FORTBILDUNG SEMINAR Cave analgetische Unterversorgung! Wissen Sie, ob Ihr Demenzpatient Schmerzen hat? DEUTSCHE MIGRÄNE- UND KOPFSCHMERZGESELLSCHAFT M i r i a m K u n z , S t e fa n L au t e n b ac h e r Viele Patienten mit Demenz und chronischen Schmerzen müssen unnötig leiden. Denn die kognitiven Störungen erschweren die Schmerzdiagnostik und können so zu einer analgetischen Unterversorgung der Betroffenen führen. Lesen Sie im folgenden Beitrag, mit welchen Methoden Sie dennoch die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung dementer Patienten schaffen können. −− ©© Jevtic / iStock Im hohen Alter steigt neben der Prä valenz von chronischen Schmerzen auch die Prävalenz von Demenzerkrankun gen deutlich an, weshalb die Kombinati on dieser beiden Probleme im hohen Al ter immer häufiger wird. So wird ange nommen, dass von den derzeit rund 1,5 Millionen Patienten mit Demenz in Deutschland etwas mehr als die Hälfte eine ständige Schmerzversorgung benö tigen. Fazies dolorosa? 2 Eine Vielzahl von klinischen Studien belegt jedoch, dass ältere Menschen, die an einer Demenzerkrankung leiden, im Vergleich zu kognitiv gesunden Perso nen des gleichen Alters deutlich seltener Analgetika verschrieben bekommen bzw. deutlich weniger Schmerzmittel einneh men. So konnte unabhängig von der Art des Analgetikums (NSAR, Opioide etc.) anhand unterschiedlicher Populationen (Heimbewohner, geriatrische Patienten usw.) gezeigt werden, dass Demenzpati enten signifikant seltener Schmerzmittel in signifikant geringerer Dosierung ver schrieben bekommen als nicht demente ältere Personen [1]. Hauptgrund für die verminderte An algetikaversorgung scheint der Abbau sprachlicher Fertigkeiten im Rahmen der Demenzerkrankung zu sein, der dazu führt, dass die Patienten oftmals nicht mehr in der Lage sind, über ihre Schmerzen zu berichten und diese daher oft unbemerkt bleiben. So konnte gezeigt werden, dass im Verlaufe der Demenzer krankung die Fähigkeit, Schmerzen über Selbstauskünfte zu kommunizieren, deutlich abnimmt. Etwa ein Viertel der Demenzpatienten können trotz gezielter Fragen keine eindeutigen Aussagen über ihre Schmerzen machen [2]. Diese ein geschränkte Fähigkeit zur sprachlichen Schmerzkommunikation wirkt sich na Schmerztherapie in der Praxis Regelmäßiger Sonderteil der MMW-Fortschritte der Medizin, betreut von der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) und der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. Verantwortlich: Prof. Dr. med. A. Straube; Prof. Dr. med. T. R. Tölle, beide München PD Dr. med. Miriam Kunz Physiologische Psychologie, Universität Bamberg türlich erheblich auf die Schmerzdia gnostik bzw. auf die Art und Weise aus, wie Schmerzen bei Demenzpatienten zu erfassen sind. Subjektive Schmerzangaben Auch wenn die Fähigkeit, Schmerzen auf gängigen Schmerzskalen zu bewerten, bei Demenzpatienten deutlich beein trächtigt ist, bedeutet das nicht, dass gänzlich auf die Erfassung subjektiver Schmerzangaben verzichtet werden soll te. Da die Fähigkeit zum Schmerzbericht in engem Zusammenhang mit dem Grad der kognitiven Einbußen steht, muss zwischen den unterschiedlichen Schwe regraden der Demenz differenziert wer den. So scheinen Patienten zu Beginn der Erkrankung durchaus in der Lage zu sein, ihre Schmerzen auf gängigen Schmerz skalen zu bewerten. In der Literatur [3] wird als Richtwert für einen noch zuver lässigen Schmerzbericht eine Punktzahl von 18 oder mehr Punkten im MiniMental-Status-Test (MMSE [4]) angeben. MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (10) FORTBILDUNG _ SEMINAR Beobachtung des Schmerzverhaltens Fremdbeurteilungsskalen Wenn die kognitiven Einbußen soweit fortgeschritten sind, dass es nicht mehr möglich ist, Schmerzen über Selbstaus künfte des Patienten valide zu erfassen, stellt sich die Frage nach alternativen Schmerzerfassungsmethoden. Hier gibt es einen hohen Konsens in der Literatur, dass bei fehlendem Schmerzbericht Mi mikreaktionen, nicht-sprachliche Laut äußerungen und Körperhaltung zur Er fassung von Schmerzen hergenommen werden können (Abb. 1). Keinen Konsens gibt es jedoch hin sichtlich der Frage, welche Art von Mi mikreaktionen, Lautäußerungen und Körperhaltungen nun wirklich schmerz indikativ sind. Dieser fehlende Konsens lässt sich gut anhand der einzelnen Items erkennen, die in den unterschied lichen Beobachtungsinstrumenten zur Erfassung von Schmerzverhalten bei De menzpatienten verwendet werden. So ist in den letzten zehn Jahren eine Vielzahl von Fremdbeurteilungsskalen für die MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (10) Abbildung 1 Schmerzerfassung bei Demenzpatienten Kategorialskalen Schmerzbericht (Validität jedoch ab MMSE < 18 fraglich) Schmerzverhalten Mimik (Fremdbeobachtungsskalen für Demenzpatienten wurden entwickelt; Validierungsstudien stehen noch aus; z.B. BESD-Skala) Lautäußerungen ©© M. Kunz Numerische Ratingskalen Körperhaltung Abb. 1 Zur Schmerzerfassung bei Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen werden subjektive und objektive Parameter herangezogen. Erfassung von Schmerzen bei Demenz patienten entwickelt worden. Diese Skalen ähneln sich alle darin, dass zur Schmerzeinschätzung die Mi mikreaktion, Lautäußerungen und Körperhaltung beurteilt werden sollen [5]. Jedoch unterscheiden sich die Skalen deutlich darin, welche Mimikreaktion, Lautäußerungen und Körperhaltung nun auf das Vorhandensein von Schmerz hindeuten sollen. Je nach Beobachtungs instrument werden „ein leerer Blick“, ein „ängstlicher Gesichtsausdruck“, „ein starres Gesicht“ bis hin zu „Grimassie ren“ als Mimikreaktion aufgeführt, die auf Schmerzen hindeutet. Ähnliche Variabilität findet sich hin sichtlich von Lautäußerungen und Kör perhaltungen. Es ist zu hoffen, dass die se Variabilität in den nächsten Jahren abnehmen wird, wenn systematische Validierungsstudien zu den Fremdbeurteilungsskalen durchgeführt werden. Bislang fehlen solche Validierungsstu dien leider. Trotz der unzureichenden Validie rung der Fremdbeurteilungsskalen wird in Deutschland insbesondere die BESDSkala (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz [6]) zur Schmerzerfassung bei Demenzpatienten eingesetzt. Neben Mi mik, Lautäußerungen und der Körper haltung werden zudem noch die Katego rien „Atmung“ und die „Reaktion des Betreffenden auf Trost“ dokumentiert. Für jede Kategorie wird ein Wert zwi schen 0 (keine Verhaltensreaktion) und 2 (stärkste Verhaltensreaktion) vergeben. Es wird empfohlen, die BESD-Skala je weils in einer Ruhesituation und bei kör perlicher Aktivität einzusetzen und hier jeweils den Patienten für je zwei Minu ten zu beobachten. Ein BESD-Punkt wert von ≥ 2 (max. 10) weist auf mögli che Schmerzen hin. Mimikreaktion Die Mimik gilt – neben dem subjektiven Schmerzbericht – als bester Schmerzin dikator. Eine Vielzahl von Studien hat sich mittlerweile mit der Analyse von mimischen Schmerzreaktionen be schäftigt. Hier konnte gezeigt werden, dass es spezifische Muster an Mimikre aktionen gibt, die bei Schmerzen auftre ten [7]. Zu diesen Mimikreaktionen ge hören vor allem das Zusammenziehen ©© M. Kunz Hier ist wichtig, dass bereits im Früh stadium der Demenz möglichst einfache Schmerzskalen verwendet werden soll ten. Empfohlen werden Kategorialska len (hier werden Schmerzen anhand von Kategorien wie „kein Schmerz“, „leichter Schmerz“, „mäßiger Schmerz“ usw. be wertet) oder numerische Ratingskalen (hier wird die Intensität von Schmerzen anhand von Zahlen, z. B. zwischen 0 und 10 eingeschätzt), da diese relativ geringe kognitive Anforderungen an den Patien ten stellen (Abb. 1). Auf den Einsatz vi sueller Analogskalen (VAS) sollte hinge gen verzichtet werden. Mit zunehmendem Schweregrad der Demenzerkrankung wird der Schmerz bericht deutlich invalider, und ab einem MMSE-Wert von 12 Punkten scheinen keine validen Schmerzangaben mehr möglich zu sein [3]. Dies bedeutet vor al len Dingen, dass das Ausbleiben von subjektiv berichteten Schmerzen bei Demenzpatienten im fortgeschrittenen Er krankungsstadium nicht bedeutet, dass der Patient wirklich schmerzfrei ist! Abb. 2 Mimische Veränderungen, die auf Schmerzen hinweisen. 3 FORTBILDUNG _ SEMINAR der Augenbrauen (Musculus corrugator supercilii), die Kontraktion der Musku latur um die Augen herum (Musculus orbicularis oculi), das Anheben der Oberlippe (Musculus levator labii supe rioris) und Öffnen des Mundes (Muscu lus orbicularis oris) (Abb. 2). Die wich tigste bzw. die deutlich dominierende Schmerzreaktion ist hierbei die Aktivi tät des M. orbicularis oculi. Erfreulicherweise lassen sich diese Schmerzreaktionen auch bei Demenzpa tienten beobachten [8, 9] (Abb. 2). Selbst Demenzpatienten, die nicht mehr in der Lage sind, über ihren Schmerz zu berich ten, können den Zustand „Schmerz“ über die mimische Schmerzreaktion kommunizieren. Folglich scheint die Mimikreaktion bei Demenzpatienten als Kommunikationskanal weitaus län ger als die sprachlichen Fertigkeiten er halten zu bleiben. Dies lässt hoffen, dass die mimische Schmerzreaktion eine zu verlässige und informative Alternative zur eingeschränkten verbalen Schmerz kommunikation der Demenzpatienten darstellt. Automatische Mimikerkennung Pflegende haben oft nicht die Zeit, stän dig auf die Anzeichen von Schmerzen zu achten und sie von anderen Quellen des Leidens zu unterscheiden. Zudem ist es im Pflegealltag oft schwierig, das Ge sicht des Patienten während der Pflege tätigkeiten (z. B. Anziehen, Umbetten) kontinuierlich auf potenzielle Schmerz reaktionen zu überwachen. Ein konti nuierliches Monitoring der Mimik kann nur von automatisierten Videomonito ringsystemen geleistet werden, denen das gegenwärtige Wissen über die schmerzspezifische Mimik implemen tiert wurde. Hierzu gibt es in den letzten Jahren zahlreiche vielversprechende Ansätze, die versuchen, mithilfe von neueren Bildverarbeitungsverfahren („Compu tersehen“) eine automatische Schmerz mimik-Erkennung zu realisieren [10, 11]. Es ist zu hoffen, dass diese Verfahren in den nächsten Jahren so weit entwickelt sind, dass sie im klinischen Alltag zur Schmerzerfassung eingesetzt werden können. 4 Zusammenfassung Zusammenfassend sollte zum Reper toire des Schmerzassessment bei Men schen mit Demenz sowohl der subjekti ve Schmerzbericht als auch eine syste matische Fremdeinschätzung gehören. Hierbei sollte je nach Schweregrad der Demenz der subjektive Schmerzbericht kritisch hinterfragt werden, vor allem dahingehend, dass das Ausbleiben von Schmerzauskünften nicht bedeutet, dass keine Schmerzen vorhanden sind. Die systematische Fremdeinschätzung sollte, wenn möglich, nicht auf einer einmali gen Beobachtung des Patienten basieren, sondern auf der Beobachtung des Pati enten über unterschiedliche Situationen hinweg. Literatur unter mmw.de Für die Verfasser: PD Dr. med. Miriam Kunz Physiologische Psychologie Universität Bamberg Markusplatz 3, D-96045 Bamberg E-Mail: [email protected] Schmerzbeurteilung bei Demenz Fazit für die Praxis 1. Zur Erfassung des subjektiven Schmerzberichtes bei Demenzpatienten sollten Kategorialskalen oder numerische Ratingskalen verwendet werden. Ab einem MMSE-Wert von < 18 ist die Validität des Schmerzberichtes nicht mehr gesichert. 2. Der subjektive Schmerzbericht sollte unbedingt durch eine systematische Fremdeinschätzung (z. B. BESD-Skala) ergänzt werden. 3.Schmerzindikative Mimikreaktionen sind: das Zusammenziehen der Augenbrauen, die Kontraktion der Muskulatur um die Augen herum, das Anheben der Oberlippe und das Öffnen des Mundes. Keywords How to recognize pain in patients with dementia Pain – dementia – pain assessment – facial expression MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (10)
© Copyright 2024 ExpyDoc