- 1 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Happy Holidays Shawn war sich sicher, dass Grace es nicht absichtlich tat. Manchmal sah sie etwas, das eine Reihe von Erinnerungen und Gefühlen in ihr wachrief. Dann redete sie ohne Punkt und Komma. Plapperte wie ein begeistertes Kind und ihre Augen leuchteten dabei heller als jeder Stern. Abschließend blickte sie ihn an und fragte: »Verstehst du?« Oder »Kennst du das?« Es betrübte ihn, dass er hiernach all zu oft nur den Kopf schütteln konnte. Shawn teilte viele ihrer Erinnerungen an ihre Heimatwelt. Doch einiges davon verstand er einfach nicht. Denn er kannte nicht die Sitten und den Glauben der Menschen auf der Erde. Anfangs hatte sie versucht, ihm alles zu erklären. Später war sie dabei nicht mehr so euphorisch gewesen. Und er fragte sich, ob es an ihm lag, weil er manches immer noch nicht verstanden hatte. Inzwischen sah er die Begeisterung in ihren Augen einfach erlöschen. »Es spielt keine Rolle mehr«, murmelte sie nun. Und jedes Mal fühlte er sich, als wenn ein Teil von ihr sterben würde. Als wenn etwas, das er liebte – obwohl er nicht wusste, was es war – für immer verloren ginge. Doch der Krieg, welcher in seinem Land getobt hatte, lag noch nicht all zu lange zurück. Er, der König, hatte vor dem Winter viel zu erledigen gehabt. Man hatte die Speicher der Städte mit Vorräten füllen müssen. Er hatte Aufträge erteilt, die Wehranlagen zu erneuern und die Arbeit danach inspiziert. Man hatte im ganzen Land feste Unterkünfte gebaut, um den Heimatlosen ein Dach und einen warmen Ort für den Winter zu stellen. »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 2 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Im Frühjahr dann hatte ihm Grace, seine geliebte Königin, einen Erben geschenkt: Necom. Plötzlich war er nicht nur König, sondern auch Vater. Und während das Muttersein für Grace ganz einfach aussah, erkannte er, wie sehr sich sein Leben und seine Verantwortungen geändert hatten. Nun galt es, an erster Stelle, seine Familie zu beschützen. Die Aussaat war gefolgt und sie hatten weitere Aufbauarbeiten in den zerstörten Dörfern geleistet. Auch die Politik kehrte nach Lywell zurück. Vertreter anderer Länder kamen, um sich vom Frieden und der Einhaltung entstandener Verträge zu überzeugen. Oder luden ihn vor. Er sah Grace nun nicht mehr so viel, obwohl sie ihn begleitete, wann immer sie konnte. Ihr Leben war erneut im Wandel und sie redete kaum noch von der Erde, der Welt, aus der Grace kam. »Ich lebe jetzt hier!«, pflegte Grace zu sagen, wenn er das Heimweh in ihren Augen sah. Inzwischen war die Ernte wieder eingebracht und sie alle bereiteten sich auf den nahen Winter vor. Als Shawn an diesem Morgen wach wurde, saß Grace im Schaukelstuhl am Fenster. In ihren Armen lag Necom und schlief friedlich. Doch Grace Blick galt den ersten Schneeflocken, die draußen vom Himmel fielen. »Komm ins Bett!«, bat Shawn sie. »Dir muss schon ganz kalt sein.« »Hmm?«, seufzte sie und blickte weiter hinaus. »Was außer Schnee gibt es da Interessantes zu sehen?« »Ach weißt du, heute ist in meiner Welt Thanksgiving. Normalerweise verbrachte ich dieses mit der Familie. Es gab »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 3 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 gebackenen Truthahn und Süßkartoffeln. Und unsere Haushälterin macht den besten Pie mit hauseigenen Äpfeln, den ich je gegessen habe. Wenn ich meinen Vater auch oft nicht sah, an Thanksgiving war er immer da. Und am nächsten Tag war ich mit Mutter einkaufen. Diese Tradition habe ich mit Andrew, meinem verstorbenen Mann, fortgesetzt. In all den wunderbar geschmückten Geschäften konnte man einen Hauch von dem herannahenden Weihnachtsfest erahnen. Andrew hat mich immer geärgert. Er wollte, dass ich im Kinderland zu Santa Claus gehe, um ihm zu sagen, was ich mir wünsche. Ich fand das kindisch und absurd. Doch er pflegte zu sagen, dass es gut zu seiner kitschigen Frau passen würde.“ Shawn krabbelte auf ihrer Seite aus dem Bett, kam zu dem Stuhl und kniete vor ihr nieder und sah sie schweigend an. Grace sah zu Shawn hinunter und ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Was hast du?«, fragte sie erschrocken über seinen entsetzten Gesichtsausdruck. Automatisch sah sie zu Necom hin, aber er schlief und sie entspannte sich. Alles war in Ordnung, oder? »Warum sagst du das, Grace? Wir sind jetzt deine Familie! Fühlst du dich hier nicht wohl?« Grace seufzte. Ah, sie hatte von Früher erzählt. Gelegentlich rutschte ihr etwas heraus und jedes Mal sah sie, wie sehr es ihn verletzte, wenn sie von ihrer Welt und ihrer ersten Ehe sprach. Kein Wunder, das er dachte, sie wäre unglücklich. »Nein, natürlich bin ich hier glücklich. Aber das heißt doch nicht, dass ich die alten Erinnerungen vergessen muss, »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 4 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 oder doch?« »Natürlich nicht. Aber es klang so, als würdest du deine Wahl bedauern. Stattdessen klang es voller Sehnsucht. Ich mache mir Sorgen.« Shawn stand auf und nahm ihr das warme Bündel aus bn dem Arm. Behutsam drückte er es an seine Brust und sie hörte, wie er den warmen und süßen Duft des Kindes einatmete. Dann kräuselte sich seine Nase. »Ich denke, wir brauchen eine neue Windel.« Grace lachte. »Nur zu, Mylord!« Grace Erzählungen von Thanks-irgendwas und dieser Weihe-Fest ging Shawn nicht mehr aus dem Kopf. Er wollte verstehen, was seiner Frau fehlte. Darum schickte er Eweligo in ihre Welt. Dieser fand schnell heraus, was Shawn suchte und brachte gleich mehrere Bücher mit. Es dauerte eine Weile, bis Shawn genügend Zeit fand, die Bände auch zu studieren. Wobei, vielleicht sollte er besser sagen, dass er sie höchstens quer las. Das alles war sehr verwirrend. Daher versuchte Shawn nur das Wichtigste herauszufiltern. »Weihnachten ist irgendwie unverständlich«, sagte er in einem Gespräch dann irgendwann zu Eweligo. »Sie feiern die Geburt eines Knaben. Dem König auf Erden. Den Sohn ihres Gottes.« »Warum erscheint dir das unlogisch?«, fragte Eweligo. »Ich verstehe den Zusammenhang mit Santa Clause nicht, der dann Geschenke bringt. Gehört er zu den Heiligen Königen?« »Nein. Doch Glauben und Mythologie müssen nicht immer harmonieren.« Offenbar hatte Eweligo die Bücher richtig gelesen. Ihm »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 5 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 schien es keine Mühen zu bereiten, alles zu verstehen. Das hätte er sich ja denken können. »Fliegende Rentiere mit roten Nasen, die leuchten? Wirklich?«, fragte Shawn daher. »Ich mag die Weichnachtselfen«, schmollte der Gestaltenwandler. Er war selbst kaum eine Elle groß und hatte zwei libellenartige Flügel auf seinem Rücken. »Eine Zipfelmütze würde dich sicher kleiden«, witzelte Shawn und grinste breit. »Was genau suchst du eigentlich?«, fragte Eweligo, um von dem unschicklichen Thema abzulenken. »Das weiß ich nicht. Aber es sollte etwas sein, womit ich Grace überraschen kann.« »Fliegende Rentiere sind in diesem Jahr schon ausgebucht!« Shawn lachte leise. »Ich suche was … Einfaches.« »Wie wäre es mit einem schönen Abend zu zweit? Wir könnten einen Weihnachtsbaum schmücken und Geschenke darunter legen. Außerdem beauftragen wir einen Barden, der Weihnachtslieder spielen soll.« »Das gefällt mir, Eweligo. Suche einen Schmied und einen Glasbläser, die den Schmuck für den Baum herstellen sollen. Und beauftrage auch einen Barden. Aber das alles muss geheim bleiben.« »Selbstverständlich. Ich kümmere mich darum, Mylord.« »Eweligo!«, rief Grace streng. Der Gestaltenwandler flog noch etwas schneller. »Ich bin sehr beschäftigt, Mylady. Wichtiger Auftrag!«, sagte er und verschwand um eine Ecke. Erleichtert atmete er »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 6 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 auf. Grace versuchte schon seit Tagen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, doch er ging ihr geschickt aus dem Weg. In einer Woche war Weihnachten. Sie würden sich beeilen müssen, um noch mit allem fertig zu werden. Der Schmied war ziemlich teuer und wunderte sich über das merkwürdige Geschmeide, das er herstellen sollte. Der Glasbläser hingegen fand an dem neuen Produkt gefallen und begann alle möglichen Farben zu benutzen und experimentierte an den Formungen. Und plötzlich wurde Lywell von einer wahren Flut an bunten Glaskugeln überschwemmt, welche reißenden Absatz bei den Bewohnern fanden. Zumindest bei jenen, die es sich leisten konnten. Eweligo gab sein Bestes, um die Stadt 'sauber' zu halten, damit Grace sie nicht zufällig entdeckte. Ein paar der Mägde waren beauftragt worden, Stoffschleifen und Strohsterne zu binden. Und wenn Eweligo ehrlich war, dann hatte er echte Bedenken, was die Kerzen betraf, welche an den Baum gehörten. Am schwierigsten aber war es gewesen, einen Barden zu finden, der bereit war, diese heidnischen Lieder zu singen. Zudem war er mit dem Notensystem aus Grace Welt nicht vertraut und Eweligo musste es ihm erst erklären. Doch der Gestaltenwandler würde nicht zulassen, dass sie scheiterten. Es war wahrlich perfekt. Sie hatten den Tannenbaum in einem der zahlreichen Zimmer aufgestellt. Er sah schön aus mit den farbigen Kugeln, den Kerzen, Sternen, Schleifen und goldenen Schneeflocken. Er stand stolz und strahlend im Raum. Auch der Tisch war weihnachtlich eingedeckt. Der Barde saß halb versteckt hinter dem Baum und einem Raumteiler und »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 7 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 würde Musik machen, die Grace von zu Hause kannte. Zumindest hoffte Shawn das, als er nervös auf 60 Grace wartete. So aufgeregt war er schon lange nicht mehr gewesen. »Shawn?«, fragte plötzlich eine Stimme an der Tür und Grace blinzelte verwirrt herein. »Was ist den hier los?« »Ich hab eine Überraschung für dich!« Grace trat ein und sah sich staunend um. Der Barde begann zu spielen und Grace blickte ziemlich erstaunt. Nun näherte sie sich dem Baum, betrachtete den Schmuck eingehend und seufzte glücklich. »Das ist wahrlich eine Überraschung«, sagte sie, während ihre Lippen vor Belustigung zuckten. »Gefällt sie dir?« »Oh ja, sie ist wunderschön.« »Dann komm her und setz dich!« Nachdem sie Platz genommen hatte, servierten ein paar Diener das Essen. Es gab gefüllten Truthahn, Süßkartoffelpüree und Erbsen. Als Nachtisch bekam Grace ein großes Stück Kuchen und sie seufzte selig. Sie ergriff über den Tisch hinweg seine Hand und drückte sie zärtlich. »Vielen Dank, Shawn. Ich weiß das sehr zu schätzen.« »Hör ich da etwa aber?«, fragte Shawn irritiert. »Würdest du es jedes Jahr machen wollen?« »Ich weiß nicht«, gestand er. »Anderseits ist es schön, mit dir hier so zu sitzen. Also ja, warum nicht?« »Ja, das ist es.« Grace lächelte glücklich. »Aber du ehrst gerade die Geburt eines anderen Gottes. Wir sollten es nicht feiern. Nicht, dass wir die Sonnengöttin von Tybay verstimmen«, erklärte sie. Trotzdem summte sie fast übergangslos mit. »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 8 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Betrübt starrte er Grace an. »Du hast es herausgefunden, oder?« »Was?« »Dass wir das hier geplant haben.« »Nein.« »Warum möchtest du dann nicht, dass wir es wiederholen? Wo dir doch so viel daran liegt?“ »Das tue ich, ja. Aber das gehört nicht nach Tybay. Verstehst du? Ich liebe mein neues Zuhause,weil es so ist, wie es ist. Man muss es nicht verändern, nur damit ich zufrieden bin. Ich will es auch nicht.« »Aber du vermisst dein altes Leben.« »Natürlich denke ich an meine Vergangenheit und an meine Eltern. Tust du das nie?« »Ich … kannte meine Eltern kaum.« Betroffen sah sie ihn an. »Entschuldige. Ich dachte für einen Augenblick nicht daran.« Er entzog ihr seine Hand und machte eine wegwischende Geste. Und gerade als er sagen wollte: »Es spielt keine Rolle!«, da verstand Shawn endlich. Er räusperte sich. »An Weihnachten gibt es doch auch Geschenke, oder?« »Ja.« Grace nickte. Und trotz ihres kleinen Disputs sah sie glücklich aus. »Ich möchte dir meines direkt geben.« »Aber ich habe nichts für dich!«, wehrte sie ab. »Darum geht es nicht!«, sagte er und läutete eine kleine Glocke. Gleich darauf ging die Türe auf und Eweligo flatterte herein. Und so, wie Grace ihn sah, da konnte sie »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 9 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 nicht an sich halten und lachte lauthals los. Der kleine Gestaltenwandler hatte ein rotes, 55 60 selbst geschneidertes Kostüm an, das stark an das von Santa Claus erinnerte. Zugleich aber sah es eher wie die Kleidung von Peter Pan aus. »Ihr hattet Recht, Mylord. Das war doch etwas dick aufgetragen!« Grace wischte sich die Lachtränen von den Wangen. »Nein, überhaupt nicht. Du siehst reizend aus.« »Reizend?«, fragten Shawn und Eweligo gleichzeitig. »Niedlich?« »Also bitte!«, erklärte Eweligo würdevoll. Er flatterte vollends heran und überreichte Grace eine schlichte Holzschachtel. »Obwohl ich finde, dass dir kein Geschenk zusteht«, schmollte er. »Für nächstes Jahr kommst du auf die Liste der unartigen Kinder!«, zog er die Nummer durch. Grace prustete vor Lachen. Shawn fand es schön, denn es war lange her, dass sie es so ausgelassen getan hatte. Als sie sich wieder etwas unter Kontrolle hatte, öffnete sie erwartungsvoll die Schachtel. Sie sah hinein und blickte dann verwirrt zu Shawn. »Soll sie leer sein?« »Sie ist nicht leer!«, sagte Shawn nun. Er sah Grace fest in die Augen. »Ich habe sie gefüllt mit meiner Liebe. Und dem Versprechen an dich, dass ich alles tun werde, damit du glücklich bist. Mit mir. Hier. In Taybay.« »Oh, Shawn! Wie wunderbar«, seufzte sie gerührt. »Und ich will nun noch etwas Weiteres hineinlegen: Also, nimm mich mit!« »Mitnehmen? Wohin?« »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer - 10 - 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 »In deine Welt. Ich will sie kennenlernen neue Erinnerungen schaffen. Zusammen.« 55 und 60 dort »Wirklich?« »Ja, denn diese Welt ist ein Teil von dir. Und sie gehört jetzt auch zu mir.« »Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe«, flüsterte sie mit erstickter Stimme und schloss die Box. »Ich danke dir!« Sie sahen einander an und genossen die festliche und liebevolle Atmosphäre des Moments. »Schade nur um den Weihnachtsbehang«, sagte Shawn nun. »Was machen wir damit, wenn wir ihn nicht mehr benutzen?« »Wir werden ihn trotzdem aufbewahren. Diese kleine Engelsfigur, auf der Tannenbaumspitze, ist wunderschön.« »Welche Engelsfigur?«, fragte Eweligo und sah zum Baum. »Wir haben keine anfertigen lassen.« Und doch war sie da. Eine kleine, karminrot gekleidete Frauengestalt mit weißen Flügeln. Blondes Haar umschmeichelte ein friedvolles Gesicht. Und als sie nun alle darauf starrten, da lachte sie, flog auf und verglühte in ihrer eigenen, goldenen Aura. Mit dem verschwinden der Sonnengöttin und ihrer Magie verschwand auch der perfekte Abend. Plötzlich sang der Barde einen schiefen Ton nach dem anderen. Die zarten Zweige der Tanne sanken unter den schweren Kugeln und dem Goldbehang ab, und wurden zu einer wahren Trauerweide. Shawn und Grace sahen sich verdutzt an, dann lachten sie vergnügt. Denn ihr kleines, einfaches Weihnachtsfest hatte eine göttliche Präsenz angelockt. »Happy Holidays« © 2014 Tanja Kummer
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