Einfach nur lieben - Glaube und Erziehung

PÄDAGOGIK
Aus: Glaube+Erziehung Nr. 4/2015
Einfach nur lieben
Die Gewaltspirale durchbrechen
Von Michael Stahl
Der Selbstverteidigungstrainer und Gewaltpräventionsberater Michael Stahl sprach beim
Christlichen Pädagogentag 2015 zum Thema „Was tun gegen Mobbing und Gewalt?“ Er
erzählte aus seinem Leben und von seiner Arbeit. Der Artikel ist eine gekürzte und bearbeitete
Version seines Vortrags.
Wo Liebe fehlt, wächst die Gewalt. Ich möchte von einigen Menschen berichten, die nach außen hin
sehr gefährlich waren, die als gewalttätig eingestuft wurden, die aber eigentlich wunderbare und
liebevolle Menschen sind. Mein Vater war einer dieser Männer, die Gewalt ausübten, die geschlagen,
verletzt und gemobbt haben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Vater die Aufgabe hat, seinem Sohn zu sagen: „Du bist ein
toller Kerl, ich hab dich lieb.“ Wenn die Söhne dieser Welt das nicht hören, werden sie alles
unternehmen, damit die Welt sie lobt. Wir alle sind auf der Suche nach Anerkennung und Liebe.
Manche, die diese Anerkennung nicht bekommen, müssen flüchten. Viele flüchten in den Alkohol.
Männer reden nicht gerne
Wenn ich heute Männer frage: „Wie geht‘s dir?“, dann hör ich fast immer: „Passt schon.“ Das „Passt
schon“ aber heißt übersetzt: Muss ich mich hier verstellen oder kann ich direkt sein?
Ich frage mich: Wer erklärt unseren Jungs, dass wir auch versagen dürfen? Wer erklärt ihnen, dass wir
scheitern dürfen? Wer erklärt ihnen das, wenn es ihnen kaum mehr jemand vorlebt? Ich habe so viele
Jungs erlebt, die gedemütigt und gequält wurden. In den allerseltensten Fällen waren sie diejenigen,
die angefangen haben zu reden. Es waren andere, die es beobachtet haben.
Immer wieder sage ich zu den Papas: „Hast du mit deinem Sohn auch einmal über dein Leben
gesprochen? Wie man dir weh getan hat, dass man dich auch einmal verlassen hat, dass man dich
entwürdigt hat, dass man dich verletzt hat?“ Dann höre ich in 99 Prozent aller Fälle: „Nein, ist das
wichtig?“
Immer stark und der Erste sein?
In der Versicherungsbranche ist es üblich, dass alle drei Monate die Zahlen herauskommen, wer die
meisten Umsätze gemacht hat. Ich frage mich: Was wird der Mann auf Platz 1 in den nächsten drei
Monaten machen, damit er diese Position hält? Was macht der Zweite? Was machen die letzten Zehn?
Wie viel Zeit werden sie investieren, um zu funktionieren und stark zu sein? Und wie lange geht das
gut?
Ich denke, es ist wichtig: Ich will gar nicht der Erste sein! Ich muss nicht immer der Beste und der
Schönste sein! Ich muss nicht immer funktionieren!
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Eine Frau sagte mir nach einem Seminar einmal: „Meine Tränen darf niemand sehen. Ich muss stark
sein.“ Stark – für wen denn? Vielleicht möchten die anderen auch mal weinen. Vielleicht möchten sie
auch einmal sagen: „In meinem Leben ist gerade gar nichts in Ordnung. Ja, ich bin traurig.“
Dieses ständige Verstellen, um den anderen zu gefallen und stark zu sein, diese ständige SichVerbiegen kostet Kraft, die ich nicht investieren möchte.
Lieben: Um mehr geht’s nicht
Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Vater seinen Sohn zu loben hat, damit er nicht in Drogen
oder ins Internet flüchten. Ein Jugendlicher mit 15 Jahren verbringt heute viele Stunden vor dem
Bildschirm. Die Kisten sind kalt und leer. Die können dich nicht in den Arm nehmen, nicht zärtlich
sein. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Vater – die Mutter natürlich auch, aber es sind meist die
Väter, die nicht da sind – die Tochter zu loben haben: „Du bist meine geliebte Tochter, und ich hab
dich lieb.“
Viel zu vielen Menschen sagen wir nicht, dass wir sie lieben!
Manchmal fasse ich die Bibel zusammen (Jesaja 43,1-3):
„Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat … : Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir
sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen,
und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein
Heiland. … weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb
habe.“
Der Gott, der Vater aller Väter, der Herr aller Herren, sagt: „Ich habe dich lieb.“ Die Welt da draußen
hört diesen Satz nicht mehr. Sie hört: Du musst funktionieren, bedingungslos.
Eine zweite Schlüsselstelle der Bibel ist für mich, als Jesus Petrus hinterherläuft. Nachdem Petrus total
versagt hat, fragt ihn Jesus: „Hast du mich lieb?“ Gott sagt zu mir: „Ich hab dich lieb.“ Und er fragt
mich: „Hast du mich eigentlich auch lieb?“ Gott hat mich lieb. Und ich hab ihn lieb. Um mehr geht’s
nicht.
Kinderwünsche an Eltern
Letztes Jahr habe ich bei einem Vortrag gefragt: „Jungs und Mädchen, was würdet ihr am liebsten mit
Mama und Papa machen wollen?“ In all den Jahren hat mir noch kein einziger Jugendlicher gesagt:
Playstation spielen, Kegeln oder Skispringen im Wohnzimmer (da gibt es tolle Spiele heute). Die
Antworten von allen Jungen sind dieselben: „Ich will mit meinem Papa ein Baumhaus bauen.“ „Ich
möchte mit meinem Papa zum Fischen gehen.“ „Ich möchte mit ihm klettern, ich möchte mit ihm am
Lagerfeuer sitzen.“
Bei den Mädchen lautet die Antwort: „Ich möchte mit Mama zum Shoppen gehen!“ Zum Shoppen
gehen bedeutet: Mama, ich möchte über Schuhe und Taschen mit dir reden. Ich möchte über
Kleinigkeiten, aber auch über das Große mit dir reden. Ich möchte, dass du mir zeigst, wie man eine
Frau wird. Die zweite Top-Antwort bei Mädchen ist: Kochen und Kuchenbacken mit der Mama. Die
einfachsten Dinge des Lebens also – das sind die wichtigsten und die wertvollsten Dinge.
Nähe zulassen
Bei einem Projekt in Bayern kam der17-jähriger Faruk (1). Er hat eine kleine Gang dabei gehabt, so
sechs, sieben Leute. Wir haben praktische Übungen gemacht. Da lege ich manchmal den Arm um die
Leute. Das kennen die meisten nicht mehr. Wenn ich mit Kindern und Jugendlichen arbeite, merke
ich: Sie haben Probleme, sich anzufassen, Probleme mit Nähe.
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Dann hab ich den Arm um den Kerl gelegt und gesagt: „Faruk, du bist ein toller Kerl!“ Großes
Staunen! Irgendwann sitzt die ganze Bande vor mir auf dem Boden und ich erzähle meine Geschichte.
Dann habe ich Faruk direkt gefragt: „Sei ganz ehrlich, wie oft hat dein Papa dich geschlagen?“ Da
schaut er mich an, weint und sagt: „Sehr oft.“ Ich: „Wie oft hast du andere geschlagen?“ Da sagt er:
„Sehr, sehr oft.“ Und dann sagte er einen Satz, den werd ich nie in meinem Leben vergessen: „Du bist
der erste Mann in meinem Leben, der mich gelobt hat. Der erste!“
Wir müssen viel mehr loben! Das ist so wichtig.
Nach einem Vortrag kam der 18-jährige Christian (1) zu mir – mit Spritzen und Tabletten zum
Bodybuilder gestylt (das bedeutet: Welt, guck nach mir, ich bin auch da! Nicht dass man mich
übersieht!). Er sagte: „Dein Vortrag hat mich sehr berührt, aber in einem Punkt kann ich dir nicht recht
geben. Du hast gesagt: Jeder Mensch hat Sehnsucht nach Mama und Papa.“ Ich: „Na klar.“ Er – voller
Hass: „Ich nicht. Ich hasse meine Eltern, mit denen bin ich fertig. Demnächst ziehe ich aus, und dann
sind wir geschiedene Leute.“ Ich: „Christian, mit Mama und Papa ist man nie fertig. Schau nur den
großen Zinken in deinem Gesicht (ich muss da bei solchen jungen Leuten ganz anders sprechen als zu
Lehrern!), den hast du bestimmt von deinem Papa. Und viele Charaktereigenschaften. Mit Menschen,
von denen man so viel hat, ist man nie fertig.“
Das gilt für uns alle! Als Pädagogen begegnet man vielen Kindern und Jugendlichen, die das auch
sagen. Doch es ist wurscht, wie dein Papa ist, er gehört zu deiner Identität. Und die Mama auch. Ob‘s
uns allen passt oder nicht. Ich kenne viele Erzieher oder Lehrer, die haben mit ihren Eltern auch
gebrochen. Ich frage mich: Was geben sie weiter? Bitterkeit?
Christian habe ich noch gesagt: „Bei deiner Mama bist du unterm Herzen gelegen. Was sie geatmet,
gegessen und getrunken hat, das hast du auch aufgenommen. Mit dieser Frau ist man nie fertig. Aber,
wenn du sagst, du bist fertig mit ihnen, dann bist auch du fertig! Wenn du sagst, du hast mit denen
gebrochen, dann ist etwas in dir zerbrochen. Und wenn du sagst: Ich kann denen keine Liebe
aussprechen – vielleicht hast du dich selbst gar nicht richtig lieb? Christian, es ist 23.00 Uhr, der Tag
ist noch nicht zu Ende. Geh nach Hause und mach das, was du nur heute tun kannst!“
Um 1.36 Uhr bekomme ich von diesem Schlägertypen, der voller Hass war und Drogen genommen
und andere schikaniert hat, eine Email: „Lieber Michael, ich bin der Christian. Wir haben uns heute in
der Halle nach dem Vortrag unterhalten. Du hast mich durchschaut. Du hast mir gesagt, ich solle nach
Hause gehen und meinen Eltern sagen, dass ich sie lieb habe. Ich soll mit dir in Verbindung bleiben.
Ich hab mich von dir weggedreht, bin zur Tür gelaufen und habe so geweint. Ich bin zum Auto
gelaufen und sofort heim gefahren. Ich hab durchgehend geweint.“ Christian hat sich an diesem Abend
mit seinen Eltern versöhnt, konnte aussprechen, dass er sie lieb hat und um Vergebung für sein
Verhalten bittet. Die Eltern sagten Christian in dieser Nacht zum ersten Mal, dass sie ihn lieben und
konnten Nähe zulassen, sich versöhnen. Christians Mail endete: „Du sollst nur noch wissen: Durch
dich hat Gott mein Leben gerettet. Denn auch ich war mehrmals kurz davor, mir das Leben zu
nehmen.“
Wie viel Streit ist zwischen den Generationen! Wie wenig Zeit wir doch haben! Wir warten immer, bis
der andere kommt. Und der andere wartet, bis wir kommen.
Meine persönliche Geschichte
Mein Vater war Alkoholiker. Ich bin in meinem Leben geschlagen, getreten und bespuckt worden. Ich
bin in einem abbruchreifen Haus aufgewachsen, habe bis zum 14. Lebensjahr im Schlafzimmer meiner
Eltern geschlafen. Fast täglich hörte ich: „Du bist nicht zu gebrauchen! Du kannst nichts!“
Übrigens: Gar nichts zu hören, ist genauso schlimm! Wenn man nie gelobt wird, wenn man nie hört:
Du bist geliebt, du gehörst dazu! Die ganzen Jugendbanden, auf die ich treffe, bei denen ich einen
Einblick erhasche, das ist nichts anderes als „Familie“. Endlich kommt einer und sagt: „Du gehörst zu
uns! Dem hast du ganz toll aufs Maul geschlagen! Du kannst super saufen! Du gehörst zu uns!“ Das
ist dann ihre Familie.
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Wenn mein Vater mich gedemütigt hat, habe ich mir immer die Frage gestellt: „Was habe ich falsch
gemacht? Habe ich Papa wieder wütend gemacht?“
Im Alter von fünf oder sechs Jahren habe ich Jesus Christus kennen und lieben gelernt – durch ein
kleines, A5-großes Bild in unserem verschimmelten Schlafzimmer. Irgendwann habe ich angefangen,
die Bibel zu lesen: Da ist ja einer, der hat mich lieb, so wie ich bin. Wenn man mich bespuckt hat,
dann habe ich die Spucke ihm gezeigt. Weil sich niemand mit Bespucktwerden besser auskennt als er.
Wenn Menschen gegen mich waren, wenn ich einsam war, habe ich‘s ihm gesagt. Als ich in die
Schule gekommen bin, hatte ich die Hölle. Ich habe einmal zu meinem Lehrer gesagt: „Ich leide jeden
Tag.“ Da hat er gesagt: „Das bildest du dir ein, lass mich in Ruhe.“ Ich habe mir tagtäglich Gedanken
gemacht, wie ich mir das Leben nehme.
Ich kannte meinen Wert nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass Mobbing in erster Linie
diejenigen trifft, die nicht wissen, wie wertvoll sie sind. Die anderen spüren das, die kennen zwar ihren
Wert auch nicht, sie tun sich aber zu dritt oder viert zusammen. Schwache Menschen können nichts
allein, die müssen sich zusammenrotten. Aber im Prinzip haben auch sie eine Sehnsucht nach Liebe
und Anerkennung.
Ich durfte aber Junge sein. Ich war jeden Tag draußen, war auf den höchsten Bäumen, bin auch
runtergefallen, habe gelernt zu fallen. Mit 10 oder 11 habe ich mein Dorf so gehasst, dass ich mit
einem Freund beschloss: Jetzt bauen wir einen Staudamm, dann ersaufen wir alle. Ich kann Sie
beruhigen – die Flutwelle war nicht so groß. Aber ich habe gelernt, Staudämme zu bauen.
Als ich 10 oder 11 Jahre alt war, bekam ich zum Geburtstag statt eines Geschenks von meinem Papa
ins Gesicht gespuckt. Ich bin damals an ein Bahngleis gegangen und habe gesagt: „Gott, keiner will
mich. Ich werde morgen wieder zu Hause verprügelt werden. Und in der Schule auch. Es wird sich in
einem Jahr nichts ändern und in fünf Jahren auch nicht. Ich mag nicht mehr.“ Damals spürte ich in
meinem Herzen, dass Gott mich lieb hat. Ich kann das keinem Menschen beschreiben. Doch ich
spürte: „Ich hab etwas vor mit dir!“ Immer wieder, wenn ich solche Vorträge halten darf, denke ich:
Gott, das traust du mir zu? Ich würde mir das alles nicht zutrauen.
Ich hatte – fast mein ganzes Leben lang – nichts Besseres zu tun, als meinen Vater zu verändern: „Hör
auf mit Saufen! Mach das so! Mach das so!“ Ich habe immer gleich dazu gesagt: „Ich meine es nur
gut.“ Je mehr ich ihn verändern wollte, desto schlimmer ist er geworden. Eines Tages, vor acht Jahren,
habe ich gespürt, dass mein Vater sterben wird. Ich habe zu Gott gebetet: „Ich möchte Frieden mit
meinem Papa haben, aber ich hab keine Ahnung wie ich das mache.“
14 Jahre lang war ich bis dahin unterwegs als Personenschützer, als Redner in Schulen und in
Fernsehsendungen. Dabei war ich ein kaputter Mensch. Ich habe mit Gott gehadert: „Ich kann da nicht
reingehen, er hat mich geschlagen, getreten, bespuckt, entwürdigt. Er muss zu mir kommen.“
Da hab ich vor meinem inneren Auge einen Bibelvers gesehen: „Mit meinem Gott springe ich über
Mauern.“ Dann ging ich zu meinem Vater ins Zimmer: ein Mobber, ein gewalttätiger Mensch, der
mein Leben bestimmte, vor dem ich ein Leben lang weggelaufen bin.
„Du, Papa, ich wollte dir eigentlich nur sagen, wie lieb ich dich habe. Ich möchte dich darum bitten,
ob du mir heute vergeben kannst.“ Auf einmal wird dieser Mensch still. Sieben, acht Sekunden steht er
fassungslos vor mir. Dann sagt er: „Warum kommst du zu mir?“ Da sage ich: „Papa, mein ganzes
Leben lang hast du mir nicht gepasst. Ich will dich lieben, so wie du bist. Du kannst von mir aus
weitersaufen. Du kannst auch weiterhin gemein und verletzend zu mir sein. Es ändert nichts an meiner
Liebe. Papa, deine Schuld ist auch nicht mehr wichtig. Sondern vergib mir meine.“ Dann kam er –
nach 37 Jahren – zu mir her. Seine Art der Umarmung war, dass er meinen rechten Oberarm gepackt
hat. Er sagt einen Satz, den ich so noch nie gehört hatte: „Ich hab dich immer lieb gehabt. Leider
konnte ich dir‘s nie zeigen.“
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Von diesem Tag an wurden mein Vater und ich Freunde. Ich war in der ganzen Welt unterwegs,
machte Personenschutz für berühmte Persönlichkeiten, weil ich dachte, dass der Glanz dieser
Persönlichkeiten auch etwas auf mich abwirft. Ich war in der Welt unterwegs, weil ich meinem Vater
nicht über den Weg laufen wollte.
Mein Vater und ich hatten ab diesem Tag etwas unfassbar Schönes: Tischgemeinschaft – die
Sehnsucht aller Menschen. Psychologen haben herausgefunden, dass hinter der großen Zahl von
Kochsendungen im deutschen Fernsehen die Sehnsucht nach Tischgemeinschaft steckt. Nur noch jede
fünfte Mahlzeit nehmen wir Deutschen am Tisch mit der Familie ein. Was passiert bei einer
Tischgemeinschaft? Manchmal berührt man sich. Man schaut dem anderen in die Augen, selbst wenn
man gar nichts sagt. Ich spüre, ob er traurig oder glücklich ist, manchmal redet man miteinander.
Mit Tischgemeinschaft gegen Gewalt und Mobbing
Habt Tischgemeinschaft! Setzt euch mit den Menschen zusammen, um die es geht. Nicht mit Email
die anderen konfrontieren – lieblos, ohne Mimik, ohne Gestik – sondern an einem Tisch sitzend.
Im Himmel soll es auch einen Tisch geben. Manchmal sagen mir die Menschen: Es ist egal, an was
man glaubt, es ist eh alles dasselbe. Ehrlich? Ein Gott, der immer wieder Tischgemeinschaft sucht,
von Anfang bis zum Schluss, ein Gott, den man 39 Mal auspeitschte, ihm Nägel durch Hände und
Füße bohrte und den man nackt ans Kreuz hängte. Der vor seinem Tod nichts Besseres zu tun hatte,
als Füße zu waschen. Füße, von denen er wusste: die laufen alle weg. Der dem Petrus hinterherläuft
und Frühstück macht und fragt: Hast du mich lieb? So einen Gott gibt’s kein zweites Mal. Ehrlich!
Wenn ihr mal ein Fotoalbum nehmt, dann werdet ihr so viele Tische sehen, wie sonst nicht.
Hochzeiten finden an einem Tisch statt. Der Leichenschmaus findet an einem Tisch statt. Die Taufe –
anschließend an einem Tisch. Die ersten Wochen und Monate verbringen wir auf einem Wickeltisch.
Der Christliche Pädagogentag findet an Tischen statt. Es gibt Frühstückstische, Mittagstische,
Abendtische, Stammtische, Kabinettstische, Runde Tische, Gabentische. Hier entsteht Versöhnung.
Hier entsteht Nähe. Hier wird mit einander geredet. Hier ist Identität.
Kurz bevor mein Vater starb, habe ich im Krankenwagen seine Hand genommen und ihm gesagt, wie
lieb ich ihn habe. Mein Vater tat so, als hätte er diesen Satz nicht gehört und fragte: „Was?“ Heute
weiß ich: Er hat‘s gehört, er wollte es noch einmal hören. So wie ich jeden Tag meine Tochter frage:
„Hast du den Papa lieb?“ Ich weiß es, aber ich hör‘s so gern. Und da sagen mir Menschen: „Das muss
man nicht sagen! Das wissen die anderen.“
Tipp für die Elternsprechstunde
Wenn ein Vater in die Elternsprechstunde kommt und nicht weiß, wie er mit seinem Sohn umzugehen
hat, dann frag ihn, ob er ihm schon von seinen eigenen Schwächen erzählt hat. Ob er schon mit seinem
Sohn geweint hat? Ob er schon nach seinen Muskeln geschaut hat? Ob sie schon zusammen vor dem
Spiegel gestanden und sich rasiert haben? Das sollten wir tun!
Alles, was mir von meinem Vater übrig geblieben ist, ist Liebe. Und seine Baseball-Mütze. 37 Jahre
lang bin ich diesem Menschen aus dem Weg gegangen. Und jetzt vermisse ich ihn. Als ich meinen
Vater angenommen habe, habe ich mich angenommen, so wie ich bin. Mit all meinen Stärken und
Schwächen.
Vier Dinge, die mein Leben bereichert haben
- Vergebung Gottes: Dort oben auf Golgatha, auf der Müllkippe, werden wir frei. Ich kenne keinen
besseren Ort, wo wir die Schuld unseres Lebens abladen können. Ich kenne keinen besseren Ort, wo
wir den Müll unseres Lebens hinbringen können – als zu Christus, zu dem Gott, den die Welt nie
wollte. Schon als er geboren wurde, haben die Leute gesagt: „Wir sind schon voll, wir brauchen den
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nicht.“ Als Pilatus dem Volk die Wahl ließ – Barabbas oder Jesus –, da haben die Leute gesagt: „Den
Jesus nicht, nehmen wir den anderen.“ Einer der Mitgekreuzigten hat gesagt: „Den Jesus brauchen wir
nicht.“ So macht‘s die Welt und vielleicht mancher von euren Kollegen. Aber nehmt auch eure
Kollegen an, so wie sie sind: in Liebe. Damit sie merken, dass Christus in dir lebt. Die Vergebung
Gottes ist das, was uns frei macht.
- Sich selbst vergeben: Vergib dir selbst. Warum trägst du etwas, das er schon getragen hat? Warum?
Je mehr du trägst, desto weniger Kraft hast du. Ich bin der festen Überzeugung, dass Johannes der
Täufer recht hatte, wenn er sagte: „Seht das Lamm Gottes, das wegträgt alle Schuld der Welt.“ Auch
meine. Und deine.
- Anderen vergeben: Vergebt allen Menschen, die euch wehgetan haben. Ohne Ausnahme. Ich habe
dem Unfallverursacher meiner Familie vergeben. Es waren 70 Stundenkilometer erlaubt, er ist mit 150
in das Auto meiner Frau gefahren. Unsere Freundin, eine Mama von fünf Kindern, starb auf der Stelle.
Meine Frau brach sich zwischen 50 und 60 Knochen, meine Tochter kam knapp mit dem Leben
davon. – Eine Woche später war ich bei dem jungen Mann. Sein Vater war gegangen, als er zwei Jahre
alt war. Nie hat er gehört: „Du bist ein toller Kerl.“ Das wäre sonst nie passiert. Unfälle und
Katastrophen passieren, aber – es fährt keiner 150, wenn 70 erlaubt ist, wenn er weiß, dass er wertvoll
ist. Eine Woche nach dem Unfall habe ich ihn in den Arm genommen und habe für ihn gebetet. Ohne
Gott könnte ich das nicht. Seine Mutter hat mir später erzählt: Als ihr Sohn sah, dass ich im Auto
vorfuhr, dachte er, ich käme, um ihn zu töten. „Und du bist gekommen, um zu beten!“, sagte sie. Ich
bin frei – ich habe alles abgegeben. Ich habe vergeben.
- Um Vergebung bitten: Wo wir schuldig geworden sind, sollen wir um Vergebung bitten. Wenn ich
zum anderen hingehe und sage: „Vergib du mir!“, dann bedeutet das: Du bist nicht schuld an allem.
Bitte vergib du mir. Ich reiche dir die Hand der Freundschaft.
In diesen vier Vergebungsformen steckt Freundschaft: die Vergebung Gottes, denn Gott möchte dein
Freund sein; vergib dir selbst, damit du dir selbst Freund bist; vergib allen anderen, und bitte du um
Vergebung, um den Menschen da draußen die Hand zur Freundschaft hinzustrecken. Das macht frei.
Und spricht die Liebe aus.
Ich meine: Wenn der König aller Könige, der Herr aller Herren, es gerne hören möchte, dass wir ihn
lieb haben, wie viel mehr brauchen wir es und die Welt da draußen.
Anmerkung:
(1) Namen sind geändert.
Michael Stahl ist Selbstverteidigungstrainer und Gewaltpräventionsberater. Für seine Arbeit
an Schulen erhielt er den WERTE AWARD der Neues Leben Stiftung.
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