Aktuell Geständnis „Ich stottere, aber kann nichts dafür“ Mit fünf Jahren bekommt Anja plötzlich eine Sprechstörung. Es folgt eine schwere Zeit voller Ängste und Sorgen – das Stottern bestimmt ihr Leben. Bis sie lernt, ihre Einschränkung zu akzeptieren E in lauter Pfiff tönt durch die riesige Bahnhofshalle. Menschenmengen drängeln sich eilig durch die Gänge. „Der Zug 2319 in Richtung Freiburg fährt pünktlich von Gleis drei ab. Benötigen Sie noch eine A-a-a-a-a-a-uskunft?“ Da ist er wieder – der Texthänger, der verrät: Anja Frey stottert. Ihr Gegenüber ist irritiert, schaut sie fragend an, doch Anja lächelt, blickt ihm bestimmt in die Augen und sagt: „Ja, ich stottere, aber ich kann nichts dafür.“ Rund 800.000 Menschen in Deutschland sind von der körperlichen Behinderung betroffen. Bei über 90 Prozent bricht die Störung im Alter zwischen zwei und fünf Jahren aus. So auch bei Anja. „Meine Mutter hat auch gestottert, deshalb wusste sie sofort, was mit mir los ist. Die Worte wollten eines Tages einfach nicht mehr aus meinem Mund“, erinnert sich die 39-Jährige. Ihre Grundschulzeit verbringt sie auf einer Sprachheilschule. Hier gibt es extra kleine Klassen, die nur von stotternden Kindern besucht werden. „Wir waren unter uns. Ich wusste: Ich bin nicht alleine. Das war damals bei uns in Ostberlin nicht selbstverständlich. Uns wurde immer vermittelt: Wer nicht perfekt ist, ist nicht normal. Und jemand der nicht normal ist, wurde nicht akzeptiert.“ Anja und ihre stotternden Mitschüler werden von „Ich war nicht normal – das dachten zumindest die Anderen von mir“ Mit festem Blick schaut Anja ihr Gegenüber an – doch das war nicht immer so. Sie musste erst lernen, mit ihrem Stottern umzugehen 22 einer Logopädin betreut. Sie lernen eine Art Sing-Sang-Sprech, die das Stottern umgehen soll. Das klappt zwar einigermaßen, doch für Anja ist schnell klar: Diese unnatürliche Art des Sprechens kommt für sie nicht in Frage. „Es fühlte sich fremd und gezwungen an – ich kam mir vor wie ein Roboter.“ Nach der Grundschule kämpft Anjas Mutter dafür, ihr Kind an einer normale Schule unterzubringen. „Und das war gar nicht so leicht“, erklärt die gebürtige Ostberlinerin. „Ich war ja schließlich nicht normal – das dachten zumindest die Anderen.“ Nachdenklich schaut Anja „Es ist nie zu spät“ UNSERe EXPERTin: Martina Wiesmann (49) Anja bei ihrer täglichen Arbeit bei der Deutschen Bahn aus dem Fenster. Ihr Blick verliert sich in den Bäumen. „Ich freute mich sehr auf die öffentliche Schule, doch die folgenden Jahre waren hart. Kinder können ganz schön gemein sein. Und die Lehrer waren häufig überfordert und hilflos. Ich habe mich immer mehr zurückgezogen.“ Ein Teufelskreis: Je weniger Anja redet, desto größer wird ihre Angst vor dem Sprechen und Stottern. Und auch ihre Symptome nehmen zu. „Das war keine schöne Zeit. Ich hatte kaum Freunde und mein Stottern war extrem.“ „Je mehr ich mich zurückzog, desto größer wurde meine Angst vor dem Sprechen“ In der Pubertät verstärkt sich ihre Störung noch. Und trotzdem ist diese Phase auch der Wendepunkt für Anjas Handicap. „Ich hatte bis dahin so viele Therapien gemacht, aber irgendwie war das alles nichts für mich. Eines Tages beschloss ich, meine Störung zu akzeptieren. Und von da an ging es bergauf.“ Mit ihrem neu aufgebauten Selbstbewusstsein macht Anja einige Jahre später Abitur und fordert einen sogenannten Nachteilsausgleich ein. So bekommt sie in den mündlichen Prüfungen etwas mehr Zeit als die anderen. „Ich fand das nur fair. Schließlich stottere ich ja nicht mit Absicht“, sagt sie bestimmt. Ihre anschließende Bewerbungsphase für einen Ausbildungsplatz läuft allerdings ernüchternd. „Ich weiß nicht, ob es an dem Stottern lag. Zugegeben hat das nie jemand, aber ich bekam einen Haufen Absagen.“ Ein paar Monate später kommt dann aber doch die Zusage für eine Ausbildung bei der Deutschen Bahn. „Dort wurde ich ins kalte Wasser geworfen. Dafür bin ich heute sehr dankbar, denn sie hätten mich ja auch hinter einem Schreibtisch verstecken und Kaffee kochen lassen können.“ Stattdessen kontrolliert sie Fahrkarten, macht Durchsagen, erteilt Auskünfte – wie alle anderen Auszubildenden auch. Und auf einmal ist sie wieder da: Die Angst. „Was, wenn mich jemand schief anschaut? Wenn die Menschen keine Geduld mit mir haben und mich auslachen?“ Die Ausbildung ist eine Herausforderung für die damals 20-Jährige. Doch sie stellt sich der Aufgabe. „Ich wusste, dass ich jetzt die Chance hatte, etwas an meinem Auftreten zu ändern.“ Und wirklich: Je selbstbewusster Anja auftritt, des- Staatlich geprüfte Logopädin und selbst Betroffene Mit Kunden im Gespräch: Für Anja ein gutes Training www.logopaedie-bad-honnef.de Warum stottern einige Menschen und andere nicht? ? In welchem Alter bricht die Erkrankung bei Betroffenen aus? ? Hat das Stottern körperliche oder psychische Ursachen? ? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für Betroffene? „In den allermeisten Fällen geht es im Alter von zwei bis fünf Jahren los. Bei 50-80 Prozent dieser Kinder, schleicht sich das Stottern aber von ganz alleine wieder aus. Wichtig ist, dass sich die Eltern mit dem Thema auseinandersetzen und früh anfangen mit dem Kind über die Problematik zu sprechen. Doch auch im Alter lohnt es sich noch, das Handicap anzugehen. Es ist nie zu spät.” „Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, dass es sich beim Stottern um eine psychische Störung handelt. Das stimmt nicht – die Ursache ist körperlich bedingt. Ebenfalls ein Klischee: Dass Menschen, die stottern unbegabt, oder vermindert intelligent wären. Das ist absoluter Quatsch und hat damit rein gar nichts zutun.” „Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Therapieformen. 1. Die Sprechweise kann verändert werden. Das ist am Anfang allerdings sehr unnatürlich. 2. Das Stottern wird modifiziert. Hier werden Techniken erlernt, die in den Stotterprozess eingreifen. Jeder ist anders und muss ausprobieren, womit er zurecht kommt.“ „Ich machte mir Gedanken, dass meine Kinder das alles auch durchmachen müssen“ auch stottern könnte. „Da dieses Handicap vererbt wird, machte ich mir Gedanken, dass sie das alles auch durchmachen müssen.“ Und tatsächlich: Zwei ihrer drei Kinder fangen im Alter von vier Jahren an zu stottern. Nach Selbstvorwürfen und negativen Gefühlen fasst Anja einen Entschluss: „Ich wollte nicht mehr traurig sein. Ich wollte meinen Kindern zeigen, dass man etwas ändern kann, wenn man positiv in die Welt hinaus geht. Das Stottern sollte nicht ihr Leben bestimmen.“ Sie geht mit den Kindern zur Logopädin. Und wirklich: Bei beiden schleicht sich das Stottern aus. 2011 beschließt Anja, sich jetzt endlich auch aktiv zu engagieren. Sie wird Leiterin der Stotter-Selbsthilfegruppe in Stuttgart, hält Vorträge und möchte mit ihrer Erfahrung anderen Menschen helfen. Denn Sie sagt: „Auch wer stottert, kann ein glückliches Leben leben.“ ? „Die grundsätzlichen Ursachen sind noch weitestgehend unbekannt. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Veranlagung zum Stottern vererbt wird. Man vermutet, dass 70 bis 80 Prozent der Fälle so zu erklären sind.” to umsichtiger gehen auch die Menschen mit ihr um. Trotzdem gibt es immer wieder auch Rückschläge. Dann wird sie von Kunden ausgelacht, beschimpft oder ignoriert. Es sind nicht nur gute Zeiten, doch auch diese Erfahrungen nutzt Anja für sich. „Aus Tiefschlägen kann man auch immer etwas Positives ziehen.“ Außerdem helfen ihr die Besuche in einer Selbsthilfegruppe. Zwar ist sie hier eher stille Zuhörerin, aber dennoch: Die Erlebnisse von anderen Menschen, die stottern, geben ihr das Gefühl nicht alleine zu sein. Ein Gefühl, das sie braucht, als sie 1998 nach Ausbildungsende ihre erste Stelle in Stuttgart antritt. Weit weg von Zuhause. „Ich habe mir vor Ort sofort eine neue Gruppe gesucht. Die Treffen haben mir sehr geholfen. Auch in den einsamen Stunden in meiner neuen Heimat.“ Im August 2000 lernt Anja ihren Mann kennen: „Das Stottern war nie ein Thema. Bei uns beiden bin ich eher die Quasselstrippe“, erklärt Anja und lacht. Tatsächlich konnte sie ihr Stottern bis auf wenige Texthänger reduzieren. „Das tägliche Sprechen bei der Arbeit hat mir dabei enorm geholfen. Nach einem Tag von acht Stunden spreche ich am besten.“ Erst als Anja 2002 schwanger wird, holt sie die Vergangenheit wieder ein. „Ich hatte große Angst“, gibt die 39-Jährige zu. Angst, dass ihr Kind Hier gibt es Hilfe: Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V. (BVSS) Fotos: Privat, www.youtube/GOMAGTV (2) Wie Anja Frey (39) mit ihrem Handicap lebt Tipps & Infos Die BVSS ist die größte Interessenvereinigung stotternder Menschen in Deutschland. Hier bekommen Sie Hilfe, Beratung und Informationen. Auch Anja Frey und Martina Wiesmann engagieren sich ehrenamtlich in dieser Vereinigung. Die BVSS vermittelt Interessierte und Betroffene an Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland, kann erste Tipps geben und wenn gewollt den Kontakt zu Spezialisten, etwa Logopäden, herstellen. Das Alter der Gruppenmitglieder ist in der Regel gemischt und reicht von 16 bis weit über 60 Jahren. Telefon: 02 21/1 39 11 06 oder unter www.bvss.de 23
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