Prof. Dr. Gerd Glaeske, Zentrum für Sozialpolitik (ZeS)/SOCIUM, Uni Bremen Der Pillenmarkt verändert sich – die Risiken leider auch! Am 1. Juni 1961 brachte die Firma Schering mit Anovlar die erste „Pille“ auf den europäischen Markt. Das Präparat enthielt 21 Dragees mit jeweils 50 Mikrogramm Ethinylestradiol und 4 mg Norethisteron. Schon bald gab es die ersten Diskussionen im Zusammenhang mit dieser neuen Form der Verhütung, sowohl aus medizinischer wie aus gesellschaftlicher Sicht. Zum einen wurden Thrombosen (Gefäßverschlüsse), Herzinfarkte und Schlaganfälle nach der Einnahme dieser hochdosierten Östrogen-haltigen Pillen bekannt, zum anderen verbot Papst Paul der VI („Pillen-Paul“) in der vieldiskutierten Enzyklika „Humanae vitae“ diese offensichtlich Unmoral und Promiskuität Tür und Tor öffnende Verhütungsmethode, das Verständnis für die Autonomie der Frauen auch mit Blick auf ihre eigenen Entscheidungen für ihr Sexualleben und eine Schwangerschaft hielt und hält sich in Grenzen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, die „Pille“ (Kontrazeptivum) ist in der Zwischenzeit zum meist angewendeten Mittel für die Schwangerschaftsplanung geworden. Es kamen mehr und mehr Pillenpräparate auf den Markt, bewährt haben sich vor allem die Mittel der 2. Generation mit niedrig dosiertem Östrogen (20 – 30 Mikrogramm Ethinylestradiol) und Gestagenen wie Levonorgestrel oder Norethisteron. Bei diesen Pillen kam es gegenüber den zunächst angebotenen Mitteln zu einem deutlichen Gewinn in der Verträglichkeit. Dieser Aspekt muss deshalb besonders beachtet werden, weil mit diesen Mitteln keine Krankheit therapiert wird, sondern für gesunde Frauen im gebärfähigen Alter eine wirksame und sichere Verhütungsmethode angeboten wird. Bei diesen Pillen kam es gegenüber den Pillen der ersten Generation zu einem deutlichen Gewinn an Verträglichkeit: Durch die Dosisreduktion von 150 Mikrogramm Ethinylestradiol pro Tablette auf unter 35 Mikrogramm konnte das Risiko für Thrombosen und Lungenembolien, das jetzt bei fünf bis sieben pro 10.000 Frauen und Jahr liegt, deutlich gesenkt werden. Da neue Arzneimittel aber zu höheren Preisen vermarktet werden können, wurden neben den bewährten Präparaten der zweiten Generation auch Pillen der dritten Generation in den Markt eingeführt, in denen niedrig dosiertes Estrogen mit neuartigen Gestagenkomponenten wie Desogestrel oder Gestoden kombiniert wurde. Diese Pillen sind in Wirksamkeit und Zuverlässigkeit mit den Mitteln der zweiten Generation vergleichbar. Sie erhöhen aber das Thromboembolierisiko gegenüber diesen um das 1,5- bis zweifache, also auf neun bis zwölf Embolien pro 10.000 Frauenjahre. Trotzdem hatten und haben diese Pillen weiterhin Erfolg. Marketing und Werbung der Hersteller konnten Ärzte trotz des bekannten erhöhten Risikos von den angeblichen Vorzügen dieser neuen Pillen überzeugen, so dass diese Mittel inzwischen die Absatzlisten nach Packungsmengen anführen (siehe Tabelle). Und es gab noch eine weitere Neuerung ab dem Jahre 2000, als die ersten Pillen mit dem Gestagen Drospirenon auf den Markt kamen (z.B. Yasmin). Nach Aussagen der Hersteller, insbesondere der Firma Bayer, haben diese Pillen ein ähnlich niedriges Thromboembolierisiko wie die Pillen der 2. Generation und sind daher ähnlich unbedenklich. Der Markterfolg war in den ersten Jahren unübersehbar, es wurde übrigens kaum noch über die Pille als Arzneimittel gesprochen, im Vordergrund standen vielmehr die Hinweise zu reiner Haut und schönen Haaren, Kosmetikspiegel und Lippenstifte waren nette Beigaben, die den Charakter dieser Pille als Lifestyle-Produkt unterstrichen. Die positiven Aspekte standen im Vordergrund, über unerwünschte Wirkungen wurde kaum gesprochen. Dies änderte sich allerdings im Jahre 2009, als Studien aus Dänemark und den Niederlanden für Drospirenon-haltige Pillen ein Thromboembolierisiko zeigten, das dem der 3. GenerationPillen vergleichbar und somit um das 1,7-fache höher war als bei Pillen mit Levonorgestrel. Im April 2011 erschienen zwei weitere Studien, die sogar ein mehr als dreifach höheres Risiko für Drospirenon-haltige Präparate im Vergleich zu „Pillen“ mit Levonorgestrel zeigten. Eine aktuelle im Mai 2015 publizierte Studie (Vinogradova et al., BMJ 2015) kommt zu ganz ähnlichen, aber noch beunruhigenderen Ergebnissen für Frauen - das Thromboserisiko mit den neueren Gestagenen ist offensichtlich sogar höher als bisher gedacht. Gegenüber den Pillen mit Levonorgestrel zeigten z.B. Pillen mit den Gestagenen Desogestrel, Gestoden und Drospirenon ein nahezu doppelt so hohes Risiko für Thrombosen, dies gilt übrigens auch für das gegen Akne eigesetzte Cyproteron (z.B. in Bella Hexal, Cyproderm, Diane 35 und Juliette). Die Anzahl der im Zusammenhang mit den Pillenpräparaten zusätzlich aufgetretenen tiefen Beinvenenthrombosen betrug bei der Einnahme von Levonorgestrelhaltigen Präparaten sechs, bei der Einnahme von Gestoden-haltigen Mitteln elf und bei der Einnahme von Drospirenon-haltigen Mittel 13 pro 10.000 Frauen pro Jahr. Am höchsten lag sie mit 14 pro Jahr pro 10.000 Frauen bei Präparaten mit Desogestrel und Cyproteron. Leider waren in die Studie keine Mittel mit Dienogest einschlossen. Hier wird aber aufgrund älterer Studien von einem ebenfalls erhöhten Thromoboserisiko (ca. 1,8fach) gegenüber Levonorgestrel ausgegangen. In diese Gruppe gehört übrigens auch das früher am häufigsten verordnete Mittel Valette (Hersteller Jenapharm). Die folgende Tabelle nennt die im Jahre 2014 meistverkauften „Pillen“ in Deutschland. Mehr als die Hälfte der gelisteten Mittel enthält Gestagene, die möglicherweise oder schon oft nachgewiesen ein höheres Thromboserisiko aufweisen als Mittel mit Levonorgestrel. Daher sollten vorzugsweise Pillen mit diesem Gestagen verordnet und eingenommen werden, wenn keine wichtigen Gründe dagegen sprechen. Pillen mit Drospirenon sind in der Zwischenzeit zwar nach Marktbedeutung zurückgefallen (Maitalon, Aida, Yas, Yasminelle, Yasmin), dennoch behaupten sie nach wie vor einen ansehnlichen Marktanteil, der gemessen an den Diskussionen über die möglichen Risiken erstaunen muss. All diese Pillen enthalten Gestagene, die mit einem erhöhten Thromboserisiko in Verbindung gebracht werden und die eine unnötige Gefahr für Frauen bedeuten, wenn sie sich für eine hormonelle Verhütung entscheiden. Pillen der 2. Generation bleiben daher die Mittel der Wahl zur oralen Verhütung, bei allen anderen Pillen sind die Risiken höher oder schwer einschätzbar – und beides birgt unübersehbare Gefahren für Frauen, die solche Pillen schlucken! Verordnungsanalysen von Daten der TK zeigen, dass diese Gefährdung durchaus real ist: Da bis zum 20. Lebensjahr die Pillen auf Kassenrezept verordnet werden dürfen, können im Rahmen solcher Auswertungen Erkenntnisse über das Ausmaß der Verordnungen von Pillen mit neueren und anderen Gestagenen als mit Levonorgestrel gewonnen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass trotz wiederholt beschriebener negativer Nutzen-RisikoBewertungen nach wie vor überwiegend hormonelle Kontrazeptiva mit neueren Gestagenen wie Desogestrel oder Drospirenon verordnet werden – ein Trend, der für den gesamten deutschen Arzneimittelmarkt festgestellt werden kann. Dabei ist zusätzlich überraschend, dass die Hälfte bis 2/3 von „Wechselverordnungen“ einen Wechsel von bewährten Pillen der 2. Generation auf „Pillen“ mit neueren Gestagenen darstellen. Es scheint daher dringend erforderlich, sowohl die verordnenden Ärztinnen und Ärzte als auch die jungen Mädchen und Frauen verstärkt an die vorliegenden aktuellen Studien über die Risiken von Pillen mit unterschiedlichen Gestagenen zu erinnern, damit die hormonelle Verhütung nicht nur sicher, sondern auch möglichst risikoarm angewendet werden kann. Zu dieser Information soll der TK-Pillenreport einen Beitrag leisten und ein Gegengewicht gegen die Marketingstrategien der vor allem auch ökonomisch interessierten Pharmafirmen darstellen. Tabelle: Überblick über den Markt der meist verkauften Pillen mit niedrigdosiertem Estrogen und Gestagen im Jahre 2014 (ohne Reimporte) – eine Orientierung über die unterschiedlichen Gestagene in den Pillenpräparaten (IMS, 2015) Packungen 2014 in Tsd. 2.027 Industrieumsatz 2014 in Mio. Euro 33,7 Desogestrel 743 12,8 Madaus (08/2010) Levonorgestrel 677 5,8 Velafee® Velvian (02/2012) Dienogest 468 5,7 5 Belara® Grünenthal (02/1992) Chlormadinon 445 11,6 6 Dienovel® Mibe (08/2012) Dienogest 413 3,5 7 Minisiston® Jenapharm (01/1981) Levonorgestrel 396 7,1 8 Leona-Hexal® Hexal (04/2008) Levonorgestrel 377 6,2 9 Asumate® Velvian (08/2010) Levonorgestrel 344 4,8 10 Maitalon® Gedeon Richter (05/2012) Drospirenon 341 9,1 11 Zoely® MSD (01/2012) Nomegestrol 331 6,1 12 Chariva® Gedeon Richter (12/2009) Chlormadinon 323 7,3 13 Bellissima® Madaus (10/2008) Chlormadinon 307 6,8 14 Minisiston® 20 Jenapharm (10/2007) Levonorgestrel 278 3,8 15 Swingo® Aristo Pharma (04/2011) Levonorgestrel 263 2,3 16 Valette® Jenapharm (03/1995) Dienogest 230 7,2 17 Mayra® Madaus (02/2012) Dienogest 218 2,1 18 Leios® Pfizer (04/1996) Levonorgestrel 217 4,7 19 Desmin® Gedeon Richter (10/1998) Desogestrel 189 3,4 20 Bonadea® Zentiva (02/2012) Dienogest 188 1,7 21 Aristelle® Aristo Pharma (03/2012) Dienogest 178 1,7 Rang Präparat Hersteller (Markteinführung) Gestagen 1 Maxim® Jenapharm (01/2011) Dienogest 2 Lamuna® Hexal (09/2000) 3 Evaluna® 4 22 Trigoa® Pfizer (10/1995) Levonorgestrel 178 2,8 23 Femigoa® Pfizer (02/1992) Levonorgestrel 177 2,7 24 Femigyne® ratiopharm (02/2011) Levonorgestrel 175 1,3 25 Microgynon® KohlPharma (01/1994) Levonorgestrel 172 1,9 26 Aida® Jenapharm (09/2006) Drospirenon 155 5,9 27 Yaz® Jenpharm (09/2008) Drospirenon 153 4,5 28 Levomin® Mibe (03/2011) Levonorgestrel 147 1,1 29 Leanova AL® Aliud (07/2012) Levonorgestrel 145 1,1 30 Femikadin® Dr. Kade/Besins(06/2012) Levonorgestrel 131 1,4 31 Chloee® Zentiva Pharma (02/2012) Chlormadinon 131 1,6 32 Mona-Hexal® Hexal (12/2009) Chlormadinon 130 2,4 33 Enriqa® Jenapharm (12/2009) Chlormadinon 125 1,9 34 Yasminelle® Jenapharm (09/2006) Drospirenon 124 4,4 35 Minette® Dr. Kade/Besins (06/2010) Chlormadinon 120 1,8 36 Starletta Hexal® Hexal (09/2012) Dienogest 106 1,0 37 Yasmin® Jenapharm (11/2000) Drospirenon 104 3,5 38 Lilia® Aristo Pharma (03/2010) Chlormadinon 103 1,3 39 Illina® Sandoz (04/2008) Levonorgestrel 98 1,2 40 Neo-Eunomin® Grünenthal (01/1985) Chlormadinon 89 3,2 Gesamt-Tabelle 11.516 192,4 Gesamtmarkt 18.650 339,0 grün: 2. Generation, rot: andere und/oder neuere Gestagene
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