Patrick-Henry-Village

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DEUTSCHLANDFUNK
Hörspiel/Hintergrund Kultur
Redaktion: Karin Beindorff
Patrick-Henry-Village
Eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Heidelberg
Von Christoph Burgmer
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- Unkorrigiertes Manuskript -
Sendung: 16.10.2015, 19.15 Uhr
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Atmo: Nato-Abzug der Soldaten mit Trommelwirbel
Ansage:
Patrick-Henry-Village
AtmoTrommelwirbel
Atmo Kindergeschrei
Ansage weiter:
Eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Heidelberg
Ein Dossier von Christoph Burgmer
Atmo Kindergeschrei
Titel:
Von der Winternotunterkunft zum Registrierungszentrum
O-Ton Fuchs
„PHV, das kam über uns wie eine Nacht- und Nebelaktion und plötzlich sind da Leut´
gewandert… kommen dann zu Fuß in Kirchheim an. Und wenn man dann auch
gesehen hat: Die sind in abgedunkelten Bussen angeliefert worden, sag´ ich jetzt mal
in Anführungszeichen. Das hat irgendwie schon was Intransparentes gehabt von
Anfang an. Und man hat dann versucht,…ich weiß, die Kirchengemeinden sind dann
am ersten Weihnachtstag dahin gepilgert und wollten die Leute willkommen heißen
und sind da schon ein Stück weit auf Ablehnung gestoßen, nicht bei den Flüchtlingen
selbst, sondern bei denen, die diese Einrichtung betreiben…“
Sprecherin 1:
Jörn Fuchs ist der Vorsitzende des Heidelberger Stadtteilvereins Kirchheim.
Autor:
Als vor Monaten die ersten Flüchtlinge im Patrick-Henry-Village eintrafen, begann im
Heidelberger Stadtteil Kirchheim eine neue Zeit. Die Kirchheimer sind seither, im
übertragenen Sinne, mitten im Sprung. Die politischen Dynamiken der
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Globalisierung, von Krieg, Flucht und Migration haben ihre Welt in Bewegung
gebracht. Das von wirtschaftlicher Ungleichheit und militärischer Gewalt erzeugte
Elend lässt sich im westlichen Wohlstand nicht mehr ignorieren. Auch in Kirchheim ist
nun nichts mehr, wie es war.
Teils offen und teils notgedrungen verdeckt habe ich versucht, die Verhältnisse im
Aufnahmelager und seiner Umgebung zu ergründen. Das PHV, wie es kurz genannt
wird, liegt an der südwestlichen Grenze Kirchheims, zweieinhalb Kilometer vom
Ortskern entfernt. Mitten zwischen Erdbeerfeldern und Reiterhöfen: abgesichert mit
Zaun, Stacheldraht- und Panzersperren. Letzte Erinnerungen daran, dass die USA
seit dem 11. September 2001 ihren „Krieg gegen den Terror“ auch hier führten.
Hinzugekommen sind seither lediglich ein paar hundert Absperrgitter, die eigens aus
den Niederlanden herangeschafft werden mussten.
O-Ton Joachim Gerner :
„Aus städtischer Sicht hat natürlich Patrick-Henry-Village die Situation, der man
gerecht werden muss, diese exzentrische, im wahrsten Sinne des Wortes, Lage. Für
Amerikaner war das natürlich unter Sicherheitsaspekten wunderbar: Zaun drum
herum, weit weg, direkt an der Autobahn, weit weg von den Zubringern. Aber ob
dieses für eine bedarfsorientierte Erstaufnahme das Richtige ist, da müssen dann
von Anfang an für uns klar Begleitstrukturen her, Anbindungen, damit das Ganze
auch funktionieren kann.“
Sprecherin 1:
Joachim Gerner ist Bürgermeister für Soziales, Familie und Kultur der Stadt
Heidelberg.
Das Patrick Henry Village ist eine Art Notlager. Ein Zustand, der schon seit der
Eröffnung im Dezember 2014 andauert. Dennoch leben hier die meisten Flüchtlinge
in Baden-Württemberg. Fast täglich kommen Busse der Bundeswehr und bringen
weitere. Das PHV soll zum „Registrierungszentrum“ ausgebaut werden, vorher hieß
es „Winternotquartier“, dann „Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle“. Am Ende
könnte es ein Massenlager für 10.000 oder sogar mehr Bewohner werden. Anfang
Oktober 2015 lebten im Patrick-Henry-Village über 4.000 Flüchtlinge, darunter
fünfhundert Kinder.
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Autor:
Oder sechshundert, siebenhundert, achthundert Kinder? Zahlen, oft die
argumentative Speerspitze politischer Rhetorik, sind in diesen Herbsttagen auch in
Heidelberg unzuverlässig. Niemand kann und niemand will sagen, wie viele Kinder,
wie viele Menschen inzwischen dort leben. Hunderte, wie ich in Erfahrung bringen
konnte, ohne Gesundheitsuntersuchung, über tausend ohne einen Antrag auf Asyl
gestellt haben zu können.
O-Ton Axel Klaus:
„Wir befinden uns auf der Patrick-Henry-Village, wie wahrscheinlich auch in vielen
anderen Erstaufnahmelagern, in einer Ausnahmesituation, die sich für mich ein
bisschen so darstellt, als könnte es zu einer Dauerausnahmesituation werden. Dass
eigentlich alles, was wir in unserem Land eigentlich so kennen an Regularien oder an
Sicherheitsnetz nicht so vorhanden ist oder nur sehr rudimentär überhaupt
funktioniert.“
Sprecherin 1:
Axel Klaus ist Baptistenpfarrer der Hoffnungskirche in der Heidelberger Weststadt.
Autor:
Er war der erste ehrenamtliche „Helfer“, der Zutritt zum Patrick-Henry-Village hatte,
lange vor der jetzt vielzitierten 'Willkommenskultur'.
Sprecherin 1:
Im PHV, wo bis vor kurzem über 6.000 US-Amerikaner mit ihren Familien in einer
amerikanischen Kleinstadt gewohnt haben, agiert seit Monaten das 60 Kilometer
entfernt liegende Regierungspräsidium Karlsruhe. In seine Zuständigkeit fällt die
Verantwortung für die Aufnahme der Flüchtlinge.
Autor:
Die Beamten, gewöhnt an eine überschaubare Zahl von aus ihren Heimatländern
geflohenen Menschen, sind wie es jetzt etwas beschwichtigend heißt: überfordert.
Vor einigen Wochen jedoch haben Mitarbeiter des Innenministeriums aus Stuttgart
die Regie übernommen. Man spricht hinter vorgehaltener Hand von Entmachtung.
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Und auch die Bundeswehr hat Kräfte geschult und vor Ort stationiert. Jetzt soll alles
besser werden. Bürgermeister Gerner ist skeptisch.
O-Ton Dr. Joachim Gerner:
„Die Stadt ist nicht verantwortlich für das Patrick-Henry-Village, was den Betrieb
anlangt, was die Infrastruktur und so weiter anlangt. Die Stadt ist ja noch nicht einmal
Eigentümer des Patrick-Henry-Village. Im Moment ist die rechtliche
Ausgangssituation so, dass es der Eigentümer ist, die Bundesimmobilienverwaltung.
Und wenn das Land dort etwas macht, müssen die beiden miteinander verhandeln.
Den kollateralen Nutzen und den kollateralen Schaden, wenn irgendetwas ist, den
hat dann die Stadt. Und das haben wir ja im ersten halben Jahr im Stadtteil
Kirchheim erlebt.“
Autor:
Weil das PHV im Stadtgebiet betrieben wird, bekommt Heidelberg keine zusätzlichen
Asylbewerber zugewiesen. Kein schlechter Deal. Denn in der Stadt Heidelberg
wusste niemand so recht, was man mit der Siedlung fünf Kilometer außerhalb des
Zentrums eigentlich anfangen sollte. Es gab Vorschläge für eine betreute
Altensiedlung, dann wiederum sollten Studenten dort einziehen.
Sprecherin 1:
Heidelberg ist nach München, Frankfurt a.M. und Hamburg der viertteuerste Markt für
Mietwohnungen. Es gibt über eine Million Übernachtungen von Touristen im Jahr,
alleine 3.000 Golfaraber lassen sich jährlich an der Universitätsklinik medizinisch
behandeln, Tendenz steigend. Mehr als 34.000 Studenten aus allen Ländern
studieren hier an der ältesten Universität Deutschlands. Von 1952 bis März 2013
wurden von Heidelberg aus NATO-Kriege koordiniert, unter anderem auf dem Balkan
und in Afghanistan.
O-Ton Axel Klaus:
„Und als ich dann wiederrum mitbekam, dass das neue große Lager im PatrickHenry-Village gestartet hat, Ende Dezember, bin ich Anfang Januar hingegangen
und stellte fest, dass die Leiterin dieselbe war. Ich fragte einfach so: Können wir
irgendetwas tun? Dann ging das los mit ein paar ganz kleinen Sachen. Ich kam dann
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mit ein paar Leuten und wir haben erst einmal Fitnessgeräte ausgepackt und
aufgebaut, die sie bestellt hatte. Dann ging es so Schritt für Schritt weiter. Die Frage,
was ist eigentlich mit den vielen Kindern hier? Können wir etwas anbieten? Es war
ein langer Weg bis wir den Raum, den wir jetzt tatsächlich auch benutzen können,
zur Verfügung bekommen haben. Ich bin dann zu einem sehr frühen Zeitpunkt auch
zum Roten Kreuz gefahren und hab‘ mich mit ihnen abgesprochen. Das hatte den
Hintergrund, dass ich dort im Winter feststellte, dass viele Menschen einfach ohne
Schuhe rumgelaufen sind. Ich hab‘ dann erst mal hier in der Gemeinde gesammelt
und Schuhe hingefahren und war sozusagen der Erste, der überhaupt irgendetwas
verteilt hat. Und die Situation war nicht schön.
Sprecherin 1:
Im Frühjahr, als die Zahl der Flüchtlinge immer weiter anstieg, wurde das PHV dann
offiziell zu einer „bedarfsorientierten Erstaufnahmestelle“. Dazu schlossen Stadt und
Land einen Vertrag, der die Zahl der Flüchtlinge beschränken, ihren Aufenthalt
verkürzen und den Betrieb des Massenlagers bis zum April 2016 begrenzen sollte.
Autor:
Davon ist heute nicht mehr die Rede. Wahrscheinlich wird das PHV über Jahre als
Erstaufnahmestelle betrieben werden müssen.
Obwohl der Oberbürgermeister mit einer Briefwurfsendung an alle Heidelberger
Haushalte vor kurzem zur Toleranz aufgerufen hat, herrscht eine gefährliche
Stimmung. Denn negative Nachrichten über Schlägereien und Kriminalität
bestimmen seit Monaten die öffentliche Wahrnehmung des PHV.
O-Ton Helferin:
„Schlägereien gibt es schon, gerade in der Nacht. Es gab hin und wieder mal
Polizeieinsätze hier. Das Problem ist, die Leute hier haben nichts zu tun, die warten.
Die haben keinerlei Tagesstruktur. Das ist ein Riesenproblem hier. Die kriegen
zweimal am Tag was zu Essen. Es gibt keinen Platz, wo Tische und Stühle stehen.
Die kriegen so ne Tüte mit Essen zweimal am Tag und gehen auf ihr Bett und essen
das auf ihrem Bett sitzend oder auf der Wiese auf dem Boden sitzend. Und das ist
das Einzige, was sie eigentlich haben. Und dann hat die Kleiderkammer zweimal am
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Tag offen. Dieser Amtsarzt hat einmal am Tag offen, und ansonsten haben die
keinerlei Tagesstruktur und da ist ne Riesenlangeweile da.“
Sprecherin 1:
Susanne Falk ist Kommunikationsdesignerin und ehrenamtliche Helferin der
Kinderbetreuung im PHV.
Autor:
Nicht zuletzt, weil freiwillige Helfer und ehrenamtliche Arbeitskreise wie „Arbeitskreis
Asyl“ lange von den Behörden ferngehalten wurden, fehlen Informationen über den
Alltag im Lager. Als vor Monaten schon Ärzte freiwillig bei Untersuchungen helfen
wollten, wurden sie abgewiesen.
O-Ton Fuchs:
„„Also das ist bald so abgeschottet wie in den letzten Jahren, als die Amerikaner sich
da eingeigelt haben. Und das führt natürlich auch nicht dazu, dass die Stimmung
besser wird. Das muss man einfach sagen. Alles, das was ich nicht sehen kann, da
fange ich dann an zu mutmaßen. Und das weiß man ja, wie das dann ausgeht. Ich
denke, da muss auch eine andere Politik verfolgt werden. Es gibt viele Menschen die
sich einfach dafür interessieren, auch zu helfen, die auch vielleicht mit ihrem Knowhow helfen könnten. Aber der Weg dahin ist offensichtlich sehr mühsam. Und es gibt
ja bis auf die Kinderbetreuung noch nicht wirklich viel ehrenamtliches Engagement,
was da zugelassen ist. Und das kann ich nicht verstehen, warum man das Potential,
was da ist, was vorhanden ist, warum man das nicht zulässt. Da mauern alle ein
bisschen, das Regierungspräsidium, der Betreiber selbst.
Autor:
Dafür sind es Gerüchte, die das Bild des PHV und der Flüchtlinge prägen. Sie
erzeugen Angst vor allem Fremden und befeuern - von opportunistischen
Politikerstatements immer häufiger geadelt - den Alltagsrassismus.
O-Ton Angelika Haas-Scheuermann:
„Die Rückmeldung aus der Kirchheimer Bevölkerung sind sowohl positiv wie auch
negativ. Es gibt eine große Hilfsbereitschaft, auch ein großes Interesse als
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Ehrenamtliche vor Ort auf PHV zu unterstützen und bei der Betreuung der dortigen
Bewohner mitzuhelfen. Wir haben natürlich auch Rückmeldungen, die von einer
Verschmutzung, von einer Belagerung von bestimmten Flächen im Friedhofsbereich
berichten, von Menschen die dort angesprochen werden, von Menschen, die sich
unwohl fühlen angesichts der Vielzahl der Flüchtlinge, die sich in Gruppen da
gemeinsam bewegen. Und es ist auch nach wie vor so, dass es Rückmeldungen
gibt, die als Gerüchte, die von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr weitergegeben
werden, die sich schlichtweg dann nicht bewahrheiten. Also wir haben immer noch
diese Geschichte eines Pferdes, dass geschlachtet und verspeist wurde, die sich
aber nicht bestätigt hat, und trotz großer Mühe der Polizei sich auch bis heute nicht
aufklären lässt. Es gibt dann die Situation am Lidlmarkt, der zu bestimmten Zeiten
extrem frequentiert ist, was zu einer gewissen Problematik im Betrieb des
Lidlmarktes als solches führt, lange Wartezeiten, lange Schlangen, mal auch 'ne
aufgerissene Packung und eine Verschmutzung im Außenbereich. Da hat die Stadt
jetzt Abhilfe geschaffen.“
Sprecherin 1:
Angelika Haas-Scheuermann ist Leiterin des Amtes für Soziales und Senioren bei
der Stadt Heidelberg.
O-Ton Angelika Haas-Scheuermann:
„Manche Dinge lassen sich auch nicht auf Knopfdruck beseitigen. Wenn man jetzt
mal den Betrieb am Friedhof sich anschaut. Wenn dort junge Männer sitzen und in
einer größeren Gruppe auch laut unterwegs sind, und es ist gerade eine Bestattung
vor Ort, dann ist das natürlich in unseren Kreisen befremdlich. Das sind Dinge, die
sich nur durch viele Gespräche und durch eine Vorort-Präsenz auflösen lassen. Da
fehlen noch so ein bisschen die Strukturen.“
Autor:
Zweieinhalb Kilometer lang führt der asphaltierte Feldweg vom PHV zwischen
Feldern, Straßen und Pferdehöfen am Kirchheimer Friedhof vorbei bis in den
Ortskern. Dort gibt es zwei Billigsupermärkte, die nächsten Einkaufsmöglichkeiten für
die Flüchtlinge. Ich habe mich dort umgesehen: Täglich machen sich Hunderte
Flüchtlinge auf den Weg durch ein Gebiet, das bislang allein von Reitern,
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Radfahrern, Hundebesitzern und Joggern genutzt wurde. Jörn Fuchs gehört auch
dazu.
O-Ton Fuchs:
„Ich habe ein Pferd, und da reite ich ab und zu durchs Feld, und da bin ich abends
auch mal um den Friedhof rumgeritten. Da kann man dann schön über die Mauer
kucken vom Pferd aus. Ich habe keinen Menschen da gesehen. Das sind sicherlich
auch Einzelfälle, die da auch nen bissel aufgebauscht werden. Aber es zeigt
natürlich, dass man ein Stück weit eine Verbindung schaffen muss zwischen den
Menschen, die da sind. Faktisch gibt es eine Verbindung, aber man weiß nichts
übereinander.“
Autor:
Hier wie an vielen anderen Orten haben es die Verantwortlichen versäumt, die
Bevölkerung rechtzeitig in ihre Pläne einzubeziehen. Viele Monate hat man
Flüchtlinge und Kirchheimer sich mehr oder weniger selbst überlassen. Die Behörden
haben weiter ihre Routine abgespult.
Sprecherin 1:
Für den Betrieb des PHV sind private Unternehmer angeheuert worden. Dazu
gehören Sicherheitsunternehmen und die Essener Firma „European Homecare“.
Autor:
Über sie und ihre Arbeit vor Ort etwas in gesicherte Erfahrung zu bringen, ist kaum
möglich. Ob und wie sie kontrolliert werden, bleibt im Dunkeln. Derartige
gewinnorientierte Privatunternehmen sind, trotz zahlreicher Skandale im Umgang mit
Flüchtlingen in der Vergangenheit, erst gar nicht zur Auskunft gegenüber
Journalisten verpflichtet. Und so verweigerte mir European Homecare auch jede
Information über das, was die Mitarbeiter seit Monaten im PHV treiben. Kein
Interview, keine Antwort auf meine Anfragen, sondern nur der Verweis auf das
Regierungspräsidium. Dort hieß die Antwort, man sei überlastet. Verträge,
Geldflüsse, die Höhe der Gewinne, die zu erbringenden Dienstleistungen, die
Qualifikationen der Mitarbeiter vor Ort bleiben der Öffentlichkeit unbekannt. Das
beflügelt das Misstrauen.
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Titel:
Die Kirchheimer und das PHV
O-Ton Veranstaltung mit Atmo:
„…angesichts des vollen Saales und der Tatsache, dass Frau Ministerin Öney jetzt
eingetroffen ist, würde ich einfach gerne beginnen…“
Autor:
Am 22. Juli 2015 um 18 Uhr war ich zur Bürgerversammlung in Kirchheim gegangen.
Wichtigster Gast: die Baden-Württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney.
Ihr Ministerium ist zuständig für das PHV. 800 Kirchheimer füllten den Bürgersaal.
Die Veranstaltung wurde per Lautsprecher auch ins Foyer übertragen. Selbst auf
dem Vorplatz wollten noch zahlreiche Kirchheimer mitbekommen, was drinnen
verhandelt wurde.
O-Ton Veranstaltung mit Öney und Fuchs:
„Heute reden wir über eine Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, an die wir heute vor
einem Jahr gar nicht gedacht haben. Ich weiß, dass viele von Ihnen diese
Einrichtung sehr kritisch betrachten, ich weiß, dass die Situation einigen auch Sorgen
bereitet, und ich gebe zu, dass ich auch nicht glücklich bin über die
Aufnahmeeinrichtung mit so vielen Menschen. Manche von Ihnen sind auch wütend,
weil sie sich von der Landesregierung hinters Licht geführt fühlen, auch das kann ich
verstehen, aufgrund der vielen Gerüchte, die es leider auch gab. Wir sprachen
anfangs von tausend, ja vielleicht von 1.500 Menschen, die hier in der Patrick-HenryVillage über den Winter untergebracht werden sollten und jetzt werden es
wahrscheinlich zwei Winter sein. Und es sind im Augenblick ungefähr……und es sind
im Moment ungefähr 2.000 Menschen, die hier für einige Wochen…(großer Aufschrei
des Saales)…(weiter mit Fuchs)Also meine Damen und Herren, meine Damen und
Herren, wir möchten…(Zwischenrufe)…Also ich hab‘s eingangs gesagt, wir sind
eigentlich da, um die Dinge sachlich zu erörtern (Saal murrt). Moment, lassen sie
mich doch einfach ausreden. Sachlich bedeutet, dass man auch mal still eine
Äußerung erträgt, die man nicht teilt. Sie können dann einfach nachher ganz normal
ans Mikrophon gehen und sagen, nee, es sind keine 2.000, es sind 5.000, was weiß
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ich, ist mir ganz egal. Aber wir wollen es einigermaßen so machen, dass es
funktioniert. Lassen Sie die Ministerin einfach ausreden…(Klatschen).“
O-Ton Veranstaltung Kirchheimer und Öney:
„Ich habe zwei Kritiken vorzutragen. Die erste Kritik ist: Warum muss ein kleiner Ort
wie Kirchheim mit knapp 17.000 Einwohnern knapp 3.000 Asylanten aufnehmen?
Das versteht keiner. Die zweite Kritik ist die Informationspolitik, die Sie seit Monaten
hier betreiben oder die beteiligten Behörden. Es ist wie ein behördliches oder
mediales Schweigekartell. Wir kriegen nichts, was da draußen läuft. Was ist denn
das für eine Informationspolitik? Gesundheitswesen: Wir kriegen nebenher mit, dass
es da draußen Verdacht auf Seuchengefahr, auf Darminfektion, auf Verdacht auf
Norovirus ist. Das mag sich ja alles nicht bewahrheitet haben. Aber muss man den
Bürger dann anlügen, dass man ihm überhaupt keine Information gibt?! (Applaus,
Fuchs)…Frau Ministerin gleich zu den Fragen… Es gibt Fehler, oder ich würde es als
Fehler bezeichnen, in der Informationspolitik. Es gibt Probleme beim
Gesundheitswesen da draußen. Was möchten Sie dazu sagen…(Öney)Ich bedaure
das, und ich gebe Ihnen Recht, dass wir wahrscheinlich zu einer Entspannung oder
auch zu einer Vermeidung von Missverständnissen hätten beitragen können durch
eine offenere Informationspolitik. Ich bedaure das sehr. Wir können uns in dieser
Frage verbessern, und ich versuche sie auch regelmäßig über neue Entwicklungen
zu informieren. Ich will nur einen kleinen Vergleich, dass sie nur wissen: Meßstetten,
die kleine Stadt auf der Alb, hat 5.000 Einwohner und hat im Moment auch etwa
1800 Flüchtlinge in dieser Unterkunft. Diese Relation einfach nur zum Vergleich.“
O-Ton Veranstaltung Kirchheimer Fuchs und Öney:
„Die Frage war, warum dauert es in Baden-Württemberg doppelt so lange wie in
Mecklenburg-Vorpommern mit den Asylanträgen und die andere Frage war, ob Sie
eine Antwort gefunden haben, auf die Frage, was Sie der Kassiererin bei Lidl und
den Reiterinnen, deren Pferde vor Flüchtlingen scheuen, sagen.“
Autor:
Diese Frage hatte eine Vorgeschichte: „Ich überlege noch, was ich besorgten
Bürger*innen sage, deren Pferde vor Flüchtlingen scheuen. Oder den Kassiererinnen
bei Lidl... Any idea?“ hatte die Ministerin auf den in der Lokalpresse erschienenen
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Bericht einer besorgten Mutter getwittert, deren 16-jährige Tochter von ihrem Pferd
heruntergezogen wurde und der Beschwerde einer Kassiererin, die sich überfordert
fühlte.
Fortsetzung O-Ton Veranstaltung:
„(Öney)…Also ich lese diese Berichte natürlich auch in der Zeitung. Ich will solche
Vorfälle nicht bagatellisieren, wenn es eben Fehlverhalten gibt, führt es natürlich
nicht dazu, dass es zu einer guten Stimmung oder zu einer Toleranz gegenüber
Flüchtlingen führt. Insbesondere dann nicht, wenn es sich eben um viele Menschen
handelt und die Menschen den Eindruck haben, dass mit den vielen Menschen sich
die Probleme auch mehren. Aber wir haben eben auch genau an dem Tag diesen
Brandanschlag auf die Unterkunft in Remchingen gehabt (Buh Rufe)…(Fuchs) Frau
Ministerin, Sie merken, Sie sollten versuchen, wirklich hier im Ort zu bleiben. Es ist
so, dass wir in Kirchheim, ich möchte es jetzt einfach sagen: Wir haben in Kirchheim,
und das werden Sie auch hier im Saal sehen, auch hier sitzen Menschen mit
Migrationshintergrund, die vollkommen integriert sind, und wir haben hier keine
Brandanschläge in Heidelberg ( Applaus) Wir haben hier 70 Jahre lang
amerikanische Streitkräfte gehabt mit Menschen jeder Hautfarbe (Applaus). Ich
denke einfach, Sie sollten wirklich die Sorgen der Menschen hier ernst nehmen.
(Applaus)…(Öney) Ich wurde zu meinem Tweet gefragt und wollte darauf antworten.
Offenbar ist das nicht möglich. Dann gehe ich gleich zur anderen Frage über. (Buh
Rufe, Pfeifen, aggressiver Zwischenruf) (Fuchs) Bitte, also OK, ehrlich, wir möchten
eigentlich hier nicht den Eindruck vermitteln, dass wir hier nicht zivilisiert diskutieren
können.“
Autor:
Die Stimmung wurde gereizt und einige Personen mussten nun des Saales
verwiesen werden. Fragen wurden gesammelt und später an das Ministerium
geschickt. Gesundheit, Kriminalität, Sauberkeit, Verteilung, Hilfsangebote,
Sozialarbeiter, Aufklärung der Flüchtlinge über deutsche Lebenspraxis.
Titel:
Nachtrag 1:
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O-Ton Fuchs :
„Nee, so viele Fragen waren es nicht. Jetzt mit den Antworten waren es neun DINA4-Seiten, die jetzt zurückkamen. Was uns jetzt an diesen Antworten nicht befriedigt,
ist dass diese Zuständigkeitsschieberei praktisch da wieder weitergeht. Und das, was
da aus dem Ministerium jetzt zurückkam, wenn ich das jetzt veröffentlichen würde,
das gäbe noch einmal einen Aufschrei. Deshalb veröffentlichen wir das jetzt nicht.
Wir haben es ja gestern dem Herrn Wolfsturm mitgegeben, dem Ombudsmann, und
der hat das so ähnlich gesehen wie ich, ja, dass die Fragen nicht wirklich gut
beantwortet waren. Und der wollte sich jetzt einfach noch einmal drum kümmern.“
Titel:
Nachtrag 2:
Autor:
Auf der Bürgerveranstaltung in Heidelberg-Kirchheim war kein Vertreter des
Regierungspräsidiums oder des Betreibers „European Homecare“ erschienen. Auch
Flüchtlinge aus dem PHV waren nicht anwesend, obwohl einige schon seit Monaten
dort leben. Hier wie anderswo spricht und entscheidet man über die Flüchtlinge nicht
mit ihnen, so als könnten sie ihre Situation nicht eigenständig beschreiben und zur
Verbesserung der Lagerzustände beitragen.
Titel:
Die Flüchtlinge im Patrick Henry Village – iss, schlaf und trink.
O-Ton Flüchtling:
„What do I do now? He told me, you just eat, sleep and drink. That was his response.
Just eat, sleep and drink. And wait, until your name appears on the board.“
Autor:
Das PHV ist eine kleine Stadt. Vor der mit zwei Securityleuten bewachten Einfahrt
findet sich in einem Holzkasten hinter Glas ein Directory, ein Stadtplan.
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O-Ton MP Kretschmann und Reporter:
„Ja, was heißt, wovon soll ich geschockt sein…(Reporter)…von den
Zuständen…(Kretschmann)…Dass diese Zustände hier schwierig sind, das ist mir ja
berichtet worden. Dass das auf Dauer gar nicht geht, darüber brauchen wir
überhaupt gar nicht reden. Ich bin ja jetzt erst mal hier, um mir einen Eindruck zu
verschaffen.“
Autor:
Bis heute ist das PHV-Gelände abgeschottet wie ein Hochsicherheitsbereich.
Besucher, wenn sie überhaupt hereingelassen werden, müssen sich vom
Sicherheitsdienst auf Schritt und Tritt begleiten lassen. Auch für Journalisten ist es
kaum möglich sich einen Eindruck von den Verhältnissen zu verschaffen. Mit
offiziellen Anfragen hatte ich zunächst wenig Glück. Weder die politisch
Verantwortlichen noch die privaten Betreiber wollen die Kontrolle über Berichte von
den Zuständen im Lager aus der Hand geben. Erst als der baden-württembergische
Ministerpräsident Wilfried Kretschmann das Lagergelände für einen begleiteten
Rundgang besuchte, ergab sich eine erste Gelegenheit.
Atmo Wachmann/ Kamera
Autor:
Ein Grasweg führt nach der Eingangskontrolle direkt ins Patrick-Henry Village. Auf
der linken Seite liegen Container in der Sonne. Vor einigen Wochen sind Mitarbeiter
des Innenministeriums hier eingezogen. Sie sollen das Lager neu organisieren. Ich
biege zwischen Absperrgittern rechts in die North Gettysburg Avenue ab. Sie mündet
auf den Hauptplatz. Auf der einen Seite unterhält die Polizei im ehemaligen
Marshalloffice einen Posten. Über Monate, so erfahre ich, waren die Ordnungshüter
dort nur tagsüber präsent. Angesichts der fast täglichen Einsätze in der Nacht und
der immer noch steigenden Flüchtlingszahl sind nun immerhin fünf Beamte rund um
die Uhr vor Ort. Schräg gegenüber dem Paradeplatz befindet sich in der ehemaligen
Zahnklinik das Registrierungsgebäude. Hier arbeitet der Betreiber European
Homecare. Die Verhältnisse in der ehemaligen kleinen Klinik sind extrem beengt. Vor
der Theke sprechen zahllose Flüchtlinge durcheinander. Schaut man aus den
Bürofenstern, sieht man Menschentrauben vor dem Eingang warten. Jeder Einzelne
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von ihnen mit einem dringenden Anliegen, großen Ängsten vor dem, was kommen
mag. Wichtig sind für alle die Tafeln mit den Namenslisten, die vor dem Gebäude
angebracht sind. Nur wer seinen Namen darauf findet, kann seinen Antrag auf Asyl
stellen. Und damit hoffen, dieses Lager bald zu verlassen. Hier treffe ich Modu.
Atmo: Personen im Freien
O-Ton Modu:
„My name is Modu and I am from West Africa. So far Germans are doing so good for
us. But most of the people in this Campus, that are taking care of us…it’s not fair.”
Sprecher 1:
“Mein Name ist Modu, und ich komme aus Westafrika. Die Deutschen helfen uns
wirklich. Aber die meisten Leute, die sich hier in diesem Lager um uns kümmern, sind
keine Deutschen. Ehrlich, ich habe noch keine Deutschen arbeiten gesehen, nur
Albaner, Araber und wo immer sie herkommen. Das Essen ist nicht gut. Wir wissen
genau, wieviel die Deutschen bezahlen, damit wir versorgt werden. Wenn es
irgendwelche Dinge in der Unterkunft gibt, die nicht funktionieren und man sich
beschwert, interessiert es sie nicht. Und schau dir vor dem Büro den Anschlag mit
den Namen an. Es werden fast nur Albaner, Syrer etc. in Flüchtlingsheime überstellt.
Es tauchen keine Afrikaner, Gambier, Nigerianer und andere auf. Und die meisten,
die länger hier sind, ich bin seit zwei Monaten hier, sind Afrikaner. Das verstehen wir
nicht, und darüber möchte ich mich beschweren. Wenn man sich darüber im Büro
beschweren will, lässt man dich gar nicht erst rein. Du musst vor der Gittertüre
warten und Araber und Albaner dürfen einfach vorbei. Das ist nicht fair.“
Autor:
Im Laufe meiner Recherchen habe ich mit vielen Flüchtlingen gesprochen. Sie haben
mir fast immer Modus Bericht bestätigt. Araber, oft Syrer, die hier als Hilfskräfte
eingesetzt sind, bevorzugen Syrer, deren Anspruch auf Asyl auch von deutscher
Seite nicht in Frage gestellt wird. Ausgewählt zur Antragstellung werden die
Asylbewerber durch den privaten Betreiber European Homecare.
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Sprecherin 1:
Die Ankunft in einer Erstaufnahmeeinrichtung läuft immer gleich ab. Registrierung,
Inaugenscheinnahme durch eine Krankenschwester oder einen Arzt, Ausstattung mit
Decken und Dingen des täglichen Bedarfs, Kleiderausgabe, Zuweisung einer
Unterkunft in einem der zweistöckigen Wohngebäude zusammen mit 4 bis 6
Personen, zehn bis 14 Personen benutzen eine Toilette. Dann beginnt das Warten
auf die Möglichkeit, seinen Antrag als Asylsuchender stellen zu können. Erst nach
dieser persönlichen Antragstellung mit erkennungsdienstlicher Erfassung und
Röntgenuntersuchung in einer Außenstelle des Bundesamtes für Migration erhält der
Flüchtling ein Ausweisdokument sowie die monatlichen 147 € für den dringendsten
Alltagsbedarf. Wer nicht auf der Liste steht, den Asyl-Antrag nicht stellen kann, hat
kein Geld.
Autor:
Das Offizierscasino liegt zwischen North Lexington Avenue und Baratoga Drive, dort
wo sich auch die Kirche befindet. Als ich im Juli hier war, waren in dem Saal aus den
50er-Jahren mit Holzboden, Bühne und großem Kronleuchter in der Mitte über 800
Flüchtlinge, Familien aus Syrien, Albaner, Mazedonier, Iraker und Tunesier, meist
junge Männer, untergebracht. Im September, als ich noch einmal dort bin, sind es
vielleicht noch einhundert. Einige Wohngebäude wurden inzwischen fertig gestellt,
Wasser und Strom müssen erneuert und deutschen Standards angepasst werden.
Einige Sicherheitsmitarbeiter einer thüringischen Firma stehen herum. Ein Nigerianer
kehrt den Boden. In der Ecke vor dem großen Spiegel an der ehemaligen Garderobe
schneidet ein Syrer einem anderem die Haare. Ich will wissen, wieviel das kostet:
nichts, es sei umsonst.
Atmo Syrer
Autor:
Er käme aus Aleppo, sagt der Mann in fließendem Deutsch, und er spräche neben
Deutsch noch Englisch, Französisch und Spanisch. 25 Jahre habe er im Bazar,
einem heute total zerbombten Weltkulturerbe, ein Geschäft für Touristen betrieben.
Ob ich ihm Arbeit besorgen könne, fragt er. In diesem Lager würden doch bestimmt
Übersetzer gesucht, sage ich. Er schaut mich fragend an. Man hätte ihm gesagt,
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dass er sechs Monate warten müsse, bis sein Asylantrag bearbeitet ist. Erst dann
könne er Arbeit suchen.
Atmo
Autor:
Vor dem Casino, wo die Toilettenhäuschen stehen, spreche ich Cody an. Sein Job,
ist zu schauen, dass die Toiletten sauber bleiben. Cody ist Afro-Amerikaner, erzählt
er mir, war Soldat der US-Streitkräfte und beantragte politisches Asyl, weil er den
Kriegseinsatz im Irak verweigerte. Ich will von ihm wissen, wie er das Leben im PHV
sieht?
O-Ton Cody:
„We can say that’s crazy, because I am here, getting to three month now and some
of the treatment doesn’t follow the way like it used to be…”
Sprecher 1:
„Ich bin jetzt fast drei Monate hier. In dieser Zeit ist der Umgang mit den Flüchtlingen
anders geworden. Die Regierung behandelt unser immer noch gut. Aber die Leute,
die hier das Sagen haben, behandeln uns anders, als es die Regierung vorsieht. Das
Essen ist nicht gut. Es gibt viele Leute, die dieses Essen nicht vertragen. Sie nehmen
es, weil sie keine Alternative haben. Auch unsere Umgebung ist nicht gut, aber
immerhin versucht man, alles sauber zu halten.“
Autor:
Das Gelände sauber halten, tun die Flüchtlinge selbst. Wieviel er arbeitet, will ich
noch wissen.
O-Ton Cody:
Sprecher 1:
„Ich arbeite einmal die Woche, danach muss ich ein- bis zwei Wochen warten. Wir
bekommen einen Euro und 5 Cent für eine Stunde. Wenn du sechs Stunden
arbeitest bekommst du also 6 Euro 30. Ich habe schon mein Interview zum
Asylantrag gehabt und warte darauf in eine feste Unterkunft überstellt zu werden.
Aber nichts passiert. Die Leute, die hier im Büro arbeiten, nehmen immer ihre
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eigenen Leute. Sie halten sich nicht an die Regeln. Aber wir werden hier nicht immer
sein. Sie können dich nur einige Monate lang anschreien, nicht für immer. Dafür ist
die Regierung verantwortlich. Im Büro arbeiten Einwanderer wie wir. Sie geben ihnen
diesen Posten und dann behandeln sie die Leute schlecht.
Autor:
Das Asylbewerberleistungsgesetz erlaubt, dass Flüchtlinge in Lagern für nur einen
Euro und fünf Cent arbeiten. Und ich habe dort viele Flüchtlinge arbeiten sehen,
Reinigen des Geländes, Kleider- und Essensausgabe, Toilettenreinigung und vieles
mehr. So kommen in einer Unterkunft wie dem PHV leicht unzählige Arbeitsstunden
Monat für Monat zusammen. Die Flüchtlinge übernehmen Dienstleistungen für
andere Flüchtlinge im Auftrag der privaten Betreiber, die dafür weder jemanden
einstellen noch Mindestlohn zahlen müssen. Einige Afrikaner und ein junger Albaner
mischen sich ein.
O-Ton Albaner
Sprecher 1:
„Ich bin aus Albanien und bin seit drei Wochen hier. Ich war zwei Wochen in einem
Aufnahmelager in Dortmund. Jetzt bin ich hier. Ich habe schon den Medizincheck
und das Röntgen hinter mir und warte auf mein Interview. Ich bin mit meiner Familie
hier. Wir sind zu sechst, meine Eltern, meine 15- und 10-jährigen Schwestern und
mein 12-jähriger Bruder. Ich habe gerade mein Abitur gemacht. Mein Vater hat für
eine staatliche Sicherheitsfirma gearbeitet. Aber in Albanien werden alle Mitarbeiter
entlassen, wenn ein anderer Premierminister gewählt wird. Ich wollte studieren, aber
dafür muss man bezahlen und mein Vater ist arbeitslos.“
O-Ton Autor:
Do you have German lessons here?
O-Ton Albaner
Sprecher 1:
„Nein, nein. In dem anderen Lager gab es das. Dort ging man zur Schule, zwei
Stunden am Tag. Ich habe das gemacht, Anfänger und Fortgeschrittene.“
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O-Ton Autor:
So what are you doing the whole day?
O-Ton Albaner
Sprecher 1:
„Wir gehen in den Fitness-Raum, an die Geräte. Aber wenn du Sport machst, musst
du gut essen. Aber bei uns gibt es noch nicht einmal Abendessen. Es gibt nur
Frühstück und Mittagessen. Schau hier…Das ist alles für heute. Das sind zwei
Brötchen, ein Stück Käse, ein wenig Wurst, ein Joghurt. Das ist Reis mit Karotten,
das ist das Mittagessen. Das Essen ist nicht schlecht, aber zu wenig. Zwei ViertelLiter Flaschen Wasser morgens, zwei mittags. Sonst soll man aus dem Wasserhahn
im Casino trinken, das ist Trinkwasser.“
Autor:
Das ist offensichtlich einer der Gründe, warum so viele sich täglich auf den Weg zum
Supermarkt in Kirchheim aufmachen. Ich gehe ein paar Schritte weiter zum Zelt, in
dem gerade das Essen ausgegeben wird. Es hat sich schon eine lange Schlange
gebildet. Wachleute, etwas martialisch mit Brustprotektoren ausgerüstet, versuchen
die Menge zu organisieren. Beinah kommt es zu einer Schlägerei. An der Ausgabe
arbeiten neben einer Deutschen wieder einmal nur afrikanische Flüchtlinge, die auf
Zetteln die abgeholte Anzahl der Essenstüten quittieren. Andere bringen die Tüten
von draußen herein. Die Essensausgabe dauert zwei Stunden, 2 Euro 10 Cent
Verdienst also.
Atmo Essensausgabe
O-Ton Interview:
„Wie lange dauert denn so eine Essensausgabe?“
„Zwei Stunden“
„Zwei Stunden bis alle durch sind? Und was gibt es heute?
„Gemüsefrikadelle und Maultaschen mit Tomatensoße“
„Gibt’s auch irgendwelche Sachen für Muslime?“
„Es ist alles Muslimessen.“
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„Und die Leute, die hier arbeiten, sind auch Flüchtlinge? Sie unterstützen sie? Die
sind wahrscheinlich froh, wenn sie etwas zu tun haben.“
„Das kann ich Ihnen sagen, häufig.“
„Sind das immer die Selben, die dann da arbeiten, oder wechselt das immer?“
„Das wechselt immer.“
Atmo Kindergeschrei
O-Ton Helferin:
„Also ich wollte mich einfach engagieren für die Flüchtlinge, die hier in Deutschland
sind. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, hier das Patrick-Henry-Village
zu unterstützen, weil es hier besonders schwierig ist. Es ist chaotisch.
Autor:
Über 250 ehrenamtliche Helfer aus Heidelberg haben sich gemeldet und sind über
das Internet miteinander verbunden. Vor Ort dürfen aber nur täglich 25 Helfer sein,
polizeiliches Führungszeugnis ist Pflicht. Warum das so ist, beantwortet mir niemand.
O-Ton Helferin:
„Dann gibt’s Leute, die in dem Raum an Tischen sitzen, wo gebastelt wird, wo
Gesellschaftsspiele ausgepackt werden. Es gibt ne Ecke mit Duplosteinen, ne Ecke
mit Puppen und mit Kuscheltieren, draußen stehen immer ein paar Leute, die
schwingen ein großes Springseil, da stellen sich immer gleich zehn Kinder an und
springen Springseil. Es gibt Bälle und Bobbycars, ne Ecke, da werden Bilderbücher
vorgelesen, so verteilen sich die. Und viele stehen auch einfach da und nehmen
Kontakt zu den Leuten auf. Es gibt auch Fußballplätze, die sind auch gesperrt. Es
gibt viele Wiesen, da spielen die Leute Fußball, die Männer vor allem, wenn sie denn
Fußbälle haben. Haben wir schon ein paar hier verloren, Basketbälle verloren, aber
so richtige Angebote für die Erwachsenen gibt es nicht. Das wollen wir auch gerne
ändern. Ab September/Oktober möchten wir gerne Sprachkurse anbieten, wenn wir
genug Helfer finden, das leiern wir gerade an. Wir würden auch total gerne so ne Art
Café aufmachen, wenn ein Gebäude dafür freigegeben wird…“
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Autor:
Von der regelmäßigen Kinderbetreuung konnte ich mich selbst überzeugen. Das ist
wohl auch das Einzige, was tatsächlich immer funktioniert - von Beginn an durch
ehrenamtliche Helfer organisiert. Tennisplätze und Buchladen werden nicht mehr
genutzt, genauso wenig wie das „High School Athletic Field“. Die Wohngebäude am
Alamo Circle und Bull Run Court sind noch immer geschlossen. Sie sollen jedoch wie
die anderen Gebäude nach bau- und sicherheitsgemäßer Instandsetzung mit
Flüchtlingen belegt werden. Im ehemaligen Kindergarten, in dem Familien
untergebracht sind, treffe ich auf eine schwangere Frau.
O-Ton schwangere Frau
„Gambia, Gambia…now I have one month here, before I was Spain…”
Sprecherin 2:
„Ich komme aus Gambia und bin seit einem Monat hier. Vorher war ich fünf Jahre in
Spanien. Aber dort gab es für mich und meinen Mann keine Arbeit mehr. Wir hatten
kein Geld, um uns Essen zu kaufen. Ich bin Muslima. Ich habe zwei Kinder und bin
im Moment schwanger. Wir leben zusammen im Zimmer. Das Essen ist OK, aber
abends kann ich mir nichts mehr machen. Ich kenne niemanden hier. Deshalb
schlafe ich viel. Ich fühle mich krank, weil ich schwanger bin und nicht von hier in ein
Flüchtlingsheim komme. Ich war schon im Krankenhaus, aber wegen der
Schwangerschaft kann ich keine Medizin nehmen. Normalerweise koche ich, aber
hier ist das nicht möglich. Und wenn mir etwas fehlt, dann kann ich es hier nicht
bekommen. Das ist mein Problem.“
O-Ton Helferin:
„Grad neulich hat mir jemand gesagt, es gibt viele Frauen hier, die schwanger sind,
die schwanger hier ankommen. Viele von denen sind ungewollt schwanger, weil sie
während der Überfahrt entweder vergewaltigt wurden oder sich prostituieren
mussten, das heißt, viele wollen das Kind dann nicht. Ich weiß auch, darf ich das jetzt
hier auch sagen, ich glaube, dass es hier auch einige gibt, die fürs Rotlichmilieu
rekrutieren wollen, das heißt, die Frauen werden angesprochen, junge Frauen auch,
wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Ich weiß nicht genau, das möchte ich noch
herausfinden, ob es auch weibliche Sozialarbeiterinnen bei European Homecare gibt.
Das ist eine Sache, die ich gerne fragen möchte…ob es hier Frauen gibt, wo diese
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Frauen hingehen können, weil die gerade aus Syrien und aus Afrika nicht so zu
Männern gehen würden.“
Sprecherin 1:
Sicherheitssperren schützen die Bewohner des PHV vor rechtem Terror, vor
Anschlägen, wie sie in Baden Württemberg seit Mai 2015 in Bad Krotzingen,
Remchingen, Weissach im Tal, Neckargmünd, Wertheim und anderen Orten verübt
wurden.
Autor:
Aber wer schützt die Bewohner innerhalb eines Lagers? Ein Tunesier berichtete mir
z.B., dass er ‚als Demokrat‘, wie er das nannte, gefährlich lebe, weil Flüchtlinge aus
dem Norden Pakistans von allen Muslimen hier eine streng islamische Lebensweise
fordern, und das auch mit Gewalt durchzusetzen versuchen.
Erst vor einigen Wochen wurde ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma im PHV als ein
in Thüringen aktiver Rechtsradikaler enttarnt. Er hatte nachts in den Unterkünften
willkürlich Personenkontrollen durchgeführt.
Atmo Bus
Autor:
Als ich mit dem Shuttlebus zusammen mit 50 Flüchtlingen das PHV Richtung
Heidelberg verlasse, drückt mir ein Mann einen vierseitigen in Englisch verfassten
Brief in die Hand. Es geht darin um einen Vorfall Anfang September, bei dem ein
Flüchtling durch Sicherheitsleute verletzt und in Krankenhaus gebracht werden
musste. Er war Teilnehmer einer kleinen friedlichen Protestkundgebung von 150
Flüchtlingen, die die schleppende Bearbeitung der Asylanträge kritisieren wollten.
Sprecher 2/Zitator:
„Drei oder vier Leute waren beteiligt. Einer kniete auf meinem Rücken, während ich
auf der Seite lag. Meine Stirn wurde drei Mal auf den Boden geschlagen. Meine
Hände wurden auf dem Rücken zusammen gebunden und nach oben gehalten. Es
war extrem schmerzhaft und ich protestierte. Erst als endlich ein Sozialarbeiter
erschien, der mich kannte, durfte ich mich auf einen Stuhl setzen. Ich wurde der
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Polizei übergeben, die mich mit einem Auto an einen anderen Ort brachte, wo ich in
einem dunklen Raum zurückgelassen wurde. Dann machte man mit mir einen
Alkoholtest. Zu den Ereignissen wurde ich nicht befragt. Ich fragte nach einem Arzt,
der endlich nach drei Stunden kam und mich direkt mit einem Krankenwagen ins
Krankenhaus bringen ließ. Ich wurde geröntgt und man stellte fest, dass mein Arm
angebrochen sei. Man versorgte mich und ich wurde ins Patrick-Henry-Village zurück
gebracht. Ich schreibe diesen Bericht für mich. Denn ich habe Angst, dass es sonst
Auswirkungen auf mein Asylverfahren und das meiner Familie hat.“
Autor:
Ein Einzelfall? Viele Flüchtlinge trauen sich nicht, mit mir über Einzelheiten des
Lagerlebens, über Konflikte zu reden. Sie haben Angst vor den unkalkulierbaren
Folgen.
Sprecher 2/Zitator:
„Eines der großen Probleme im Village sind die Sorgen und Schwierigkeiten, die die
Flüchtlinge haben. Sie können sie den Mitarbeitern nicht mitteilen. Denn es gibt
sowieso keine Rückmeldung. Dabei ist es wichtig, dass die Bewohner die Sicherheit
haben, gehört zu werden. Aus diesem Grunde schlage ich vor, eine
Beschwerdestelle einzurichten, in der neben Englisch auch die wichtigsten Sprachen
der Flüchtlinge gesprochen werden. Diese Beschwerdestelle könnte die Anliegen der
Bewohner mit der Administration der Einrichtung besprechen. Diese Neuerung
könnte den Willen zur Verbesserung der Situation zeigen und wäre ein Schritt
vorwärts.“
Autor:
Meine Erfahrung nach mehreren Monaten offenen und verdeckten Recherchen im
PHV geben diesem Vorschlag recht: Gerade angesichts der steigenden
Flüchtlingszahlen werden dringend Einrichtungen gebraucht, an die sich die
Menschen ohne Angst wenden können, wenn sie in den Lagern unter privaten
Betreibern zu leiden haben, von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind oder Opfer
mafiöser Banden und Krimineller werden.
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O-Ton Flüchtling:
„So we are facing so many difficulties right now, Sir. I don’t know how to express this
but like most of the times, most of the times peoples are stressed in there.”
Absage
Patrick-Henry-Village
Eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Heidelberg
Ein Dossier von Christoph Burgmer
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015
Es sprachen: Jochen Langner, Marietta Bürger, Volker Niederfahrenhorst, Franz
Laake und Sigrid Burkholder
Ton und Technik: Eva Pöpplein und Angelika Brochhaus
Regie und Redaktion: Karin Beindorff
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