Bernhard Dressier: Wie frei möchten Sie sein? 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Ein weiter, offener Horizont — und das definitive Ende des Stegs. Sackgasse. Holzweg. Grenzenlose Freiheit — und nichts geht mehr. Da hilft auch das postmoderne bunte Gefieder nicht weiter. Ein ziemlich genaues Abbild unserer gegenwärtigen Lebenserfahrung: Alle Möglichkeiten scheinen uns offen zu stehen — aber so gut wie nichts können wir wirklich ändern. Wir sind, wie die Soziologen sagen, »individualisiert«, freigesetzt aus allen traditionellen Bindungen — und sogleich eingefangen in neue Standardisierungen, Sachzwänge, Selbstlähmungen. Und gegenüber der Übermacht der großen Eigendynamiken von Markt und Macht kann der Mensch als autonomes Subjekt nur noch resigniert abdanken. Gefallener Engel. Aus umgekehrter Perspektive, mit galgenhumorischem Optimismus formuliert, hört sich's kaum erfreulicher an: »Du hast keine Chance. Aber nutze sie«. »WIE FREI MÖCHTEN SIE SEIN? ... SIE (HABEN) DIE WAHL. ABER EIGENTLICH KEINE ALTERNATIVE.« Je unbegrenzter sich die Freiheit selbst imaginiert, desto enger scheinen die Begrenzungen und Unfreiheiten zu werden, in die die Menschen sich verstricken. Das gilt nicht nur im Lebensalltag: In der ökologischen Krise zeigt sich in dieser Einsicht die Signatur der Gegenwart. Die immer uneingeschränktere Machbarkeit, die immer ausgedehntere Verfügungsgewalt schlägt unversehens ins Gegenteil um. Von der Selbstvergötterung zur Selbstvergiftung. Freiheit — jedenfalls die, die sich aus sich selbst zu begründen versucht, die sich niemandem verdankt und folglich auch niemandem verpflichtet weiß —diese Freiheit endet in einer Verstrickung. Das eigene Leben soll gestaltet werden können —geradezu lächerlich: mittels der Verstrickung. Überall an der Strippe sein, wenigstens bildlich, mit Funktelefon. Völlig losgelöst? Denkste Puppe. Ist die ironische Pointe ein unfreiwilliger Treffer des Werbepsychologen oder subtile Selbstironie? Immerhin wird klar: Freiheit heiße, zum »Herrn der Lage gemacht« zu werden. Wodurch? Durch die Allgegenwart der Anbindung an die Strippe. 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Aber je mehr alle Freiheitsverheißungen umstandslos gleich wieder kassiert werden, desto mehr bleibt Freiheit eine Art Alltagsreligion des modernen Menschen. Jedenfalls die als Selbstbehauptungsvermögen und pure Mobilität vorgestellte Freiheit: »HERR DER LAGE« sein — »PROBLEMLOS ... GRENZEN ÜBERSCHREITEN KÖNNEN.« Wer Freiheit so zu verstehen sucht, verfehlt sie gleich doppelt: im Zwang, sich unentwegt selbst zu behaupten — und für diese Selbstbehauptungsfähigkeit von der Anbindung an das Mobilitätsversprechen der modernen Technik abhängig zu sein. So endet die unendliche Wahlfreiheit, der unendliche Zwang zur dauernden Wahl: »WIE FREI MÖCHTEN SIE SEIN? SIE HABEN EIGENTLICH KEINE ALTERNATIVE.« Diesen merkwürdigen dialektischen Umschlag von Freiheit zur Unfreiheit hat schon der Apostel Paulus bedacht. Eine Freiheit, die sich selbst zu verdanken meint, verliert sich. »Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen« (1. Kor 6,12). Wie das? »Euch gehört alles, doch ihr gehört Christus und Christus gehört Gott« (1. Kor 3, 22f.). Oder, anders gesagt: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit [...] Ihr seid ja doch zur Freiheit berufen, Brüder. Nur: Sorgt dafür, dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht die Bahn frei gibt, sondern dient einander in der Liebe« (Gal 5, 1.13). Der farbige Engel: Ein Rest, ein Surrogat der Erinnerung daran, dass wir zuvor Gott gehören, bevor wir frei sind? Dass aus sich selbst begründete Freiheit, Freiheit ohne alles Zugehörigkeitswissen, ins Bodenlose stürzt? Dass wahre Freiheit den Gang des Faktischen übersteigt, eine Instanz außerhalb unseres Weltzusammenhanges — dessen also, was der Fall ist — zur Voraussetzung hat? Falsche Freiheitsversprechungen sind es, die die bunte, aber doch wohl flugunfähige Flatterfrau ans Stegende manövriert haben. Keine Alternative. Da sitzt sie nun, träumt hin zum offenen Horizont, der unerreichbar bleibt. Und die Freiheitssehnsucht bleibt ungestillt. Aus: Loccumer Pelikan 3/1993. S.a.: B. Dressier (Hg.), Der bedrohte Mensch. Zeitkritische Impulse christlicher Anthropologie. Arbeitshilfen Gymnasium 5, S. 116f.
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