Hauptausgabe - Migros

14 | MM29, 13.7.2015 | MENSCHEN
Porträt
Daheim in
vielen Welten
Sie ist Künstlerin, Moderatorin, Politikerin und betreut Waisen in Kenia: Tausendsassa
Yvonne Apiyo Brändle-Amolo vereint bei all ihren Projekten Kreativität mit Leidenschaft.
Text: Anne-Sophie Keller
A
ngefangen hat alles in der Roten
Fabrik, dem linken Kulturzentrum am Zürichsee. Yvonne Apiyo
Brändle-Amolo (39) stiess
dort auf ein Plakat eines Videofestivals zum
Thema «Interkulturelles Leben». Sie selbst
war damals bereits zwölf Jahre in der
Schweiz und wusste über die Schwierigkeiten der Integration Bescheid. «Ich war
neun Jahre mit einem Schweizer verheiratet
und zog zu ihm in die Ostschweiz. Nach der
Scheidung musste ich um meinen Platz hier
kämpfen», sagt die 39-Jährige, die heute
in Weiningen ZH wohnt. Denn in dieser Zeit
änderte sich das Gesetz: Bisher reichten
fünf Jahre Ehe mit einem Schweizer für eine
erleichterte Einbürgerung, neu mussten es
zehn Jahre sein. Nach zahlreichen Verhandlungen durfte sie jedoch bleiben.
Die Emotionen aus dieser Zeit verarbeitete die Schweizerin mit kenianischen Wurzeln vor zwei Jahren in einem Beitrag für
das Videofestival der Roten Fabrik. In ihrem
Kurzfilm «Not Swiss Made» zeigt sie sich
vor dem Matterhorn – zuerst lachend, dann
weinend mit kenianischem Gesang, der in
Schweizer Jodel wechselt. Das bedrückende
Werk entschied den Wettbewerb für sich,
wurde anschliessend an 27 Festivals gezeigt
und mit dem Anti-Rassismus-Award ausgezeichnet. Der Jodel war dabei nicht zufällig gewählt, denn dieser half Brändle-Amolo
bei der Integration. «Ich fand hier lange
keinen Anschluss», gibt sie zu. Eines Tages
stiess sie durch eine Google-Suche nach
Schweizer Traditionsgesang auf das Jodeln.
Die Appenzeller Jodlerszene empfing
sie mit offenen Armen, und letzten Sommer
besuchte Brändle-Amolo das 29. Eidgenössische Jodlerfest in Davos. Inmitten der
Bündner Berge entdeckte sie die Lebensfreude, die sie aus ihrer Heimat kennt. «Die
Leute dort trugen Farben, sie tanzten, sie
Bild: Ornella Cacace
feierten! Weit entfernt von meinen eigenen
Wurzeln konnte ich mich mit denen der
Schweiz identifizieren.» Verschiedene
Medien interessierten sich fortan für die
Frau, die Afro und Tracht mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit trägt.
Nächstes Ziel: Wahl in den Nationalrat
Dieser Rummel ging auch an der SP Limmattal nicht unbemerkt vorbei. Parteimitglieder
sahen den Videobeitrag «Not Swiss Made»
und holten Brändle-Amolo als neue Politikerin ins Boot. Anfang 2015 kandidierte sie
bereits für den Zürcher Kantonsrat. «Unsere
Gesellschaft, unsere Kultur- und Wissenschaftsbetriebe sowie auch unsere Wirtschaft haben von Einwanderern stark
profitiert. Dass unser Land auch in Zukunft
weltoffen und ausländerfreundlich bleibt,
dafür will ich mich einsetzen», so ihre
Wahlwerbung. Doch so wenig wie man ihre
wunderschöne Haarpracht übersehen kann,
konnte man auch die damit verbundenen
Vorurteile ignorieren: In einem Artikel über
die Wahlen wurde Yvonne Apiyo BrändleAmolo für die wildeste Frisur ausgezeichnet,
ihre politischen Ambitionen blieben unerwähnt.
In den Kantonsrat hat sie es dann nicht
geschafft. «Es war eine harte Kampagne.
In der Schweiz gibt es fast nie offenen
Rassismus. Aber du kriegst die Botschaft
mit», sagt die Neopolitikerin. Auch parteiintern spürte sie manchmal einen gewissen
Widerstand. «In jeder Partei gibt es Gutes
und Schlechtes. In der SP habe ich viele gute
Leute kennengelernt. Andere sagten mir,
ich solle meine Haare bändigen und mich
weniger auffällig kleiden. Man muss Letztere respektieren, sich aber auch vor ihnen
schützen.» Jedoch behält sie bei allem
immer ihre Ziele im Auge. «Schon mit den
Plakaten zur Wahlkampagne habe ich etwas
erreicht. Eine schwarze Frau, die mich auf
Aushängen gesehen hatte, erzählte mir, sie
habe sich danach gefragt, ob sie doch noch
etwas anderes machen solle als putzen – eine
Abendschule besuchen zum Beispiel.» Da
habe sie gewusst: Der Einstieg in die Politik
war nicht umsonst; man kann den Weg für
andere ebnen. Diesen Herbst steht sie auf
der SP-Nationalrats-Liste. «Ich glaube fest
daran, dass man mit Politik und Kunst viel
bewegen kann. Ob die Schweiz für eine Frau
wie mich bereit ist, wird sich zeigen.»
Einen normalen Tagesablauf gibt es nicht
An Engagement mangelt es ihr nicht.
Yvonne Brändle-Amolo betreut zwei eigene
Waisenhäuser in Kenia, ist bei der Organisation «Cuisine sans frontières» involviert
und Aushängeschild der «Be the Change»Stiftung für kulturellen Wandel. Als Künstlerin stellt sie derzeit an der Biennale in
Venedig aus, beim Zürcher Lokalradio Lora
arbeitete sie als Moderatorin, ein Theaterstück mit der Cellistin Liz Schneider ist in
Planung, ein Dokumentarfilm über deren
Leben angedacht. Daneben tanzt sie, schneidert ihre eigenen Kleider und schreibt an
einer Autobiografie, für die sie derzeit einen
Verlag sucht. Hinzu kommt ein Studium
der interkulturellen Kommunikation an der
Universität Lugano. «Ich mache immer
1000 verschiedene Dinge gleichzeitig. In
Kenia gibt es keine normalen Tage und auch
keinen normalen Tagesablauf. Man teilt
sich seine Zeit anders ein.» Eine immergleiche Tagesstruktur entspreche ihr nicht.
Hin und her gerissen zwischen den beiden Kulturen fühlt sie sich jedoch nicht:
«Ich trage beide Länder in mir. In Kenia
merke ich, wie schweizerisch ich geworden
bin. Mit gewissen Leuten kann ich nicht
mehr verhandeln, weil ich die Schweizer
Verbindlichkeit verinnerlicht habe.» MM
MENSCHEN | MM29, 13.7.2015 | 15
Multitalent: Yvonne
Apiyo BrändleAmolo entwirft
ihre Kleider selber,
stellt an der
Biennale in Venedig
aus, und gejodelt
hat sie auch schon.
Nun schreibt sie an
ihrer Autobiografie.