1 DEUTSCHLANDFUNK Hörspiel/Hintergrund Kultur Redaktion: Karin Beindorff Patrick-Henry-Village Eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Heidelberg Von Christoph Burgmer URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Sendung: 16.10.2015, 19.15 Uhr 1 2 Atmo: Nato-Abzug der Soldaten mit Trommelwirbel Ansage: Patrick-Henry-Village AtmoTrommelwirbel Atmo Kindergeschrei Ansage weiter: Eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Heidelberg Ein Dossier von Christoph Burgmer Atmo Kindergeschrei Titel: Von der Winternotunterkunft zum Registrierungszentrum O-Ton Fuchs „PHV, das kam über uns wie eine Nacht- und Nebelaktion und plötzlich sind da Leut´ gewandert… kommen dann zu Fuß in Kirchheim an. Und wenn man dann auch gesehen hat: Die sind in abgedunkelten Bussen angeliefert worden, sag´ ich jetzt mal in Anführungszeichen. Das hat irgendwie schon was Intransparentes gehabt von Anfang an. Und man hat dann versucht,…ich weiß, die Kirchengemeinden sind dann am ersten Weihnachtstag dahin gepilgert und wollten die Leute willkommen heißen und sind da schon ein Stück weit auf Ablehnung gestoßen, nicht bei den Flüchtlingen selbst, sondern bei denen, die diese Einrichtung betreiben…“ Sprecherin 1: Jörn Fuchs ist der Vorsitzende des Heidelberger Stadtteilvereins Kirchheim. Autor: Als vor Monaten die ersten Flüchtlinge im Patrick-Henry-Village eintrafen, begann im Heidelberger Stadtteil Kirchheim eine neue Zeit. Die Kirchheimer sind seither, im übertragenen Sinne, mitten im Sprung. Die politischen Dynamiken der 2 3 Globalisierung, von Krieg, Flucht und Migration haben ihre Welt in Bewegung gebracht. Das von wirtschaftlicher Ungleichheit und militärischer Gewalt erzeugte Elend lässt sich im westlichen Wohlstand nicht mehr ignorieren. Auch in Kirchheim ist nun nichts mehr, wie es war. Teils offen und teils notgedrungen verdeckt habe ich versucht, die Verhältnisse im Aufnahmelager und seiner Umgebung zu ergründen. Das PHV, wie es kurz genannt wird, liegt an der südwestlichen Grenze Kirchheims, zweieinhalb Kilometer vom Ortskern entfernt. Mitten zwischen Erdbeerfeldern und Reiterhöfen: abgesichert mit Zaun, Stacheldraht- und Panzersperren. Letzte Erinnerungen daran, dass die USA seit dem 11. September 2001 ihren „Krieg gegen den Terror“ auch hier führten. Hinzugekommen sind seither lediglich ein paar hundert Absperrgitter, die eigens aus den Niederlanden herangeschafft werden mussten. O-Ton Joachim Gerner : „Aus städtischer Sicht hat natürlich Patrick-Henry-Village die Situation, der man gerecht werden muss, diese exzentrische, im wahrsten Sinne des Wortes, Lage. Für Amerikaner war das natürlich unter Sicherheitsaspekten wunderbar: Zaun drum herum, weit weg, direkt an der Autobahn, weit weg von den Zubringern. Aber ob dieses für eine bedarfsorientierte Erstaufnahme das Richtige ist, da müssen dann von Anfang an für uns klar Begleitstrukturen her, Anbindungen, damit das Ganze auch funktionieren kann.“ Sprecherin 1: Joachim Gerner ist Bürgermeister für Soziales, Familie und Kultur der Stadt Heidelberg. Das Patrick Henry Village ist eine Art Notlager. Ein Zustand, der schon seit der Eröffnung im Dezember 2014 andauert. Dennoch leben hier die meisten Flüchtlinge in Baden-Württemberg. Fast täglich kommen Busse der Bundeswehr und bringen weitere. Das PHV soll zum „Registrierungszentrum“ ausgebaut werden, vorher hieß es „Winternotquartier“, dann „Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle“. Am Ende könnte es ein Massenlager für 10.000 oder sogar mehr Bewohner werden. Anfang Oktober 2015 lebten im Patrick-Henry-Village über 4.000 Flüchtlinge, darunter fünfhundert Kinder. 3 4 Autor: Oder sechshundert, siebenhundert, achthundert Kinder? Zahlen, oft die argumentative Speerspitze politischer Rhetorik, sind in diesen Herbsttagen auch in Heidelberg unzuverlässig. Niemand kann und niemand will sagen, wie viele Kinder, wie viele Menschen inzwischen dort leben. Hunderte, wie ich in Erfahrung bringen konnte, ohne Gesundheitsuntersuchung, über tausend ohne einen Antrag auf Asyl gestellt haben zu können. O-Ton Axel Klaus: „Wir befinden uns auf der Patrick-Henry-Village, wie wahrscheinlich auch in vielen anderen Erstaufnahmelagern, in einer Ausnahmesituation, die sich für mich ein bisschen so darstellt, als könnte es zu einer Dauerausnahmesituation werden. Dass eigentlich alles, was wir in unserem Land eigentlich so kennen an Regularien oder an Sicherheitsnetz nicht so vorhanden ist oder nur sehr rudimentär überhaupt funktioniert.“ Sprecherin 1: Axel Klaus ist Baptistenpfarrer der Hoffnungskirche in der Heidelberger Weststadt. Autor: Er war der erste ehrenamtliche „Helfer“, der Zutritt zum Patrick-Henry-Village hatte, lange vor der jetzt vielzitierten 'Willkommenskultur'. Sprecherin 1: Im PHV, wo bis vor kurzem über 6.000 US-Amerikaner mit ihren Familien in einer amerikanischen Kleinstadt gewohnt haben, agiert seit Monaten das 60 Kilometer entfernt liegende Regierungspräsidium Karlsruhe. In seine Zuständigkeit fällt die Verantwortung für die Aufnahme der Flüchtlinge. Autor: Die Beamten, gewöhnt an eine überschaubare Zahl von aus ihren Heimatländern geflohenen Menschen, sind wie es jetzt etwas beschwichtigend heißt: überfordert. Vor einigen Wochen jedoch haben Mitarbeiter des Innenministeriums aus Stuttgart die Regie übernommen. Man spricht hinter vorgehaltener Hand von Entmachtung. 4 5 Und auch die Bundeswehr hat Kräfte geschult und vor Ort stationiert. Jetzt soll alles besser werden. Bürgermeister Gerner ist skeptisch. O-Ton Dr. Joachim Gerner: „Die Stadt ist nicht verantwortlich für das Patrick-Henry-Village, was den Betrieb anlangt, was die Infrastruktur und so weiter anlangt. Die Stadt ist ja noch nicht einmal Eigentümer des Patrick-Henry-Village. Im Moment ist die rechtliche Ausgangssituation so, dass es der Eigentümer ist, die Bundesimmobilienverwaltung. Und wenn das Land dort etwas macht, müssen die beiden miteinander verhandeln. Den kollateralen Nutzen und den kollateralen Schaden, wenn irgendetwas ist, den hat dann die Stadt. Und das haben wir ja im ersten halben Jahr im Stadtteil Kirchheim erlebt.“ Autor: Weil das PHV im Stadtgebiet betrieben wird, bekommt Heidelberg keine zusätzlichen Asylbewerber zugewiesen. Kein schlechter Deal. Denn in der Stadt Heidelberg wusste niemand so recht, was man mit der Siedlung fünf Kilometer außerhalb des Zentrums eigentlich anfangen sollte. Es gab Vorschläge für eine betreute Altensiedlung, dann wiederum sollten Studenten dort einziehen. Sprecherin 1: Heidelberg ist nach München, Frankfurt a.M. und Hamburg der viertteuerste Markt für Mietwohnungen. Es gibt über eine Million Übernachtungen von Touristen im Jahr, alleine 3.000 Golfaraber lassen sich jährlich an der Universitätsklinik medizinisch behandeln, Tendenz steigend. Mehr als 34.000 Studenten aus allen Ländern studieren hier an der ältesten Universität Deutschlands. Von 1952 bis März 2013 wurden von Heidelberg aus NATO-Kriege koordiniert, unter anderem auf dem Balkan und in Afghanistan. O-Ton Axel Klaus: „Und als ich dann wiederrum mitbekam, dass das neue große Lager im PatrickHenry-Village gestartet hat, Ende Dezember, bin ich Anfang Januar hingegangen und stellte fest, dass die Leiterin dieselbe war. Ich fragte einfach so: Können wir irgendetwas tun? Dann ging das los mit ein paar ganz kleinen Sachen. Ich kam dann 5 6 mit ein paar Leuten und wir haben erst einmal Fitnessgeräte ausgepackt und aufgebaut, die sie bestellt hatte. Dann ging es so Schritt für Schritt weiter. Die Frage, was ist eigentlich mit den vielen Kindern hier? Können wir etwas anbieten? Es war ein langer Weg bis wir den Raum, den wir jetzt tatsächlich auch benutzen können, zur Verfügung bekommen haben. Ich bin dann zu einem sehr frühen Zeitpunkt auch zum Roten Kreuz gefahren und hab‘ mich mit ihnen abgesprochen. Das hatte den Hintergrund, dass ich dort im Winter feststellte, dass viele Menschen einfach ohne Schuhe rumgelaufen sind. Ich hab‘ dann erst mal hier in der Gemeinde gesammelt und Schuhe hingefahren und war sozusagen der Erste, der überhaupt irgendetwas verteilt hat. Und die Situation war nicht schön. Sprecherin 1: Im Frühjahr, als die Zahl der Flüchtlinge immer weiter anstieg, wurde das PHV dann offiziell zu einer „bedarfsorientierten Erstaufnahmestelle“. Dazu schlossen Stadt und Land einen Vertrag, der die Zahl der Flüchtlinge beschränken, ihren Aufenthalt verkürzen und den Betrieb des Massenlagers bis zum April 2016 begrenzen sollte. Autor: Davon ist heute nicht mehr die Rede. Wahrscheinlich wird das PHV über Jahre als Erstaufnahmestelle betrieben werden müssen. Obwohl der Oberbürgermeister mit einer Briefwurfsendung an alle Heidelberger Haushalte vor kurzem zur Toleranz aufgerufen hat, herrscht eine gefährliche Stimmung. Denn negative Nachrichten über Schlägereien und Kriminalität bestimmen seit Monaten die öffentliche Wahrnehmung des PHV. O-Ton Helferin: „Schlägereien gibt es schon, gerade in der Nacht. Es gab hin und wieder mal Polizeieinsätze hier. Das Problem ist, die Leute hier haben nichts zu tun, die warten. Die haben keinerlei Tagesstruktur. Das ist ein Riesenproblem hier. Die kriegen zweimal am Tag was zu Essen. Es gibt keinen Platz, wo Tische und Stühle stehen. Die kriegen so ne Tüte mit Essen zweimal am Tag und gehen auf ihr Bett und essen das auf ihrem Bett sitzend oder auf der Wiese auf dem Boden sitzend. Und das ist das Einzige, was sie eigentlich haben. Und dann hat die Kleiderkammer zweimal am 6 7 Tag offen. Dieser Amtsarzt hat einmal am Tag offen, und ansonsten haben die keinerlei Tagesstruktur und da ist ne Riesenlangeweile da.“ Sprecherin 1: Susanne Falk ist Kommunikationsdesignerin und ehrenamtliche Helferin der Kinderbetreuung im PHV. Autor: Nicht zuletzt, weil freiwillige Helfer und ehrenamtliche Arbeitskreise wie „Arbeitskreis Asyl“ lange von den Behörden ferngehalten wurden, fehlen Informationen über den Alltag im Lager. Als vor Monaten schon Ärzte freiwillig bei Untersuchungen helfen wollten, wurden sie abgewiesen. O-Ton Fuchs: „„Also das ist bald so abgeschottet wie in den letzten Jahren, als die Amerikaner sich da eingeigelt haben. Und das führt natürlich auch nicht dazu, dass die Stimmung besser wird. Das muss man einfach sagen. Alles, das was ich nicht sehen kann, da fange ich dann an zu mutmaßen. Und das weiß man ja, wie das dann ausgeht. Ich denke, da muss auch eine andere Politik verfolgt werden. Es gibt viele Menschen die sich einfach dafür interessieren, auch zu helfen, die auch vielleicht mit ihrem Knowhow helfen könnten. Aber der Weg dahin ist offensichtlich sehr mühsam. Und es gibt ja bis auf die Kinderbetreuung noch nicht wirklich viel ehrenamtliches Engagement, was da zugelassen ist. Und das kann ich nicht verstehen, warum man das Potential, was da ist, was vorhanden ist, warum man das nicht zulässt. Da mauern alle ein bisschen, das Regierungspräsidium, der Betreiber selbst. Autor: Dafür sind es Gerüchte, die das Bild des PHV und der Flüchtlinge prägen. Sie erzeugen Angst vor allem Fremden und befeuern - von opportunistischen Politikerstatements immer häufiger geadelt - den Alltagsrassismus. O-Ton Angelika Haas-Scheuermann: „Die Rückmeldung aus der Kirchheimer Bevölkerung sind sowohl positiv wie auch negativ. Es gibt eine große Hilfsbereitschaft, auch ein großes Interesse als 7 8 Ehrenamtliche vor Ort auf PHV zu unterstützen und bei der Betreuung der dortigen Bewohner mitzuhelfen. Wir haben natürlich auch Rückmeldungen, die von einer Verschmutzung, von einer Belagerung von bestimmten Flächen im Friedhofsbereich berichten, von Menschen die dort angesprochen werden, von Menschen, die sich unwohl fühlen angesichts der Vielzahl der Flüchtlinge, die sich in Gruppen da gemeinsam bewegen. Und es ist auch nach wie vor so, dass es Rückmeldungen gibt, die als Gerüchte, die von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr weitergegeben werden, die sich schlichtweg dann nicht bewahrheiten. Also wir haben immer noch diese Geschichte eines Pferdes, dass geschlachtet und verspeist wurde, die sich aber nicht bestätigt hat, und trotz großer Mühe der Polizei sich auch bis heute nicht aufklären lässt. Es gibt dann die Situation am Lidlmarkt, der zu bestimmten Zeiten extrem frequentiert ist, was zu einer gewissen Problematik im Betrieb des Lidlmarktes als solches führt, lange Wartezeiten, lange Schlangen, mal auch 'ne aufgerissene Packung und eine Verschmutzung im Außenbereich. Da hat die Stadt jetzt Abhilfe geschaffen.“ Sprecherin 1: Angelika Haas-Scheuermann ist Leiterin des Amtes für Soziales und Senioren bei der Stadt Heidelberg. O-Ton Angelika Haas-Scheuermann: „Manche Dinge lassen sich auch nicht auf Knopfdruck beseitigen. Wenn man jetzt mal den Betrieb am Friedhof sich anschaut. Wenn dort junge Männer sitzen und in einer größeren Gruppe auch laut unterwegs sind, und es ist gerade eine Bestattung vor Ort, dann ist das natürlich in unseren Kreisen befremdlich. Das sind Dinge, die sich nur durch viele Gespräche und durch eine Vorort-Präsenz auflösen lassen. Da fehlen noch so ein bisschen die Strukturen.“ Autor: Zweieinhalb Kilometer lang führt der asphaltierte Feldweg vom PHV zwischen Feldern, Straßen und Pferdehöfen am Kirchheimer Friedhof vorbei bis in den Ortskern. Dort gibt es zwei Billigsupermärkte, die nächsten Einkaufsmöglichkeiten für die Flüchtlinge. Ich habe mich dort umgesehen: Täglich machen sich Hunderte Flüchtlinge auf den Weg durch ein Gebiet, das bislang allein von Reitern, 8 9 Radfahrern, Hundebesitzern und Joggern genutzt wurde. Jörn Fuchs gehört auch dazu. O-Ton Fuchs: „Ich habe ein Pferd, und da reite ich ab und zu durchs Feld, und da bin ich abends auch mal um den Friedhof rumgeritten. Da kann man dann schön über die Mauer kucken vom Pferd aus. Ich habe keinen Menschen da gesehen. Das sind sicherlich auch Einzelfälle, die da auch nen bissel aufgebauscht werden. Aber es zeigt natürlich, dass man ein Stück weit eine Verbindung schaffen muss zwischen den Menschen, die da sind. Faktisch gibt es eine Verbindung, aber man weiß nichts übereinander.“ Autor: Hier wie an vielen anderen Orten haben es die Verantwortlichen versäumt, die Bevölkerung rechtzeitig in ihre Pläne einzubeziehen. Viele Monate hat man Flüchtlinge und Kirchheimer sich mehr oder weniger selbst überlassen. Die Behörden haben weiter ihre Routine abgespult. Sprecherin 1: Für den Betrieb des PHV sind private Unternehmer angeheuert worden. Dazu gehören Sicherheitsunternehmen und die Essener Firma „European Homecare“. Autor: Über sie und ihre Arbeit vor Ort etwas in gesicherte Erfahrung zu bringen, ist kaum möglich. Ob und wie sie kontrolliert werden, bleibt im Dunkeln. Derartige gewinnorientierte Privatunternehmen sind, trotz zahlreicher Skandale im Umgang mit Flüchtlingen in der Vergangenheit, erst gar nicht zur Auskunft gegenüber Journalisten verpflichtet. Und so verweigerte mir European Homecare auch jede Information über das, was die Mitarbeiter seit Monaten im PHV treiben. Kein Interview, keine Antwort auf meine Anfragen, sondern nur der Verweis auf das Regierungspräsidium. Dort hieß die Antwort, man sei überlastet. Verträge, Geldflüsse, die Höhe der Gewinne, die zu erbringenden Dienstleistungen, die Qualifikationen der Mitarbeiter vor Ort bleiben der Öffentlichkeit unbekannt. Das beflügelt das Misstrauen. 9 10 Titel: Die Kirchheimer und das PHV O-Ton Veranstaltung mit Atmo: „…angesichts des vollen Saales und der Tatsache, dass Frau Ministerin Öney jetzt eingetroffen ist, würde ich einfach gerne beginnen…“ Autor: Am 22. Juli 2015 um 18 Uhr war ich zur Bürgerversammlung in Kirchheim gegangen. Wichtigster Gast: die Baden-Württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney. Ihr Ministerium ist zuständig für das PHV. 800 Kirchheimer füllten den Bürgersaal. Die Veranstaltung wurde per Lautsprecher auch ins Foyer übertragen. Selbst auf dem Vorplatz wollten noch zahlreiche Kirchheimer mitbekommen, was drinnen verhandelt wurde. O-Ton Veranstaltung mit Öney und Fuchs: „Heute reden wir über eine Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, an die wir heute vor einem Jahr gar nicht gedacht haben. Ich weiß, dass viele von Ihnen diese Einrichtung sehr kritisch betrachten, ich weiß, dass die Situation einigen auch Sorgen bereitet, und ich gebe zu, dass ich auch nicht glücklich bin über die Aufnahmeeinrichtung mit so vielen Menschen. Manche von Ihnen sind auch wütend, weil sie sich von der Landesregierung hinters Licht geführt fühlen, auch das kann ich verstehen, aufgrund der vielen Gerüchte, die es leider auch gab. Wir sprachen anfangs von tausend, ja vielleicht von 1.500 Menschen, die hier in der Patrick-HenryVillage über den Winter untergebracht werden sollten und jetzt werden es wahrscheinlich zwei Winter sein. Und es sind im Augenblick ungefähr……und es sind im Moment ungefähr 2.000 Menschen, die hier für einige Wochen…(großer Aufschrei des Saales)…(weiter mit Fuchs)Also meine Damen und Herren, meine Damen und Herren, wir möchten…(Zwischenrufe)…Also ich hab‘s eingangs gesagt, wir sind eigentlich da, um die Dinge sachlich zu erörtern (Saal murrt). Moment, lassen sie mich doch einfach ausreden. Sachlich bedeutet, dass man auch mal still eine Äußerung erträgt, die man nicht teilt. Sie können dann einfach nachher ganz normal ans Mikrophon gehen und sagen, nee, es sind keine 2.000, es sind 5.000, was weiß 10 11 ich, ist mir ganz egal. Aber wir wollen es einigermaßen so machen, dass es funktioniert. Lassen Sie die Ministerin einfach ausreden…(Klatschen).“ O-Ton Veranstaltung Kirchheimer und Öney: „Ich habe zwei Kritiken vorzutragen. Die erste Kritik ist: Warum muss ein kleiner Ort wie Kirchheim mit knapp 17.000 Einwohnern knapp 3.000 Asylanten aufnehmen? Das versteht keiner. Die zweite Kritik ist die Informationspolitik, die Sie seit Monaten hier betreiben oder die beteiligten Behörden. Es ist wie ein behördliches oder mediales Schweigekartell. Wir kriegen nichts, was da draußen läuft. Was ist denn das für eine Informationspolitik? Gesundheitswesen: Wir kriegen nebenher mit, dass es da draußen Verdacht auf Seuchengefahr, auf Darminfektion, auf Verdacht auf Norovirus ist. Das mag sich ja alles nicht bewahrheitet haben. Aber muss man den Bürger dann anlügen, dass man ihm überhaupt keine Information gibt?! (Applaus, Fuchs)…Frau Ministerin gleich zu den Fragen… Es gibt Fehler, oder ich würde es als Fehler bezeichnen, in der Informationspolitik. Es gibt Probleme beim Gesundheitswesen da draußen. Was möchten Sie dazu sagen…(Öney)Ich bedaure das, und ich gebe Ihnen Recht, dass wir wahrscheinlich zu einer Entspannung oder auch zu einer Vermeidung von Missverständnissen hätten beitragen können durch eine offenere Informationspolitik. Ich bedaure das sehr. Wir können uns in dieser Frage verbessern, und ich versuche sie auch regelmäßig über neue Entwicklungen zu informieren. Ich will nur einen kleinen Vergleich, dass sie nur wissen: Meßstetten, die kleine Stadt auf der Alb, hat 5.000 Einwohner und hat im Moment auch etwa 1800 Flüchtlinge in dieser Unterkunft. Diese Relation einfach nur zum Vergleich.“ O-Ton Veranstaltung Kirchheimer Fuchs und Öney: „Die Frage war, warum dauert es in Baden-Württemberg doppelt so lange wie in Mecklenburg-Vorpommern mit den Asylanträgen und die andere Frage war, ob Sie eine Antwort gefunden haben, auf die Frage, was Sie der Kassiererin bei Lidl und den Reiterinnen, deren Pferde vor Flüchtlingen scheuen, sagen.“ Autor: Diese Frage hatte eine Vorgeschichte: „Ich überlege noch, was ich besorgten Bürger*innen sage, deren Pferde vor Flüchtlingen scheuen. Oder den Kassiererinnen bei Lidl... Any idea?“ hatte die Ministerin auf den in der Lokalpresse erschienenen 11 12 Bericht einer besorgten Mutter getwittert, deren 16-jährige Tochter von ihrem Pferd heruntergezogen wurde und der Beschwerde einer Kassiererin, die sich überfordert fühlte. Fortsetzung O-Ton Veranstaltung: „(Öney)…Also ich lese diese Berichte natürlich auch in der Zeitung. Ich will solche Vorfälle nicht bagatellisieren, wenn es eben Fehlverhalten gibt, führt es natürlich nicht dazu, dass es zu einer guten Stimmung oder zu einer Toleranz gegenüber Flüchtlingen führt. Insbesondere dann nicht, wenn es sich eben um viele Menschen handelt und die Menschen den Eindruck haben, dass mit den vielen Menschen sich die Probleme auch mehren. Aber wir haben eben auch genau an dem Tag diesen Brandanschlag auf die Unterkunft in Remchingen gehabt (Buh Rufe)…(Fuchs) Frau Ministerin, Sie merken, Sie sollten versuchen, wirklich hier im Ort zu bleiben. Es ist so, dass wir in Kirchheim, ich möchte es jetzt einfach sagen: Wir haben in Kirchheim, und das werden Sie auch hier im Saal sehen, auch hier sitzen Menschen mit Migrationshintergrund, die vollkommen integriert sind, und wir haben hier keine Brandanschläge in Heidelberg ( Applaus) Wir haben hier 70 Jahre lang amerikanische Streitkräfte gehabt mit Menschen jeder Hautfarbe (Applaus). Ich denke einfach, Sie sollten wirklich die Sorgen der Menschen hier ernst nehmen. (Applaus)…(Öney) Ich wurde zu meinem Tweet gefragt und wollte darauf antworten. Offenbar ist das nicht möglich. Dann gehe ich gleich zur anderen Frage über. (Buh Rufe, Pfeifen, aggressiver Zwischenruf) (Fuchs) Bitte, also OK, ehrlich, wir möchten eigentlich hier nicht den Eindruck vermitteln, dass wir hier nicht zivilisiert diskutieren können.“ Autor: Die Stimmung wurde gereizt und einige Personen mussten nun des Saales verwiesen werden. Fragen wurden gesammelt und später an das Ministerium geschickt. Gesundheit, Kriminalität, Sauberkeit, Verteilung, Hilfsangebote, Sozialarbeiter, Aufklärung der Flüchtlinge über deutsche Lebenspraxis. Titel: Nachtrag 1: 12 13 O-Ton Fuchs : „Nee, so viele Fragen waren es nicht. Jetzt mit den Antworten waren es neun DINA4-Seiten, die jetzt zurückkamen. Was uns jetzt an diesen Antworten nicht befriedigt, ist dass diese Zuständigkeitsschieberei praktisch da wieder weitergeht. Und das, was da aus dem Ministerium jetzt zurückkam, wenn ich das jetzt veröffentlichen würde, das gäbe noch einmal einen Aufschrei. Deshalb veröffentlichen wir das jetzt nicht. Wir haben es ja gestern dem Herrn Wolfsturm mitgegeben, dem Ombudsmann, und der hat das so ähnlich gesehen wie ich, ja, dass die Fragen nicht wirklich gut beantwortet waren. Und der wollte sich jetzt einfach noch einmal drum kümmern.“ Titel: Nachtrag 2: Autor: Auf der Bürgerveranstaltung in Heidelberg-Kirchheim war kein Vertreter des Regierungspräsidiums oder des Betreibers „European Homecare“ erschienen. Auch Flüchtlinge aus dem PHV waren nicht anwesend, obwohl einige schon seit Monaten dort leben. Hier wie anderswo spricht und entscheidet man über die Flüchtlinge nicht mit ihnen, so als könnten sie ihre Situation nicht eigenständig beschreiben und zur Verbesserung der Lagerzustände beitragen. Titel: Die Flüchtlinge im Patrick Henry Village – iss, schlaf und trink. O-Ton Flüchtling: „What do I do now? He told me, you just eat, sleep and drink. That was his response. Just eat, sleep and drink. And wait, until your name appears on the board.“ Autor: Das PHV ist eine kleine Stadt. Vor der mit zwei Securityleuten bewachten Einfahrt findet sich in einem Holzkasten hinter Glas ein Directory, ein Stadtplan. 13 14 O-Ton MP Kretschmann und Reporter: „Ja, was heißt, wovon soll ich geschockt sein…(Reporter)…von den Zuständen…(Kretschmann)…Dass diese Zustände hier schwierig sind, das ist mir ja berichtet worden. Dass das auf Dauer gar nicht geht, darüber brauchen wir überhaupt gar nicht reden. Ich bin ja jetzt erst mal hier, um mir einen Eindruck zu verschaffen.“ Autor: Bis heute ist das PHV-Gelände abgeschottet wie ein Hochsicherheitsbereich. Besucher, wenn sie überhaupt hereingelassen werden, müssen sich vom Sicherheitsdienst auf Schritt und Tritt begleiten lassen. Auch für Journalisten ist es kaum möglich sich einen Eindruck von den Verhältnissen zu verschaffen. Mit offiziellen Anfragen hatte ich zunächst wenig Glück. Weder die politisch Verantwortlichen noch die privaten Betreiber wollen die Kontrolle über Berichte von den Zuständen im Lager aus der Hand geben. Erst als der baden-württembergische Ministerpräsident Wilfried Kretschmann das Lagergelände für einen begleiteten Rundgang besuchte, ergab sich eine erste Gelegenheit. Atmo Wachmann/ Kamera Autor: Ein Grasweg führt nach der Eingangskontrolle direkt ins Patrick-Henry Village. Auf der linken Seite liegen Container in der Sonne. Vor einigen Wochen sind Mitarbeiter des Innenministeriums hier eingezogen. Sie sollen das Lager neu organisieren. Ich biege zwischen Absperrgittern rechts in die North Gettysburg Avenue ab. Sie mündet auf den Hauptplatz. Auf der einen Seite unterhält die Polizei im ehemaligen Marshalloffice einen Posten. Über Monate, so erfahre ich, waren die Ordnungshüter dort nur tagsüber präsent. Angesichts der fast täglichen Einsätze in der Nacht und der immer noch steigenden Flüchtlingszahl sind nun immerhin fünf Beamte rund um die Uhr vor Ort. Schräg gegenüber dem Paradeplatz befindet sich in der ehemaligen Zahnklinik das Registrierungsgebäude. Hier arbeitet der Betreiber European Homecare. Die Verhältnisse in der ehemaligen kleinen Klinik sind extrem beengt. Vor der Theke sprechen zahllose Flüchtlinge durcheinander. Schaut man aus den Bürofenstern, sieht man Menschentrauben vor dem Eingang warten. Jeder Einzelne 14 15 von ihnen mit einem dringenden Anliegen, großen Ängsten vor dem, was kommen mag. Wichtig sind für alle die Tafeln mit den Namenslisten, die vor dem Gebäude angebracht sind. Nur wer seinen Namen darauf findet, kann seinen Antrag auf Asyl stellen. Und damit hoffen, dieses Lager bald zu verlassen. Hier treffe ich Modu. Atmo: Personen im Freien O-Ton Modu: „My name is Modu and I am from West Africa. So far Germans are doing so good for us. But most of the people in this Campus, that are taking care of us…it’s not fair.” Sprecher 1: “Mein Name ist Modu, und ich komme aus Westafrika. Die Deutschen helfen uns wirklich. Aber die meisten Leute, die sich hier in diesem Lager um uns kümmern, sind keine Deutschen. Ehrlich, ich habe noch keine Deutschen arbeiten gesehen, nur Albaner, Araber und wo immer sie herkommen. Das Essen ist nicht gut. Wir wissen genau, wieviel die Deutschen bezahlen, damit wir versorgt werden. Wenn es irgendwelche Dinge in der Unterkunft gibt, die nicht funktionieren und man sich beschwert, interessiert es sie nicht. Und schau dir vor dem Büro den Anschlag mit den Namen an. Es werden fast nur Albaner, Syrer etc. in Flüchtlingsheime überstellt. Es tauchen keine Afrikaner, Gambier, Nigerianer und andere auf. Und die meisten, die länger hier sind, ich bin seit zwei Monaten hier, sind Afrikaner. Das verstehen wir nicht, und darüber möchte ich mich beschweren. Wenn man sich darüber im Büro beschweren will, lässt man dich gar nicht erst rein. Du musst vor der Gittertüre warten und Araber und Albaner dürfen einfach vorbei. Das ist nicht fair.“ Autor: Im Laufe meiner Recherchen habe ich mit vielen Flüchtlingen gesprochen. Sie haben mir fast immer Modus Bericht bestätigt. Araber, oft Syrer, die hier als Hilfskräfte eingesetzt sind, bevorzugen Syrer, deren Anspruch auf Asyl auch von deutscher Seite nicht in Frage gestellt wird. Ausgewählt zur Antragstellung werden die Asylbewerber durch den privaten Betreiber European Homecare. 15 16 Sprecherin 1: Die Ankunft in einer Erstaufnahmeeinrichtung läuft immer gleich ab. Registrierung, Inaugenscheinnahme durch eine Krankenschwester oder einen Arzt, Ausstattung mit Decken und Dingen des täglichen Bedarfs, Kleiderausgabe, Zuweisung einer Unterkunft in einem der zweistöckigen Wohngebäude zusammen mit 4 bis 6 Personen, zehn bis 14 Personen benutzen eine Toilette. Dann beginnt das Warten auf die Möglichkeit, seinen Antrag als Asylsuchender stellen zu können. Erst nach dieser persönlichen Antragstellung mit erkennungsdienstlicher Erfassung und Röntgenuntersuchung in einer Außenstelle des Bundesamtes für Migration erhält der Flüchtling ein Ausweisdokument sowie die monatlichen 147 € für den dringendsten Alltagsbedarf. Wer nicht auf der Liste steht, den Asyl-Antrag nicht stellen kann, hat kein Geld. Autor: Das Offizierscasino liegt zwischen North Lexington Avenue und Baratoga Drive, dort wo sich auch die Kirche befindet. Als ich im Juli hier war, waren in dem Saal aus den 50er-Jahren mit Holzboden, Bühne und großem Kronleuchter in der Mitte über 800 Flüchtlinge, Familien aus Syrien, Albaner, Mazedonier, Iraker und Tunesier, meist junge Männer, untergebracht. Im September, als ich noch einmal dort bin, sind es vielleicht noch einhundert. Einige Wohngebäude wurden inzwischen fertig gestellt, Wasser und Strom müssen erneuert und deutschen Standards angepasst werden. Einige Sicherheitsmitarbeiter einer thüringischen Firma stehen herum. Ein Nigerianer kehrt den Boden. In der Ecke vor dem großen Spiegel an der ehemaligen Garderobe schneidet ein Syrer einem anderem die Haare. Ich will wissen, wieviel das kostet: nichts, es sei umsonst. Atmo Syrer Autor: Er käme aus Aleppo, sagt der Mann in fließendem Deutsch, und er spräche neben Deutsch noch Englisch, Französisch und Spanisch. 25 Jahre habe er im Bazar, einem heute total zerbombten Weltkulturerbe, ein Geschäft für Touristen betrieben. Ob ich ihm Arbeit besorgen könne, fragt er. In diesem Lager würden doch bestimmt Übersetzer gesucht, sage ich. Er schaut mich fragend an. Man hätte ihm gesagt, 16 17 dass er sechs Monate warten müsse, bis sein Asylantrag bearbeitet ist. Erst dann könne er Arbeit suchen. Atmo Autor: Vor dem Casino, wo die Toilettenhäuschen stehen, spreche ich Cody an. Sein Job, ist zu schauen, dass die Toiletten sauber bleiben. Cody ist Afro-Amerikaner, erzählt er mir, war Soldat der US-Streitkräfte und beantragte politisches Asyl, weil er den Kriegseinsatz im Irak verweigerte. Ich will von ihm wissen, wie er das Leben im PHV sieht? O-Ton Cody: „We can say that’s crazy, because I am here, getting to three month now and some of the treatment doesn’t follow the way like it used to be…” Sprecher 1: „Ich bin jetzt fast drei Monate hier. In dieser Zeit ist der Umgang mit den Flüchtlingen anders geworden. Die Regierung behandelt unser immer noch gut. Aber die Leute, die hier das Sagen haben, behandeln uns anders, als es die Regierung vorsieht. Das Essen ist nicht gut. Es gibt viele Leute, die dieses Essen nicht vertragen. Sie nehmen es, weil sie keine Alternative haben. Auch unsere Umgebung ist nicht gut, aber immerhin versucht man, alles sauber zu halten.“ Autor: Das Gelände sauber halten, tun die Flüchtlinge selbst. Wieviel er arbeitet, will ich noch wissen. O-Ton Cody: Sprecher 1: „Ich arbeite einmal die Woche, danach muss ich ein- bis zwei Wochen warten. Wir bekommen einen Euro und 5 Cent für eine Stunde. Wenn du sechs Stunden arbeitest bekommst du also 6 Euro 30. Ich habe schon mein Interview zum Asylantrag gehabt und warte darauf in eine feste Unterkunft überstellt zu werden. Aber nichts passiert. Die Leute, die hier im Büro arbeiten, nehmen immer ihre 17 18 eigenen Leute. Sie halten sich nicht an die Regeln. Aber wir werden hier nicht immer sein. Sie können dich nur einige Monate lang anschreien, nicht für immer. Dafür ist die Regierung verantwortlich. Im Büro arbeiten Einwanderer wie wir. Sie geben ihnen diesen Posten und dann behandeln sie die Leute schlecht. Autor: Das Asylbewerberleistungsgesetz erlaubt, dass Flüchtlinge in Lagern für nur einen Euro und fünf Cent arbeiten. Und ich habe dort viele Flüchtlinge arbeiten sehen, Reinigen des Geländes, Kleider- und Essensausgabe, Toilettenreinigung und vieles mehr. So kommen in einer Unterkunft wie dem PHV leicht unzählige Arbeitsstunden Monat für Monat zusammen. Die Flüchtlinge übernehmen Dienstleistungen für andere Flüchtlinge im Auftrag der privaten Betreiber, die dafür weder jemanden einstellen noch Mindestlohn zahlen müssen. Einige Afrikaner und ein junger Albaner mischen sich ein. O-Ton Albaner Sprecher 1: „Ich bin aus Albanien und bin seit drei Wochen hier. Ich war zwei Wochen in einem Aufnahmelager in Dortmund. Jetzt bin ich hier. Ich habe schon den Medizincheck und das Röntgen hinter mir und warte auf mein Interview. Ich bin mit meiner Familie hier. Wir sind zu sechst, meine Eltern, meine 15- und 10-jährigen Schwestern und mein 12-jähriger Bruder. Ich habe gerade mein Abitur gemacht. Mein Vater hat für eine staatliche Sicherheitsfirma gearbeitet. Aber in Albanien werden alle Mitarbeiter entlassen, wenn ein anderer Premierminister gewählt wird. Ich wollte studieren, aber dafür muss man bezahlen und mein Vater ist arbeitslos.“ O-Ton Autor: Do you have German lessons here? O-Ton Albaner Sprecher 1: „Nein, nein. In dem anderen Lager gab es das. Dort ging man zur Schule, zwei Stunden am Tag. Ich habe das gemacht, Anfänger und Fortgeschrittene.“ 18 19 O-Ton Autor: So what are you doing the whole day? O-Ton Albaner Sprecher 1: „Wir gehen in den Fitness-Raum, an die Geräte. Aber wenn du Sport machst, musst du gut essen. Aber bei uns gibt es noch nicht einmal Abendessen. Es gibt nur Frühstück und Mittagessen. Schau hier…Das ist alles für heute. Das sind zwei Brötchen, ein Stück Käse, ein wenig Wurst, ein Joghurt. Das ist Reis mit Karotten, das ist das Mittagessen. Das Essen ist nicht schlecht, aber zu wenig. Zwei ViertelLiter Flaschen Wasser morgens, zwei mittags. Sonst soll man aus dem Wasserhahn im Casino trinken, das ist Trinkwasser.“ Autor: Das ist offensichtlich einer der Gründe, warum so viele sich täglich auf den Weg zum Supermarkt in Kirchheim aufmachen. Ich gehe ein paar Schritte weiter zum Zelt, in dem gerade das Essen ausgegeben wird. Es hat sich schon eine lange Schlange gebildet. Wachleute, etwas martialisch mit Brustprotektoren ausgerüstet, versuchen die Menge zu organisieren. Beinah kommt es zu einer Schlägerei. An der Ausgabe arbeiten neben einer Deutschen wieder einmal nur afrikanische Flüchtlinge, die auf Zetteln die abgeholte Anzahl der Essenstüten quittieren. Andere bringen die Tüten von draußen herein. Die Essensausgabe dauert zwei Stunden, 2 Euro 10 Cent Verdienst also. Atmo Essensausgabe O-Ton Interview: „Wie lange dauert denn so eine Essensausgabe?“ „Zwei Stunden“ „Zwei Stunden bis alle durch sind? Und was gibt es heute? „Gemüsefrikadelle und Maultaschen mit Tomatensoße“ „Gibt’s auch irgendwelche Sachen für Muslime?“ „Es ist alles Muslimessen.“ 19 20 „Und die Leute, die hier arbeiten, sind auch Flüchtlinge? Sie unterstützen sie? Die sind wahrscheinlich froh, wenn sie etwas zu tun haben.“ „Das kann ich Ihnen sagen, häufig.“ „Sind das immer die Selben, die dann da arbeiten, oder wechselt das immer?“ „Das wechselt immer.“ Atmo Kindergeschrei O-Ton Helferin: „Also ich wollte mich einfach engagieren für die Flüchtlinge, die hier in Deutschland sind. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, hier das Patrick-Henry-Village zu unterstützen, weil es hier besonders schwierig ist. Es ist chaotisch. Autor: Über 250 ehrenamtliche Helfer aus Heidelberg haben sich gemeldet und sind über das Internet miteinander verbunden. Vor Ort dürfen aber nur täglich 25 Helfer sein, polizeiliches Führungszeugnis ist Pflicht. Warum das so ist, beantwortet mir niemand. O-Ton Helferin: „Dann gibt’s Leute, die in dem Raum an Tischen sitzen, wo gebastelt wird, wo Gesellschaftsspiele ausgepackt werden. Es gibt ne Ecke mit Duplosteinen, ne Ecke mit Puppen und mit Kuscheltieren, draußen stehen immer ein paar Leute, die schwingen ein großes Springseil, da stellen sich immer gleich zehn Kinder an und springen Springseil. Es gibt Bälle und Bobbycars, ne Ecke, da werden Bilderbücher vorgelesen, so verteilen sich die. Und viele stehen auch einfach da und nehmen Kontakt zu den Leuten auf. Es gibt auch Fußballplätze, die sind auch gesperrt. Es gibt viele Wiesen, da spielen die Leute Fußball, die Männer vor allem, wenn sie denn Fußbälle haben. Haben wir schon ein paar hier verloren, Basketbälle verloren, aber so richtige Angebote für die Erwachsenen gibt es nicht. Das wollen wir auch gerne ändern. Ab September/Oktober möchten wir gerne Sprachkurse anbieten, wenn wir genug Helfer finden, das leiern wir gerade an. Wir würden auch total gerne so ne Art Café aufmachen, wenn ein Gebäude dafür freigegeben wird…“ 20 21 Autor: Von der regelmäßigen Kinderbetreuung konnte ich mich selbst überzeugen. Das ist wohl auch das Einzige, was tatsächlich immer funktioniert - von Beginn an durch ehrenamtliche Helfer organisiert. Tennisplätze und Buchladen werden nicht mehr genutzt, genauso wenig wie das „High School Athletic Field“. Die Wohngebäude am Alamo Circle und Bull Run Court sind noch immer geschlossen. Sie sollen jedoch wie die anderen Gebäude nach bau- und sicherheitsgemäßer Instandsetzung mit Flüchtlingen belegt werden. Im ehemaligen Kindergarten, in dem Familien untergebracht sind, treffe ich auf eine schwangere Frau. O-Ton schwangere Frau „Gambia, Gambia…now I have one month here, before I was Spain…” Sprecherin 2: „Ich komme aus Gambia und bin seit einem Monat hier. Vorher war ich fünf Jahre in Spanien. Aber dort gab es für mich und meinen Mann keine Arbeit mehr. Wir hatten kein Geld, um uns Essen zu kaufen. Ich bin Muslima. Ich habe zwei Kinder und bin im Moment schwanger. Wir leben zusammen im Zimmer. Das Essen ist OK, aber abends kann ich mir nichts mehr machen. Ich kenne niemanden hier. Deshalb schlafe ich viel. Ich fühle mich krank, weil ich schwanger bin und nicht von hier in ein Flüchtlingsheim komme. Ich war schon im Krankenhaus, aber wegen der Schwangerschaft kann ich keine Medizin nehmen. Normalerweise koche ich, aber hier ist das nicht möglich. Und wenn mir etwas fehlt, dann kann ich es hier nicht bekommen. Das ist mein Problem.“ O-Ton Helferin: „Grad neulich hat mir jemand gesagt, es gibt viele Frauen hier, die schwanger sind, die schwanger hier ankommen. Viele von denen sind ungewollt schwanger, weil sie während der Überfahrt entweder vergewaltigt wurden oder sich prostituieren mussten, das heißt, viele wollen das Kind dann nicht. Ich weiß auch, darf ich das jetzt hier auch sagen, ich glaube, dass es hier auch einige gibt, die fürs Rotlichmilieu rekrutieren wollen, das heißt, die Frauen werden angesprochen, junge Frauen auch, wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Ich weiß nicht genau, das möchte ich noch herausfinden, ob es auch weibliche Sozialarbeiterinnen bei European Homecare gibt. Das ist eine Sache, die ich gerne fragen möchte…ob es hier Frauen gibt, wo diese 21 22 Frauen hingehen können, weil die gerade aus Syrien und aus Afrika nicht so zu Männern gehen würden.“ Sprecherin 1: Sicherheitssperren schützen die Bewohner des PHV vor rechtem Terror, vor Anschlägen, wie sie in Baden Württemberg seit Mai 2015 in Bad Krotzingen, Remchingen, Weissach im Tal, Neckargmünd, Wertheim und anderen Orten verübt wurden. Autor: Aber wer schützt die Bewohner innerhalb eines Lagers? Ein Tunesier berichtete mir z.B., dass er ‚als Demokrat‘, wie er das nannte, gefährlich lebe, weil Flüchtlinge aus dem Norden Pakistans von allen Muslimen hier eine streng islamische Lebensweise fordern, und das auch mit Gewalt durchzusetzen versuchen. Erst vor einigen Wochen wurde ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma im PHV als ein in Thüringen aktiver Rechtsradikaler enttarnt. Er hatte nachts in den Unterkünften willkürlich Personenkontrollen durchgeführt. Atmo Bus Autor: Als ich mit dem Shuttlebus zusammen mit 50 Flüchtlingen das PHV Richtung Heidelberg verlasse, drückt mir ein Mann einen vierseitigen in Englisch verfassten Brief in die Hand. Es geht darin um einen Vorfall Anfang September, bei dem ein Flüchtling durch Sicherheitsleute verletzt und in Krankenhaus gebracht werden musste. Er war Teilnehmer einer kleinen friedlichen Protestkundgebung von 150 Flüchtlingen, die die schleppende Bearbeitung der Asylanträge kritisieren wollten. Sprecher 2/Zitator: „Drei oder vier Leute waren beteiligt. Einer kniete auf meinem Rücken, während ich auf der Seite lag. Meine Stirn wurde drei Mal auf den Boden geschlagen. Meine Hände wurden auf dem Rücken zusammen gebunden und nach oben gehalten. Es war extrem schmerzhaft und ich protestierte. Erst als endlich ein Sozialarbeiter erschien, der mich kannte, durfte ich mich auf einen Stuhl setzen. Ich wurde der 22 23 Polizei übergeben, die mich mit einem Auto an einen anderen Ort brachte, wo ich in einem dunklen Raum zurückgelassen wurde. Dann machte man mit mir einen Alkoholtest. Zu den Ereignissen wurde ich nicht befragt. Ich fragte nach einem Arzt, der endlich nach drei Stunden kam und mich direkt mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus bringen ließ. Ich wurde geröntgt und man stellte fest, dass mein Arm angebrochen sei. Man versorgte mich und ich wurde ins Patrick-Henry-Village zurück gebracht. Ich schreibe diesen Bericht für mich. Denn ich habe Angst, dass es sonst Auswirkungen auf mein Asylverfahren und das meiner Familie hat.“ Autor: Ein Einzelfall? Viele Flüchtlinge trauen sich nicht, mit mir über Einzelheiten des Lagerlebens, über Konflikte zu reden. Sie haben Angst vor den unkalkulierbaren Folgen. Sprecher 2/Zitator: „Eines der großen Probleme im Village sind die Sorgen und Schwierigkeiten, die die Flüchtlinge haben. Sie können sie den Mitarbeitern nicht mitteilen. Denn es gibt sowieso keine Rückmeldung. Dabei ist es wichtig, dass die Bewohner die Sicherheit haben, gehört zu werden. Aus diesem Grunde schlage ich vor, eine Beschwerdestelle einzurichten, in der neben Englisch auch die wichtigsten Sprachen der Flüchtlinge gesprochen werden. Diese Beschwerdestelle könnte die Anliegen der Bewohner mit der Administration der Einrichtung besprechen. Diese Neuerung könnte den Willen zur Verbesserung der Situation zeigen und wäre ein Schritt vorwärts.“ Autor: Meine Erfahrung nach mehreren Monaten offenen und verdeckten Recherchen im PHV geben diesem Vorschlag recht: Gerade angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen werden dringend Einrichtungen gebraucht, an die sich die Menschen ohne Angst wenden können, wenn sie in den Lagern unter privaten Betreibern zu leiden haben, von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind oder Opfer mafiöser Banden und Krimineller werden. 23 24 O-Ton Flüchtling: „So we are facing so many difficulties right now, Sir. I don’t know how to express this but like most of the times, most of the times peoples are stressed in there.” Absage Patrick-Henry-Village Eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Heidelberg Ein Dossier von Christoph Burgmer Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015 Es sprachen: Jochen Langner, Marietta Bürger, Volker Niederfahrenhorst, Franz Laake und Sigrid Burkholder Ton und Technik: Eva Pöpplein und Angelika Brochhaus Regie und Redaktion: Karin Beindorff 24
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