19. Europäischer Polizeikongress 2016 in Berlin. Fachforum 3B Predictive Analytics. Dieter Quermann, EKHK a.D., ehemals Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. Persönliches Statement – Es gilt das gesprochene Wort. Als pensionierter Kriminalbeamter möchte ich heute nicht von Früher sprechen. Ich erlaube mir einen Blick nach vorn. Tun wir also jetzt mal so, als ob Predictive Policing funktioniert. Das System ist eingeführt. Kleinräumige Prognosen sind möglich, die identifizierten Bereiche sind auf den Stadtkarten rot markiert. Das System wirkt. Was geschieht mit den Beteiligten? Welche Wirkungen und Nebenwirkungen treten ein? Welche sind erwünscht und welche unerwünscht? Bei den Tätern, den Opfern, den Polizisten und all den anderen, die auf dem Geschäftsfeld Wohnungseinbruch ihr Geld verdienen. Machen wir vorausschauende1 Polizeiarbeit: Ich bin davon überzeugt, dass sich durch Predictive Policing viel mehr ändern wird, als wir zurzeit annehmen. Was ändert sich aus Sicht der Täter, denen wir ihr äußerst erfolgreiches Geschäftsmodell Wohnungseinbruch zerstören? Sie brechen nicht mehr in Köln oder Duisburg ein, sondern tun es in Düsseldorf, wo Predictive noch nicht eingeführt ist (Verdrängung). Sie spielen auf der gleichen digitalen Klaviatur, hacken den Polizeicomputer und agieren in den nicht markierten Bereichen. Sie rüsten auf, bewaffnen sich und suchen die Konfrontation mit der Polizei. Sie brechen nicht mehr ein, sondern verlegen sich verstärkt auf Taschendiebstähle und Straßenraub, d.h. die Anzahl der Taten zum Nachteil alter Leute, Frauen etc. steigt. Was ändert sich aus Sicht der Opfer? Potenzielle Opfer – die in den rot markierten Bereichen – verbessern die Sicherung ihrer Türen und Fenster. Aufgrund verstärkter, sichtbarer polizeilicher Präsenz steigt ihr Unsicherheitsgefühl. Sie verlassen die Stadt, organisieren vermehrt Bürgerwehren, engagieren Wachdienste oder verstecken sich hinter Mauern und Zäunen. Ein Stadtbild verändert sich grundlegend. Was ändert sich aus Sicht der Polizisten? Ergebnis 1: Kein Einbruch. Kein Täter. Was macht das mit einem Polizisten, der Polizist geworden ist, weil er Täter fangen will? Gibt das ein neues Berufsbild? Sind die Beamten dadurch motiviert, dass nichts geschieht? 1 http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/prognose-warum-eine-hohe-trefferquote-nicht-immer-etwasheissen-muss-a-1077908.html (am 26.2.16 nachträglich hinzugefügt) 1 19. Europäischer Polizeikongress 2016 in Berlin. Fachforum 3B Predictive Analytics. Dieter Quermann, EKHK a.D., ehemals Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. Ergebnis 2: Die Konfrontation mit den Tätern nimmt zu. Die Summe der Gefährdungen steigt. Man begegnet sich auf frischer Tat. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen. Die Anzahl verletzter und getöteter Polizisten steigt. Muss sich die Ausbildung der Polizei deshalb ändern? Muss sich die Ausrüstung deshalb ändern? Müssen wir anderes Personal einsetzen (Stichwort: Task Force; SEK)? Brauchen wir mehr Psychologen? Ich erinnere mich übrigens dunkel an meine wenigen Einsätze nach dem Einsatzstichwort: Täter am Werk! Lang ist’s her. Der Adrenalinspiegel steigt. Der Blutdruck ebenfalls. Stress pur. Man fährt im „roten Bereich“. Was macht Predictive mit den Polizisten, die künftig dann nur noch im roten Bereich agieren? Ergebnis 3: Aufgrund anderer Einsatzlagen findet im roten Bereich keine Polizeiarbeit statt. Wie vorhergesagt, wird dort eingebrochen. Können die Opfer die Polizei haftbar machen, in Regress nehmen? Ist Nichthandeln gar Strafvereitelung im Amt? Ergebnis 4: Beamte werden korrupt und verkaufen ihr Wissen an „die organisierte Kriminalität“. Die Zahl der Einbrüche in den ungeschützten Bereichen steigt dramatisch an. Was ändert sich für andere Mitspieler auf dem Platz? Der Gesetzgeber sucht nach neuen, adäquaten Möglichkeiten der Sanktion und Kontrolle. o Er führt – neben dem Freiheitsentzug – den Datenentzug ein. Ein Einbrecher kann rechtskräftig dazu verurteilt werden, seine gesamten Bewegungs- und Konsumdaten den Ermittlungsbehörden drei Jahre zur Verfügung zu stellen. o Die elektronische Fußfessel wird durch eine digitale Handfessel ergänzt oder ersetzt. Die Versicherungsgesellschaften bieten denen günstige Policen an, die ihre Daten der Polizei zur Optimierung der Prognosetätigkeiten zur Verfügung stellen (Urlaubsabwesenheiten, Sicherungsvorrichtungen etc.). Ein alter kriminalistischer Grundsatz lautet: Vieles ist denkbar, doch Weniges ist wahrscheinlich. Das gilt sicher auch für dieses Szenario. Trotzdem: Wir müssen nachdenken. Besser: Vordenken! Denn Polizeiarbeit wird sich im digitalen Zeitalter rasant verändern, möglicherweise ein ganzes Berufsbild. Im Gesundheitswesen wird die Frage diskutiert, ob der „Mediziner der Zukunft noch Arzt sein muss“. Müssen auf wir jenseits vorhandener Denkmuster darüber diskutieren, ob der Strafverfolger der Zukunft noch Polizist sein muss? Vielen Dank! 2
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