human wrongs? In: E. D. Protopapadakis (Hrsg.), Animal
ethics. Past and present perspectives, Berlin 2012, 279-292.
5 Die gegenteilige Auffassung wird vertreten von Thomas Benedikt Schmidt in: Thomas Benedikt Schmidt, Das
Tier – Ein Rechtssubjekt? Eine rechtsphilosophische Kritik der Tierrechtsidee, Regensburg 1996, 56 ff.
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An dieser Stelle setzt ein dritter Einwand ein – dass Tieren nur dann zugesprochen werden
können, wenn sie als Teil der menschlichen Gemeinschaft betrachtet werden könnten.
Menschliche Föten, Schwachsinnige oder Angehörige zukünftiger Generationen erfüllen
diese Bedingung, Sie sind zweifellos "Teil der menschlichen Gemeinschaft", auch wenn sie –
jedenfalls nicht aktuell – ihre Recht geltend machen können. Selbstverständlich haben Rechte
ihre "Wurzeln in der moralischen Welt des Menschen", wie der Tierrechtsgegner Carl Cohen
meint. 6 Aber das heißt nicht, dass sie nicht auf Tiere übertragen werden können.
Ein weiterer, diesmal pragmatischer Einwand lautet, dass die Zuerkennung von Rechten an
Tiere die Wertabstufung zwischen Mensch und Tier einebnet. Er würde zu einer
Nivellierung von Menschen- und Tierrechten führen oder sogar zu einer Herabstufung der
Menschenrechte führen.
Dagegen ist zu sagen, dass auch dann, wenn man Tierrechte anerkennt, es gute Gründe gibt,
dem Menschen eine Sonderstellung und weitergehende Rechte als den Mitgliedern anderer
Gattungen zuzuschreiben. Auch dann etwa, wenn man von dem Prinzip der
Interessengleichheit ausgeht, nach dem gleiche Bedürfnisse und Interessen gleich viel zählen,
gleichgültig ob sich diese bei Menschen oder Nicht-Menschen finden, scheint eine
Ungleichbehandlungen von Menschen und Tieren in einem gewissen Maße gerechtfertigt.
Menschen sind im Allgemeinen leidensfähiger als Tiere. Tod und Leiden werden von
Menschen als schwerwiegender erlebt. Tod und Leiden haben darüber hinaus für Menschen
gravierendere Begleiterscheinungen – einerseits für den Betroffenen selbst, infolge seiner
Fähigkeit zur gedanklichen Vorwegnahme seiner persönlichen Zukunft, andererseits für
andere aufgrund ihrer Fähigkeit und Neigung zur Identifikation. Menschlicher Tod und
menschliches Leiden werfen nicht nur auf das Leben derer, die sie treffen, einen Schatten
voraus, der sich bei Tieren nicht oder nur in Ausnahmefällen findet. Menschliches Leben und
6 Carl Cohen: Haben Tiere Rechte? In: Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft Tierethik Heidelberg (Hrsg.),
Tierrechte. Eine interdisziplinäre Herausforderung, Erlangen 2007, 89-104, 95. Vgl. auch Roger Scruton:
Animal rights and wrongs, London 1996, 90, der die Zuerkennung von Rechten von der Möglichkeit eines
Dialogs mit den Rechteinhabern abhängig macht.
- 5 menschliche Glücks- und Leidenszustände werden von anderen Menschen auch in der Regel
intensiver gespiegelt als ihre tierischen Entsprechungen. 7
Diese berechtigte Abstufung ist in der Geschichte der westlichen Philosophie immer wieder
durch fragwürdige Konstruktionen überhöht worden, etwa die, dass allein der Mensch über
eine unsterbliche Seele verfügt, in der biblischen Tradition durch die Redeweise von der
"Gottesebenbildlichkeit des Menschen", aber auch durch die Kantische Konstruktion einer
"intelligiblen Person", durch die der Mensch mit einem Teil seines Wesens außerhalb der
Naturordnung stehen soll.
In unseren "nachmetaphysischen" Zeiten wird man mit diesen Kategorien kaum noch Gehör
finden. In der Tat berufen sie sich auf Spekulationen und Glaubenssysteme, über die ein
rationaler Diskurs und ein rational begründetes Einverständnis schwer erreichbar scheint.
Stattdessen wird zumeist mit der Biologie, d. h. mit dem Artunterschied zwischen Mensch
und Tier argumentiert. Aber auch diese Argumentation weist erhebliche Schwachpunkte auf.
Erstens ist umstritten, ob der Mensch im biologischen Sinn eine von den Menschenaffen
unterschiedene eigenständige Art ausmacht.
Zweitens ist es wenig plausibel anzunehmen, dass die Artzugehörigkeit als solche für die
Frage nach der ethisch angemessenen Art des Umgangs relevant sein kann. Zweifellos
würden wir die Sonderstellung, die wir gemeinhin Menschen zuschreiben, auch Wesen
anderer Gattungen zuschreiben, wenn diese über die für den Menschen typischen Fähigkeiten
verfügten und ähnliche Bedürfnisse aufwiesen, vor allem wenn sie auch ein dem Menschen
ähnliches Ausdrucksverhalten zeigten.
7 Vgl. Dieter Birnbacher: Gibt es überzeugende Gründe für eine axiologische Sonderstellung des Menschen? In:
Adrian Holderegger/Siegfried Weichlein/Simone Zurbuchen (Hrsg.): Humanismus. Sein kritisches Potential für
Gegenwart und Zukunft. Fribourg/Basel 2011, 99-116.
- 6 Der von Tierrechtlern in diesem Zusammenhang erhobene Vorwurf des "Speziesismus" kann
dabei leicht in die Irre führen: Solange er eine Position bezeichnet, die die bloße biologische
Artunterscheidung für sich genommen für normativ relevant hält, scheint der Vorwurf
berechtigt. Artunterscheidungen sind keine Unterscheidungen "in den Sachen selbst",
sondern sind wesentlich abhängig von Klassifikationssystem menschlicher Herkunft.
Unberechtigt ist der Vorwurf aber immer dann, wenn er voraussetzt, dass deshalb zwischen
den Angehörigen verschiedener biologischer Arten keinerlei normative Unterscheidungen
getroffen werden dürfen. Schließlich können sich die Angehörigen verschiedener
biologischer Art über ihre Artzugehörigkeit hinaus in weiteren normativ relevanten
Merkmalen unterscheiden. Das ist bei Menschenaffen und Menschen zweifellos der Fall.
Menschen verfügen über weitergehende Fähigkeiten als Menschenaffen, und diese können
durchaus normativ einen Unterschied machen.
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2. Was bedeutet "Recht" in "Rechte für Tiere"?
Einem beliebigen Wesen ein Recht auf etwas zuzusprechen, kann – mindestens – dreierlei
bedeuten:
1. dass es etwas tun darf (dass ihm etwas nicht verboten ist),
2. dass es nicht daran gehindert werden sollte, etwas zu tun oder nicht zu tun (dass es ein
bestimmtes Freiheitsrecht hat),
3. dass es etwas Positives bekommen bzw. von etwas Negativem verschont bleiben sollte
(dass es ein bestimmtes Anspruchsrecht hat).
Ad 1. Ob Tiere Rechte in der ersten Bedeutung von "Recht" haben können, ist zweifelhaft,
und bereits aus begriffslogischen Gründen. Rechte in der ersten Bedeutung des Wortes sind
Erlaubnisse. Erlaubnisse können naturgemäß nur für diejenigen gelten, denen man im Prinzip
auch Pflichten zuschreiben kann: Wem etwas erlaubt ist, dem muss auch etwas geboten oder
verboten werden können. Da wir aber von Tieren und anderen Naturwesen nicht annehmen,
dass ihnen moralische oder Rechtspflichten gegenüber dem Menschen oder anderen Tieren
zugeschrieben werden können, lässt sich von Rechten von Tieren in der Bedeutung von
"Erlaubnis" allenfalls in einem uneigentlichen Sinn sprechen, mit Bezug auf die innerhalb
komplexer und hochgradig strukturierter Tiergesellschaften geltenden Quasi-Normen. 8 Mit
Bezug auf solche Quasi-Normen könnte man etwa sagen, dass das Alpha-Männchen in einer
Affenhorde weitergehende Rechte – Vorrechte oder Erlaubnisse – genießt als die übrigen
Gruppenmitglieder.
Ad 2. Rechte im Sinne von Freiheiten setzen weniger voraus. Erforderlich ist nur, dass der
Träger eines solchen Rechts handlungs- und entscheidungsfähig ist, d. h. dass er eine Wahl
8 Siehe H. Kummer: Analogs of morality among nonhuman primates, in: Gunther S. Stent (Hrsg.), Morality as a
biological phenomenon, Berlin 1978 sowie Hubert Hendrichs, Abweichendes Sozialverhalten bei höheren
Wirbeltieren, in: Ernst-Joachim Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, Stuttgart 1985 (Archiv für
Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 22), 149-157
- 8 treffen kann, in der er durch andere beeinträchtigt werden kann. Wie weit den kognitiv
höchstentwickelten Tieren, etwa Menschenaffen, Elefanten oder Meeressäugern wie Walen
und Delphinen Entscheidungsfreiheit im menschlichen Sinne zugesprochen werden kann, ist
umstritten. Gerade deshalb lässt sich aber die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen,
diesen Tieren gegebenenfalls Rechte im Sinne von Freiheitsrechten zuzuerkennen.
Ad 3. Auf weniger begriffliche Schwierigkeiten trifft die Übertragung von Rechten auf Tiere
im Sinne von Anspruchsrechten. Wie Leonard Nelson 9 gesehen hat, kann man einem Tier
durchaus das Recht zuschreiben, vor unnötigen Schmerzen und Leiden verschont zu bleiben
oder artgemäß gehalten zu werden, ohne es ungebührlich zu vermenschlichen und ihm
Präferenzen und Willensregungen in der Form von "Urteilen" oder "bewussten Zwecken"
beizulegen.
Allerdings ist die Zuschreibung moralischer Anspruchsrechte an einige begriffliche
Bedingungen gebunden. Moralische Anspruchsrechte können nach meiner Auffassung nur
dem zugeschrieben werden, der fähig ist, von der Gewährung oder Versagung seines
Anspruchs in irgendeiner Weise subjektiv betroffen zu sein. Insofern ist
Empfindungsfähigkeit eine unabdingbare Bedingung für den Besitz moralischer Anspruchsrechte. Allerdings scheint es hinreichend, wenn die Empfindungsfähigkeit zu einem späteren
Zeitpunkt zu erwarten ist. So kann z. B. ein menschlicher Embryo Anspruchsrechte – z. B.
gegen seine Mutter – haben, insofern er sich normalerweise zu einem empfindungs- und
denkfähigen Wesen entwickelt, dessen objektive Lebensumstände und subjektives Befinden
u. a. auch davon abhängen, wie während der Schwangerschaft mit ihm umgegangen worden
ist. Man kann bereits dem Embryo ein Recht darauf zuschreiben, in keiner seiner
Entwicklung abträglichen Weise behandelt zu werden, sofern man davon ausgehen kann,
dass er andernfalls Schäden davontragen wird, die sich auf ihn, sobald er einmal
bewusstseinsfähig ist, subjektiv negativ auswirken. In demselben Sinn kann man auch den
Angehörigen zukünftiger Generationen Rechte zusprechen, auch dann wenn ihre Identität
9 Leonard Nelson: Kritik der praktischen Vernunft (1917), Hamburg 1972 (Gesammelte Schriften 4), 351.
Leonard Nelson, System der philosophischen Ethik und Pädagogik (1932), Hamburg 1970 (Gesammelte
Schriften 5), 168 f.
- 9 heute noch unbekannt ist. Diese zukünftigen Generationen werden mit Sicherheit leben und
dann Bedürfnisse wie wir haben, die erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Es ist durchaus
nicht abwegig, ihnen insofern bereits heute Rechte zuzusprechen und den Gegenwärtigen die
diesen Rechten entsprechenden Verpflichtungen aufzuerlegen. 10
Es scheint jedoch wenig sinnvoll, einem Wesen ein moralisches Anspruchsrecht
zuzuschreiben, das weder akut noch zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt von der
Erfüllung oder Nichterfüllung seines Anspruchsrechts subjektiv betroffen ist. Ein Wesen, das
weder aktuell noch potenziell empfindungsfähig ist, ist kein mögliches Subjekt eines
moralischen Anspruchsrechts. Von einem Huhn (dem wir Empfindungsfähigkeit
zuschreiben) kann man sinnvollerweise sagen, dass es ein moralisches Recht darauf hat, vor
einer radikalen Instrumentalisierung als Eier- und Fleischproduzent verschont zu bleiben.
Von einer Seidenraupe (der wir keine Empfindungsfähigkeit zuschreiben) wird man dies aber
wohl kaum von sagen können. Die Seidenraupe kommt nicht erst aus normativen, sondern
bereits aus begrifflichen Gründen als Subjekt moralischer Rechte nicht in Frage.
Rechte des einen implizieren Pflichten eines anderen, auch wenn dieser andere nicht immer
eindeutig identifizierbar ist. Wenn ich jemandem eine bestimmte Summe geliehen habe, habe
ich ein Recht darauf, mindestens dieselbe Summe von ihm zu einem späteren Zeitpunkt
zurückzuerhalten. Aber nicht immer steht derjenige, an den mein Recht einklagen kann, so
fest wie in diesem eindeutigen Fall. Bei einem "Recht auf Arbeit" etwas ist nicht in derselben
Weise klar, bei wem genau der Arbeitslose dieses Recht einklagen kann, weil er für die
Einlösung dieses Rechtsanspruchs zuständig ist. Es gibt niemanden, der konkret die diesem
Recht entsprechenden Pflichten übernimmt. (Deshalb wird solchen Rechten zuweilen der
Status von Anspruchsrechten aberkannt. 11) In der Tat bedeutet die Zuschreibung solcher
"Manifesto-Rechte" zumeist, dass man damit allererst die Einrichtung entsprechender
10 Vgl. Dieter Birnbacher: Verantwortung für zukünftige Generationen. Stuttgart 1988, 98-100.
11 Vgl. Winfried Hinsch, Menschenrechte und Pflichtenallokation, in: Thomas Meyer/Udo Vorholt (Hrsg.),
Zivilgesellschaft und Gerechtigkeit, Dortmund 2004, 11-26, 18.
- 10 Zuständigkeiten und die Zuweisung entsprechender Pflichten fordert. Dennoch implizieren
auch solche Rechte Pflichten, wenn auch zunächst nur Pflichten der gesamten Gesellschaft.
Auf der anderen Seite entsprechen nicht allen Pflichten Rechte. Beispiele für moralische
Pflichten, denen keine Rechte entsprechen, sind etwa Pflichten der Wohltätigkeit oder der
Milde. Wenn ich gegen andere Wohltätigkeit übe oder Milde walten lasse, haben in der Regel
diese anderen kein Recht darauf. Kant und Mill haben diese Arten als unvollkommene
Pflichten bezeichnet und mit vollkommenen Pflichten kontrastiert. "Vollkommene" Pflichten
sind insofern vollkommen, als derjenige, dem gegenüber diese Pflichten bestehen, ein Recht
auf die Erfüllung dieser Pflichten hat.
Noch in einer weiteren Hinsicht geht die Zuschreibung von Rechten beim Berechtigten über
die Zuschreibung von Pflichten beim Verpflichteten hinaus. Die Zuschreibung von Rechten
geht anders als die Zuschreibung von Pflichten mit einer besonderen Emphase einher. Diese
verdankt sich der Tatsache, dass wer ein Recht gegen einen anderen hat, in der Regel einen
besonders starken Anspruch gegen diesen anderen hat. Darüber hinaus übernimmt der
Begriff eines Rechts stärker als der Begriff der Pflicht advokatorische Funktionen. Wer von
Rechten spricht, fordert die Erfüllung von Pflichten nicht nur im eigenen, sondern auch im
fremden Namen ein. Außerdem steht es demjenigen, der ein Recht auf etwas hat, frei, sein
Recht bei entsprechender Gelegenheit einzuklagen. 12 Wer ein Recht darauf hat, nicht zu
verhungern, braucht nicht darauf zu warten, dass andere sich ihrer Pflicht erinnern, ihn nicht
verhungern zu lassen, und er braucht auch nicht dankbar dafür zu sein. Ist das Rechtssubjekt
nicht in der Lage, sein Recht in eigener Person einzufordern – wie menschliche Unmündige
oder Tiere – fällt es anderen zu, diese Aufgabe zu übernehmen und sich zu Anwälten
fremder Rechte zu machen.
12 Vgl. Joel Feinberg: Rights, justice, and the bounds of liberty. Essays in social philosophy, Princeton, N. J.
1980, 142.
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3. Abstufungen
Tiere Rechte zuzuschreiben, heißt, ihnen einen besonders starken Anspruch zuzuschreiben.
Dieser Anspruch geht über das Bestehen der entsprechenden menschlichen Pflicht ihnen
gegenüber hinaus. Während eine Verpflichtung allein an den Verpflichteten appelliert, seiner
Verpflichtung nachzukommen, geht von der Zuschreibung eines Rechts ein Appell an alle
aus, die zur Gewährleistung dieses Rechts einen Beitrag leisten können. Die Zuschreibung
einer Pflicht mobilisiert die moralischen Ressourcen des Verpflichteten, die Zuschreibung
eines Rechts mobilisiert die moralischen Ressourcen aller.
Insofern muss ein Recht, um zugesprochen zu werden, in Werten begründet sein, die ein so
großes Maß an Evidenz mit sich führen, dass sie über jeden Zweifel erhaben sind. Rechte
müssen auf einer Wertbasis beruhen, die so weithin Zustimmung findet, dass sie unter allen
Verständigen unbestritten ist. Gibt es eine solche universal konsensfähige Wertbasis?
Ich meine ja, nämlich die u. a. von Bentham und Schopenhauer in den Vordergrund der
Tierethik gerückte Wertbasis der Leidensminimierung. Der Wert des Freiseins von
(unkompensiertem) Leiden scheint mir so unmittelbar evident, dass er sich über allen
Meinungsstreit in der Tierethik erhebt und von keinem tierethischen Ansatz – in deutlichem
Unterschied zu naturschutzethischen Ansätzen – in Frage gestellt wird. Deshalb besteht aller
Grund, leidensfähigen Tieren nicht nur ein Prima-facie-Recht darauf zuzuschreiben, von
Menschen keine Leiden zugefügt zu bekommen, sondern auch darauf, dass ihr anderweitig
verursachtes Leiden so weit gelindert und verhindert wird, wie dies mit Bemühungen um die
Leidensminderung bei Menschen vereinbar ist und die Existenz und Fortexistenz der
jeweiligen Tiergattungen nicht beeinträchtigt.
Sehr viel weniger offensichtlich ist die Zuschreibbarkeit eines tierischen Rechts, vor
Schädigungen bewahrt zu bleiben, die sich in keiner Weise im subjektiven Befinden
auswirken und die insofern nicht durch das Recht auf Leidensminimierung erfasst werden,
sowie die Zuschreibung eines tierischen Lebensrechts. Nicht nur besteht über ein tierisches
- 12 Recht auf Schädigungsfreiheit und ein entsprechendes Recht, nicht getötet zu werden, kein
Konsens (bis auf die Tatsache, dass niemand zulassen möchte, dass leidensfähige Tiere
willkürlich, gedankenlos oder aus Lust an Grausamkeit und Zerstörung getötet werden). Es
ist auch unklar, wie sich ein allgemeines Tötungsverbot für Tiere außer durch die subjektive
Betroffenheit des jeweiligen individuellen Tiers und die seiner Artgenossen plausibel
begründen lässt. 13
Für die Mehrzahl der Säugetiere gilt weitgehend das, was üblicherweise von allen
bewusstseinsfähigen Tieren angenommen wird, nämlich dass sie in der Gegenwart leben und
Lust und Unlust, Schmerzen und Angst, wahrscheinlich auch weitere elementare
Gefühlsregungen wie Freude und Wut empfinden, aber nur in engen Grenzen ein Wissen von
ihrer weiteren Zukunft und auch kein Wissen von Leben und Tod haben.
Für diese Tiere scheinen lediglich die grundlegenden Rechte begründbar, die sich in der
Minimalliste des Farm Animal Welfare Council finden – der Liste der "fünf Freiheiten":
1. Freedom from hunger and thirst
2. Freedom from discomfort
3. Freedom from pain, injury or disease
4. Freedom to express normal behaviour
5. Freedom from fear and distress. 14
Diese Rechte lassen sich durchweg dem Recht zuordnen, von Leidenszufügungen durch den
Menschen verschont zu bleiben. Das ist kein Zufall.
Bereits die Beispiele, die Schopenhauer, wohl der wichtigste philosophische Wegbereiter des
Tierschutzgedankens, als Fälle von Misshandlung von Tieren aufführt, beziehen sich
durchweg auf aktive menschliche Leidenszufügungen wie etwa die grausame Überforderung
von Zugpferden oder die Nutzung von höheren Tieren zu Vivisektionen und nur ganz
13 Vgl. aber Tom Regan: The case for animal rights. London1983 und Andreas Flury: Der moralische Status
der Tiere. Henry Salt, Peter Singer und Tom Regan. Freiburg/München 1999.
14 Farm Animal Welfare Council, http://www.fawc.org.uk/freedoms.htm.
- 13 gelegentlich auch auf Unterlassungssünden wie Vernachlässigung. Bezeichnend dafür ist,
dass bereits Schopenhauer das Vorenthalten möglicher medizinischer Hilfe lediglich im
Zusammenhang mit aktiven Schadenszufügungen, etwa in Tierversuchen diskutiert (die
Schmerzlinderung durch Chlorofomierung bei Operationen), nicht aber eine medizinische
Hilfe auch in anderen Bedarfslagen. Schopenhauer scheint im wesentlichen nur seinen ersten
Grundsatz der Ethik, das neminem laede, auf Tiere anwenden zu wollen, nicht aber auch
seinen zweiten Grundsatz, das omnes quantum potes juva. Zumindest gibt er den negativen
Pflichten in Bezug auf Tiere eindeutig Vorrang vor den positiven. Die den Tieren implizit
zugeschriebenen Rechte sind primär Abwehrrechte.
Ein Recht der Tiere auf medizinische und andere helfende Interventionen bei Leiden und
Schäden, die entweder durch andere Tiere oder durch andere natürliche Faktoren bedingt
sind, ist allerdings weithin anerkannt bei Nutz-, Haus- und Zootieren bzw. bei allen Tieren,
die in engem Kontakt mit dem Menschen leben. Durch ihre Verbindung zum Menschen
gehören sie zum Zuständigkeitsbereich menschlicher Sorge, auch wenn diese Verbindung
nicht primär auf das Wohl der Tiere, sondern auf das eigene Wohl zielt, wie in der Haltung
von Schlachttieren oder der Hege von jagdbarem Wild. So verbietet das deutsche
Tierschutzgesetz in § 3 u. a., „ein im Haus, Betrieb oder sonst in Obhut des Menschen
gehaltenes Tier auszusetzen oder es zurückzulassen, um sich seiner zu entledigen oder sich
der Halter- oder Betreuerpflicht zu entziehen.“
Wo die Grenze zwischen Tieren, die der Sphäre des Menschen angehören, und "wilden"
Tieren genau verläuft, ist allerdings alles als andere als eindeutig, was immer wieder Anlass
zu Fragen und Konflikten gibt. Gehören die Tierherden in den amerikanischen Nationalparks
so weit zur Sphäre des Menschen, dass sie gegen bestimmte Krankheiten geimpft werden
müssen? Ist der Mensch weiterhin um ausgewilderte Bestände verantwortlich, die aus
ursprünglich zu Nutzungszwecken gezüchteten Tierpopulationen hervorgegangen sind, aber
seit längerem "in der freien Wildbahn" leben? 15
15 Vgl. Dieter Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin/New York 2006, 75-77.
- 14 Postulate eines Rechts auf Hilfeleistung auch für wildlebende Tiere sind äußerst selten – aus
verständlichen Gründen, da menschliche Schutz- und Hilfspflichten in diesem Bereich
zwangsläufig mit Naturschutzwerten und -normen kollidieren. Viele Naturschutzethiken
(etwa die von Paul W. Taylor 16) geben Pflichten zur Nichtintervention einen hohen
Stellenwert, so dass sie helfende Interventionen bei Wildtieren konsequenterweise nicht nur
nicht gebieten, sondern nicht einmal zulassen. So erklärt es sich, dass Tierschützer und
Naturschützer weder in der Theorie noch in der politischen Praxis immer "am selben Strang
ziehen". In Deutschland ist Ursula Wolf eine der wenigen Tierethikerinnen, die zumindest
über die Möglichkeit einer Fürsorge auch für wildlebende Tiere nachgedacht haben. 17
4. Selbstbewusste Tiere
Die – allerdings nicht immer eindeutigen und in ihrer Interpretation umstrittenen –
Ergebnisse tierethologischer Beobachtungen sprechen dafür, zumindest Menschenaffen
weitergehende Fähigkeiten zuzuschreiben als anderen Säugetieren. Menschenaffen
beherrschen Werkzeugherstellung und komplexe Formen der Werkzeuggebrauchs, verfügen
über Empathie und Altruismus und zeigen Verhaltensweisen, die darauf schließen lassen,
dass sie Artgenossen innere Vorgänge zuschreiben. Die Tatsache, dass einige in der
Zeichensprache ausgebildete Schimpansen und Orang-Utans den Gebrauch von sprachlichen
Zeichen zur Bezugnahme auf sich selbst erlernt haben, macht es darüber hinaus
wahrscheinlich, dass sie zu einem Selbstbewusstsein, wie wir es von über zweijährigen
Menschenkindern kennen, fähig sind. Selbstbewusstsein ist eng verknüpft mit der Fähigkeit,
in die Zukunft zu blicken und sich selbst als separates Wesen mit einer begrenzten
Lebensdauer zu denken. Auch die Tatsache, dass einige in der Zeichensprache ausgebildete
Schimpansen und Orang-Utans erfolgreich den Gebrauch von sprachlichen Zeichen zur
16 Paul W. Taylor: Respect for nature. A theory of environmental ethics. Princeton, N. J. 1986.
17 Ursula Wolf: Haben wir moralische Verpflichtungen gegen Tiere? Zeitschrift für philosophische Forschung
42 (1988), 222-246, 240 f.: "Es ist vorstellbar, daß menschliche Ansiedlungen sich um kranke Tiere in dem sie
umgebenden natürlichen Bereich kümmern."
- 15 Selbstreferenz erlernt haben, machen es wahrscheinlich, dass zumindest Menschenaffen zu
einem Selbstbewusstsein, wie es von über zweijährigen Menschenkindern kennen, fähig sind.
Das für mich eindrucksvollste Beispiel für die Nähe der intellektuellen Entwicklungsstufe der
Menschenaffen und des Menschen ist eine von dem Philosophen Bernard Rollin berichtete
Geschichte, die hier zur Veranschaulichung zitiert sei:
Einer meiner Freunde ist Tierarzt in einem Zoo, und er hatte mich zu einem Rundgang
eingeladen. Sein besonderer Wunsch war es, mich mit dem weiblichen Orang-Utan
bekanntzumachen. Es war ein sehr heißer Tag, ich hatte meine Jacke ausgezogen und die
Hemdsärmel hochgerollt. Als ich ihren Käfig betrat, nahm sie meine Hand und hielt sie in
festem Griff. Dann hielt sie mein linkes Handgelenk fest und glitt mit dem Finger an einer
tiefen, deutlich sichtbaren Narbe an meinem linken Unterarm entlang, während sie mir direkt
in die Augen blickte. Dann ergriff sie mein rechtes Handgelenk, strich mit demselben Finger
über den unbeschädigten Unterarm und sah mich fragend an. Dann wiederholte sie das gleiche entlang der Narbe. Das Gefühl, daß sie mich nach der Bedeutung der Narbe fragte, wie
ein Kind es tun würde, war unwiderstehlich: so unwiderstehlich, daß ich mich dabei
erwischte, wie ich ihr antwortete, so als würde ich mit einem Ausländer sprechen, der nur
begrenzt Englisch versteht: "Alte Narbe", sagte ich. "Operation. Die Ärzte haben es getan."
Mich überkam eine Woge der Frustration, daß ich ihr nicht antworten konnte. Ich muß gestehen, daß ich während der nächsten Stunden irgendwie benommen war, so sehr überwältigte
mich die Tatsache, daß ich, wenn auch nur für Augenblicke, die Spezies-Barriere
übersprungen hatte. Noch heute kann ich an diesen Augenblick weder denken noch darüber
sprechen, ohne einen Schauer der Ehrfurcht und der Großartigkeit zu verspüren. 18
Die (nicht immer eindeutigen) Befunde tierethologischer Beobachtungen für die
Zuerkennung eines Rechts auf Nichtschädigung und eines Lebensrechts sprechen aber für
eine Anerkennung dieser Rechte bei den höchstentwickelten Säugetieren, d. h. über die
Menschenaffen hinaus bei Meeressäugern und Elefanten. So scheinen etwa Delfine
differenzieren zu können zwischen falschen Annahmen anderer D. h. sie kommentieren
falsche Überzeugungen eines Trainers anders als richtige. 19 Ich lasse mich dabei u. a. von der
18 Bernard E. Rollin: Der Aufstieg der Menschenaffen: Erweiterung der moralischen Gemeinschaft. In: Paola
Cavalieri/Peter Singer (Hrsg.): Menschenrechte für die Großen Menschenaffen. München 1994, 315-336, 328.
19 James Yeates: Whale Killers and Whale Rights. The future of the international regulation of whaling.
Environmental Ethics 36 (2014) 489-583, 496.
- 16 Maxime von Thomas H. Huxley leiten, dass wir im Zweifelsfall zugunsten des
äußerungsunfähigen Wesens entscheiden sollten.
Diese Tiere scheinen unter dem Verlust Nahestehender nicht viel anders zu leiden als
Menschen. Bei vielen der höchstentwickelten Säugetierarten wurden ausgeprägte Trauerreaktionen bei Verwandten und Sippenangehörigen beobachtet, insbesondere bei
Menschenaffen, Elefanten und Delphinen. In einem von Volker Sommer aufgenommenen
Video sieht man eine Gruppe Schimpansen mit einem an tiefe Betroffenheit erinnernden,
ungemein sprechenden Ausdruck auf die vorübergetragene Leiche einer soeben verstorbenen
Gruppenangehörigen starren. Viele meinen, es handele sich bei dieser Interpretation um
puren Anthropomorphismus. Aber die Maxime Huxley würde, wie immer es damit stehen
mag, zumindest aus pragmatischen Gründen die weitergehende Interpretation nahelegen.
Welche Grundrechte sollten den Menschenaffen und möglicherweise Delfinen und Elefanten
auf dem Hintergrund dieser Befunde zugeschrieben werden? Ich meine, sowohl ein Recht auf
Leben als auch ein Recht auf körperliche Integrität und ein – angemessen eingeschränktes –
Recht auf Freiheit. Der entscheidende Grund liegt darin, dass Tötung, Unfreiheit und
Schädigung unmittelbar Interessen dieser Tiere verletzten.
Allerdings würde keines dieser Rechte absolut gelten können. Die Tieren zugeschriebene
Rechte sind Prima-facie-Rechte, d. h. sie gelten nicht unter allen Umständen absolut, sondern
sind gegen andere Rechte (und gelegentlich Pflichten) abwägbar. Tierethiker, die einem Tier
ein Recht auf Leben zuschreiben, meinen damit nicht, dass Tiere unter keinen Umständen
getötet werden dürfen, etwa auch in Notwehrsituationen oder als Sterbehilfe ("Gnadentod").
Entsprechende Einschränkungen gelten auch für andere Tierrechte.
Alle müssten ebenso abwägungsoffen sein wie die für Menschen geltenden Grundrechte auf
Leben und körperliche Integrität. Einschränkungen des Rechts auf Freiheit ergeben sich
insbesondere aus Pflichten der Arterhaltung. Sanctuaries, "Auffanggebiete" und "museale"
Naturschutz-Tierparks könnten sich schlimmstenfalls als notwendig zur Erhaltung bedrohter
Arten erweisen.
- 17 -
Die Anerkennung von Grundrechten an Menschenaffen und anderen dem Menschen in ihren
Fähigkeiten nahekommenden Tiere ist ein politisches Fernziel. Zunächst bedarf es der
Sensibilisierung und des Anstoßes einer breiten gesellschaftlichen Diskussion.
Fortschritte in dieser Hinsicht sind bereits erkennbar: Grundrechte von Menschenaffen sind
mittlerweile in zumindest einem Land auch als juridisches Recht festgeschrieben worden, in
Neuseeland. Neuseeland hat allerdings keinen Zoo mit Menschenaffen Ein argentinisches
Recht akzeptiert 2014 eine Habeas-Corpus-Petition zugunsten der Orang-Utan-Frau Sandra,
die seit 20 Jahren in Gefangenschaft gehalten worden war.
5. Juridische Rechte für Tiere?
Bisher haben wir im Wesentlichen von der Zuschreibung moralischer Rechte an Tiere und
die an eine solche Zuschreibungen zu stellenden Bedingungen gesprochen. Welche
Bedingungen gelten für die Zuschreibung von juridischen Rechten?
Die Bedingungen für die Zuschreibung juridischer Rechte unterscheiden sich erheblich von
denen für moralische Rechte. Juridische Rechte sind Teil eines anderen "Sprachspiels" als
des Sprachspiels der Moral. Als ein Zug im moralischen Sprachspiel hat die Zuschreibung
moralischer Rechte teil an dem Anspruch auf universale Gültigkeit, der das Sprachspiel der
Moral insgesamt kennzeichnet. Dagegen ist die Zuschreibung juridischer Rechte ein Zug in
einem pragmatischen Sprachspiel. Juridische Rechte sind funktionale Größen, Mittel zum
Zweck, und müssen deshalb primär unter funktionellen Gesichtspunkten, d. h. nach dem
Ausmaß ihrer jeweiligen Zweckerreichung beurteilt werden. Überdies ist ihr Geltungsanspruch auf eine bestimmte Rechtsgemeinschaft beschränkt. Ein und dasselbe Naturwesen
kann in der einen Rechtsgemeinschaft juridische Rechte besitzen, in einer anderen aber nicht,
und diese Rechte können jederzeit durch einen rechtlich wirksamen Akt zu- und aberkannt
werden. Moralische Rechte lassen sich nicht so handstreichartig zu- und absprechen. Sie
- 18 gelten nicht, weil sie durch einen gesetzgeberischen Beschluss anerkannt werden, sondern
weil sie hinreichend plausibel begründet sind.
Angesichts ihrer wesentlich funktionalen Rolle sind die für juridische Rechte einschlägigen
Zuschreibungsbedingungen sehr viel großzügiger bemessen. Das Recht darf sich die Freiheit
nehmen, mit Fiktionen zu arbeiten, wenn dies für seine spezifischen Zwecke sinnvoll ist. Es
darf Freiheits- und Anspruchsrechte auch Nationen, Behörden, Vereinen,
Wirtschaftsunternehmen und anderen "juristische Personen" zuschreiben, die für
entsprechende moralische Freiheiten und Anspruchsrechte nicht in Frage kommen. Ein nichtfreiheitsfähiger unmündiger Mensch, der deshalb von moralischen Verpflichtungen
ausgenommen ist, kann rechtlich durchaus zu bestimmten Dingen verpflichtet sein, z. B.
dazu, Erbschaftssteuern zu bezahlen. Ein korporatives Subjekt wie eine Nation, ein Verein
oder eine abstrakte Vermögensmasse können durchaus juridische Anspruchsrechte besitzen,
auch wenn sie keine Subjekte für moralische Anspruchsrechte sind. Insgesamt sind die
begrifflichen Grenzen bei juridischen Rechten sehr viel weiter gezogen als bei moralischen
Rechten. Es gibt deshalb keinen begrifflichen Grund, sie Naturwesen vorzuenthalten,
einschließlich solcher niedrigster Entwicklungsstufe und abstraktester Art. Wenn abstrakte
Vermögensmassen subjektive juridische Rechte haben können, dann auch Arten, Biotope und
die Biosphäre als Ganze.
In der Rechtswissenschaft unterscheidet man zwischen objektiven und subjektiven Rechten.
Dem objektiven rechtlichen Schutz der Tiere dienen seit dem frühen 19. Jahrhundert die
verschiedenen Formen von Tierschutzgesetzen. Während die frühesten Tierschutzgesetze,
etwa der Martin's Act von 1822 in England und das deutsche Tierschutzgesetz von 1871 rein
anthropozentrisch begründet wurden (sie sollten die öffentliche Ordnung aufrechterhalten,
der Verrohung entgegenwirken und die Gefühle der Tierliebhaber schützen), schützen die
neueren Tierschutzgesetze die Tier um ihrer selbst willen und berufen sich auf eigenständige
gegenüber Tieren bestehende moralische Pflichten.
Eine Zuschreibung subjektiver Rechte geht über den objektiven Rechtsschutz hinaus, indem
sie der zu schützenden Entität zugleich die Befugnis einräumt, in eigener Sache gegen einen
- 19 unzureichenden objektiven Rechtsschutz zu klagen – im Fall von Tieren vermittels geeigneter
Vertreter wie etwa Tierschutzvereine. Solche subjektiven Rechte sind bisher für Tiere nicht
anerkannt. Wegen des im deutschen wie im amerikanischen Recht geltenden Grundsatzes der
"Selbstbetroffenheit" (in Deutschland § 42 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung) kann
niemand etwa gegen die Erteilung einer Genehmigung für Aktivitäten klagen, die Tiere
schädigen, es sei denn, die betroffenen Tiere sind sein Eigentum oder die Schäden gefährden
sein Gewerbe, etwa wenn ein Fischereibetrieb darunter leidet, dass Fische infolge der
Meeresverschmutzung erkranken. Zum ersten Mal ist eine eigenständige Klagebefugnis – ein
"legal standing" – für außermenschliche Naturwesen 1964 von Clarence Morris in den USA
gefordert worden. 20 Anders als Morris' Vorstoß, der unbeachtet blieb, hat allerdings erst die
Initiative von Christopher Stone in einem Aufsatz (später einem Buch) mit dem Titel "Should
trees have standing? Toward legal rights for natural objects" nicht nur für Aufsehen gesorgt,
sondern auch eine Reihe von Nachfolgern gefunden. 21 Wie Stone fordern die meisten dieser
Autoren eine Anerkennung subjektiver juridischer Rechte nicht nur für Tiere, sondern für
natürliche Individuen und Kollektive aller Art einschließlich der Biosphäre als Ganzer. In
Frankreich sind ähnliche Vorschläge von dem Juristen Albert Brunois, dem langjährigem
Präsidenten der Ligue française des Droits de l‘Animal, gemacht worden 22, im
deutschsprachigen Bereich von den Schweizer Autoren Saladin und Leimbacher. 23
Es ist zweifellos u. a. Stones Initiative zu verdanken gewesen, dass es 1988 zu der
sogenannten "Robbenklage" kam, in der zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte
versucht wurde, die betroffenen Tiere selbst (vertreten durch Fürsprecher) an einem
20 Clarence Morris: The rights and duties of beasts and trees: A law teacher's essay for landscape architects,
Journal of legal education 17 (1964/65), 185-192
21 Southern California Law Review 45 (1972), 450-501. Dt.: Christopher D. Stone: Umwelt vor Gericht. Die
Eigenrechte der Natur. Mit einer Einführung von Klaus Bosselmann. Hrsg. von Hanfried Blume, München
21992.
22 Vgl. Georges Chapouthier: Les droits de l'animal, Paris 1992, 47 ff.
23 Vgl. Peter Saladin/Jörg Leimbacher: Mensch und Natur: Herausforderung für die Rechtspolitik, in: Herta
Däubler-Gmelin (Hrsg.), Menschengerecht, Heidelberg 1986, 195-219. Jörg Leimbacher: Die Rechte der Natur.
Basel/Frankfurt/M. 1988.
- 20 Verwaltungsgerichtsprozess zu beteiligen. Nach dem massenhaften Robbensterben im
Frühjahr und Sommer 1988 in der Nordsee legten eine Reihe von Umweltschutzverbänden
im Namen der Seehunde Widerspruch dagegen ein, dass die zuständige Behörde, das
Deutsche Hydrographische Institut, einer Entsorgungsfirma die Einleitung von Dünnsäure
und anderen Abfallstoffen in die Nordsee sowie die Verbrennung von Giftmüll auf See
genehmigt hatte, den vermutlichen Hauptursachen der Epidemie. Um den Widerspruch
verfahrensrechtlich wirksam werden zu lassen, beantragten sie beim Verwaltungsgericht
Hamburg die Zulassung als Prozesspfleger für die Seehunde. Das Verwaltungsgericht lehnte
diesen Antrag erwartungsgemäß ab, u. a. mit dem Argument, dass nach der
Verwaltungsgerichtsordnung nur natürliche Personen (d. h. Menschen) am Verwaltungsgerichtsprozess beteiligt werden können sowie juristische Personen mit subjektiven Rechten
wie Organisationen, Firmen und Behörden. Der Kernsatz der Begründung lautete: "Der
deutschen Rechtsordnung ist es fremd, die Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben, auf
Tiere zu übertragen." Zwar schütze das deutsche Tierschutzrecht das Tier um seiner selbst
willen. Dies bedeute aber nicht, dass dem Tier damit auch subjektive Rechte zuerkannt
würden. Das Tierschutzgesetz statuiere den Schutz des Tieres als eines Mitgeschöpfes nur als
menschliche moralische Pflicht, nicht als Recht dieses Geschöpfes selbst. 24
Sieht man sich die Begründung, mit der das Verwaltungsgericht Hamburg die "Robbenklage" von 1988 ablehnte, genauer an, stellt man fest, dass auch das Gericht subjektive
Rechte für Naturwesen keineswegs für prinzipiell unmöglich hielt. Das Gericht begründete
seine Ablehnung lediglich damit, dass die Gesetzeslage und seine Interpretation durch die
Rechtswissenschaft zu eindeutig seien, als dass es sich für befugt halten dürfte, die
Klagebefugnis auf dem Wege richterlicher Rechtsfortbildung auf Naturwesen auszuweiten.
Eine solche Rechtsfortbildung verstieße gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz, nach dem der
Richter an das Gesetz gebunden ist. Das Gericht behauptete also nicht, dass diese
Möglichkeit auch dem Gesetzgeber verschlossen ist – mochte es die Erfolgschancen einer
entsprechenden rechtspolitischen Initiative auch skeptisch beurteilen
24 Vgl. Dietrich Murswiek: Keine Beteiligungsfähigkeit der "Seehunde in der Nordsee" im Verwaltungsprozeß,
Juristische Schulung 1989, 240-242, 240.
- 21 -
Was ist von der Zuerkennung subjektiver Rechte an Tiere zu halten? Die Ziele, denen die
Anerkennung subjektiver juridischer Rechte von tierischen Individuen und Kollektiven (und
die Einführung entsprechender Klagebefugnisse vor Verwaltungsgerichten) dienen sollen,
erscheinen mir durchweg unterstützenswert:
Zwar ist ein Rechtsschutz für Tiere und andere nichtmenschliche Naturwesen auch ohne
Zuschreibung subjektiver Rechte möglich. Ein objektiver Rechtsschutz natürlicher Entitäten
besteht ja bereits heute, etwa in Gestalt des Tierschutz- und des Naturschutzgesetzes. Die
Anerkennung subjektiver Rechte von Tieren könnte diesen Schutz jedoch sowohl
intensivieren und effektivieren,
Zweitens könnten subjektive Tierrechte verfahrensrechtliche Innovationen ermöglichen, die
es Tier- und Naturschützern erleichtern, gegen Naturzerstörungen rechtlich vorzugehen, vor
allem dann, wenn diese Schäden und Zerstörungen von staatlichen Aktivitäten selbst
ausgehen oder durch diese mitverursacht sind. (So ist etwa der Staat durch seine Agrarpolitik
indirekt Mitverursacher des Artensterbens.) Werden der Natur oder ihren Teilsystemen
subjektive Rechte zugeschrieben, können diese Rechte durch "Natur-Anwälte" eingeklagt
werden, ähnlich wie im geltenden Recht die subjektiven Rechte von menschlichen
Unmündigen durch Betreuer und andere gesetzliche Vertreter eingeklagt werden können.
Drittens würde die Anerkennung eines Natur-Grundrechts auf Verfassungsebene dem
Tierschutz insgesamt einen höheren Stellenwert verschaffen – sowohl in der Gesetzgebung
als auch in Exekutive und Judikative. Die schweizerischen Autoren Saladin und Leimbacher
sind sogar so weit gegangen, der Natur insgesamt eine institutionelle Rolle im
Gesetzgebungsprozess einzuräumen: Besondere "Natur-Beauftrage" hätten danach die
Aufgabe, die Belange der Natur bereits im Gesetzgebungsprozess zur Geltung zu bringen und
das Überleben und Wohlergehen der Natur gegen entgegenstehende wirtschaftliche und
andere gesellschaftliche Interessen zu verteidigen.
- 22 Die Einwände gegen die Zuerkennung von juridischen Tierrechten scheinen mir dagegen
leichter zu wiegen. Ein Einwand lautet, dass von einer Zuerkennung juridischer Rechte bei
Tieren und anderen Naturwesen kein nennenswerter Beitrag zur Verbesserung von
Tierschutz, Umweltschutz und Naturschutz zu erhoffen sei. Anlass zur Skepsis ist dabei für
viele die Tatsache, dass die Handhabung etwaiger juridischer Rechten von Naturwesen
weiterhin von Menschen abhängen würde. In diesem Sinne äußerte sich bereits Eduard von
Hartmann, in Deutschland neben Schopenhauer einer der philosophischen Pioniere des
Tierschutzes: Tier-Rechte, so Hartmann, könnten das Schicksal der Tiere kaum zum Besseren
wenden, da es der Menschen bedürfe, um diese Rechte zu formulieren und geltend zu
machen. 25 Darüber hinaus kann man die Frage stellen, ob die praktische Durchschlagskraft
von Tierrechten überhaupt so sehr davon abhängt, dass sie als subjektive Rechte formuliert
werden, und nicht vielmehr von ihrem Inhalt, d. h. davon, welche Rechte im einzelnen
zugesprochen werden und welches Gewicht ihnen im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern
zugesprochen wird.
Aber auch wenn es keine Garantie dafür gibt, dass juridische Rechte etwas dazu beitragen,
die Gewichte zugunsten der Tiere zu verschieben, so scheint es doch unbestreitbar, dass
diesem Ziel durch die Einführung von Rechten nicht geschadet wird und sich die Chancen für
die Tiere dadurch eher verbessern. Dies wird auch von ausdrücklichen Gegnern der
Zuerkennung von Tierrechten nicht bestritten. Die entscheidende Frage ist nicht, ob ein
Rechtsstatus der außermenschlichen Naturwesen von sich aus Verbesserungen im
Umwelt- Tier- und Naturschutz bewirkt, sondern ob er dazu einen wie immer geringfügigen
Beitrag leistet.
Diese letztere Frage muss eindeutig bejaht werden. Die Zuerkennung subjektive Rechte kann
zweifellos dazu beitragen, die Beweislast für Schädigungen der Natur stärker auf den
Schädiger zu verlagern, als es ein lediglich objektiver Rechtsschutz vermöchte. Damit ist
25 Nach Erbel (FN 3), 1254.
- 23 auch unter praktischen Gesichtspunkten kein stichhaltiger Einwand gegen juridische Rechte
für Tiere in Sicht.