1. Kapitel Wie wir einen Neuen in die Klasse bekommen, der heißt Französisch und ist meine Rettung Und ich hatte mir doch wirklich fest vorgenommen, meine Hausaufgaben zu machen. Aber immer kommt mir was dazwischen. Eigentlich wäre das ja auch gar nicht so schlimm, nur hat Frau Hoppe letzte Woche gemeint, dass es so nicht weitergeht mit mir. Beim nächsten Mal lässt sie keine Ausrede mehr gelten. Dann muss sie ein ernstes Wort mit meinen Eltern reden. Deshalb wäre es total sinnlos gewesen, wenn ich ihr erzählt hätte, dass gestern Sperrmüll war. Und der ist nun mal nur alle Jubeljahre. Und ich brauchte doch unbedingt Holz. Weil ich nämlich mein Zimmer vergrößern will. Und es hätte ja auch noch geklappt mit den Schularbeiten, wenn meine Mutter nicht gesagt hätte: »Das Dreckholz kommt mir nicht in die Wohnung!« Da musste ich ihr dann stundenlang klar machen, dass das ganz hervorragendes Holz ist und dass ich es doch 7 dringend brauche. Und neues würde sie mir sowieso nicht kaufen. Das hat sie dann überzeugt und am Ende hat sie nur ungehalten die Augen verdreht und hat gestöhnt: »Mach, was du willst, aber lass mich jetzt endlich in Ruhe.« Hämmern durfte ich aber nicht mehr, weil es schon nach neun war. Und für Hausaufgaben war es sowieso zu spät. Aber das kann man ja einem Lehrer nicht erzählen. Die können das auch gar nicht verstehen. Die dürfen sich so viele Sachen vom Sperrmüll holen, wie sie wollen. Da sagt keiner was. Ich wollte dann ja morgens in der Schule noch schnell von jemandem abschreiben. Aber alle haben sie gesagt: »Nein, sie kommt doch gleich!« Es hatte nämlich schon zur Stunde geläutet und da rückt keiner mehr gern sein Heft heraus. Weil Frau Hoppe immer schrecklich pünktlich kommt. Aber Frau Hoppe kam und kam nicht. Und ich war sauer auf die anderen. Denn in der Zeit hätte ich es doch gut geschafft. Und ich hätte kein schlechtes Gewissen haben brauchen. Weil ich doch ganz genau weiß, was passiert, wenn Frau Hoppe mit meinen Eltern ernst redet. Dann bekomme ich nämlich wieder den schrecklichsten Ärger zu Hause. Das will ich meinen Eltern nicht antun. Außerdem dürfte ich wochenlang nicht nach draußen und müsste ständig Schularbeiten machen. Selbst wenn ich meinen Eltern dann sagen würde, dass ein 8 Kind viel an die frische Luft muss, weil es sonst in der Schule nicht richtig lernen kann, ich glaube, das würde mir dann gar nichts nützen. Obwohl, sonst sagen sie einem das doch immer selber. Ich hab auf meinem Platz gesessen und hab gehofft, dass ein Wunder passiert, dass Frau Hoppe sich ein Bein gebrochen hat oder irgend so etwas. Aber nach einer Viertelstunde ist Frau Hoppe ganz gesund in unsere Klasse gekommen. Nicht einmal gehumpelt hat sie. Sie hat einen fremden dicken Jungen mitgebracht. Das war dann meine Rettung. Das war Emil. 9 Besonders interessiert hat es mich ja erst nicht, dass wir nun einen Neuen bekommen. Ich war einfach nur unendlich froh; denn Frau Hoppe ist abgelenkt gewesen und hat nicht mehr an die Hausaufgaben gedacht. Sie hat gesagt, wir sollen nett zu dem Emil sein, weil er ja neu ist. Und ihm helfen und in der Pause zeigen, wo die Schülerbücherei ist und der Musiksaal und das alles. Und dann hat sie überlegt, wo Emil am besten sitzen kann. Aber da gab es gar nichts zu überlegen. Denn es war sowieso nur noch ein Platz frei: in der ersten Reihe, neben Harald. Harald nennen wir immer »Streber-Harry«. Wenn Harry nämlich was weiß, verrät er das keinem. Nur den Lehrern. Und er hat in seinem Leben noch nie jemanden von sich abschreiben lassen. Meine Omi meint auch, das ist nicht nett von Harry. Und auch kein bisschen menschenfreundlich. Man soll nämlich anderen von seinem Wissen abgeben und nicht alles für sich behalten. Aber Harry tut das einfach nicht. Deshalb will auch keiner neben ihm sitzen. Das hat der Emil aber nicht wissen können. Außerdem hätte es ihm sowieso nichts genützt. Eigentlich heißt er gar nicht Emil, sondern Émile. Émile Balayette. Das ist französisch. Und was Besonderes. Dachten wir jedenfalls erst. Aus unserer Klasse kann nämlich keiner Französisch. Wir können nur 10 Englisch. Und davon auch nicht viel, weil wir das noch nicht so lange haben. Erst haben wir gedacht, Emil kann ganz toll Französisch sprechen, weil er doch so französisch heißt. Aber er kann nur »bonjour« und »merci« und »bouillon« und »je t’aime«. Das heißt »guten Tag« und »danke« und »Fleischbrühe« und »ich liebe dich«. Und das kann ich auch. Obwohl ich doch noch nie in Frankreich war. Jedenfalls hat ihn dann, nachdem das mit seinem Nachnamen herausgekommen ist, keiner mehr Émile genannt. Zu Hause hab ich nämlich erzählt, dass wir einen Neuen haben mit so einem schicken Namen. Jeden Abend beim Abendbrot fragt mich meine Mutter: »Na, wie war es denn heute in der Schule?« Und dann muss ich mir immer schnell etwas ausdenken, damit sie zu- 11 frieden ist und nicht weiterfragt. Denn wenn ich ihr die Wahrheit sage, bekommt sie oft auf der Stirn so strenge Falten. Das sieht nicht nett aus und der Abend ist im Eimer. Und sie lässt mir keine Ruhe mehr. Deshalb war ich froh, dass ich heute das mit Emils Namen hatte. Meine Mutter hat aber nur gesagt: »Aha, das ist ja interessant. Und was war sonst los?« Obwohl ich mir sicher bin, sie hätte auch gern so einen schicken Namen. Wir heißen nur Neumann. Also, mein Bruder Jo, der ist fast mit seinem Stuhl unter den Tisch gekippt, so hat er angefangen zu lachen. »Wie heißt der?«, hat er gefragt. »Balayette?!! Und das findest du schick?« Er konnte überhaupt nicht mehr aufhören, sich darüber lustig zu machen. So etwas hat er öfter. Da darf man sich nichts bei denken. Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, was daran nun so witzig war. Und ich hab einfach weitergegessen und so getan, als wäre Jo Luft für mich. »Möchtest du etwa gerne Handfeger heißen?«, hat Jo gesagt und weiter blöde herumgekichert. »Wieso Handfeger?«, hab ich gefragt. Und dann hat er es mir endlich erklärt. Jo hat nämlich schon Französisch in der Schule. Und darauf bildet er sich schrecklich was ein. Dabei kann er nur ungefähr so viel Französisch wie ich Englisch. Also nicht viel. Aber »balayette« haben sie schon gehabt. Und es stimmt, das heißt tatsächlich Handfeger. Ich habe nachgeguckt. 12 Jo musste mir für den nächsten Tag sein Französisch-Deutsch-Wörterbuch leihen. Sonst hätte es mir doch keiner geglaubt. Am nächsten Morgen in der Schule hab ich dann aber überlegt, dass es vielleicht gemein ist, wenn alle wissen, dass Emil doch nicht so elegant heißt. Weil dann alle über ihn lachen. Wo er doch neu ist in der Schule, und Frau Hoppe hat gesagt, wir sollen nett zu ihm sein. Darum hab ich es nur Billy erzählt. Und Billy hält dicht. Billy heißt eigentlich Sybille und ist meine beste Freundin gewesen und hat neben mir gesessen. In der Pause wollte ich dann wirklich nett sein zu Emil. Ich bin zu ihm hingegangen, weil er da doch so allein stand, und wollte mich mit ihm unterhalten. Außerdem hat es mich brennend interessiert, wie er zu diesem komischen Namen gekommen ist und wo er 13 vorher zur Schule gegangen ist und warum er mitten im Schuljahr in unsere Klasse gekommen ist. Macke, ein Freund von meinem Bruder, der hat mal von zwei Jungen erzählt, denen ist so was auch passiert. Die hatten Rizinusöl in Pralinen gefüllt. Die haben sie dann ins Lehrerzimmer gelegt. Und deshalb sind sie geflogen und mussten auch mitten im Schuljahr die Schule wechseln. Weil sie nämlich dabei erwischt worden sind und drei Lehrer mordsmäßigen Durchfall bekommen haben. Ich hatte mir gedacht, so etwas hätte es bei Emil ja auch sein können. Aber er wollte mir nichts erzählen. Nur komisch ist er geworden. Wie Erwachsene, wenn ich sie etwas frage, und sie wollen mir keine Antwort geben. Das finde ich unhöflich, weil ich wirklich höflich frage. Ich frage nämlich immer sehr viel. Ich muss es auch immer ganz genau wissen, damit ich es verstehen kann. Meine Omi sagt auch immer, Menschen, die keine Fragen stellen und sich für nichts mehr interessieren, die können ihr leid tun. Die sind doch schon scheintot. Aber dann gibt es auch noch Leute, die mich nicht mögen. Die sagen ständig, ich soll nicht so neugierig sein. Ich wäre eine aufdringliche Person. Oder sie finden meine Fragen einfach doof. Das sind dann meistens Lehrer, die so etwas behaupten. Deshalb habe ich 14 es fast aufgegeben, im Unterricht etwas zu fragen. Da frage ich nur noch, wenn ich sicher bin, dass es hundertprozentig eine intelligente Frage ist. Weil die Lehrer mich so unsicher gemacht haben, hab ich mir den Kopf zerbrochen und überlegt, ob Emil meine Fragen vielleicht furchtbar doof gefunden hat. Er hat mir nämlich nur ganz kurz und mürrisch geantwortet: Sein Vater sei eben Franzose, und vorher ist er in Blankenese zur Schule gegangen. Und dann musste er ganz plötzlich mal zur Toilette. In der nächsten Stunde hab ich Billy alles erzählt und sie gefragt. Aber sie meinte, das wären ganz normale Fragen, die ich Emil gestellt habe. Wir hatten uns dann überlegt, dass das mit Emil einfach noch etwas Schlimmeres gewesen sein muss als Rizinus-Pralinen für Lehrer. Dass er es vielleicht nicht erzählen mag, weil es ihm unangenehm ist, wenn alle ihn für einen Verbrecher halten und dann keiner mit ihm etwas zu tun haben will. Billy und mir hätte das ja nichts ausgemacht. Wir fanden Emil nämlich schrecklich geheimnisvoll. Das hat sich dann aber sehr schnell geändert. Bei mir jedenfalls. Ich hab mir geschworen, nie wieder ein Wort mit Emil zu reden. In der letzten Stunde haben wir nämlich Erdkunde gehabt. Erdkunde haben wir bei Herrn Freytag. Den mögen wir nicht so besonders. Deshalb stöhnen wir immer an den Tagen, an denen 15
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