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2. Advent – 6.12.2015
Text: Jak. 5, 7-8
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit
uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde!
ich will ja nicht direkt behaupten, dass Jesus sich geirrt hat. Und dass Jakobus von falschen
Voraussetzungen ausgegangen ist. Aber sie lebten schon in einer anderen Welt. Ob Jesus vom
Kommen des Menschensohns spricht oder vom nahen Reich Gottes – es hört sich durchaus so
an, als ob er es noch für seine Generation erwartet. Auch Jakobus hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass seine „Brüder und Schwestern“ noch mindestens 2000 Jahre Geduld haben
sollten, bis der Herr kommt. Nein, Jesus – oder zumindest die Evangelisten, die seine Worte
überliefert haben – und Jakobus und die anderen Christinnen und Christen zur Zeit der Bibel
haben wohl alle damit gerechnet, dass das Ende vor der Tür stand. In diesem Geist sind die
ersten Gemeinden organisiert. In diesem Geist hat Paulus zum Beispiel seine Mahnungen geschrieben. Wenn er sagt, dass man nicht heiraten solle, dann meint er einfach: Es lohnt sich
nicht mehr, angesichts der nahen Wiederkunft Jesu. Heute muss man schlicht sagen: Paulus
ist von falschen Voraussetzungen ausgegangen.
Sind die Christen also seit 2000 Jahren einem grandiosen Irrtum aufgesessen? Nun, dass
Jesus nicht so bald wiederkommt, hat die Gemeinde schon ziemlich bald mitbekommen. Im
Grunde reagiert Jakobus selbst schon darauf: Habt Geduld, bald – baaaald wird es geschehen.
Bis dahin: Bleibt standhaft und verhaltet euch anständig.
Immer wieder hat es in der Kirchengeschichte Menschen gegeben, die davon überzeugt waren: Wir leben in der Endzeit. Kriege, Seuchen oder der allgemeine Verfall der Moral weisen
doch eindeutig darauf hin, dass Jesus sein 1000-jähriges Reich demnächst errichtet. Die Zeugen Jehovas brachten das Datum 1843 ins Spiel und später 1914. Die Adventisten meinen seit
über 150 Jahren, es werde „bald“ geschehen. Und in den USA sind die so genannten Milleniumschristen stark vertreten.
Menschen, die näher an der Realität gebaut haben, haben sich von diesen Vorstellungen
schon verabschiedet. Auch im kirchlichen Mainstream spielen sie, zumindest hier in Europa,
kaum noch eine Rolle. Wenn es die letzten 2000 Jahre nicht geschehen ist, wird es wahrscheinlich auch in den nächsten 50 nicht passieren.
Und nachdem auch ein nichtchristliches „Tausendjähriges Reich“ ebenso gescheitert ist wie
die kommunistische Weltrettungsvariante, sind die persönlichen Ziele und Hoffnungen der
Menschen heute eher übersichtlicher, persönlicher, praktischer geworden. Für die einen, in
der Nachkriegszeit unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen aufgewachsen, sind vielleicht Häuschen und bescheidener Wohlstand das Größte. Die nächste Generation wollte sich
dringend aus den engen moralischen Grenzen befreien. Für die Jüngeren heute geht es dann
um die Frage: Wie gehe ich mit dieser Freiheit um? Gibt es lebenswerte Ziele jenseits von
iphone und youtube?
Ich glaube ja, es gibt zwei Arten von Menschen: Die einen sind durchaus zufrieden sind mit
dem, was sie haben. Zumindest meinen sie: Wenn es anders wird, dann kann es nur schlechter
werden. Und damit alles bleibt, wie es ist, gehen sie zur Not auch auf die Straße.
Die anderen halten es eher mit Erich Fried, der gesagt hat: Ich weiß nicht, ob es besser wird,
wenn es anders wird. Aber damit es besser wird, muss es anders werden. Oder, noch schärfer:
Wer will, dass alles bleibt, wie es ist, will nicht, dass es bleibt.
Das sind oft Menschen, deren Sehnsucht über das größere Auto hinausgeht. Und an sie
richtet sich Jakobus. Er sagt: Wir erwarten etwas Größeres. Ein anderer Dichter, Max Frisch,
hat es in einer kleinen Notiz so ausgedrückt; sie heißt: Am See: „Oft, während ich hier sitze,
immer öfter wundert es mich, warum wir nicht einfach aufbrechen – wohin? Es genügte, wenn
man den Mut hätte, jene Art von Hoffnung abzuwerfen, die nur Aufschub bedeutet, Ausrede
gegenüber jeder Gegenwart, die verfängliche Hoffnung auf den Feierabend und das Wochenende, die lebenslängliche Hoffnung auf das nächste Mal, auf das Jenseits – es genügte, den
Hunderttausend versklavter Seelen, die jetzt an ihren Pültchen hocken, diese Art von Hoffnung auszublasen: groß wäre das Entsetzen, groß und wirklich die Verwandlung.“
Damit sich in unserem Leben wirklich etwas verändert, so sagt Max Frisch, müssen wir erst
einmal Abschied nehmen von unseren kleinen Hoffnungen, dass irgendwann – heute Abend,
nach der Prüfung, wenn der Traumprinz kommt, wenn Syrien in die Steinzeit zurückgebombt
ist, wenn wir erst einmal im Ruhestand sind – dass dann alles besser wird. Er nennt sie „Ausreden gegenüber jeder Gegenwart“. Ja, ich vermute, dass er unter diese Art von Hoffnung auf
die Erwartung des Messias rechnen würde: eine Hoffnung, die uns von der Gegenwart ablenkt
und uns vertröstet auf irgendwann und uns lähmt. Solche Hoffnungen sind, um ein Wort von
Karl Marx aufzugreifen, Opium des Volkes.
Stehen sich da Max Frisch und Jakobus nicht diametral gegenüber – hier das Rechnen mit
der Wiederkunft Jesu, dort die Ablehnung jeglicher Jenseitshoffnung? Nun, soviel kann man
wohl sagen: Wären sie sich begegnet, der Agnostiker Max Frisch hätte wahrscheinlich mit der
Religiosität eines Jakobus wenig anfangen können wie umgekehrt Jakobus den Frisch schlicht
nicht verstanden hätte.
Und doch sind sie sich vielleicht näher als der erste Blick vermuten lässt. Nehmen wir einmal
an, dass Jakobus wenigstens eine Ahnung davon hatte, dass das mit der Wiederkunft Jesu
durchaus noch dauern könnte. Vielleicht nicht gerade 2000 Jahre, aber dass sie zumindest zu
Lebzeiten seiner Gemeindeglieder nicht einträfe. Und vieles spricht dafür, dass es so ist. Dann
ist seine Botschaft:
Lebe nicht so, als ob dich die täglichen Aufgaben nichts angingen. Tu nicht so, als ob du auf
deine Mitmenschen nicht achten müsstest. Tu nicht so, als ob es auf dein Verhalten nicht ankommen würde, weil du meinst: Ich bin ja sowieso gerettet, und die Zeit bis zum Ende kann
doch nur noch Stunden dauern. Im Gegenteil. Es kommt alles darauf an, was du jetzt und
heute tust.
Jakobus ist ja geradezu der Apostel der guten Werke, und er dekliniert das an einigen Beispielen durch: Achte auf deine Zunge. Was du sagst, kann schlimmer sein als ein scharfes
Schwert. Handle und urteile ohne Ansehen der Person; ziehe den Reichen dem Armen nicht
vor, eher im Gegenteil. Achte auf deinen Partner, deine Partnerin. Übe Barmherzigkeit. Neid
und Streit sind schlecht. Friede und Gerechtigkeit gut. Bete für die Kranken und mach sie gesund.
Ob sich Jakobus und Paulus gut verstanden hätten, ist nicht überliefert. Aber diese Haltung
klingt sehr nach dem 2. Korintherbrief: Heute ist die Zeit der Gnade, heute ist der Tag des
Heils.
Und das heißt gerade nicht, dass heute und jeden Tag ein Feuerwerk der Gefühle und Erlebnisse abgefeuert wird. Die Normalität, das ist die Zeit der Gnade. Der Alltag, das ist der Tag
des Heils. Und die Haltung, diesem Tag zu begegnen, ist, nach Jakobus, die Geduld. Das ist
durchaus etwas Anderes als Nichtstun. Der Bauer, den sich Jakobus zum Vorbild nimmt, muss
die Zeiten erkennen, das Wetter einschätzen, seine ganze Erfahrung einsetzen und dann auch
einmal riskante Entscheidungen treffen.
Das ist im wirklichen Leben gar nicht so einfach. Gegen die Herausforderungen, die wir
heute zu bestehen haben, wirken die Aufgaben eines Bauern fast übersichtlich. Ein erster
Schritt auf unserem Wege kann sein, den Rat von Frisch zu befolgen: Sich zu befreien von den
Illusionen und kleinen Hoffnungen, die einen von der Gegenwart ablenken. Und dann sehen,
was passiert. Vielleicht ist es ja schon genug.
Diese Erfahrung ist keineswegs neu oder auch nur vergessen gewesen. „Sing, bet und geh
auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so
wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er
nicht.“ So dichtete Georg Neumark 1657. Und mit dieser Haltung wären wir Max Frisch sogar
einen Schritt voraus: Wir können uns fallen lassen in den Alltag, weil wir daran glauben und
darauf vertrauen, dass Gott uns auffängt. Denn er kommt, in unser Leben, wie Weihnachten.
Zuverlässig und manchmal ganz überraschend.
Amen.