Fleisch und Farbe

Fleisch und Farbe Ein Werkstattbericht
Steffen Huck
In seiner WZB Distinguished Lecture befasste sich Wirtschafts-Nobelpreisträger
Al Roth kürzlich mit der Frage, was ökonomische Transaktionen abstoßend
macht. Dabei ging es ihm vor allem um Organspenden und die Frage, warum
außerhalb der Islamischen Republik Iran der Handel mit Organen überall auf der
Welt verboten ist, welche Konsequenzen das hat und wie man Leben retten kann,
ohne auf emotionalen oder ethischen Widerstand zu stoßen – nämlich durch
geschicktes Design von Institutionen, die den Tausch von Organen ermöglichen.
Nur am Rande kam Roth dabei auf ein anderes Thema abscheulichen Handels zu
sprechen, das ihm, wie in mehreren Interviews nachzulesen ist, ebenfalls sehr
am Herzen liegt: Was darf man essen?
In seiner unterhaltsamen Vorlesung verwies Roth nur auf die international
stark divergierenden Einstellungen zum Essen von Pferdefleisch, aber im Hintergrund lauert natürlich die größere Frage der Abscheulichkeit von Massentierhaltung. Eine überwältigende Mehrheit der Konsumenten findet diese
furchtbar, ernährt sich freilich gleichzeitig überwiegend fleischlich. Roth sagt
deshalb voraus, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis vegane Ernährung von
einem Rand- zu einem Massenphänomen wird. Ein gutes Thema also für eine
Forschungsabteilung wie die unsere, die sich ökonomischen Fragen des Wandels
verschrieben hat. Aufgenommen wurde das Thema vor zwei Jahren gemeinsam
mit WZB-Fellow Nora Szech in einer ersten größeren Diskussionsveranstaltung
unter dem Titel „Animals as Food“.
Das Thema ließ uns danach nicht mehr los. Gemeinsam mit Anna Becker, die
heute am University College London (wo ich eine Professur habe) promoviert,
wollten wir untersuchen, wie sich in der Vergangenheit Einstellungen zu Tieren
und deren Wohlfahrt geändert haben. Zum Beispiel interessierte uns die Frage,
was denn jeweils historisch zuerst kam, ein Bewusstsein für das Leiden von
Tieren oder die Tierschutzgesetzgebung? Ein prächtiges Instrument zum Auffinden passender Daten sahen wir in Google Ngram, Googles Datenbank der Häufigkeit einzelner Wörter in Buchpublikationen (ein herrliches Spielzeug, siehe die
Abbildung auf Seite 14: meine erste Ngram-Suche überhaupt, inspiriert von
Nora Szechs Papier zu Märkten und Moral. Da muss um 1920 herum offensichtlich etwas Dramatisches passiert sein!).
Summary: H
ow appropriate are the
traditional methods of social sciences
when it comes to complex topics
which transcend disciplinary borders,
such as animal welfare and animal
mass production? In cooperation with
The Berlin University of the Arts,
Steffen Huck and his project collaborators were seeking for a transdisciplinary approach. They collected photos depicting traditional Christmas
food and surroundings and problematized the conflicts between pretension and actual behavior and studied
correlations between meat, color, and
savoriness.
Kurz gefasst: Wie angemessen sind
herkömmliche sozialwissenschaftliche Methoden bei der Analyse von
komplexen, Disziplinen übergreifenden gesellschaftlichen Themen wie
etwa der Wohlfahrt von Tieren bei
gleichzeitiger Massentierhaltung? In
einem Kooperationsprojekt mit der
Universität der Künste Berlin tastet
sich eine Gruppe um Steffen Huck an
einen transdisziplinären Zugang heran. Anhand von Fotos von typischen
Weihnachtsessen und -arrangements
problematisieren sie die Widersprüche zwischen Anspruch und tatsächlichem Verhalten und stellen Zusammenhänge zwischen Fleisch, Farbe
und Appetitlichkeit dar.
Da Ngram die Suche in unterschiedlichen Sprachräumen erlaubt, war unsere
Idee einfach: Wir beginnen mit Deutsch, betrachten die Häufigkeit von Wörtern
wie „Tierschutz“ oder „Tierleid“ im Zeitverlauf und legen darüber ein Raster mit
Daten, wann entsprechende Verbände gegründet und Gesetze geändert wurden.
Alles zusammengenommen dann als quasi visuelle Hypothese für Kausalzusammenhänge, zu testen in anderen Sprachräumen. Tolle Idee, fanden wir, nur leider
kam nichts dabei raus. Also: komplizierter denken, Ökonometrie heranziehen,
Instrumente finden, die Antwort durch multiple Regressionen finden. Das ist
unser Impuls, wann immer es um Empirie geht. Mit jedem Fehlschlag wurde uns
klarer, dass wir zu einfach dachten, dass man einem Problem, bei dem sich Ethik,
Wirtschaft, Kultur und Geografie so formidabel vermengen, eben mit entsprechend komplexen Analysemethoden begegnen muss. Bis wir vor lauter Bäumen
den Wald nicht mehr sahen. Nach über einem Jahr gab es nicht einmal ein Dokument, das unser Scheitern illustrierte.
Bewegung in die Sache bringen: Jutta Allmendinger, Präsidentin des WZB, David
Skopec, Professor für visuelle Gestaltung an der Universität der Künste Berlin
(UdK), und Jessica Haase, am WZB zuständig für Forschungsplanung und -strategie. Das WZB würde nun mit der UdK zusammenarbeiten, berichteten sie, in einem Visual Society Pro7·Ó, das in die Sozialforschung die Idee implantieren soll,
Design als Erkenntnisinstrument zu benutzen. Pretty crazy, aber wir waren am
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Moral
Markt
0,009%
0,008%
0,007%
0,006%
0,005%
0,004%
0,003%
0,002%
0,001%
1800
1820
1840
1860
1880
1900
1920
1940
1960
1980
2000
Markt und Moral: Häufigkeit der Begriffe (1900-2000)
Quelle: Google Ngram
Ende unserer Möglichkeiten, hatten nichts mehr zu verlieren, und Ngram, dachten wir, wäre ja eine geradezu perfekte Datenquelle, die nach Visualisierung
ruft.
Ich stelle das Projekt David Skopec und seinen Studenten vor und mache klar,
dass es so tot wie ein geschlachtetes Rindvieh ist, wenn sich niemand meldet. Es
melden sich drei. Von denen bleibt eine übrig.
Einen zusätzlichen Impuls gibt Julia Schubert: Julia Schubert, Masterstudentin
an der UdK mit Begabung für Synästhesie. Wir verbringen ungezählte Stunden
mit Ngram, philosophischen Schriften (Peter Singer natürlich), ein paar verstreuten quantitativen Studien und sagen uns, dass wir alle mal die vegane Restaurantszene in Berlin erkunden sollten. Zeit verstreicht, es wird dunkel in
Berlin und, ja, Weihnachten steht vor der Tür. Das Fest des Jahres, das mehr als
alle anderen nicht nur von den Überbleibseln des Christentums und der Rolle
von Familie gekennzeichnet ist, sondern eben auch vom Weihnachtsessen. Warum, fragt irgendwann jemand (ich weiß nicht mehr, wer es war) starten wir
nicht einen Aufruf, der Leute darum bittet, ihr Weihnachtsessen für uns zu fotografieren? Kostet nix, geht nur jetzt, und wer weiß? Julia Schubert entwickelt
zwei Grafiken, die beschreiben, in welchem Winkel wir (a) den Tisch und (b) den
gefüllten Teller aufgenommen haben wollen. Wir anderen entwerfen einen Fragebogen dazu. Raus über diverse E-Mail-Verteiler, auf die WZB-Homepage, irgendwann sind wir sogar im Tagesspiegel. Dutzende Kollegen versprechen, den
Fotoapparat zu zücken, alle sind ein wenig amused.
Aber natürlich, wenn das Essen am Heiligabend oder ersten Feiertag endlich
dampfend auf dem Tisch steht, hat man wohl doch anderes im Kopf als einen
merkwürdigen WZB-Aufruf. Viele Versprechen werden gebrochen, beinahe breche ich mein eigenes. Trotzdem kriegen wir über die nächsten zwei Wochen
über 50 Bildersets samt ausgefüllten Fragebogen. Ein Anfang!
WZB-Lecture von Alvin Roth über
­„abscheuliches Handeln“
https://vimeo.com/143986178
Was dann kommt, ist zunächst vorhersehbar, dann kaum mehr. Dann gar nicht
mehr. Erst mal entscheiden wir, unsere Bilder auswerten zu lassen, und zwar
quantitativ. Also entwerfen wir einen Fragebogen, herrlich auf A3. Wir lassen
beurteilen, wie viel Fleisch auf Tischen und Tellern liegt, wie festlich das Ganze
ist und wie alkoholschwanger, und wie gern man die abgebildeten Speisen selber essen würde. Und wir dokumentieren die Korrelationen, so dass man sie
sehen kann (Julia Schubert erfindet dabei die Kraft des „bedingten Erwartungswerts“, ohne ihn je in einer Vorlesung oder von uns erklärt bekommen zu haben. Ich bin platt.)
WZB-Diskussion „Animals as Food?“
https://vimeo.com/81491557
Und dann kommt Julia mit einer Idee, von der ich anfangs nicht weiß, ob ich sie
bezaubernd oder irre finden soll. Wir nehmen typische Fotos von typischen Gerichten, verpixeln sie und fragen, ob man den Pixelsalat gerne essen will. Warum? Weil, so geht mir plötzlich auf, wir die Pixelbilder auf eine subtile Weise
manipulieren können, wie man unverpixelte Bilder nicht manipulieren kann.
Wir können nämlich mehr braun in die Bilder stecken, braun, die Farbe von ge­
rös­te­tem Fleisch und fleischiger Soße, die – wie mir später, food writer und
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WZB Mitteilungen Heft 150 Dezember 2015
Kochbuchsammler Jack Turner verrät – die Farbe der Wahl in Kochbüchern der
1960er und 1970er Jahre war. Also: Bilder, exogene Variation (immer mehr
braun!) und dann fragen, ob man’s essen mag.
Die Antwort findet sich, wie auch die Dokumentation zu unserer Weihnachtsstudie, in unserem Buch, Fleisch und Farbe. Für dieses Buch, das Ergebnis unseres
kleinen visual society-Programs, haben Anna Becker, Julia Schubert, Nora Szech
und ich entschieden, nichts zu kommentieren. Das Thema ist aufgeladen genug.
Es ist ein Buch zum Stöbern, das vielleicht zum Nachdenken über die Großfragen
einlädt, die uns einmal angeleitet haben, das man aber auch nur so durchblättern kann. Kein Kommentar im Buch, also auch kein weiterer Kommentar hier.
(Okay, wir können’s schon verraten: mehr braun macht Essen weniger appetitlich. Wir sind also gegen Massenhaltung von Tieren und mögen sie gebrutzelt Steffen Huck ist Direktor der Abteilung Ökonomik
auf dem Teller nicht mal anschauen. Und laden sie trotzdem drauf. Jetzt aber des Wandels am WZB und Professor für Ökonomie am
University College London. [Foto: David Ausserhofer]
Schluss mit Kommentaren!)
Stattdessen noch ein Wort zur dritten Studie, die ganz auf Julia Schuberts Zugang zu Visuellem basiert. Wir drucken zweidimensionale Farbverläufe aus und
bitten Probanden, in diesen beliebige Mengen zu markieren, die sie (a) auf einem
Teller mit einem Fleischgericht erwarten und (b) auf einem Weihnachtsteller
(womit sich, genau!, der Kreis für unsere Studie schließt). Wir legen dann die
markierten Mengen alle aufeinander und zoomen in die Schnittmengen. Man
kann das nicht gut beschreiben, man muss es sehen. Dazu die Abbildung auf der
Rückseite dieses Hefts.
[email protected]
Könnte man diese Bilder beschreiben, hätten wir sie nicht gebraucht. Und das ist
mein Fazit jenseits des Themas, jenseits der Anwendung, jenseits von Fleisch
und Farbe. Wir Sozialwissenschaftler haben eine wirklich tolle Werkzeugkiste.
Spieltheorie, Experimente, Statistik und Ökonometrie. Aber die Kiste hat nicht
alles parat, was wir gebrauchen könnten. Visuelle Methoden, Design als Erkenntnisinstrument fehlen. Noch.
Literatur
Becker, Anna/Huck, Steffen/Schubert, Julia/Szech, Nora: Fleisch und Farbe. WZB-EOC
Schriften, 2015, Nr. 1.
Schweizer, Nikolaus/Szech Nora: Optimal Revelation of Life-Changing Information.
Working Paper 2014. Online: http://polit.econ.kit.edu/26_146.php (Stand
19.11.2015)
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