Statement von Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey - AOK

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Pressekonferenz zum Pflege-Report 2016
AOK-Bundesverband und Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO)
7. März 2016, Berlin
Statement von Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey
Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
an der Charité Berlin und Mitherausgeberin des Pflege-Reports 2016
Aus einer Vielzahl von Erhebungen wissen wir, dass die Mehrzahl der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt werden möchte. Es besteht auf der einen Seite damit - wahrscheinlich eher unausgesprochen –
die Erwartungshaltung, dass der nächste Angehörige meine Pflege übernimmt. Auf der anderen Seite
gibt es ein Pflichtgefühl – auch dies zeigen Studien – die Pflege von Angehörigen zu übernehmen.
Das Einverständnis, die Rolle des Pflegenden anzunehmen, auch wenn dies ggf. zur Überforderung
oder zu familiären Konflikten führt, ist stark in unserer Gesellschaft verwurzelt.
Dem gegenüber steht die These vieler Experten, dass diese Selbstverständlichkeit schwindet. Zum
einen wird dies mit demografischen Veränderungen begründet wie der sinkenden Geburtenrate
oder der Zunahme der Einpersonenhaushalte. Zum anderen wird es trotz gesetzlich verankerter Unterstützung der Pflegearbeit auch weiterhin schwierig bleiben, Familie, Beruf und die Pflege „unter
einen Hut“ zu bringen. Nicht zuletzt kollidieren hier arbeitsmarktpolitische Ziele wie eine höhere
Erwerbsquote von Frauen mit pflegepolitischen Interessen. Schlussendlich steht allerdings der Beweis,
dass das Potenzial der Angehörigenpflege wirklich schwindet, bislang aus. Denn trotz aller Unkenrufe
zeigen viele Studien auf die nach wie vor hohe Bereitschaft der Familien zur Unterstützung ihrer Angehörigen im Rahmen eines Hilfemixes, also einer Kombination aus informeller und professioneller
Pflege. Das könnte darauf hinweisen, dass die private Pflegebereitschaft emotional weiterhin stabil
ist, sich allerdings die Unterstützungsarten verändern.
Einmal mehr unterstreicht der Pflege-Report 2016 des WIdO, dass wir auch weiterhin auf die Pflege durch Angehörige angewiesen sein werden: Denn das Gesundheitsrisiko Nr. 1 einer alternden
Bevölkerung heißt Pflegebedürftigkeit. Die Zahlen des Reports zeigen, dass der Anteil der Pflegebedürftigen in den vergangenen zehn Jahren weiter gestiegen ist. Mittlerweile leben 2,7 Millionen
Menschen in Deutschland mit einer Pflegebedürftigkeit. Ursache ist unter anderem die Zunahme
von Hochaltrigen in unserer Bevölkerung. Gleichzeitig wird die Zahl der Leistungsberechtigten durch
Veränderungen der Pflegeversicherungsgesetzgebung fortlaufend ausgeweitet.
Allerdings – und das ist die gerontologisch gute Nachricht - ist der Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen in den letzten zehn Jahren etwas moderater verlaufen, auch deshalb, weil der Eintritt einer
Pflegebedürftigkeit in immer späteren Lebensjahren erfolgt. Der Report zeigt, dass bei den 80- bis
84-Jährigen jeder Fünfte, von den 85- bis 89-Jährigen 37 Prozent und bei den über 90-Jährigen weit
mehr als die Hälfte der Frauen und Männer pflegebedürftig sind. Im hohen Alter wird Pflegebedürftigkeit also immer mehr zum Normalfall bzw. zur Alltagsaufgabe.
So langsam dämmert es unserer Gesellschaft, dass die Sicherstellung der Pflegeversorgung eine der
zentralen gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahre
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und Jahrzehnte sein wird. Deshalb widmet sich der Pflege-Report 2016 besonders denjenigen, die die
Pflegearbeit leisten, nämlich den professionellen und informellen Pflegekräften. Das Zusammenspiel
von professionellen Kranken- und Altenpflegern, weiteren Gesundheitsberufen, u.a. den Ärzten, sowie
von Familien und Ehrenamtlichen ist in seiner Ausprägung spezifisch. Das deutsche Pflege-Modell lässt
sich am besten mit dem Begriff „Versorgungsmix“ überschreiben. In anderen europäischen Ländern,
z.B. in Dänemark, gibt es entweder umfassende staatlich organisierte Pflegesysteme oder, wie etwa
in Italien, ein eher traditionelles, informelles Pflegesystem.
Zwar ist diese Mischung eine gute Basis für die anstehenden Herausforderungen. Aber wird sie auch
in Zukunft ausreichen, um genügend Personen für die private und ehrenamtliche Pflegearbeit sowie
die Pflegeberufe zu gewinnen und neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den pflegenden Personen und Berufsgruppen herauszubilden? Wie muss unser Versorgungsmix weiterentwickelt werden?
Das Zukunftspotential der professionellen Pflege liegt in der gemeinsamen Ausbildung von Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege sowie der weiteren Akademisierung. Wir wissen aus anderen Ländern, dass die Akademisierung der Pflege- und anderer Gesundheitsberufe sich äußerst positiv auf
die pflegerische Versorgung ausgewirkt hat. Eine zentrale Botschaft des Reports lautet damit auch:
Bildung und Aufwertung. Wir brauchen ein Bündel an Maßnahmen zur Höherqualifizierung in den
Gesundheitsberufen durch primär qualifizierende Ausbildung an Hochschulen, durch eine angemessene Vergütung und durch die Verringerung der Belastungsfaktoren im Arbeitsumfeld. Daher begrüße
ich es außerordentlich, dass diese Punkte endlich Platz auf der politischen Agenda gefunden haben.
Tatsächlich bewegt sich etwas in der Pflege. Das betrifft nicht nur die Pflegebranche oder Berufsordnungen. Es verändern sich auch regionale Strukturen, die Digitalisierung greift um sich. Langsam wird
die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen.
Allerdings sind dabei noch nicht alle Player auf der Höhe der Zeit. So ist das pflegerische Engagement
der Kommunen bisher noch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Spätestens mit dem Pflegestärkungsgesetz II müsste es nun aber auch auf kommunaler Ebene zu Veränderungen kommen. Seit Jahresanfang stehen jedem Kreis bzw. jeder kreisfreien Stadt jährlich 20.000 Euro zur Förderung so genannter
Quartierskonzepte zur Verfügung. Dies ist eine Chance für Städte und Gemeinden, die regionalen
Herausforderungen hinsichtlich des demografischen Wandels gemeinsam mit den Pflegekassen anzugehen. In Essen wurde ein solcher Ansatz in Zusammenarbeit mit der AOK Rheinland/Hamburg bereits
mit dem Netzwerk „NÄHE“ zur Absicherung der Versorgung in der eigenen Häuslichkeit erfolgreich
getestet. No-care-Areas müssen der Vergangenheit angehören.
Zurück zu den pflegenden Angehörigen. Auch sie werden für die Weiterentwicklung des Versorgungsmixes unverzichtbar bleiben. Darum nimmt der Pflege-Report die Frage auf, wie Familien in
ihrer Versorgerarbeit unterstützt werden können. Notwendig ist eine Reihe von Entlastungangeboten,
die zentrale Bedürfnisse erfüllen müssen. Dies geht auch aus der Befragung hervor, die das WIdO
durchgeführt hat und deren Ergebnisse Ihnen gleich die Forschungsbereichsleiterin Pflege des WIdO
Antje Schwinger vorstellen wird. Aber lassen sie mich an dieser Stelle ein Ergebnis schon herausgreifen:
73 Prozent der privat Pflegenden sind nach wie vor Frauen. Häusliche Pflege-Engagements sollten
künftig so gestaltet werden, dass sich mehr Männer von ihnen angesprochen fühlen. Die Gleichstellungsdebatte muss auf den Bereich der Versorgung Pflegebedürftiger ausgeweitet werden.
ANSPRECHPARTNER
Dr. Kai Behrens | Pressesprecher | 030 346 46-23 09 | [email protected]
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