Rathert_VL_Exil_Teil1 - Institut für Musikwissenschaft

Musik im Exil
Vorlesung WS 2015/16
Skript – Teil 1 (VL 1-4)
Prof. Dr. Wolfgang Rathert
Institut für Musikwissenschaft der LMU München
Vertrieben ins Paradies?
„I on the contrary, came from one country into another, where neither
dust nor better food is rationed and where I am allowed to go on my
feet, where my head can be erect, where kindness and cheerfulness is
dominating, and where to live is a joy and to be an expatriate of
another country is the grace of God. I was driven into paradise.”
Arnold Schönberg, aus einem Vortrag in Hollywood (1934)
Amerika, Land der Flüchtlinge…
Karlheinz Stockhausen: Hymnen (1967-71)
Meine Komposition Hymnen: ein weiteres Projekt einer Integration aller
Rassen, aller Religionen, aller Nationen: wird es als dumme, naive Utopie
verdrängt, wie man in Deutschland mehrfach in den Zeitungen höhnisch
geschrieben hat? Glaubt denn jemand, ich sei ein Zyniker, ich hätte die Welt
aufgegeben und machte meine Späßchen, in dem ich zum Beispiel die
amerikanische Hymne in der neuen Orchesterfassung der dritten Region –
in ihrer Verbindung mit den Hymnen aller anderen Nationen über den
primitiven Zustand einer Collage hinausführen will zu einer Einheit, in der
Hass aufgehoben ist, weil alle feindlichen Elemente miteinander vermittelt
werden? Was kann ein Komponist Besseres tun, als musikalische Welten zu
schaffen, in denen nicht einfach die menschliche Welt von heute gespiegelt
wird, wie sie ist, sondern die Projekte, Visionen von besseren Welten sind,
in denen sich die Töne, die Fragmente, die »gefundenen Objekte« vertragen
und miteinander die eine, zusammen wachsende Welt und ihre göttliche
Bestimmung realisieren? (…)
Amerika, Land der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der
Zusammengewürfelten: ich habe Dir diese Musik auf den Leib geschrieben,
Du könntest ein Modell für die ganze Welt werden, wenn Du so lebtest, wie
diese Musik es ankündigt. Wenn Du ein gutes Beispiel gäbest…!
Umfang und Ausmaß des Exils in der Musik
• Seit wann kann man von einem musikalischen
Exil sprechen? Gibt es eine Vorgeschichte?
• Ausgangspunkt: Das 19. Jahrhundert
– Rapider ökonomischer, politischer und
demographischer Wandel
• Beschleunigungs-Faktoren:
– Hungersnöte, wirtschaftliche Unsicherheit
– Pogrome, politische Verfolgung
– Anwerbung durch andere Staaten
Folgen des Exils in der Musik
• Folgen des Exils für die Exilierten
– Negativ: Entfremdung von der eigenen Kultur, Ort- und Perspektivlosigkeit,
Sprachverlust
– Positiv: Karriere-Schub, „Neuerfindung“
– Anpassung oder Verweigerung (biographische Belastungssprobe)
• Folgen des Exils für die Nicht-Exilierten
– Verdrängung (psychologisch und faktisch) und Verleugnung der Exilierten
– Verarmung des Musiklebens
– Heuchelei
• Folgen des Exils für die Aufnahmeländer
– Erhöhung des Konkurrenzdrucks
– Bereicherung (brain gain) oder Bedrohung der eigenen Musikkultur?
– Identitätsstärkung oder –verlust?
Folgen des Exils in der Musik
• Folgen des Exils für die Kompositionsgeschichte
– Veränderung des Personalstils
– Festhalten am Personalstil
– Metaphorisierung musikalischer Sprachmittel (Geheimsprache,
Umcodierung etc.)
– Echos (z.B. Steve Reich, Different Trains)
• Folgen des Exils für die Interpretationsgeschichte
– Negativ: Zerstörung von Traditionen/Schulen
– Positiv: Export von Traditionen/Schulen
– Höhere Sensibilität und Bewusstheit des Interpreten?
Folgen des Exils in der Musik
• Rezeption des Exils
– Einmal Exilant, immer Exilant?
– Positive Stigmatisierung ist genauso fatal wie negative
– Aufarbeitung und Rekonstruktion der Folgen des Exils
• Exil als Signatur und Haltung
–
–
–
–
Veränderung der musikalischen Sprache
Verinnerlichung vs. Öffnung
Doppelte oder multiple Identität
Dialektik von Welt- und Selbstwahrnehmung
• Thematisierung und Universalisierung des Exils
– Schock der Entfremdung
– Fremdheit als wichtigste schöpferische Kategorie
Umfang und Ausmaß des Exils
• Ausgangspunkt: Das 19. Jahrhundert
– Rapider ökonomischer, politischer und demographischer
Wandel
• Beschleunigungs-Faktoren:
– Hungersnöte, wirtschaftliche Unsicherheit
– Pogrome, politische Verfolgung
– Anwerbung durch andere Staaten
• Auswirkungen in der Musik:
– Mehrere Tausend (?) Musiker gehen nach 1850 in die USA
– Daneben „normale“ Migration (dauerhaft/zeitweise), vgl.
Damrosch-Dynastie, Gustav Mahler u.a.
Einige Zahlen
• Auswanderung in die USA zwischen 1850 und
1933:
– 5 Mio. Deutsche, 3 Mio. aus Österreich-Ungarn, 2
Mio. Italiener, 1,7 Mio. Iren
– Vermutlich 400.000 Zwangs-Migrationen von
Afrikanern bis zum Civil War (Sklaven-Handel)
• Flucht aus Deutschland nach 1933
– 500.000 Personen, davon
– 10.000 Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle
Komponisten und Komponistinnen
• Paul Abraham, Béla Bartók, Ralph Benatzky,
Walter Braunfels, Hanns Eisler, Leo Fall, Paul
Dessau, Lukas Foss, Berthold Goldschmidt, Karl
Amadeus Hartmann, Paul Hindemith, Erich Itor
Kahn, Giya Kantscheli, Erich Wolfgang Korngold,
Ernst Krenek, György Kurtág, György Ligeti, Ursula
Mamlock, Bohuslav Martinů, André Previn, Sergej
Prokofiew, Karol Rathaus, Alfred Schnittke, Arnold
Schönberg, Robert Stolz, Igor Strawinsky, Josef
Tal, Stefan Wolpe, Isang Yun, Ruth Schonthal,
Mikis Theodorakis, Kurt Weill, Iannis Xenakis,
Isang Yun, Alexander von Zemlinsky
Interpreten
• Leo Blech, Adolf und Fritz Busch, György
Cziffra, Ernst von Dohnányi, Emmanuel
Feuermann, Oscar Fried, Michael Gielen, Erich
Kleiber, Otto Klemperer, Rudolf Kolisch, Fritz
Kreisler, Lili Lehmann, Erich Leinsdorf, Walter
Levin, Ernst Levy, Frank Pelleg (Pollack), Max
Rostal, Kurt Sanderling, Joseph Schmidt, Artur
Schnabel, Rudolf Serkin, Grete Sultan, Eugen
Szenkar, Josef Szigeti, Arturo Toscanini, Bruno
Walter
Wissenschaftler, Theoretiker, Kritiker,
Intendanten, Verleger
• Guido Adler, Theodor W. Adorno, Willi Apel,
Paul Bekker, Rudolf Bing, Carl Ebert, Alfred
Einstein, Josef Gielen, Hans W. Heinsheimer,
Leo Kestenberg, Alfred Mann, Ernst Roth, Felix
Salzer, Leo Schrade, Kurt Singer, Friedelind
Wagner, Egon Wellesz
Das Beispiel Arturo Toscanini
(Parma 1867- New York 1957)
• Seit 1908 Leiter der italienischen Oper an der
Metropolitan Opera in New York, ab 1926
auch Leiter der New Yorker Philharmoniker
• Opfer eines faschistischen Überfalls 1931nach
der Weigerung, die Parteihymne Giovinezza zu
spielen
• Endgültige Emigration 1937 in die USA
• Letztes Konzert 1954 ausschließlich mit
Werken Wagners!
Exilforschung
Das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart ist im gleichmäßigen
Strom der Traditionen weniger auffällig als dort, wo Vergangenheit als Halt
kollektiver Identifikation wegbricht. Solch ein brüchiges Verhältnis von
Vergangenheit und Gegenwart wird offenbar, wenn die Geschichtsschreibung
entdeckt, dass identitätsstiftende Institutionen wie Kirche, Staat und Parteien
in Verbrechen verwickelt waren. Jedoch muss sich solche Erkenntnis gegen das
Verlangen nach kollektiver Identifikation den Weg ebnen. Daher ist das Wissen
um die Verstrickung der Deutschen in die Verbrechen des »Dritten Reiches«,
dass die Geschichtswissenschaften unübersehbar vor ihnen aufgetürmt haben,
nur widerstrebend zur Kenntnis genommen worden. Ebenso wurde die
Erinnerung daran, dass die Mehrheit der künstlerischen Intelligenz aus
Deutschland ins Exil vertrieben worden war, lange Zeit verdrängt. Exilforschung
musste unter diesen Umständen verstörend wirken, zumal sie anfangs zu
einem erheblichen Teil von außen an die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft
herangetragen wurde.
Exilforschung
In den USA wurde der Exodus aus Deutschland bereits unmittelbar nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs Thema der Forschung, allerdings zunächst als
Phänomen der Immigration. Erst allmählich stellten sich Immigranten in den
USA der Aufgabe, ihr eigenes Schicksal bzw. das ihrer Vorfahren aufzuarbeiten,
indem sie nicht nur den »braingain« für die amerikanische Gesellschaft
beschrieben, sondern auch die existenziellen Risiken und psychischen
Traumata ansprachen, die aus der Vertreibung resultierten. Im geteilten
Deutschland stand das Schicksal des Exils der ostdeutschen Öffentlichkeit
unmittelbar vor Augen, da die Mehrheit der Intellektuellen zunächst in die
DDR zurückgekehrt war, in die sie große Hoffnungen setzten; in der
Bundesrepublik übte man sich von wenigen Initiativen abgesehen
Zurückhaltung. Der politischen Führung der DDR waren die Immigranten und
die einsetzende Exilforschung nützlich, da sie dem staatlich verordneten
Antifaschismus und dem Kampf gegen die Führungsmacht des kapitalistischen
Westens dienstbar gemacht werden konnten.
Horst Weber und Manuela Schwartz, Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker 1933-1950, Bd. 1:
Kalifornien, München 2003, S. XV
Differenzierung der Exil-Situation
• Erzwungenes Exil aus Gründen rassistischer,
religiöser oder politischer Verfolgung (zahllose
Beispiele)
• Bewusstes Exil als offizieller Akt des Widerstands
und Protests (Beispiele: Thomas Mann, Artur
Schnabel, Arturo Toscanini) und als politisches
Signal (Beispiel: Dean Reed – „der rote Elvis“)
• „Inneres“ Exil als Manifestation stillen
Widerstands, durch Berufsverbot, Hinderung an
der Ausreise, familiäre Situation u.a. (Beispiel:
Karl Amadeus Hartmann, Walter Braunfels)
Institutionen im Exil
• Orchester: Zuwachs durch Exilanten
• Universitäten und Hochschulen (z.B. Black
Mountain College, 1933-56)
• Verlage (vgl. Ausgründung der U.E. Wien in New
York, Übernahme durch Booseyy & Hawkes)
• Rundfunk (vgl.Mátyas Seibers Arbeiten für die
BBC)
• Wissenschaftliche Einrichtungen (Rockefeller
Foundation, New School for Social Research)
Weitere Aspekte
• Zur Geschichte des musikalischen Exils gehören
auch:
– die Situation in den Herkunftsländern während des
Exils (vgl. Jüdischer Kulturbund in Deutschland) und in
den besetzten Ländern (z.B. Paris und Amsterdam)
– die Versuche der Aufarbeitung nach dem Ende der
Bedingungen, die das Exil verursachten
– die Instrumentalisierung des Exils für (kultur-)
politische Zwecke (z.B. Cold War)
– die Aufgaben für die heutige Generation
(Erinnerungskultur)
Einige (populäre) Irrtümer
• Exilanten genießen bzw. genossen einen
besonderen Schutz in den Aufnahmeländern
• Die künstlerische Emigration im 20.
Jahrhundert betraf nur oder hauptsächlich die
USA
• Exilanten hielten an ihrer Muttersprache fest
• Exilanten waren untereinander solidarisch
• Auch die innere Exil-Situation war nach dem
Ende des äußeren Exils beendet
Negative und positive Stigmatisierung
„Heute ist ‚Entartung‘, diese gefährliche Vokabel der Nazi-Propaganda, aus
den kulturpolitischen Debatten längst verschwunden. Die Ausrichtung von
Musik an einer Norm, zumal an einer Rassennorm, gilt im Zeitalter der
Weltmusik als absurd. Es gibt freilich Tendenzen, Einschaltquoten und
Verkaufsziffern zu neuen Wertkriterien zu erheben. Diesen Tendenzen
gegenüber, auch denen zu neuen Nationalismen, sollte der Begriff
‚Entartete Musik‘ als Warnung vor jeglicher Normierung wirken, als
Plädoyer für kulturelle Vielfalt, wie sie Béla Bartók beispielhaft zum
Ausdruck brachte. Er empfand (…) ‚Entartete Musik‘ als einen Ehrentitel
und bat 1938 die deutsche Regierung mutig, seine Werke sollten
ebenfalls noch in die Düsseldorfer Ausstellung übernommen werden.
Dieses Plädoyer für Toleranz und künstlerische Dialoge ist die aktuelle
Bedeutung des historischen Begriffs. Das wachsende Interesse an den
Werken der einst Verfolgten, das die kommentierte Rekonstruktion der
Düsseldorfer Ausstellung seit 1988 ausgelöst hat und das sich heute an
vielen Orten fortsetzt, bestätigt diese Deutung auf ermutigende Weise.“
Albrecht Dümling, Vorwort zu den Booklets der CD-Serie „Entartete Musik“ (Decca
1995ff.)