Eröffnungsrede «Alpentöne-Festival» am 14. August 2015 in Altdorf/URI Von Fredi M. Murer © Liebe Landsleute Liebe Musikerinnen und Musiker Meine Damen und Herren Wenn die Dadaisten behaupten, dass DADA schon da war, bevor DADA da war, so trifft dies noch viel mehr auf das Alpentöne-Festival zu. Denn das früheste Konzert dieser Art, das zudem mit Abstand am längsten dauerte, und garantiert das lauteste aller Zeiten war, ging hier in dieser Gegend schon vor 70 Millionen Jahren über die Bühne. Damals nämlich, als die tektonische Platte Afrikas sich mit einem unwiderstehlichen Crescendo berstend und krachend unter die Adriatische Platte schob, und auf einer Bühnenbreite von 1200 Kilometern mit symphonischer Brachialgewalt das gigantische Alpenmassiv aus dem urzeitlichen Kreidemeer hievte und die in der Tiefe schlummernden Gesteinsschichten wie warmen Dätwyler-Gummi Tausende von Metern in den Himmel türmte. Lautstark begleitet von einem sturzflutartigen Tsunami-Rauschen des fliehenden Meeres in drei von vier Himmelsrichtungen. Allerdings kamen diese urtümlichen Alpentöne nur wenigen Menschen zu Ohren. Denn unsere damaligen Vorfahren, die sogenannten «Homines erecti» (Letzteres bezieht sich übrigens auf ihren aufrechten Gang), waren im Vergleich zu den vielen andern Tierarten in dieser subtropischen Gegend - mehrheitlich Saurier - eine verschwindend kleine Minderheit, weshalb der Publikumsaufmarsch vermutlich eher gering war. Wie auch immer: wir heutigen Bewohner der Alpenländer verdanken unsere einzigartige Umwelt der ungestümen Wanderlust des afrikanischen Kontinents in Richtung Norden. (Sogar unser Matterhorn soll zu 100% aus Erosionsresten einer afrikanischen Gesteinsdecke bestehen.) Diesem grandiosen Vorgang der Alpenfaltung verdanken wir aber auch die Tatsache, dass die publikumswirksamen, blutroten Sonnenauf- und -untergänge über dem damaligen Kreidemeer sich an die Ränder des heutigen Europas zurückziehen mussten. Also dorthin, wo heute in südlicher Richtung San Remo liegt, in westlicher Porto oder La Rochelle, und in nördlicher Richtung Hamburg. Zum Glück für Sie, meine Damen und Herren, sind die Alpen bei uns entstanden, sonst müssten Sie sich in den nächsten Tagen süssliche Valente-Torriani-Schlager, traurige Fados und romantisches Musette-Georgel anhören - oder im schlimmsten Fall sogar Seemannslieder. Sicher haben diese meeranstössigen Rand-Europäer einen viel weiteren Horizont als wir in unseren Bergtälern. Aber dafür leben wir hier auf einem sehr viel höheren Niveau – zumindest was die Anzahl «Meter über Meer» angeht, aber auch in musikalischer Hinsicht, wie ich finde. Wobei eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen dem Alphorn und einer Schiffshupe nicht ohne Weiteres abgestritten werden kann. 1 Aber darin liegt ja eben gerade das Geheimnis, weshalb Musik keine Grenzen kennt: weil sie an keine Sprache gebunden ist. – Es sei denn, man singe auch noch strophenweise Wörter dazu. Als Musikliebhaber, der selber nicht singen kann, gehöre übrigens auch ich zur jener grossen, schweigenden Mehrheit, die nach ihrem ersten (und zugleich letzten) Besuch in der Oper zu sagen pflegt: Warum singen die eigentlich, man kann doch reden miteinander. Jodeln hingegen kann man auch ohne Worte und erst noch überall! – Wobei ich mir einen Jodel, «Hüüzli» oder ein «Zäuerli» auf Meereshöhe so wenig vorstellen kann wie Möwengekreische in unseren Bergen. Und dass dem so ist, hat vermutlich mit dem Zwillings-Paar «Heimweh» und «Fernweh» zu tun. Denn wir Bewohner des Alpenraums sind ganz besonders leidenschaftliche Heimwehmenschen: Je enger das Tal und je kleiner das Dorf, umso heftiger leiden wir daran. Während die Menschen am Meer mit Vorliebe das Fernweh pflegen und immer nur singen: «Ein Schiff wird kommen.» – Doch wenn es dann endlich kommt, steigen sie nicht ein. – Wahrscheinlich aus Angst vor Heimweh! Da haben wir es besser. Bei uns kommt immer wieder ein Zug oder ein Postauto, sogar im Stundentakt, und wir steigen auch ein. Aber bevor das Heimweh uns einholt, sind wir längst wieder ausgestiegen – und zwar zu Hause. Es kommt zwar immer wieder vor, dass einige der Eingestiegenen zu Aussteigern werden und nicht mehr heimkehren, weil sie draussen im Flachland oder (noch schlimmer) in der «Agglo» zwischen dem Uetli- und dem Züriberg eine Arbeit oder ihre Liebe gefunden haben. Dafür bezahlen sie oft einen hohen Preis, weil sie aus ihren Wohnblockfenstern meist nur die Fassade des gegenüberstehenden Hochhauses sehen. Dies wird wohl auch der tiefere Grund gewesen sein, weshalb sie sich in den wilden 80er-Jahren einer Bewegung anschlossen, die sich «freie Sicht aufs Mittelmeer» und «nieder mit den Alpen» auf ihre Fahnen schrieb bzw. an fremde Hausmauern sprayte. Psychologisch gesehen: ein typischer Fall von Heimweh, der sich als Fernweh tarnt. Und dies wiederum wird der Grund sein, weshalb die Zürcher ihre zwei Moränenhügelchen so hemmungslos «Berge» nennen. Übrigens: Der beste Song, der aus dieser voralpinen Fernweh-Bewegung hervorging, hiess: «Campari Soda». Wobei die Band (die mit diesem «Hit» abhob bis weit übers Wolkenmeer) sich selber nicht etwa «La nave va» oder «Swissair» nannte, sondern «TAXI». Mit andern Worten: Auch sie blieben lieber auf dem heimeligen Boden haften, auch wenn dieser nur geteert ist. Aber eigentlich egal ob Fern- oder Heimweh, die einzige wirksame Medizin dagegen ist nach wie vor die Musik. Und für «alpine Seelen» heisst diese Musik ohne Zweifel: «Alpentöne». Wie wir wissen, ist die Rückfälligkeitsrate bei Heimwehsüchtigen sehr hoch, was der Grund sein dürfte, weshalb heute Abend alle wieder da sind, die schon das letzte, vorletzte und vorvorletzte Mal da waren - an diesem besonderen Altdorfer Musikfestival. Einige vielleicht auch nur darum, weil Sie für die bevorstehenden Wintermonate Ihre Seelen-Batterien mit herzerwärmender Klangenergie aufladen wollen. 2 Zu meiner Schande muss ich Ihnen an dieser Stelle gestehen, dass ich heute zum ersten Mal da bin. Nicht in Altdorf, sondern an diesem Musikfestival der besonderen Art. Aber als geborenes «Seekind» habe ich möglicherweise etwas mehr Fernwehals Heimweh-Gene erwischt, was sich offenbar auch auf meine musikalischen Vorlieben ausgewirkt hat. Kommt dazu, dass mir als Kind der Vierwaldstättersee im dichten Herbstnebel so gross und weit erschien wie das Meer. Und über diesen schönsten aller Seen ist anno 1946 meine Familie auf der Suche nach einem besseren Leben, aus dem nationalstrassenlosen Nidwalden kommend, per Schiff ins personenfreizügige Urnerland eingewandert, um sich unweit von hier in einem Wohnblock (mit freier Sicht auf das erste Hochhaus der Schweiz) niederzulassen. Als Seekind konnte ich zwar mit geschlossenen Augen alle VierwaldstätterseeDampfer am Klang ihrer Schiffshupen erkennen. Dennoch wünschte ich mir weder ein Schiffs- noch ein Alphorn, sondern immer ein Klavier. Wobei es aus ökonomischen Gründen «nur» für eine Handorgel reichte, immerhin eine mit Klaviertasten. Dies beflügelte mich, das Instrument auf ein Tischchen zu binden und meine Schwestern zu nötigen, am Bass-Riemen zu ziehen und zu stossen, damit ich endlich Klavier spielen konnte. Leider beschränkt sich mein «absolutes Musikgehör» nur auf jene Musik, die andere spielen – meine eigenen Misstöne hingegen höre ich nicht. Und so kam es, dass mein Vater (der übrigens ein begnadeter Klarinettenspieler war und als junger Mann mit seiner Kapelle namens «Siebnermuisig» rund um den Vierwaldstättersee auf allen Hochzeiten aufspielte) meinen Schwestern verbot, mir weiterhin zu assistieren. So ist einmal mehr (durch väterliche Gewalt) der Musikwelt ein Wunderkind erspart geblieben, wofür ich mich später rächte, indem ich ein fiktives für die Leinwand erfand. Weil mir, dem missratenen Musiker, das Komponieren von Alpentönen verwehrt geblieben ist, musste ich mich halt damit begnügen, Alpenfilme zu initiieren. Wobei der Ton für mich immer genauso wichtig war wie das Bild. - So stand zum Beispiel im Drehbuch zu «Höhenfeuer», dass auf dem Bergheimet nur die Musik der Natur zu hören sei, sowie die Geräusche und Töne, die von den Familienmitgliedern und deren Haustieren und Gerätschaften verursachen würden. Also nebst Wind und Wetter die Stimmen der Käuzchen und Bergdohlen, das Muhen der Kühe, das Schnarchen der Schweine und Gackern und Hühner und ab und zu ein Bellen des Hundes. Dazu das Rattern der Seilwinde und des Balkenmähers, die rhythmischen Klänge beim «Wetzen» und «Dengeln» der Sense, der Sing-Sang der Sägen und das Splittern des Holzes beim Spalten. Während im Hintergrund Tag und Nacht der Brunnen vor sich hin plätschere. - Also lauter Alpentöne vom Feinsten. Wie gesagt: So stand es im Drehbuch! – Aber was wir auf dem Filmset, bzw. auf unserem 300 Jahre alten Heimet «Wasserplatten» (ob Silenen) zu hören bekamen, waren Alpentöne einer ganz anderen Art. Über uns übten künftigen Mirage-Piloten der Schweizer Armee mit Kleinflugzeugen ihre obligatorischen Kunstflugfiguren. Mit aufheulenden Motoren flogen sie ihre wundervollen «Loopings» und «gerissenen Rollen». Und immer wieder schraubten sich ihre Propeller senkrecht und keuchend in den Himmel (das sogenannte «Männchen»), um dann stumm ins Leere zur trudeln und sich vor unseren Augen und Kameras mit einem ohrenbetäubenden Crescendo wieder aufzufangen. 3 Sicher hätte Richard Strauss an dieser obertonreichen PS-Alpensinfonie seine Freude gehabt. – Wir vom Team zwar auch, aber ans Filmen mit Ton war nicht zu denken. Und kaum waren die Flieger entschwunden, machte sich diskret die rhythmische Musik der Alpentransversale bemerkbar. Alle drei Minuten ein Zug, begleitet von einer Fernweh erzeugenden Geräuschfahne, die, je nach Windrichtung im Reusstal, etwas früher oder später zu uns heraufwehte. Und je nach Güter- oder Personenzug und (temperaturabhängiger) Spaltenbreite zwischen den Schienen hatte das eiserne Trommeln der Zugsräder einen völlig anderen Beat. - Ganz im Gegensatz zum rhythmuslos-monotonen Dauer-Tosen der A1, das wir mit der Zeit nur noch dann wahrnahmen, wenn es wegen STAU für kurze Zeit verstummte – dies dafür umso wohltuender, weil wir dann sogar die Reuss hörten konnten. Mit diesen transalpinen Alpentönen im Ohr sind die Urnerinnen und Urner geboren worden und aufgewachsen. Und weil wir «Heimat» nicht nur mit unseren Augen und dem Gaumen wahrnehmen, sondern auch mit den Ohren, ist nicht auszuschliessen, dass ab dem nächsten Jahr, wenn die Züge schnurgerade unten durch müssen, die Bewohner des oberen Reusstals wegen der eingekehrten, gespenstischen Stille schlaflose Nächte haben werden. Denn nach 125 Jahren akustischer Koexistenz mit der CO2 -losen SBB, hat sich diese mechanische Klangmusik tief ins Gemüt der Urnerinnen und Urner eingenistet. - Wenigstens bleibt ihnen dann noch das naturbelassene Rauschen der Reuss - und natürlich das allgegenwärtige Rottorengeflacker der nützlichsten Riesenlibelle des Alpenraums, namens «Heli». Ja, und nun, meine lieben Musikerinnen und Musiker, liegt der Schwarze Peter bei Euch. Denn in naher Zukunft werden es unseren Landsleute bestimmt mit Entzugserscheinungen und Symptomschmerzen zu tun bekommen, welche ausschliesslich mit Alpentönen der Euren Art kuriert oder gemildert werden können. Also lasst sie nicht in Stich! - Sonst wandern sie alle ab zum «Musikantenstadl». Abschliessend, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen noch ein ganz kleines Gedicht vorlesen, das mir kürzlich auf einem Zuckersäckli begegnet ist. Und das geht so: Der Maulwurf hockt in seinem Loch und hört ein Lerchenlied erklingen Und spricht: Wie sinnlos ist es doch zu fliegen und zu singen! * Falls Sie in Ihrem Freundes - oder Bekanntenkreis solche Maulwürfe vermuten, laden Sie diese doch bitte an die bevorstehenden Konzerte ein. Sie werden Ihnen lebenslänglich und neidlos dafür dankbar sein. Ich danke fürs Zuhören. * Gedicht von: Emanuel Geibel (1815 -1884) 4
© Copyright 2024 ExpyDoc